Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten? - Rudolf Steiner - E-Book

Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten? E-Book

Rudolf Steiner

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  • Herausgeber: epubli
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2020
Beschreibung

Eine Einführung in die höheren geistigen Welten von Rudolf Steiner, Begründer der Anthroposophie und der Waldorfpädagogik. Der spirituelle Erkenntnispfad und die Methode zum Beschreiten eines solchen wird ausführlich dargestellt. Ziel ist es für den Geistführer, höhere Erkenntnis zu erlangen und Zugang zur spirituellen, nicht-materiellen Welt zu erhalten.

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Seitenzahl: 254

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LUNATA

Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?

Rudolf Steiner

Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?

© 1904 by Rudolf Steiner

Umschlagbild: Siebentes apokalyptisches Siegel,

Rudolf Steiner

© 2020 Lunata Berlin

Inhalt

Vorrede zur ersten Buchausgabe

Vorrede zur fünften Auflage

Vorrede zum achten bis elften Tausend

Bedingungen

Innere Ruhe

Die Stufen der Einweihung

Die Vorbereitung

Die Erleuchtung

Kontrolle der Gedanken und Gefühle

Die Einweihung

Praktische Gesichtspunkte

Die Bedingungen zur Geheimschulung

Über einige Wirkungen der Einweihung

Veränderungen im Traumleben des Schülers

Die Erlangung der Kontinuität des Bewusstseins

Die Spaltung der Persönlichkeit während der Geistesschulung

Der Hüter der Schwelle

Leben und Tod. Der große Hüter der Schwelle

Anmerkungen

Über den Autor

Vorrede zur ersten Buchausgabe

(dritte Auflage 1909)

Es erscheinen hiermit als Buch meine Ausführungen, welche ursprünglich als einzelne Aufsätze unter dem Titel »Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?« abgedruckt waren. Zunächst wird dieser Band den ersten Teil bringen; ein folgender wird die Fortsetzung enthalten. Diese Arbeit über die Entwicklung des Menschen zum Erfassen der übersinnlichen Welten soll nicht in neuer Gestalt vor die Welt treten ohne einige Geleitworte, welche ihr hiermit vorgesetzt werden. Die in ihr enthaltenen Mitteilungen über die Seelenentwicklung des Menschen möchten verschiedenen Bedürfnissen dienen. Zunächst soll denjenigen Personen etwas gegeben werden, welche sich hingezogen fühlen zu den Ergebnissen der Geistesforschung und welche die Frage aufwerfen müssen: Ja, woher haben diejenigen ihr Wissen, welche behaupten, etwas über hohe Rätselfragen des Lebens sagen zu können? Die Geisteswissenschaft sagt über solche Rätsel etwas. Wer die Tatsachen beobachten will, welche zu diesen Aussagen führen, der muss zu übersinnlichen Erkenntnissen aufsteigen. Er muss den Weg gehen, welcher in dieser Schrift zu schildern versucht wird. Doch wäre es ein Irrtum, zu glauben, dass die Mitteilungen der Geisteswissenschaft für den wertlos seien, der nicht Neigung oder Möglichkeit hat, diesen Weg selbst zu gehen. Um die Tatsachen zu erforschen, muss man die Fähigkeit haben, in die übersinnlichen Welten hineinzutreten. Sind sie aber erforscht und werden sie mitgeteilt, so kann auch derjenige, welcher sie nicht selber wahrnimmt, sich eine hinreichende Überzeugung von der Wahrheit der Mitteilungen verschaffen. Ein großer Teil derselben ist ohne weiteres dadurch zu prüfen, dass man die gesunde Urteilskraft in wirklich unbefangener Weise auf sie anwendet. Man wird sich nur nicht in dieser Unbefangenheit stören lassen dürfen durch alle möglichen Vorurteile, die einmal im Menschenleben so zahlreich vorhanden sind. Es wird zum Beispiel leicht vorkommen, dass jemand findet, dies oder jenes vertrage sich nicht mit gewissen wissenschaftlichen Ergebnissen der Gegenwart. In Wahrheit gibt es kein wissenschaftliches Ergebnis, welches der geistigen Forschung widerspricht. Doch kann man leicht glauben, dass dieses oder jenes wissenschaftliche Urteil zu den Mitteilungen über die höheren Welten nicht stimme, wenn man nicht allseitig und unbefangen die wissenschaftlichen Ergebnisse zu Rate zieht. Man wird finden, dass, je unbefangener man die Geisteswissenschaft gerade mit den positiven wissenschaftlichen Errungenschaften zusammenhält, um so schöner die volle Übereinstimmung erkannt werden kann. Ein anderer Teil der geisteswissenschaftlichen Mitteilungen wird sich allerdings mehr oder weniger dem bloßen Verstandesurteile entziehen. Aber es wird unschwer derjenige ein rechtes Verhältnis auch zu diesem Teile gewinnen können, welcher einsieht, dass nicht nur der Verstand, sondern auch das gesunde Gefühl ein Richter über die Wahrheit sein kann. Und wo dieses Gefühl sich nicht durch Sympathie oder Antipathie für diese oder jene Meinung treiben lässt, sondern wirklich unbefangen die Erkenntnisse der übersinnlichen Welten auf sich wirken lässt, da wird sich auch ein entsprechendes Gefühlsurteil ergeben.

Und noch manch anderen Weg gibt es zur Bewahrheitung dieser Erkenntnisse für diejenigen Personen, welche den Pfad in die übersinnliche Welt nicht beschreiten können und wollen. Solche Menschen können aber gleichwohl fühlen, welchen Wert diese Erkenntnisse für das Leben haben, auch wenn sie sie nur aus den Mitteilungen der Geistesforscher erfahren. Ein schauender Mensch kann nicht ein jeder augenblicklich werden; eine rechte gesunde Lebensnahrung sind aber die Erkenntnisse des schauenden Menschen für jedermann. Denn anwenden im Leben kann sie jeder. Und wer es tut, wird bald einsehen, was das Leben mit ihnen auf allen Gebieten sein kann und was es entbehrt, wenn man sie ausschließt. Die Erkenntnisse der übersinnlichen Welten erweisen sich, richtig im Leben angewendet, nicht unpraktisch, sondern im höchsten Sinne praktisch. Wenn aber auch jemand den höheren Erkenntnispfad nicht selbst betteten will, so kann er doch, wenn er Neigung für die auf demselben beobachteten Tatsachen hat, fragen: Wie kommt der schauende Mensch zu diesen Tatsachen? Denjenigen Personen, welche ein Interesse an dieser Frage haben, möchte diese Schrift ein Bild von dem geben, was man unternehmen muss, um die übersinnliche Welt wirklich kennenzulernen. Sie möchte den Weg in dieselbe so darstellen, dass auch derjenige, der ihn nicht selbst geht, Vertrauen gewinnen kann zu dem, was ein solcher sagt, der ihn gegangen ist. Man kann ja auch, wenn man gewahr wird, was der Geistesforscher tut, dies richtig finden und sich sagen: die Schilderung des Pfades in die höheren Welten macht auf mich einen solchen Eindruck, dass ich verstehen kann, warum die mitgeteilten Tatsachen mir einleuchtend erscheinen. So soll also diese Schrift jenen dienen, welche in ihrem Wahrheitssinn und Wahrheitsgefühl für die übersinnliche Welt eine Stärkung und Sicherheit wünschen. Nicht minder möchte sie aber auch denjenigen etwas bieten, welche den Weg zu den übersinnlichen Erkenntnissen selbst suchen. Diejenigen Personen werden die Wahrheit des hier Dargestellten am besten erproben, welche sie in sich selbst verwirklichen. Wer solch eine Absicht hat, wird gut tun, sich immer wieder zu sagen, dass bei Darstellung der Seelen-Entwicklung mehr notwendig ist als ein solches Bekanntwerden mit dem Inhalte, wie es bei anderen Ausführungen oftmals angestrebt wird. Ein intimes Hineinleben in die Darstellung ist notwendig; die Voraussetzung soll man machen, dass man die eine Sache nicht nur durch das begreifen soll, was über sie selbst gesagt wird, sondern durch manches, was über ganz anderes mitgeteilt wird. Man wird so die Vorstellung erhalten, dass nicht in einer Wahrheit das Wesentliche liegt, sondern in dem Zusammenstimmen aller. Wer Übungen ausführen will, muss das ganz ernstlich bedenken. Eine Übung kann richtig verstanden, auch richtig ausgeführt sein; und dennoch kann sie unrichtig wirken, wenn nicht von dem Ausführenden ihr eine andere Übung hinzugefügt wird, welche die Einseitigkeit der ersten zu einer Harmonie der Seele auslöst. Wer diese Schrift intim liest, so dass ihm Lesen wie ein innerliches Erleben wird, der wird sich nicht nur mit dem Inhalte bekannt machen, sondern auch an dieser Stelle dieses, an einer anderen jenes Gefühl haben; und dadurch wird er erkennen, welches Gewicht für die Seelenentwicklung dem einen oder dem anderen zukommt. Er wird auch herausfinden, in welcher Form er diese oder jene Übung, nach seiner besonderen Individualität, gerade bei sich versuchen sollte. Wenn, wie hier, Beschreibungen in Betracht kommen von Vorgängen, welche erlebt werden sollen, so erweist sich als notwendig, dass man auf den Inhalt immer wieder zurückgreife; denn man wird sich überzeugen, dass man manches erst dann für sich selbst zu einem befriedigenden Verständnis bringt, wenn man es versucht hat und nach dem Versuche gewisse Feinheiten der Sache bemerkt, die einem früher entgehen mussten.

Auch solche Leser, welche den Weg, der vorgezeichnet ist, nicht zu gehen beabsichtigen, werden in der Schrift manches Brauchbare für das innere Leben finden: Lebensregeln, Hinweise, wie dies oder jenes sich aufklärt, was rätselhaft erscheint und so weiter.

Und mancher, der durch seine Lebenserfahrung dieses oder jenes hinter sich hat, in mancher Beziehung eine Lebenseinweihung durchgemacht hat, wird eine gewisse Befriedigung finden können, wenn er im Zusammenhang geklärt findet, was ihm im einzelnen vorgeschwebt hat; was er schon wusste, ohne vielleicht dies Wissen bis zu einer für ihn selbst hinreichenden Vorstellung gebracht zu haben.

Berlin, 12. Oktober 1909

Rudolf Steiner

Vorrede zur fünften Auflage

(1914)

Für diese Neuauflage von »Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?« ist die vor mehr als zehn Jahren niedergeschriebene Darstellung in allen Einzelheiten wieder durchgearbeitet worden. Das Bedürfnis nach solcher Durcharbeitung entsteht naturgemäß bei Mitteilungen über Seelenerlebnisse und Seelenwege von der Art, wie sie in diesem Buche gegeben sind. Es kann ja keinen Teil innerhalb des Mitgeteilten geben, mit dem die Seele des Mitteilers nicht innig verbunden bliebe und der nicht etwas enthielte, das an dieser Seele fortdauernd arbeitet. Es ist wohl auch kaum anders möglich, als dass mit diesem seelischen Arbeiten sich ein Streben nach erhöhter Klarheit und Deutlichkeit der vor Jahren gegebenen Darstellung verbindet. Diesem Streben ist entsprungen, was ich für das Buch bei dieser Neuauflage zu tun bemüht war. Zwar sind alle wesentlichen Glieder der Auseinandersetzungen, alle Hauptsachen so geblieben, wie sie waren; und doch sind wichtige Änderungen vollzogen worden. Ich konnte für eine genauere Charakterisierung im einzelnen an vielen Stellen manches tun. Und dies schien mir wichtig. Will jemand das in dem Buche Mitgeteilte in dem eigenen Geistesleben anwenden, so ist es von Bedeutung, dass er die Seelenwege, von denen die Rede ist, in möglichst genauer Charakterisierung ins Auge zu fassen vermag. In einem viel höheren Maße als an die Schilderung der Tatsachen der physischen Welt können sich an diejenige innerer geistiger Vorgänge Missverständnisse knüpfen. Das Bewegliche des Seelenlebens, die Notwendigkeit, diesem Leben gegenüber nie aus dem Bewusstsein zu verlieren, wie verschieden es ist von allem Leben in der physischen Welt, und vieles andere, machen solche Missverständnisse möglich. Ich habe bei dieser Neuauflage die Aufmerksamkeit darauf gerichtet, die Stellen des Buches aufzufinden, wo solche Missverständnisse entstehen können; und ich habe mich bemüht, bei der Abfassung ihrem Entstehen entgegenzuarbeiten.

Als ich die Aufsätze schrieb, aus welchen das Buch zusammengesetzt ist, musste über manches auch aus dem Grunde anders gesprochen werden als gegenwärtig, weil ich auf den Inhalt dessen, was ich in den letzten zehn Jahren über Tatsachen der Erkenntnis geistiger Welten veröffentlicht habe, damals anders hinzudeuten hatte, als es jetzt, nach der Veröffentlichung, zu geschehen hat. In meiner »Geheimwissenschaft«, in der »Führung des Menschen und der Menschheit«, in »Ein Weg zur Selbsterkenntnis« und besonders in »Die Schwelle der geistigen Welt«, auch in anderen meiner Schriften sind geistige Vorgänge geschildert, auf deren Vorhandensein dieses Buch vor mehr als zehn Jahren zwar schon hindeuten musste, dies aber doch mit anderen Worten, als es gegenwärtig richtig scheint Ich musste damals von vielem, das in dem Buche noch nicht geschildert wurde, sagen, es könne durch »mündliche Mitteilung« erfahren werden. Gegenwärtig ist nun vieles von dem veröffentlicht, was mit solchen Hinweisen gemeint war. Es waren aber diese Hinweise, die irrtümliche Meinungen bei den Lesern vielleicht nicht völlig ausschlossen. Man könnte etwa in dem persönlichen Verhältnis zu diesem oder jenem Lehrer bei dem nach Geistesschulung Strebenden etwas viel Wesentlicheres sehen, als gesehen werden soll. Ich hoffe, dass es mir gelungen ist, in dieser neuen Auflage durch die Art der Darstellung mancher Einzelheiten schärfer zu betonen, wie es bei dem, der Geistesschulung sucht im Sinne der gegenwärtigen geistigen Bedingungen, viel mehr auf ein völlig unmittelbares Verhältnis zur objektiven Geistes-Welt als auf ein Verhältnis zur Persönlichkeit eines Lehrers ankommt. Dieser wird auch in der Geistesschulung immer mehr die Stellung nur eines solchen Helfers annehmen, die der Lehrende, gemäß den neueren Anschauungen, in irgendeinem anderen Wissenszweige innehat. Ich glaube genügend darauf hingewiesen zu haben, dass des Lehrers Autorität und der Glaube an ihn in der Geistesschulung keine andere Rolle spielen sollten, als dies der Fall ist auf irgendeinem anderen Gebiete des Wissens und Lebens. Mir scheint viel darauf anzukommen, dass immer richtiger beurteilt werde gerade dieses Verhältnis des Geistesforschers zu Menschen, die Interesse entwickeln für die Ergebnisse seines Forschens. So glaube ich das Buch verbessert zu haben, wo ich das Verbesserungsbedürftige nach zehn Jahren zu finden in der Lage war. An diesen ersten Teil soll sich ein zweiter anschließen. Dieser soll weitere Ausführungen über die Seelenverfassung bringen, welche den Menschen zum Erleben der höheren Welten führt. Die Neuauflage des Buches lag fertig gedruckt vor, als der große Krieg begann, den die Menschheit gegenwärtig erlebt. Diese Vorbemerkungen habe ich zu schreiben, während meine Seele tief bewegt ist von dem schicksaltragenden Ereignisse.

Berlin, 7. September 1914

Rudolf Steiner

Vorrede zum achten bis elften Tausend

(1918)

An dem Inhalte dieser Neuauflage des vorliegenden Buches schienen mir beim neuerlichen Durcharbeiten nur geringe Änderungen notwendig. Dagegen habe ich dieser Ausgabe ein »Nachwort« hinzugefügt, durch das ich mich bemüht habe, manches deutlicher als früher zu sagen, was die seelischen Grundlagen betrifft, auf welche die Mitteilungen des Buches gestellt werden müssen, damit sie ohne Missverständnis entgegengenommen werden. Ich glaube, dass der Inhalt dieses Nachwortes auch geeignet sein könnte, manchen Gegner der anthroposophischen Geisteswissenschaft darüber aufzuklären, dass er sein Urteil nur dadurch aufrechterhalten kann, weil er sich unter dieser Geisteswissenschaft etwas ganz anderes vorstellt, als sie ist; während er, was sie ist, gar nicht ins Auge fasst.

Mai 1918

Rudolf Steiner

Bedingungen

Es schlummern in jedem Menschen Fähigkeiten, durch die er sich Erkenntnisse über höhere Welten erwerben kann. Der Mystiker, der Gnostiker, der Theosoph sprachen stets von einer Seelen- und einer Geisterwelt, die für sie ebenso vorhanden sind wie diejenige, die man mit physischen Augen sehen, mit physischen Händen betasten kann. Der Zuhörer darf sich in jedem Augenblicke sagen: wovon dieser spricht, kann ich auch erfahren, wenn ich gewisse Kräfte in mir entwickele, die heute noch in mir schlummern. Es kann sich nur darum handeln, wie man es anzufangen hat, um solche Fähigkeiten in sich zu entwickeln. Dazu können nur diejenigen Anleitung geben, die schon in sich solche Kräfte haben. Es hat, seit es ein Menschengeschlecht gibt, auch immer eine Schulung gegeben, durch die solche, die höhere Fähigkeiten hatten, denen Anleitung gaben, die ebensolche Fähigkeiten suchten. Man nennt solche Schulung Geheimschulung; und der Unterricht, welcher da empfangen wird, heißt geheimwissenschaftlicher oder okkulter Unterricht. Eine solche Bezeichnung erweckt naturgemäß Missverständnis. Wer sie hört, kann leicht zu dem Glauben verführt werden, dass diejenigen, die für solche Schulung tätig sind, eine besonders bevorzugte Menschenklasse darstellen wollen, die willkürlich ihr Wissen den Mitmenschen vorenthält. Ja, man denkt wohl auch, dass vielleicht überhaupt nichts Erhebliches hinter solchem Wissen stecke. Denn, wenn es ein wahres Wissen wäre – so ist man versucht zu denken –, so brauchte man daraus kein Geheimnis zu machen: man könnte es öffentlich mitteilen und die Vorteile davon allen Menschen zugänglich machen.

Diejenigen, welche in die Natur des Geheimwissens eingeweiht sind, wundern sich nicht im geringsten darüber, dass die Uneingeweihten so denken. Worin das Geheimnis der Einweihung besteht, kann nur derjenige verstehen, der selbst diese Einweihung in die höheren Geheimnisse des Daseins bis zu einem gewissen Grade erfahren hat. Nun kann man fragen: wie soll denn der Uneingeweihte überhaupt irgendein menschliches Interesse an dem sogenannten Geheimwissen unter solchen Umständen erlangen? Wie und warum soll er etwas suchen, von dessen Natur er sich doch gar keine Vorstellung machen kann? Aber schon einer solchen Frage liegt eine ganz irrtümliche Vorstellung von dem Wesen des Geheimwissens zugrunde. In Wahrheit verhält es sich mit dem Geheimwissen nämlich doch nicht anders als mit allem übrigen Wissen und Können des Menschen. Dieses Geheimwissen ist für den Durchschnittsmenschen in keiner anderen Beziehung ein Geheimnis, als warum das Schreiben für den ein Geheimnis ist, der es nicht gelernt hat. Und wie jeder schreiben lernen kann, der die rechten Wege dazu wählt, so kann jeder ein Geheimschüler, ja ein Geheimlehrer werden, der die entsprechenden Wege dazu sucht. Nur in einer Hinsicht liegen die Verhältnisse hier noch anders als beim äußeren Wissen und Können. Es kann jemandem durch Armut, durch die Kulturverhältnisse, in die er hineingeboren ist, die Möglichkeit fehlen, sich die Kunst des Schreibens anzueignen; für die Erlangung von Wissen und Können in den höheren Welten gibt es kein Hindernis für denjenigen, der diese ernstlich sucht.

Viele glauben, man müsse die Meister des höheren Wissens da und dort aufsuchen, um von ihnen Aufschlüsse zu erhalten. Aber zweierlei ist richtig. Erstens wird derjenige, der ernstlich nach höherem Wissen trachtet, keine Mühe, kein Hindernis scheuen, um einen Eingeweihten aufzusuchen, der ihn in die höheren Geheimnisse der Welt einführen kann. Aber andererseits kann auch jeder sich klar darüber sein, dass ihn die Einweihung unter allen Umständen finden wird, wenn ernstes und würdiges Streben nach Erkenntnis vorliegt. Denn es gibt ein natürliches Gesetz für alle Eingeweihten, das sie dazu veranlasst, keinem suchenden Menschen ein ihm gebührendes Wissen vorzuenthalten. Aber es gibt ein ebenso natürliches Gesetz, welches besagt, dass niemandem irgend etwas von dem Geheimwissen ausgeliefert werden kann, zu dem er nicht berufen ist und ein Eingeweihter ist um so vollkommener, je strenger er diese beiden Gesetze beobachtet. Das geistige Band, das alle Eingeweihten umfasst, ist kein äußeres, aber die beiden genannten Gesetze bilden feste Klammern, durch welche die Bestandteile dieses Bandes zusammengehalten werden. Du magst in intimer Freundschaft mit einem Eingeweihten leben: du bist doch so lange von seinem Wesen getrennt, bis du selbst ein Eingeweihter geworden bist. Du magst das Herz, die Liebe eines Eingeweihten im vollsten Sinne genießen: sein Geheimnis wird er dir erst anvertrauen, wenn du reif dazu bist. Du magst ihm schmeicheln, du magst ihn foltern: nichts kann ihn bestimmen, dir irgend etwas zu verraten, von dem er weiß, dass es dir nicht verraten werden darf, weil du auf der Stufe deiner Entwicklung dem Geheimnis noch nicht den rechten Empfang in deiner Seele zu bereiten verstehst.

Die Wege, die den Menschen reif zum Empfange eines Geheimnisses machen, sind genau bestimmte. Ihre Richtung ist mit unauslöschbaren, ewigen Buchstaben vorgezeichnet in den Geisteswelten, in denen die Eingeweihten die höheren Geheimnisse behüten. In alten Zeiten, die vor unsrer »Geschichte« liegen, waren die Tempel des Geistes auch äußerlich sichtbare; heute, wo unser Leben so ungeistig geworden ist, sind sie nicht in der Welt vorhanden, die dem äußeren Auge sichtbar ist. Aber sie sind geistig überall vorhanden; und jeder, der sucht, kann sie finden.

Nur in seiner eigenen Seele kann der Mensch die Mittel finden, die ihm den Mund der Eingeweihten öffnen. Gewisse Eigenschaften muss er in sich bis zu einem bestimmten hohen Grade entwickeln, dann können ihm die höchsten Geistesschätze zuteil werden.

Eine gewisse Grundstimmung der Seele muss den Anfang bilden. Der Geheimforscher nennt diese Grundstimmung den Pfad der Verehrung, der Devotion gegenüber der Wahrheit und Erkenntnis. Nur wer diese Grundstimmung hat, kann Geheimschüler werden. Wer Erlebnisse auf diesem Gebiete hat, der weiß, welche Anlagen bei denen schon in der Kindheit zu bemerken sind, welche später Geheimschüler werden. Es gibt Kinder, die mit heiliger Scheu zu gewissen von ihnen verehrten Personen emporblicken. Sie haben eine Ehrfurcht vor ihnen, die ihnen im tiefsten Herzensgrund verbietet, irgendeinen Gedanken aufkommen zu lassen von Kritik, von Opposition. Solche Kinder wachsen zu Jünglingen und Jungfrauen heran, denen es wohltut, wenn sie zu irgend etwas Verehrungsvollem aufsehen können. Aus den Reihen dieser Menschenkinder gehen viele Geheimschüler hervor. Hast du einmal vor der Türe eines verehrten Mannes gestanden und hast du bei diesem deinem ersten Besuche eine heilige Scheu empfunden, auf die Klinke zu drücken, um in das Zimmer zu treten, das für dich ein »Heiligtum« ist, so hat sich in dir ein Gefühl geäußert, das der Keim sein kann für deine spätere Geheimschülerschaft. Es ist ein Glück für jeden heranwachsenden Menschen, solche Gefühle als Anlagen in sich zu tragen. Man glaube nur ja nicht, dass solche Anlagen den Keim zur Unterwürfigkeit und Sklaverei bilden. Es wird später die erst kindliche Verehrung gegenüber Menschen zur Verehrung gegenüber Wahrheit und Erkenntnis. Die Erfahrung lehrt, dass diejenigen Menschen auch am besten verstehen, das Haupt frei zu tragen, die verehren gelernt haben da, wo Verehrung am Platze ist. Und am Platze ist sie überall da, wo sie aus den Tiefen des Herzens entspringt.

Wenn wir nicht das tiefgründige Gefühl in uns entwickeln, dass es etwas Höheres gibt, als wir sind, werden wir auch nicht in uns die Kraft finden, uns zu einem Höheren hinauf zu entwickeln. Der Eingeweihte hat sich nur dadurch die Kraft errungen, sein Haupt zu den Höhen der Erkenntnis zu erheben, dass er sein Herz in die Tiefen der Ehrfurcht, der Devotion geführt hat. Höhe des Geistes kann nur erklommen werden, wenn durch das Tor der Demut geschritten wird. Ein rechtes Wissen kannst du nur erlangen, wenn du gelernt hast, dieses Wissen zu achten. Der Mensch hat gewiss das Recht, sein Auge dem Lichte entgegenzuhalten; aber er muss dieses Recht erwerben. Im geistigen Leben gibt es ebenso Gesetze wie im materiellen. Streiche eine Glasstange mit einem entsprechenden Stoffe, und sie wird elektrisch, das heißt: sie erhält die Kraft, kleine Körper anzuziehen. Dies entspricht einem Naturgesetz. Hat man ein wenig Physik gelernt, so weiß man dies. Und ebenso weiß man, wenn man die Anfangsgründe der Geheimwissenschaft kennt, dass jedes in der Seele entwickelte Gefühl von wahrer Devotion eine Kraft entwickelt, die in der Erkenntnis früher oder später weiter führen kann.

Wer in seinen Anlagen die devotionellen Gefühle hat, oder wer das Glück hat, sie durch eine entsprechende Erziehung eingepflanzt zu erhalten, der bringt vieles mit, wenn er im späteren Leben den Zugang zu höheren Erkenntnissen sucht. Wer eine solche Vorbereitung nicht mitbringt, dem erwachsen schon auf der ersten Stufe des Erkenntnispfades Schwierigkeiten, wenn er nicht durch Selbsterziehung die devotionelle Stimmung energisch in sich zu erzeugen unternimmt. In unserer Zeit ist es ganz besonders wichtig, dass auf diesen Punkt die volle Aufmerksamkeit gelenkt wird. Unsere Zivilisation neigt mehr zur Kritik, zum Richten, zum Aburteilen und wenig zur Devotion, zur hingebungsvollen Verehrung. Unsere Kinder schon kritisieren viel mehr, als sie hingebungsvoll verehren. Aber jede Kritik, jedes richtende Urteil vertreiben ebenso sehr die Kräfte der Seele zur höheren Erkenntnis, wie jede hingebungsvolle Ehrfurcht sie entwickelt. Damit soll gar nichts gegen unsere Zivilisation gesagt sein. Es handelt sich hier gar nicht darum, Kritik an dieser unserer Zivilisation zu üben. Gerade der Kritik, dem selbstbewussten. menschlichen Urteil, dem »Prüfet alles und das Beste behaltet«, verdanken wir die Größe unserer Kultur. Nimmermehr hätte der Mensch die Wissenschaft, die Industrie, den Verkehr, die Rechtsverhältnisse unserer Zeit erlangt, wenn er nicht überall Kritik geübt, überall den Maßstab seines Urteils angelegt hätte.  Aber was wir dadurch an äußerer Kultur gewonnen haben, mussten wir mit einer entsprechenden Einbuße an höherer Erkenntnis, an spirituellem Leben bezahlen. Betont muss werden, dass es sich beim höheren Wissen nicht um Verehrung von Menschen, sondern um eine solche gegenüber Wahrheit und Erkenntnis handelt.

Nur das eine muss freilich sich jeder klarmachen, dass derjenige, der ganz in der veräußerlichten Zivilisation unserer Tage darinnen steckt, es sehr schwer hat, zur Erkenntnis der höheren Welten vorzudringen. Er kann es nur, wenn er energisch an sich arbeitet. In einer Zeit, in der die Verhältnisse des materiellen Lebens einfache waren, war auch geistiger Aufschwung leichter zu erreichen. Das Verehrungswürdige, das Heiligzuhaltende hob sich mehr von den übrigen Weltverhältnissen ab. Die Ideale werden in einem kritischen Zeitalter herabgezogen. Andere Gefühle treten an die Stelle der Verehrung, der Ehrfurcht, der Anbetung und Bewunderung. Unser Zeitalter drängt diese Gefühle immer mehr zurück, so dass sie durch das alltägliche Leben dem Menschen nur noch in sehr geringem Grade zugeführt werden. Wer höhere Erkenntnis sucht, muss sie in sich erzeugen. Er muss sie selbst seiner Seele einflößen. Das kann man nicht durch Studium. Das kann man nur durch das Leben. Wer Geheimschüler werden will, muss sich daher energisch zur devotionellen Stimmung erziehen. Er muss überall in seiner Umgebung, in seinen Erlebnissen dasjenige aufsuchen, was ihm Bewunderung und Ehrerbietung abzwingen kann. Begegne ich einem Menschen und tadle ich seine Schwächen, so raube ich mir höhere Erkenntniskraft; suche ich liebevoll mich in seine Vorzüge zu vertiefen, so sammle ich solche Kraft. Der Geheimjünger muss fortwährend darauf bedacht sein, diese Anleitung zu befolgen. Erfahrene Geheimforscher wissen, was sie für eine Kraft dem Umstande verdanken, dass sie immer wieder allen Dingen gegenüber auf das Gute sehen und mit dem richtenden Urteile zurückhalten. Aber dies darf nicht eine äußerliche Lebensregel bleiben. Sondern es muss von dem Innersten unsrer Seele Besitz ergreifen. Der Mensch hat es in seiner Hand, sich selbst zu vervollkommnen, sich mit der Zeit ganz zu verwandeln. Aber es muss sich diese Umwandlung in seinem Innersten, in seinem Gedankenleben vollziehen. Es genügt nicht, dass ich äußerlich in meinem Verhalten Achtung gegenüber einem Wesen zeige. Ich muss diese Achtung in meinen Gedanken haben. Damit muss der Geheimschüler beginnen, dass er die Devotion in sein Gedankenleben aufnimmt. Er muss auf die Gedanken der Unehrerbietung, der abfälligen Kritik in seinem Bewusstsein achten. Und er muss geradezu suchen, in sich Gedanken der Devotion zu pflegen.

Jeder Augenblick, in dem man sich hinsetzt, um gewahr zu werden in seinem Bewusstsein, was in einem steckt an abfälligen, richtenden, kritischen Urteilen über Welt und Leben: – jeder solcher Augenblick bringt uns der höheren Erkenntnis näher. Und wir steigen rasch auf, wenn wir in solchen Augenblicken unser Bewusstsein nur erfüllen mit Gedanken, die uns mit Bewunderung, Achtung, Verehrung gegenüber Welt und Leben erfüllen. Wer in diesen Dingen Erfahrung hat, der weiß, dass in jedem solchen Augenblicke Kräfte in dem Menschen erweckt werden, die sonst schlummernd bleiben. Es werden dadurch dem Menschen die geistigen Augen geöffnet. Er fängt dadurch an, Dinge um sich herum zu sehen, die er früher nicht hat sehen können. Er fängt an zu begreifen, dass er vorher nur einen Teil der ihn umgebenden Welt gesehen hat. Der Mensch, der ihm gegenübertritt, zeigt ihm jetzt eine ganz andere Gestalt als vorher. Zwar wird er durch diese Lebensregel noch nicht Imstandesein, schon das zu sehen, was zum Beispiel als die menschliche Aura beschrieben wird. Denn dazu ist eine noch höhere Schulung nötig. Aber eben zu dieser höheren Schulung kann er aufsteigen, wenn er vorher eine energische Schulung in Devotion durchgemacht hat.1

Geräuschlos und unbemerkt von der äußeren Welt vollzieht sich das Betreten des »Erkenntnispfades« durch den Geheimschüler. Niemand braucht an ihm eine Veränderung wahrzunehmen. Er tut seine Pflichten wie vorher; er besorgt seine Geschäfte wie ehedem. Die Verwandlung geht lediglich mit der inneren Seite der Seele vor sich, die dem äußeren Auge entzogen ist. Zunächst überstrahlt das ganze Gemütsleben des Menschen die eine Grundstimmung der Devotion gegenüber allem wahrhaft Ehrwürdigen. In diesem einen Grundgefühle findet sein ganzes Seelenleben den Mittelpunkt. Wie die Sonne durch ihre Strahlen alles Lebendige belebt, so belebt beim Geheimschüler die Verehrung alle Empfindungen der Seele.

Es wird dem Menschen anfangs nicht leicht, zu glauben, dass Gefühle wie Ehrerbietung, Achtung und so weiter etwas mit seiner Erkenntnis zu tun haben. Dies rührt davon her, dass man geneigt ist, die Erkenntnis als eine Fähigkeit für sich hinzustellen, die mit dem in keiner Verbindung steht, was sonst in der Seele vorgeht. Man bedenkt dabei aber nicht, dass die Seele es ist, welche erkennt und für die Seele sind Gefühle das, was für den Leib die Stoffe sind, welche seine Nahrung ausmachen. Wenn man dem Leibe Steine statt Brot gibt, so erstirbt seine Tätigkeit ähnlich ist es mit der Seele. Für sie sind Verehrung, Achtung, Devotion nährende Stoffe, die sie gesund, kräftig machen; vor allem kräftig zur Tätigkeit des Erkennens. Missachtung, Antipathie, Unterschätzung des Anerkennenswerten bewirken Lähmung und Ersterben der erkennenden Tätigkeit – für den Geistesforscher ist diese Tatsache an der Aura ersichtlich. Eine Seele, die sich verehrende, devotionelle Gefühle aneignet, bewirkt eine Veränderung ihrer Aura. Gewisse als gelbrote, braunrote zu bezeichnende geistige Farbentöne verschwinden und werden durch blaurote ersetzt. Dadurch aber öffnet sich das Erkenntnisvermögen; es empfängt Kunde von Tatsachen in seiner Umgebung, von denen es vorher keine Ahnung hatte. Die Verehrung weckt eine sympathische Kraft in der Seele, und durch diese werden Eigenschaften der uns umgebenden Wesen von uns angezogen, die sonst verborgen bleiben.

Wirksamer noch wird das, was durch die Devotion zu erreichen ist, wenn eine andere Gefühlsart hinzukommt. Sie besteht darinnen, dass der Mensch lernt, sich immer weniger den Eindrücken der Außenwelt hinzugeben, und dafür ein reges Innenleben entwickelt. Ein Mensch, der von einem Eindruck der Außenwelt zu dem andern jagt, der stets nach »Zerstreuung« sucht, findet nicht den Weg zur Geheimwissenschaft. Nicht abstumpfen soll sich der Geheimschüler für die Außenwelt; aber sein reiches Innenleben soll ihm die Richtung geben, in der er sich ihren Eindrücken hingibt Wenn ein gefühlsreicher und gemütstiefer Mensch durch eine schöne Gebirgslandschaft geht, erlebt er anderes als ein gefühlsarmer. Erst was wir im Innern erleben, gibt uns den Schlüssel zu den Schönheiten der Außenwelt der eine fährt über das Meer, und nur wenig innere Erlebnisse ziehen durch seine Seele; der andere empfindet dabei die ewige Sprache des Weltgeistes; ihm enthüllen sich geheime Rätsel der Schöpfung. Man muss gelernt haben, mit seinen eigenen Gefühlen, Vorstellungen umzugehen, wenn man ein inhaltvolles Verhältnis zur Außenwelt entwickeln will. Die Außenwelt ist in allen ihren Erscheinungen erfüllt von göttlicher Herrlichkeit; aber man muss das Göttliche erst in seiner Seele selbst erlebt haben, wenn man es in der Umgebung finden will.

Der Geheimschüler wird darauf verwiesen, sich Augenblicke in seinem Leben zu schaffen, in denen er still und einsam sich in sich selbst versenkt. Nicht den Angelegenheiten seines eigenen Ich aber soll er sich in solchen Augenblicken hingeben. Das würde das Gegenteil von dem bewirken, was beabsichtigt ist. Er soll vielmehr in solchen Augenblicken in aller Stille nachklingen lassen, was er erlebt hat, was ihm die äußere Welt gesagt hat. Jede Blume, jedes Tier, jede Handlung wird ihm in solchen stillen Augenblicken ungeahnte Geheimnisse enthüllen. Und er wird vorbereitet dadurch, neue Eindrücke der Außenwelt mit ganz anderen Augen zu sehen als vorher. Wer nur Eindruck nach Eindruck genießen will, stumpft sein Erkenntnisvermögen ab. Wer, nach dem Genuss, sich von dem Genuss etwas offenbaren lässt, der pflegt und erzieht sein Erkenntnisvermögen. Er muss sich nur daran gewöhnen, nicht etwa nur den Genuss nachklingen zu lassen, sondern, mit Verzicht auf weiteren Genuss, das Genossene durch innere Tätigkeit zu verarbeiten. Die Klippe ist hier eine sehr große, die Gefahr bringt. Statt in sich zu arbeiten, kann man leicht in das Gegenteil verfallen und den Genus nur hinterher noch völlig ausschöpfen wollen. Man unterschätze nicht, dass sich hier unabsehbare Quellen des Irrtums für den Geheimschüler eröffnen. Er muss ja hindurch zwischen einer Schar von Verführern seiner Seele. Sie alle wollen sein »Ich« verhärten, in sich selbst verschließen. Er aber soll es aufschließen für die Welt. Er muss ja den Genuss suchen; denn nur durch ihn kommt die Außenwelt an ihn heran. Stumpft er sich gegen den Genuss ab, so wird er wie eine Pflanze, die aus ihrer Umgebung keine Nahrungsstoffe mehr an sich ziehen kann. Bleibt er aber beim Genuss stehen, so verschließt er sich in sich selbst Er wird nur etwas für sich, nichts für die Welt bedeuten. Mag er in sich dann noch so sehr leben, mag er sein »Ich« noch so stark pflegen: die Welt scheidet ihn aus. Für sie ist er tot. Der Geheimschüler betrachtet den Genuss nur als ein Mittel, um sich für die Welt zu veredeln. Der Genuss ist ihm ein Kundschafter, der ihn unterrichtet über die Welt; aber er schreitet nach dem Unterricht durch den Genuss zur Arbeit vorwärts. Er lernt nicht, um das Gelernte als seine Wissensschätze aufzuhäufen, sondern um das Gelernte in den Dienst der Welt zu stellen.