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Die allerersten Minuten einer Liebe sind ein magischer Moment! In Sekunden unbewusster Kommunikation geschieht, was das Bewusstsein manchmal erst viel später erfasst: die Liebe auf den ersten Blick. Das allein ist schon Wunder genug. Denn wenn es zwischen zwei Menschen «funkt», haben sich zwei Lebensgeschichten mit allen Grundeinstellungen und geheimen Empfindungen blitzartig für einen möglichen gemeinsamen Weg abgestimmt und völlig neu kombiniert. Was ist Liebe, was Verliebtheit? Welche Werte des Paarlebens sind am meisten wert? Was ist das Geheimnis der stärksten Faszination? Michael Lukas Moeller gibt Antwort auf diese und andere Fragen – anschaulich und mit vielen lebendigen Beispielen.
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Seitenzahl: 235
Michael Lukas Moeller
Wie die Liebe anfängt
Die ersten drei Minuten
Ihr Verlagsname
Die allerersten Minuten einer Liebe sind ein magischer Moment! In Sekunden unbewusster Kommunikation geschieht, was das Bewusstsein manchmal erst viel später erfasst: die Liebe auf den ersten Blick. Das allein ist schon Wunder genug. Denn wenn es zwischen zwei Menschen «funkt», haben sich zwei Lebensgeschichten mit allen Grundeinstellungen und geheimen Empfindungen blitzartig für einen möglichen gemeinsamen Weg abgestimmt und völlig neu kombiniert.
Was ist Liebe, was Verliebtheit? Welche Werte des Paarlebens sind am meisten wert? Was ist das Geheimnis der stärksten Faszination? Michael Lukas Moeller gibt Antwort auf diese und andere Fragen – anschaulich und mit vielen lebendigen Beispielen.
Michael Lukas Moeller, geboren 1937 in Hamburg. Psychoanalytiker. 1973–83 Professor für Seelische Gesundheit in Gießen, hatte er seit 1983 den Lehrstuhl für Medizinische Psychologie an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt am Main inne. Im Jahre 2000 erster Preisträger des Internationalen Otto-Mainzer-Preises für die Wissenschaft von der Liebe.
Michael Lukas Moeller verstarb am 7. Juli 2002.
Der Matrix gewidmet,
dem unbewussten Beziehungsgeflecht
der Menschen, die uns nahe sind,
woraus jede Liebe entsteht.
«Wenn es wahr ist,
was Proust sagt, daß man glücklich ist,
wenn man nicht fiebert,
werde ich niemals wissen, was Glück ist.
Denn ich bin besessen von einem Fieber
nach Erkenntnis, Erfahrung,
dem schöpferischen Akt.»
ANAÏS NIN
«Ich wünschte, entweder mein Vater oder meine Mutter, oder fürwahr alle beide, denn von Rechts wegen oblag die Pflicht ihnen beiden zu gleichen Teilen, hätten bedacht, was sie da trieben, als sie mich zeugten; hätten gebührend in Betracht gezogen, wie viel von dem abhing, was sie gerade taten; – dass es dabei nicht nur um die Hervorbringung eines vernünftigen Wesens ging, sondern dass womöglich die glückliche Bildung und Beschaffenheit seines Körpers; vielleicht sein Genie und just die Färbung seines Gemüts; – und gar, denn Gegenteiliges war ihnen nicht bekannt, die Wohlfahrt des ganzen Hauses ihre Wendung nach den Säften und Dispositionen nehmen könnten, die gerade obenauf waren:
Hätten sie all dies gebührend in Erwägung und Betracht gezogen und wären demgemäß verfahren … ich bin wahrhaftig überzeugt, ich würde in der Welt eine ganz andere Figur vorgestellt haben …»
LAURENCE STERNE
Bevor unser Leben begann, war der wirkliche Anfang unserer Existenz jener magische Moment, als die Liebe eine Frau und einen Mann ergriff und ein besonderes Paar erschuf: unsere Eltern.
Nicht die Geburt – das weiß man seit den Einsichten in das intrauterine Seelenleben –, auch nicht das Verschmelzen der Eizelle mit dem siegreichen Spermium, nicht einmal der Zeugungsakt ist unser Start ins Leben, nein, der Ursprung unseres Ursprungs ist die Liebe, der Augenblick also, der zwei Menschen aneinander band. Trotz der weltweiten Paarkatastrophe wachsen wir mehrheitlich immer noch in diesen von der Liebe gegebenen, großen seelischen Raum der elterlichen Paarbindung hinein, der wie von Absencen umnebelt so seltsam verschwiegen bleibt.
Wenn wir die Liebe zweier Menschen als ihre Art von wortunabhängiger Sprache ansehen, eine besondere Atmosphäre, die uns umgibt, so entwickeln wir uns in diesen Sprachraum hinein, werden von ihm gestaltet und gestalten ihn in uns um. Wir individualisieren diese elterliche Sprache, die so wenig direkt zur Sprache findet, wie vor uns nicht nur unsere Eltern und Großeltern, sondern Tausende von Generationen unserer Menschenart vor uns – seit Entstehen der Liebe wahrscheinlich aber nur zweitausend. – Das ist der große menschheitserzeugende, wirklichkeitsschaffende Lauf der Liebe.
Nichts ist dabei nebulös – wie es oft Männern erscheint. Das Seelenleben mit seinen Vorstellungen und Gefühlen ist von höherer Präzision als die Mathematik, auch wenn diese Präzision vor allem unbewusst bleibt. In kürzester Zeit entwerfen wir beispielsweise das präzise Panorama eines komplexen Traums, fünf sinnliche Träume pro Nacht, einhundertfünfzigtausend in unserem Leben.
Was geschieht, wenn es zwischen zweien funkt? Die Liebe auf den ersten Blick zeigt es in aller Offenheit: In wenigen Sekunden unbewusster Kommunikation ist alles geschehen, das heißt wechselseitig vermittelt. Was? Die Gesamtheit zweier Lebensgeschichten. Das Bewusstsein vieler hinkt hinterher und merkt erst Tage, Wochen, Monate, ja oft genug Jahre später, was wirklich war.
Was wir von Anbeginn unseres Lebens erlebt haben, bildet unsere Erfahrung und seelische Struktur. Das ist nichts anderes als der Gewinn aus einem andauernden Lernprozess. Bestimmte Bindungsbereitschaften, bestimmte Lustbereitschaften, bestimmte Angstbereitschaften, bestimmte Abwehrformen, bestimmte Entwicklungsbereitschaften kennzeichnen die vielfältigen Valenzen eines jeden Menschen. Jede Person, der ich begegne, spricht bei mir andere Beziehungsbereitschaften an. Fasziniert mich jemand stark, dann korrespondiert sein Unbewusstes mit meinem Unbewussten erstens besonders umfangreich (quantitativer Aspekt) und zweitens sehr speziell (qualitativer Aspekt). «Unbewusstes erkennt Unbewusstes irrtumslos», sagt die Psychoanalyse. Das ist für mich die Haupteinsicht in die Paardynamik. Denn sie bedeutet beispielsweise: Von Anfang an erfasst die Partnerwahl den ganzen Menschen – auch wenn wir später zu klagen beginnen, dieses und jenes hätten wir einfach nicht gesehen. Auf nicht wiederholbare Weise bilden die ersten Sekunden eine einzigartige Beziehungsstruktur aus, die als gemeinsames Unbewusstes zeitlebens bestehen bleibt und so gut wie alles prägt: unser Wahrnehmen, Entscheiden, Fühlen, Verhalten, Handeln und Träumen. Das heißt im Alltag: Ich fühle und meine nur so und nicht anders, solange du so fühlst, wie du fühlst, obwohl wir uns dessen nicht bewusst sein müssen und das, worum es geht, nicht einmal ausgesprochen haben.
Aber nicht nur unser Leben wird durch diesen magischen Moment zeitlebens geprägt. Denn die seelische Struktur unserer Kinder entsteht vor allem durch die Verinnerlichung der bedeutenden Bindungen in den ersten sechs Lebensjahren. Von der Qualität der Elternpaarbeziehung werden also auch Erleben, Verhalten, Einstellungen, Denken und Fühlen der nächsten und der folgenden Generationen bestimmt. Durch eine solche Identifikation sind natürlich auch wir selbst geworden, was wir seelisch sind. Die früheste Grundlage ist dabei nicht die konkrete verinnerlichte Gestalt eines Menschen (in der Regel der Mutter), es sind vielmehr internalisierte Beziehungen zu einer Art Atmosphäre, die so ähnlich funktionieren wie unser Empfinden für Wasser und Luft beispielsweise. Als Grundstimmungen oder affektive Einstellungen verleihen sie allem, was wir wahrnehmen und erleben, seine Bedeutung und Färbung. Optimismus und Pessimismus, Depressivität und Urvertrauen gehören in ein Familienklima, in das unsere Mutterbeziehung eingebettet ist.
Begegnen sich zwei und verlieben sich ineinander, dann werden bei beiden durch blitzschnelle Oszillationen ganz bestimmte, lebensgeschichtlich erworbene Beziehungsvalenzen mobilisiert und verknüpft. Es entsteht ein gemeinsames Unbewusstes innerhalb einer Beziehungsstruktur, als deren zentrales Zeichen das neu aktualisierte Selbst des einen und des anderen gelten kann. Mit einem anderen Partner sähe mein Selbst anders aus, weil es anders aktualisiert wäre und sich vor allem anders entwickelte. Frau und Mann, die sich etwas bedeuten, bilden also eine Art seelisches Magnetfeld aus, dessen Dipol sie selbst darstellen. Bewegt sich etwas in einem, ist der andere immer mitbetroffen. Ein abgegrenztes Ich und ein abgegrenztes Du ist eine illusionäre Verkennung des Bewusstseins, weil es so viel Wert auf Unabhängigkeit legt.
Man kann auch sagen: Mit dem Akt des Verliebens legt das Leben zu jeder Minute weltweit millionenfach seine eigenen Fundamente. Das Paar kann sich diese Lage zugute kommen lassen, wenn es die beschriebenen Schritte geht, um die besten persönlichen Lebens- und Liebesbedingungen aus der eigenen Geschichte zu erkunden. Denn die Verliebtheit entsteht durch die Passform und die günstigen Bedingungen. Sie ist in gewisser Weise ein Garant, dass zwei zusammenpassen. Und das gilt auch für jene späteren Jahre, in denen nichts mehr zu stimmen scheint. Der Kardinalfehler ergibt sich aus der Bewusstlosigkeit für die Bedingungen der eigenen bedeutendsten Bindung und aus der Ahnungslosigkeit, wie eine Beziehung zu führen ist. Daraus resultiert eine Fehlentwicklung. Diese aber ist bei guten Bedingungen viel häufiger, als man denkt, aufzuheben.
Beispiele von Paaren illustrieren diesen Weg: Zunächst in ersten Gesprächen mit mir und in Zusammenfassungen, zuletzt in einem themenzentrierten Zwiegespräch (Kapitel 5, Seite 183). Dazu gibt es Fragebogenbefunde von über tausend Personen zu den Eigenschaften, die verliebt machten. Wo verliebten sie sich, und wodurch endete die Verliebtheitszeit? Das japanische Sprichwort «Das Huhn ist es, das den Hahn krähen lässt» konnte die Flirtforschung belegen. Weit über die eigene Lebensgeschichte hinaus – und doch von ihr nicht zu trennen – ist das, was uns attraktiv macht und was wir attraktiv finden, evolutionspsychologisch mitbestimmt. Die Struktur des Flirts ist weltweit verbreitet, eine anthropologische Universalie. Die Struktur der künftigen Bindung ist weitgehend schon festgelegt, bevor sich die Partner überhaupt sehen. Die sechs Hauptwurzeln jedes Paares sind die beiden Mutterbeziehungen, die beiden Vaterbeziehungen und die beiden Elternpaarbeziehungen, deren Ebenbild die eigene Bindung oft genug ist. Das ist die seelische Mitgift, die wir in unsere Beziehung einbringen, wertvoller und mächtiger als alle materiellen Werte.
Wenn so viel von der Liebe abhängt, kann die Liebe selbst nicht unbeachtet bleiben. Darum folgt im zweiten Kapitel ein Essay über Verliebtheit und Liebe: ihre zentralen Merkmale und die Dimensionen, nach denen sie eingeschätzt werden können. Ihren Boden bilden alle bedeutenden Beziehungen besonders der frühen Kindheit, zu denen erstmals ein umfassender Überblick aus einem Shorty (Kürzestfragebogen zu Brennpunkten der eigenen Beziehung) vorgelegt wird. Es zeigt sich, dass wir vor allem Gruppenwesen sind. Das wird noch deutlicher, wenn das Liebesfeld zur Sprache kommt, jenes Beziehungsnetz nämlich, das eine Liebe überhaupt erst möglich macht. Auch dieses Liebesfeld hat seine Mehrgenerationengeschichte. Geht man nur hundert Jahre zurück, gründet unsere eigene Liebe seelisch minuziös nachvollziehbar auf 30 Liebesbeziehungen von Eltern, Großeltern und weiteren Vorfahren. Daraufhin öffnet sich ein faszinierendes und heikles Thema: Wie entstand die Liebe urgeschichtlich? Sie hat tiefe Wurzeln bis in die früheste Säugerzeit, ja sogar bis hin zu den Reptilien. Das aber ist nicht die menschliche Liebe. Ein kurzer Abriss macht deutlich, dass die Liebe des Homo sapiens nicht anders entstanden sein kann als in einem Netz vielfältiger sozialer und kultureller Phänomene – vom Werkzeug über Musik und Gruppenbildung, vom Hausbau über Altenverehrung und Schmuck zur Unterstreichung der eigenen Identität. Im Zentrum dieses kreativen Aufschwungs vor etwa vierzigtausend Jahren steht die so genannte Selbstbewusstseinsexplosion. Mit ihr muss meines Erachtens die Liebe entstanden sein. Es ist erst 1600 Generationen her.
Heute aber geht sie unter. Wir vergeuden die Liebe, indem wir ihre Bedingungen außer Acht lassen. Die moderne Ehe ist ein Dach ohne Haus. Es scheint mir im Kern der schwere Konflikt zwischen Leistungsfunktionalität und Lebenslust zu sein, der sie zur Strecke bringt. Es gibt keine Lobby für die eigene Lebendigkeit außer uns selbst. Es gibt im Grunde keine wirklich zerbrochenen Ehen, die einstige Verliebtheit ist der Garant, es gibt nur nicht gelungene. Deshalb zum Schluss (Seite 183 bis 205) ein Beispiel, wie die Liebe dennoch gelingen kann – wenn die biblische Weisung beherzigt wird: «Seid aber Täter des Wortes und nicht Hörer allein» (Jakobus 1,22).
Der Funke, der zwischen zwei Menschen überspringt, ist im vollen Sinn der springende Punkt. Denn dieses Bild stammt ursprünglich aus dem Betrachten des punktförmig schlagenden Herzens im Eidotter. Dass aber zwei Herzen springen und überspringen, ist kein Zufall, so sehr die erste Begegnung vom Zufall abhängt, sondern ein blitzartiges, erstaunlich komplexes Geschehen, in dem sich innerhalb von Sekunden eine Beziehungsstruktur bildet, die für die Dauer des Zusammenseins – und das heißt oft lebenslang – die Geschicke eines Paares bestimmt. Dieser magische Moment erschafft so gut wie alles: unser Selbst, unser Wir, unser Leben, unsere kommende Generation. Weil er so mächtig ist, dass er nicht überschätzt werden kann, wird er bis zur Bewusstlosigkeit klein gehalten.
Die folgenden Beispiele von Paaren sind authentisch und nicht erdichtet – wenn auch so verwandelt, dass sie persönlich von anderen nicht erkannt werden können. Sie sind lebendige Vorbilder, eine Anregung für alle, es ihnen gleichzutun. Es geht darum, die eigenen ersten Minuten wachzurufen und aus ihnen einen praktisch höchst bedeutsamen Erkenntnisgewinn zu schöpfen: jene besten persönlichen Liebes- und Lebensbedingungen nämlich, die damals vorlagen und zu der berauschenden Lebendigkeit der Verliebtheit führten. Was damals möglich war, kann auch heute wieder seine Wirkung entfalten. Denn die Beziehungsstruktur hat sich nur in seltenen Ausnahmen wesentlich verändert. Es braucht nur eine Folge themenzentrierter, ungestörter Paargespräche (siehe auch Seite 151 bis 154), um diese kostbare Zeit zu erkunden und fündig zu werden. Dabei kann man dem kommenden Beispiel genau folgen. Erst die eigene Initiative enthüllt diesen vergessenen Reichtum, den jede Paarbeziehung enthält.
Es folgen Beispiele aus den ersten Gesprächen mit Paaren, die mich aufsuchen.
MLM: Aus der Zeit, als es zwischen Ihnen funkte, als sie sich also beide verliebten, möchte ich wissen: Welche drei seelischen Eigenschaften am anderen haben Sie so fasziniert, dass Sie sich verliebten?
Vielleicht können Sie die damalige Lage knapp skizzieren: Wie alt waren Sie? Waren Sie in einer Beziehung, brüchig oder fest, oder waren Sie solo? Welche Beziehungserfahrungen konnten Sie in Ihre neue Beziehung einbringen? Wie war Ihr Freundeskreis und Ihre Berufssituation? Dies alles spielt für das Überspringen des Funkens eine Rolle.
PHILIPP: Es ist 31 Jahre her, als wir uns das erste Mal kennen gelernt haben. Ich war 18, hatte eine Freundin und stand kurz vor dem Abitur. Ein Freund hatte Annegret eingeladen. Wir sind in eine Diskothek gegangen. Sie war ein blondes, sanftes, hochintelligentes Wesen und ihrem damaligen Begleiter, meinem Schulfreund, intellektuell haushoch überlegen. Sie gefiel mir. Ich konnte mich mit ihr auch gut unterhalten. Ich glaube, wir haben uns dann nur noch einmal gesehen, bei einem Ausflug.
Die Beziehung zu meiner damaligen Freundin war zu Ende. Sie nahm sich einen anderen Mann, war sehr schnell sehr fest mit ihm zusammen, wurde schwanger und heiratete im Folgejahr. Mich hatte das sehr getroffen.
Daraufhin habe ich Annegret ermittelt. Ich wusste ungefähr, wo sie wohnte, aber nicht mehr, wie sie hieß. Es war zwei oder drei Nachbarorte weiter. Ich habe sie aus dem Telefonbuch herausgesucht und sie irgendwann mal angerufen. Sie war damals am Studieren, ich war bei der Bundeswehr.
MLM: Das war also später?
PHILIPP: Mehr als zwei Jahre, kurz vor dem Ende meiner Bundeswehrzeit.
MLM: Nun haben Sie schon eine ganze Menge zu den seelischen Qualitäten gesagt. Warum also Annegret und nicht eine andere Frau?
PHILIPP: Sie war beeindruckend. Das erste Moment: Sie hatte Geist, war für meine Verhältnisse unheimlich intellektuell, hat viel gelesen, war politisch interessiert, hat Gedichte gelesen. Sie war nicht im üblichen Mainstream.
Das zweite Moment: Obwohl sie eine ganz schmale Person war, geradezu zerbrechlich schien, hatte sie gleichzeitig unheimlich Power. Das war der Widerspruch, der sich durch die ganze Zeit unseres Kennenlernens zog. Die Beurteilungen in meiner Familie waren deswegen verkehrt. Der erste Blick, mit dem man Annegret einschätzte, erwies sich immer als falsch.
MLM: Wie meinen Sie das?
PHILIPP: Ich komme aus einer Handwerkerfamilie, da musste schwer gearbeitet werden, da …
ANNEGRET: … hatte er die falsche Wahl getroffen.
PHILIPP: Nein, das stimmt nicht. Da muss ich dich korrigieren. Es war nur der erste Eindruck. Man schätzte sie als zartes Mädchen ein. Und das zarte Mädchen erwies sich dann als gar nicht so zart, sondern als sehr engagiert, als sehr durchsetzungsfähig und auch als durchaus in der Lage, ihre Meinung, ihre Auffassung zu vertreten.
Und das dritte Moment: Sie hat zugehört, und wir haben uns sehr viel unterhalten.
ANNEGRET: Auch ich war achtzehn bei dem ersten Treffen in der Disko und zwanzig, als wir uns wieder getroffen haben. Ich hatte schon angefangen zu studieren, für das Lehramt. Mein Freundeskreis resultierte noch aus der Schule und aus der Umgebung, in der ich lebte. Ich hatte damals kaum Kontakte zu Männern. Sie interessierten mich nicht besonders, weil man sich mit den Herren nicht so gut unterhalten konnte.
Als ich aber mit Philipp in Kontakt kam, war das entscheidende Gefühl, man kann mit diesem Mann unheimlich gut reden. Wir hatten sehr intensive und sehr tief gehende Gespräche. Ich fand ihn sehr reflektiert, er hatte Tiefgang und konnte von sich reden, von den Dingen und der Welt. Das war sehr anspruchsvoll und für mich sehr befriedigend.
Zunächst war das auch gar nicht unbedingt auf eine Mann-Frau-Beziehung ausgerichtet, vielmehr hat es sich erst dahin entwickelt. Ich habe mich später in ihn verliebt. Nicht auf den ersten Blick, sondern im Laufe unserer ersten Treffen. Ich war übrigens solo.
Ich fand ihn zweitens auch sehr geradlinig. Und ich fand ihn sehr begeisterungsfähig. Das sind schon die drei Momente.
MLM: Gut. Jetzt wird es etwas komplexer: Wie lange dauerte damals Ihre intensivere Verliebtheitszeit? Die meisten Paare können sagen, wie lange ihre heiße Verliebtheitszeit dauerte – Wochen bis Jahre –, dann kommt es in der Regel zu einer anderen Phase, es entwickelt sich eine Liebe, eine feste Beziehung, oder der Alltag überrollt einen und so fort.
ANNEGRET: Meine Verliebtheit dauerte vier Jahre. Da hatte Philipp das erste Mal eine andere Frau. Da muss es ja anders gewesen sein.
Verliebtheitszeit mit Herzklopfen und Aufregung habe ich aber auch später noch gehabt, allerdings nicht mehr so oft.
MLM(zum Mann gewandt): Und wie lange würden Sie Ihre Zeit angeben?
PHILIPP: Ich habe gerade überlegt. Zunächst hatten wir eine vom Erotischen, Sexuellen her distanzierte Beziehung.
ANNEGRET: Ja, aber nur ein halbes Jahr.
PHILIPP: Die Beziehung war nicht so, dass wir uns Hals über Kopf verliebt hätten. Ich bin vier Jahre später mit dir zusammen in eine Wohnung gezogern, und wir haben geheiratet. Die Verliebtheitsphase, würde ich sagen, dauerte bis kurz vor diesem Termin.
MLM: Beziehungen haben nun wie Personen auch Qualitäten, sagen wir, zwanzig gute Eigenschaften. Ich möchte Sie bitten, sich nur die drei schönsten Qualitäten Ihrer Verliebtheitszeit bewusst zu machen. Es gibt beispielsweise Beziehungen, in denen die Paare sich ganz zurückziehen, intim und innig werden und Gedichte lesen. Andere brechen wild auf und machen eine Weltreise. So haben Beziehungen unterschiedliche Einfärbungen. Damals hatten Sie vielleicht auch die Vorstellung «wir beide und der Rest der Welt». Was also ist das Bemerkenswerteste an Ihrer Beziehung gewesen?
ANNEGRET: Die gegenseitige Unterstützung, das Verständnis, das Getragenwerden in schwierigen Lebenssituationen. Die emotionale Geborgenheit war für mich auch noch sehr wichtig, Zärtlichkeit, auch Sexualität, aber nicht mit einem großen Stellenwert.
PHILIPP: Kann ich jetzt?
MLM: Sie können dem zustimmen, wenn Sie das Gleiche empfinden. Wenn für Sie aber etwas anderes vorrangig ist, geben Sie es bitte an.
PHILIPP: Es war ein gemeinsamer Aufbruch. Wir kommen beide aus Familien, in denen es nicht üblich war, unverheiratet zusammenzuleben. Die gegenseitige Unterstützung fand ich allein deswegen ebenso bedeutsam. Die Familiensituationen waren die ganze Zeit über ein Thema für uns beide. Wir zeigten Ernsthaftigkeit, die Dinge anzugehen, beispielsweise das Studium oder die damaligen politischen Überlegungen. Das war etwas Besonderes. Es war klar, dass jeder den anderen unterstützt, auch, als Annegrets Vater starb.
Wir sind viel gemeinsam unterwegs gewesen, wir hatten Freunde, mit denen wir vieles unternommen haben.
ANNEGRET: Im Vergleich zu unseren Herkunftsfamilien haben wir uns auch immer noch das Leben gegönnt. Wir haben Reisen gemacht, jedes Jahr, das war sehr ungewöhnlich für uns. Wir haben uns auch Dinge genommen, die unsere Eltern nicht hatten, und uns eine eigene Lebensqualität geschaffen.
MLM: Das sehe ich als ein sehr gutes Zeichen an. Denn für eine gemeinsame Entwicklung sind unbewusste Schuldgefühle, deretwegen man sich nichts gönnen darf, die größte Bremse.
PHILIPP: Die gab es schon.
ANNEGRET: Aber wir haben es doch immer geschafft – trotz dieser Schuldgefühle.
MLM: Ich will Ihnen nun kurz skizzieren, weshalb ich diese Fragen überhaupt stelle. Sie haben neun bis zwölf Momente herausgefunden, drei gute Eigenschaften jeweils des Partners und drei der Beziehung. Diese goldenen Momente sind positive Signale ihrer Beziehung. Man kann eine Beziehung als Kombination zweier Lebensgeschichten betrachten. Eine Lebensgeschichte ist hochpräzise und baut sozusagen durch den vieljährigen Erlebnisprozess, den wir durchmachen – das ist, nebenbei gesagt, die bedeutendste Form des spontanen Lernens –, bestimmte Angstbereitschaften, bestimmte Lustbereitschaften, bestimmte Abwehrbereitschaften auf. Wenn zwei sich treffen, kombinieren diese Valenzen sich auf eine einzigartige Weise. Wir werden in diesem magischen Moment auf ganz besondere Weise aktualisiert – ein anderer Partner würde andere Seiten mobilisieren. Es gibt keine zweite identische Beziehung auf Erden.
Was Sie nun in diesen Momenten herausgefunden haben, ist eine Essenz dieser Kombination und damit Ihr realistisches psychologisches Fundament. Das kann Ihnen nie abhanden kommen. Da es aber doch nach ein paar Jahren verschwunden ist, muss man sich fragen, was damit geschah. Die Antwort ist wichtig: Das Fundament ist verschüttet, aber nicht verloren. Was Sie sich jetzt mit dem Auffinden der goldenen Merkmale erarbeiteten, ist also ein Stück konkrete Utopie, Ihr Prinzip Hoffnung.
Es kommt nun darauf an, dass man als Paar aktiv und bewusst – etwa in einigen Zwiegesprächen – jene Lebens- und Liebesbedingungen der Verliebtheitszeit, die einem sozusagen vom Zufall oder Schicksal gratis zur Verfügung gestellt wurden, erkundet, um sie in den heutigen Alltag einzubauen. Damit werden Sie zu Architekten Ihrer eigenen Beziehung.
Ein Paar mittleren Alters kommt zu mir in einer chronischen, nun sich zuspitzenden Krise, die durch plötzliche Abbrüche und Trennungsimpulse gekennzeichnet ist. Der Ausschnitt aus ihrem Gespräch umfasst in kürzester Form die faszinierenden Eigenschaften, dann aber vor allem das Erkunden der Lebensund Liebesbedingungen, die damals ihre Verliebtheit überhaupt aufblühen ließen. Dieses Liebesfeld ist in jedem Falle hochkomplex. Was im ersten Überblick zur Sprache kommt, ist eine noch sehr grobe Struktur. Die feinen, ganz intimen Liebesbedingungen, auf die es ebenfalls ankommt, ergeben sich erst in einer Serie fokussierter Gespräche. Doch ist es sehr wohltuend für die aktuelle Misere, sich klar zu machen, auf welche wesentlichen allgemeinen Liebesbedingungen beide zu wenig achteten. Es geht also darum, für die krisenhafte Gegenwart günstigere Bedingungen präzise zu ermitteln und natürlich weitgehend im Alltag zu realisieren.
MANFRED: Das war auf einem Campingplatz, wo ich sie ganz zufällig zwischen den anderen Jugendlichen im Zeltlager getroffen habe. Sie war 15, und ich habe ihre Augen gesehen mit einem Anflug von einem scheuen Lächeln. Ich war gleich ganz nah bei ihr, als ich sie sah. Ich war 19 und hatte eigentlich eine Beziehung zu Hause, schon zwei Jahre lang. Ich war sozusagen gebunden. Die Schule war gerade vorbei.
MLM: Versuchen Sie nun, die drei seelischen Eigenschaften herauszufinden, die Sie faszinierten. Sie haben die Augen erwähnt und dieses scheue Lächeln. Was sprachen die Augen?
MANFRED: Wärme und Verbundenheit.
MLM: Empfinden Sie beides unterschiedlich?
MANFRED: Ja. Und eine Traurigkeit.
MLM: Was ist das mit dem scheuen Lächeln?
MANFRED: Das Zurückhaltende, das faszinierte mich. Sie war sehr jung, sie war fünfzehn, so vorsichtig.
MLM: Die Zurückhaltung kommt also zu den drei ersten Momenten hinzu, Wärme, Verbundenheit und Traurigkeit.
SUSANN: Ich glaube, mich faszinierte mehr sein äußeres Verhalten: Seine «Die Welt gehört mir»-Haltung. Das hat mir imponiert. Trotzdem erschien er mir sehr unsicher. Er hat sich gar nicht zu mir getraut, er war scheu, gleichzeitig aber einer, der sehr mutig auf die Welt zugeht.
MLM: Kühn?
SUSANN: Ja, mir kam es so vor, erobernd. Genau!
MLM: Das wäre die erste Dimension. Die Welt gehört mir. Er kommt von außen und von oben sozusagen. Das ist das eine, und das andere ist, dass er sehr unsicher war in Ihren Augen. Susann: Was mich beeindruckte, war eine Arroganz, die mich heute abstößt.
MLM: Hatten Sie beide eine Verliebtheitszeit?
SUSANN: Ja, drei Jahre später, mit achtzehn, als ich ihn besuchte.
MLM: Fast jedes Paar erlebt am Anfang eine Zeit der besonders intensiven Verliebtheit, bis sich dann Haus, Hof, Kinder und Alltag einstellen und alles anders wird. Welche drei schönsten Qualitäten hatte Ihre Beziehung? Was kennzeichnete im positiven Sinne Ihre Verliebtheitszeit damals?
SUSANN: Ich war nun erstmals in einer großen Stadt und hatte nur Augen für Manfred. Er war diese drei Monate meine einzige Beziehung, ich war ziemlich verliebt. Das war okay. Egal, was er gemacht hat, ich habe es akzeptiert, so wie es war.
Danach habe ich mich aber von ihm getrennt und einen anderen geheiratet im Ausland. Dann konnte ich ihn nicht vergessen und kehrte zurück.
Die drei Qualitäten der Beziehung – für dich war es wahrscheinlich der Sex. Du sagst, dass wir immer zusammen geschlafen haben.
MANFRED: Ja, wobei ich einfach das Gefühl gehabt habe, dass in dir eine ganz große Offenheit war für mich. Ich habe mich akzeptiert gefühlt unter einem Dach und das heißt in meinen sexuellen Bedürfnissen, aber auch in den restlichen Dingen.
SUSANN: Für mich war es klar, aber für dich nicht so. Du warst noch am Gucken, was die anderen Frauen machen. Ich wollte aber keinen Mann, der nicht zu mir steht. Vielleicht reicht das, was die damaligen Qualitäten betrifft.
MLM: Gut. Der Erkenntnisgewinn aus der damaligen Zeit besteht vor allem darin, sich die Liebesbedingungen oder Lebensbedingungen bewusst zu machen, die erfüllt waren, als Sie sich verliebten, und die heute nicht mehr gegeben sind.
MANFRED: Die Akzeptanz, das heißt, dass ich mich so, wie ich war, akzeptiert gefühlt habe. Jetzt fühle ich mich nur unter einem Dauerfeuer der Kritik. Ganz viele meiner Eigenschaften, inklusive sexueller Bedürfnisse, aber auch andere stehen unter Beschuss. Ich habe mich akzeptierter gefühlt, und das ist mit Sicherheit meine Basis für unsere Beziehung, weil ich ein Problem habe, mich akzeptiert zu fühlen.
SUSANN: Mir kommt es so vor, als wäre ich damals verliebt gewesen und hätte den Hass nicht gesehen. Ich habe dich nicht durchschaut. Ich weiß noch, wie sehr ich auch während der ersten Heirat von dir geträumt habe. Du warst für mich damals ein anderer Mensch, ein ganz selbstbewusster Typ, und heute bist du für mich das Gegenteil. Ich kann aber nicht sagen, was heute nicht da ist.
MLM: Haben Sie damals mehr Zeit miteinander gehabt?
SUSANN: Ja.
MANFRED: Definitiv. Ich habe studiert.
MLM: Und haben Sie damals mehr miteinander gesprochen als heute?
MANFRED: Wir haben in den letzten zehn Jahren eine andere Gesprächskultur gehabt als in den letzten zwei Jahren, wo wir viel weniger miteinander reden und viel feindlicher miteinander sind. Wir hatten immer über unsere Beziehung Gespräche – eine Stunde oder anderthalb alle zwei bis drei Wochen. Wir haben einfach miteinander geredet. Danach ergab sich immer ein ganz großes Einverständnis – und das ist jetzt weg.
SUSANN: Das war, als wir achtzehn waren, als wir verliebt waren.
MANFRED: Ich war auch sehr verliebt, als du vor zehn Jahren herkamst. Darauf beziehe ich mich auch.
MLM: Es waren also drei Bedingungen gegeben, die damals im Kontrast zu heute vorhanden waren: mehr Zeit füreinander, mehr wesentliche Gespräche und Anerkennung. Wechselseitige Anerkennung gehört zu den drei entscheidenden Qualitäten einer guten Beziehung – Offenheitsbereitschaft und Zuwendungsbedürfnis kommen hinzu. Aber man kann sie nicht so ohne weiteres verlangen oder herbeizaubern. Vielmehr sind sie an Einfühlung gebunden. Und wechselseitige Einfühlung wächst durch die Gespräche. Wir sind im Verliebtheitszustand natürliche Zwiegesprächler und schildern dem anderen ununterbrochen unser Selbstporträt und unsere Art, die Welt zu erleben. Es geht also für Sie darum, vor allem die Gespräche in den Alltag einzubauen – und mehr Zeit füreinander zu reservieren.
SUSANN: Wenn man es jetzt so klar sieht, müsste es zu realisieren sein.
«Die Einheit des Orts und das Drama. –
Wenn die Ehegatten nicht beisammen lebten,
würden die guten Ehen häufiger sein.»
Nietzsche, «Menschliches, Allzumenschliches»
Erster Band, Nr. 393
Ein junges Paar, drei Jahre zusammen, kommt, weil es «vor einiger Zeit einen richtig großen Krach» erlebte, eine «Explosion all der Dinge, die wir nicht geändert haben, obwohl einige Ansätze da waren». Der Gesprächsausschnitt betrifft nur das Erkunden der Liebesbedingungen.
MLM: Jetzt zur zentralen Frage: Welche Liebesbedingungen oder Lebensbedingungen waren damals vor drei Jahren gegeben, die heute nicht mehr vorhanden sind?
RUTH: Wir wohnen jetzt zusammen.
MLM: Meinen Sie also, das Nicht-Zusammenwohnen damals war eine wichtige Bedingung?
RUTH: Anscheinend ja, wenn man es so sieht, ja. Man kommt besser zu sich, wenn man nicht zusammenlebt. Als wir zusammengezogen sind, hat es bei uns öfters geknatscht. Wir hatten paradoxerweise weniger miteinander zu tun als vorher, fand ich. Andererseits ist es auch superschön, zusammenzuwohnen. Ich finde es auch sehr angenehm, habe mich aber trotzdem oft gefragt, ob es das ist, was ich eigentlich will.
MAX: Ich denke, wir waren unternehmungslustiger – und zwar beide.
RUTH: Wir hatten auch beide mehr Zeit, wesentlich mehr Zeit als jetzt.
MLM