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Rudolf Steiner ist der Begründer der Anthroposophie. Die Anthroposophie hat in den letzten Jahren immer mehr Einfluss gewonnen. Rudolf Steiner findet Anhänger in der bildenden Kunst, der Literatur, der Ernährungsphilosophie und vor allem in der Reformpädagogik. Die Pädagogik der Waldorfschulen basiert auf den Gedanken Rudolf Steiners. Steiner strebt eine ganzheitliche Menschenbildung an, bei der Leib und Seele durch eine entwicklungspsychologisch begründete »Erziehungskunst« harmonisch ausgebildet werden.
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Seitenzahl: 226
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Rudolf Steiner
An dem Inhalte dieser Neuauflage des vorliegenden Buches schienen mir beim neuerlichen Durcharbeiten nur geringe Änderungen notwendig. Dagegen habe ich dieser Ausgabe ein „Nachwort“ hinzugefügt, durch das ich mich bemüht habe, manches deutlicher als früher zu sagen, was die seelischen Grundlagen betrifft, auf welche die Mitteilungen des Buches gestellt werden müssen, damit sie ohne Mißverständnis entgegengenommen werden. Ich glaube, daß der Inhalt dieses Nachwortes auch geeignet sein könnte, manchen Gegner der anthroposophischen Geisteswissenschaft darüber aufzuklären, daß er sein Urteil nur dadurch aufrechterhalten kann, weil er sich unter dieser Geisteswissenschaft etwas ganz anderes vorstellt, als sie ist; während er, was sie ist, gar nicht ins Auge faßt.
Mai 1918 Rudolf Steiner
Es schlummern in jedem Menschen Fähigkeiten, durch die er sich Erkenntnisse über höhere Welten erwerben kann. Der Mystiker, der Gnostiker, der Theosoph sprachen stets von einer Seelen- und einer Geisterwelt, die für sie ebenso vorhanden sind wie diejenige, die man mit physischen Augen sehen, mit physischen Händen betasten kann. Der Zuhörer darf sich in jedem Augenblicke sagen: wovon dieser spricht, kann ich auch erfahren, wenn ich gewisse Kräfte in mir entwickele, die heute noch in mir schlummern. Es kann sich nur darum handeln, wie man es anzufangen hat, um solche Fähigkeiten in sich zu entwickeln. Dazu können nur diejenigen Anleitung geben, die schon in sich solche Kräfte haben. Es hat, seit es ein Menschengeschlecht gibt, auch immer eine Schulung gegeben, durch die solche, die höhere Fähigkeiten hatten, denen Anleitung gaben, die ebensolche Fähigkeiten suchten. Man nennt solche Schulung Geheimschulung; und der Unterricht, welcher da empfangen wird, heißt geheimwissenschaftlicher oder okkulter Unterricht. Eine solche Bezeichnung erweckt naturgemäß Mißverständnis. Wer sie hört, kann leicht zu dem Glauben verführt werden, daß diejenigen, die für solche Schulung tätig sind, eine besonders bevorzugte Menschenklasse darstellen wollen, die willkürlich ihr Wissen den Mitmenschen vorenthält. Ja, man denkt wohl auch, daß vielleicht überhaupt nichts Erhebliches hinter solchem Wissen stecke. Denn, wenn es ein wahres Wissen wäre – so ist man versucht zu denken –, so brauchte man daraus kein Geheimnis zu machen: man könnte es öffentlich mitteilen und die Vorteile davon allen Menschen zugänglich machen.
Diejenigen, welche in die Natur des Geheimwissens eingeweiht sind, wundern sich nicht im geringsten darüber, daß die Uneingeweihten so denken. Worin das Geheimnis der Einweihung besteht, kann nur derjenige verstehen, der selbst diese Einweihung in die höheren Geheimnisse des Daseins bis zu einem gewissen Grade erfahren hat. Nun kann man fragen: wie soll denn der Uneingeweihte überhaupt irgendein menschliches Interesse an dem sogenannten Geheimwissen unter solchen Umständen erlangen? Wie und warum soll er etwas suchen, von dessen Natur er sich doch gar keine Vorstellung machen kann? Aber schon einer solchen Frage liegt eine ganz irrtümliche Vorstellung von dem Wesen des Geheimwissens zugrunde. In Wahrheit verhält es sich mit dem Geheimwissen nämlich doch nicht anders als mit allem übrigen Wissen und Können des Menschen. Dieses Geheimwissen ist den Durchschnittsmenschen in keiner anderen Beziehung ein Geheimnis, als warum das Schreiben für den ein Geheimnis ist, der es nicht gelernt hat. Und wie jeder schreiben lernen kann, der die rechten Wege dazu wählt, so kann jeder ein Geheimschüler, ja ein Geheimlehrer werden, der die entsprechenden Wege dazu sucht. Nur in einer Hinsicht liegen die Verhältnisse hier noch anders als beim äußeren Wissen und Können. Es kann jemandem durch Armut, durch die Kulturverhältnisse, in die er hineingeboren ist, die Möglichkeit fehlen, sich die Kunst des Schreibens anzueignen; für die Erlangung von Wissen und Können in den höheren Welten gibt es kein Hindernis für denjenigen, der diese ernstlich sucht.
Viele glauben, man müsse die Meister des höheren Wissens da und dort aufsuchen, um von ihnen Aufschlüsse zu erhalten. Aber zweierlei ist richtig. Erstens wird derjenige, der ernstlich nach höherem Wissen trachtet, keine Mühe, kein Hindernis scheuen, um einen Eingeweihten aufzusuchen, der ihn in die höheren Geheimnisse der Welt einführen kann. Aber anderseits kann auch jeder sich klar darüber sein, daß ihn die Einweihung unter allen Umständen finden wird, wenn ernstes und würdiges Streben nach Erkenntnis vorliegt. Denn es gibt ein natürliches Gesetz für alle Eingeweihten, das sie dazu veranlaßt, keinem suchenden Menschen ein ihm gebührendes Wissen vorzuenthalten. Aber es gibt ein ebenso natürliches Gesetz, welches besagt, daß niemandem irgend etwas von dem Geheimwissen ausgeliefert werden kann, zu dem er nicht berufen ist. Und ein Eingeweihter ist um so vollkommener, je strenger er diese beiden Gesetze beobachtet. Das geistige Band, das alle Eingeweihten umfaßt, ist kein äußeres, aber die beiden genannten Gesetze bilden feste Klammern, durch welche die Bestandteile dieses Bandes zusammengehalten werden. Du magst in intimer Freundschaft mit einem Eingeweihten leben: du bist doch so lange von seinem Wesen getrennt, bis du selbst ein Eingeweihter geworden bist. Du magst das Herz, die Liebe eines Eingeweihten im vollsten Sinne genießen: sein Geheimnis wird er dir erst anvertrauen, wenn du reif dazu bist. Du magst ihm schmeicheln, du magst ihn foltern: nichts kann ihn bestimmen, dir irgend etwas zu verraten, von dem er weiß, daß es dir nicht verraten werden darf, weil du auf der Stufe deiner Entwickelung dem Geheimnis noch nicht den rechten Empfang in deiner Seele zu bereiten verstehst.
Die Wege, die den Menschen reif zum Empfange eines Geheimnisses machen, sind genau bestimmte. Ihre Richtung ist mit unauslöschbaren, ewigen Buchstaben vorgezeichnet in den Geisteswelten, in denen die Eingeweihten die höheren Geheimnisse behüten. In alten Zeiten, die vor unserer „Geschichte“ liegen, waren die Tempel des Geistes auch äußerlich sichtbare; heute, wo unser Leben so ungeistig geworden ist, sind sie nicht in der Welt vorhanden, die dem äußeren Auge sichtbar ist. Aber sie sind geistig überall vorhanden; und jeder, der sucht, kann sie finden.
Nur in seiner eigenen Seele kann der Mensch die Mittel finden, die ihm den Mund der Eingeweihten öffnen. Gewisse Eigenschaften muß er in sich bis zu einem bestimmten hohen Grade entwickeln, dann können ihm die höchsten Geistesschätze zuteil werden.
Eine gewisse Grundstimmung der Seele muß den Anfang bilden. Der Geheimforscher nennt diese Grundstimmung den Pfad der Verehrung, der Devotion gegenüber der Wahrheit und Erkenntnis. Nur wer diese Grundstimmung hat, kann Geheimschüler werden. Wer Erlebnisse auf diesem Gebiete hat, der weiß, welche Anlagen bei denen schon in der Kindheit zu bemerken sind, welche später Geheimschüler Werden. Es gibt Kinder, die mit heiliger Scheu zu gewissen von ihnen verehrten Personen emporblicken. Sie haben eine Ehrfurcht vor ihnen, die ihnen im tiefsten Herzensgrunde verbietet, irgendeinen Gedanken aufkommen zu lassen von Kritik, von Opposition. Solche Kinder Wachsen zu Jünglingen und Jungfrauen heran, denen es wohltut, wenn sie zu irgend etwas Verehrungsvollem aufsehen können. Aus den Reihen dieser Menschenkinder gehen viele Geheimschüler hervor. Hast du einmal vor der Türe eines verehrten Mannes gestanden und hast du bei diesem deinem ersten Besuche eine heilige Scheu empfunden, auf die Klinke zu drücken, um in das Zimmer zu treten, das für dich ein „Heiligtum“ ist, so hat sich in dir ein Gefühl geäußert, das der Keim sein kann für deine spätere Geheimschülerschaft. Es ist ein Glück für jeden heranwachsenden Menschen, solche Gefühle als Anlagen in sich zu tragen. Man glaube nur ja nicht, daß solche Anlagen den Keim zur Unterwürfigkeit und Sklaverei bilden. Es wird später die erst kindliche Verehrung gegenüber Menschen zur Verehrung gegenüber Wahrheit und Erkenntnis. Die Erfahrung lehrt, daß diejenigen Menschen auch am besten verstehen, das Haupt frei zu tragen, die verehren gelernt haben da, wo Verehrung am Platze ist. Und am Platze ist sie überall da, wo sie aus den Tiefen des Herzens entspringt.
Wenn wir nicht das tiefgründige Gefühl in uns entwickeln, daß es etwas Höheres gibt, als wir sind, werden wir auch nicht in uns die Kraft finden, uns zu einem Höheren hinaufzuentwickeln. Der Eingeweihte hat sich nur dadurch die Kraft errungen, sein Haupt zu den Höhen der Erkenntnis zu erheben, daß er sein Herz in die Tiefen der Ehrfurcht, der Devotion geführt hat. Höhe des Geistes kann nur erklommen werden, wenn durch das Tor der Demut geschritten wird. Ein rechtes Wissen kannst du nur erlangen, wenn du gelernt hast, dieses Wissen zu achten. Der Mensch hat gewiß das Recht, sein Auge dem Lichte entgegenzuhalten; aber er muß dieses Recht erwerben. Im geistigen Leben gibt es ebenso Gesetze wie im materiellen. Streiche eine Glasstange mit einem entsprechenden Stoffe, und sie wird elektrisch, das heißt: sie erhält die Kraft, kleine Körper anzuziehen. Dies entspricht einem Naturgesetz. Hat man ein wenig Physik gelernt, so weiß man dies. Und ebenso weiß man, wenn man die Anfangsgründe der Geheimwissenschaft kennt, daß jedes in der Seele entwickelte Gefühl von wahrer Devotion eine Kraft entwickelt, die in der Erkenntnis früher oder später weiter führen kann.
Wer in seinen Anlagen die devotionellen Gefühle hat, oder wer das Glück hat, sie durch eine entsprechende Erziehung eingepflanzt zu erhalten, der bringt vieles mit, wenn er im späteren Leben den Zugang zu höheren Erkenntnissen sucht. Wer eine solche Vorbereitung nicht mitbringt, dem erwachsen schon auf der ersten Stufe des Erkenntnispfades Schwierigkeiten, wenn er nicht durch Selbsterziehung die devotionelle Stimmung energisch in sich zu erzeugen unternimmt. In unserer Zeit ist es ganz besonders wichtig, daß auf diesen Punkt die volle Aufmerksamkeit gelenkt wird. Unsere Zivilisation neigt mehr zur Kritik, zum Richten, zum Aburteilen und wenig zur Devotion, zur hingebungsvollen Verehrung. Unsere Kinder schon kritisieren viel mehr, als sie hingebungsvoll verehren. Aber jede Kritik, jedes richtende Urteil vertreiben ebensosehr die Kräfte der Seele zur höheren Erkenntnis, wie jede hingebungsvolle Ehrfurcht sie entwickelt. Damit soll gar nichts gegen unsere Zivilisation gesagt sein. Es handelt sich hier gar nicht darum, Kritik an dieser unserer Zivilisation zu üben. Gerade der Kritik, dem selbstbewußten menschlichen Urteil, dem , verdanken wir die Größe unserer Kultur. Nimmermehr hätte der Mensch die Wissenschaft, die Industrie, den Verkehr, die Rechtsverhältnisse unserer Zeit erlangt, wenn er nicht überall Kritik geübt, überall den Maßstab seines Urteils angelegt hätte. Aber was wir dadurch an äußerer Kultur gewonnen haben, mußten wir mit einer entsprechenden Einbuße an höherer Erkenntnis, an spirituellem Leben bezahlen. Betont muß werden, daß es sich beim höheren Wissen nicht um Verehrung von Menschen, sondern um eine solche gegenüber Wahrheit und Erkenntnis handelt.
Nur das eine muß freilich sich jeder klarmachen, daß derjenige, der ganz in der veräußerlichten Zivilisation unserer Tage darinnen steckt, es sehr schwer hat, zur Erkenntnis der höheren Welten vorzudringen. Er kann es nur, wenn er energisch an sich arbeitet. In einer Zeit, in der die Verhältnisse des materiellen Lebens einfache waren, war auch geistiger Aufschwung leichter zu erreichen. Das Verehrungswürdige, das Heiligzuhaltende hob sich mehr von den übrigen Weltverhältnissen ab. Die Ideale werden in einem kritischen Zeitalter herabgezogen. Andere Gefühle treten an die Stelle der Verehrung, der Ehrfurcht, der Anbetung und Bewunderung. Unser Zeitalter drängt diese Gefühle immer mehr zurück, so daß sie durch das alltägliche Leben dem Menschen nur noch in sehr geringem Grade zugeführt werden. Wer höhere Erkenntnis sucht, muß sie in sich erzeugen. Er muß sie selbst seiner Seele einflößen. Das kann man nicht durch Studium. Das kann man nur durch das Leben. Wer Geheimschüler werden will, muß sich daher energisch zur devotionellen Stimmung erziehen. Er muß überall in seiner Umgebung, in seinen Erlebnissen dasjenige aufsuchen, was ihm Bewunderung und Ehrerbietung abzwingen kann. Begegne ich einem Menschen und tadle ich seine Schwächen, so raube ich mir höhere Erkenntniskraft; suche ich liebevoll mich in seine Vorzüge zu vertiefen, so sammle ich solche Kraft. Der Geheimjünger muß fortwährend darauf bedacht sein, diese Anleitung zu befolgen. Erfahrene Geheimforscher wissen, was sie für eine Kraft dem Umstande verdanken, daß sie immer wieder allen Dingen gegenüber auf das Gute sehen und mit dem richtenden Urteile zurückhalten. Aber dies darf nicht eine äußerliche Lebensregel bleiben. Sondern es muß von dem Innersten unsrer Seele Besitz ergreifen. Der Mensch hat es in seiner Hand, sich selbst zu vervollkommnen, sich mit der Zeit ganz zu verwandeln. Aber es muß sich diese Umwandlung in seinem Innersten, in seinem Gedankenleben vollziehen. Es genügt nicht, daß ich äußerlich in meinem Verhalten Achtung gegenüber einem Wesen zeige. Ich muß diese Achtung in meinen Gedanken haben. Damit muß der Geheimschüler beginnen, daß er die Devotion in sein Gedankenleben aufnimmt. Er muß auf die Gedanken der Unehrerbietung, der abfälligen Kritik in seinem Bewußtsein achten. Und er muß geradezu suchen, in sich Gedanken der Devotion zu pflegen.
Jeder Augenblick, in dem man sich hinsetzt, um gewahr zu werden in seinem Bewußtsein, was in einem steckt an abfälligen, richtenden, kritischen Urteilen über Welt und Leben: – jeder solcher Augenblick bringt uns der höheren Erkenntnis näher. Und wir steigen rasch auf, wenn wir in solchen Augenblicken unser Bewußtsein nur erfüllen mit Gedanken, die uns mit Bewunderung, Achtung, Verehrung gegenüber Welt und Leben erfüllen. Wer in diesen Dingen Erfahrung hat, der weiß, daß in jedem solchen Augenblicke Kräfte in dem Menschen erweckt werden, die sonst schlummernd bleiben. Es werden dadurch dem Menschen die geistigen Augen geöffnet. Er fängt dadurch an, Dinge um sich herum zu sehen, die er früher nicht hat sehen können. Er fängt an zu begreifen, daß er vorher nur einen Teil der ihn umgebenden Welt gesehen hat. Der Mensch, der ihm gegenübertritt, zeigt ihm jetzt eine ganz andere Gestalt als vorher. Zwar wird er durch diese Lebensregel noch nicht imstande sein, schon das zu sehen, was z. B. als die menschliche Aura beschrieben wird. Denn dazu ist eine noch höhere Schulung nötig. Aber eben zu dieser höheren Schulung kann er aufsteigen, wenn er vorher eine energische Schulung in Devotion durchgemacht hat.
Geräuschlos und unbemerkt von der äußeren Welt vollzieht sich das Betreten des „Erkenntnispfades“ durch den Geheimschüler. Niemand braucht an ihm eine Veränderung wahrzunehmen. Er tut seine Pflichten wie vorher; er besorgt seine Geschäfte wie ehedem. Die Verwandlung geht lediglich mit der inneren Seite der Seele vor sich, die dem äußeren Auge entzogen ist. Zunächst überstrahlt das ganze Gemütsleben des Menschen die eine Grundstimmung der Devotion gegenüber allem wahrhaft Ehrwürdigen. In diesem einen Grundgefühle findet sein ganzes Seelenleben den Mittelpunkt. Wie die Sonne durch ihre Strahlen alles Lebendige belebt, so belebt beim Geheimschüler die Verehrung alle Empfindungen der Seele.
Es wird dem Menschen anfangs nicht leicht, zu glauben, daß Gefühle wie Ehrerbietung, Achtung usw. etwas mit seiner Erkenntnis zu tun haben. Dies rührt davon her, daß man geneigt ist, die Erkenntnis als eine Fähigkeit für sich hinzustellen, die mit dem in keiner Verbindung steht, was sonst in der Seele vorgeht. Man bedenkt dabei aber nicht, daß die Seele es ist, welche erkennt. Und für die Seele sind Gefühle das, was für den Leib die Stoffe sind, welche seine Nahrung ausmachen. Wenn man dem Leibe Steine statt Brot gibt, so erstirbt seine Tätigkeit. Ähnlich ist es mit der Seele. Für sie sind Verehrung, Achtung, Devotion nährende Stoffe, die sie gesund, kräftig machen; vor allem kräftig zur Tätigkeit des Erkennens. Mißachtung, Antipathie, Unterschätzung des Anerkennenswerten bewirken Lähmung und Ersterben der erkennenden Tätigkeit. – Für den Geistesforscher ist diese Tatsache an der Aura ersichtlich. Eine Seele, die sich verehrende, devotionelle Gefühle aneignet, bewirkt eine Veränderung ihrer Aura. Gewisse als gelbrote, braunrote zu bezeichnende geistige Farbentöne verschwinden und werden durch blaurote ersetzt. Dadurch aber öffnet sich das Erkenntnisvermögen; es empfängt Kunde von Tatsachen in seiner Umgebung, von denen es vorher keine Ahnung hatte. Die Verehrung weckt eine sympathische Kraft in der Seele, und durch diese werden Eigenschaften der uns umgebenden Wesen von uns angezogen, die sonst verborgen bleiben.
Wirksamer noch wird das, was durch die Devotion zu erreichen ist, wenn eine andere Gefühlsart hinzukommt. Sie besteht darinnen, daß der Mensch lernt, sich immer weniger den Eindrücken der Außenwelt hinzugeben, und dafür ein reges Innenleben entwickelt. Ein Mensch, der von einem Eindruck der Außenwelt zu dem andern jagt, der stets nach „Zerstreuung“ sucht, findet nicht den Weg zur Geheimwissenschaft. Nicht abstumpfen soll sich der Geheimschüler für die Außenwelt; aber sein reiches Innenleben soll ihm die Richtung geben, in der er sich ihren Eindrücken hingibt. Wenn ein gefühlsreicher und gemütstiefer Mensch durch eine schöne Gebirgslandschaft geht, erlebt er anderes als ein gefühlsarmer. Erst was wir im Innern erleben, gibt uns den Schlüssel zu den Schönheiten der Außenwelt. Der eine fährt über das Meer, und nur wenig innere Erlebnisse ziehen durch seine Seele; der andere empfindet dabei die ewige Sprache des Weltgeistes; ihm enthüllen sich geheime Rätsel der Schöpfung. Man muß gelernt haben, mit seinen eigenen Gefühlen, Vorstellungen umzugehen, wenn man ein inhaltvolles Verhältnis zur Außenwelt entwickeln will. Die Außenwelt ist in allen ihren Erscheinungen erfüllt von göttlicher Herrlichkeit; aber man muß das Göttliche erst in seiner Seele selbst erlebt haben, wenn man es in der Umgebung finden will. – Der Geheimschüler wird darauf verwiesen, sich Augenblicke in seinem Leben zu schaffen, in denen er still und einsam sich in sich selbst versenkt. Nicht den Angelegenheiten seines eigenen Ich aber soll er sich in solchen Augenblicken hingeben. Das würde das Gegenteil von dem bewirken, was beabsichtigt ist. Er soll vielmehr in solchen Augenblicken in aller Stille nachklingen lassen, was er erlebt hat, was ihm die äußere Welt gesagt hat. Jede Blume, jedes Tier, jede Handlung wird ihm in solchen stillen Augenblicken ungeahnte Geheimnisse enthüllen. Und er wird vorbereitet dadurch, neue Eindrücke der Außenwelt mit ganz anderen Augen zu sehen als vorher. Wer nur Eindruck nach Eindruck genießen will, stumpft sein Erkenntnisvermögen ab. Wer, nach dem Genusse, sich von dem Genusse etwas offenbaren läßt, der pflegt und erzieht sein Erkenntnisvermögen. Er muß sich nur daran gewöhnen, nicht etwa nur den Genuß nachklingen zu lassen, sondern, mit Verzicht auf weiteren Genuß, das Genossene durch innere Tätigkeit zu verarbeiten. Die Klippe ist hier eine sehr große, die Gefahr bringt. Statt in sich zu arbeiten, kann man leicht in das Gegenteil verfallen und den Genuß nur hinterher noch völlig ausschöpfen wollen. Man unterschätze nicht, daß sich hier unabsehbare Quellen des Irrtums für den Geheimschüler eröffnen. Er muß ja hindurch zwischen einer Schar von Verführern seiner Seele. Sie alle wollen sein „Ich“ verhärten, in sich selbst verschließen. Er aber soll es aufschließen für die Welt. Er muß ja den Genuß suchen; denn nur durch ihn kommt die Außenwelt an ihn heran. Stumpft er sich gegen den Genuß ab, so wird er wie eine Pflanze, die aus ihrer Umgebung keine Nahrungsstoffe mehr an sich ziehen kann. Bleibt er aber beim Genusse stehen, so verschließt er sich in sich selbst. Er wird nur etwas für sich, nichts für die Welt bedeuten. Mag er in sich dann noch so sehr leben, mag er sein „Ich“ noch so stark pflegen: die Welt scheidet ihn aus. Für sie ist er tot. Der Geheimschüler betrachtet den Genuß nur als ein Mittel, um sich für die Welt zu veredeln. Der Genuß ist ihm ein Kundschafter, der ihn unterrichtet über die Welt; aber er schreitet nach dem Unterricht durch den Genuß zur Arbeit vorwärts. Er lernt nicht, um das Gelernte als seine Wissensschätze aufzuhäufen, sondern um das Gelernte in den Dienst der Welt zu stellen.
Es ist ein Grundsatz in aller Geheimwissenschaft, der nicht übertreten werden darf, wenn irgendein Ziel erreicht werden soll. Jede Geheimschulung muß ihn dem Schüler einprägen. Er heißt: jede Erkenntnis, die du suchst, nur um dein Wissen zu bereichern, nur um Schätze in dir anzuhäufen, führt dich ab von deinem Wege; jede Erkenntnis aber, die du suchst, um reifer zu werden auf dem Wege der Menschenveredelung und der Weltentwickelung, die bringt dich einen Schritt vorwärts. Dieses Gesetz fordert unerbittlich seine Beobachtung. Und man ist nicht früher Geheimschüler, ehe man dieses Gesetz zur Richtschnur seines Lebens gemacht hat. Man kann diese Wahrheit der geistigen Schulung in den kurzen Satz zusammenfassen: Jede Idee, die dir nicht zum Ideal wird, ertötet in deiner Seele eine Kraft; jede Idee, die aber zum Ideal wird, erschafft in dir Lebenskräfte.
Auf den Pfad der Verehrung und auf die Entwickelung des inneren Lebens wird der Geheimschüler im Anfange seiner Laufbahn gewiesen. Die Geisteswissenschaft gibt nun auch praktische Regeln an die Hand, durch deren Beobachtung der Pfad betreten, das innere Leben entwickelt werden kann. Diese praktischen Regeln entstammen nicht der Willkür. Sie beruhen auf uralten Erfahrungen und uraltem Wissen. Sie werden überall in der gleichen Art gegeben, wo die Wege zur höheren Erkenntnis gewiesen werden. Alle wahren Lehrer des geistigen Lebens stimmen in bezug auf den Inhalt dieser Regeln überein, wenn sie dieselben auch nicht immer in die gleichen Worte kleiden. Die untergeordnete, eigentlich nur scheinbare Verschiedenheit rührt von Tatsachen her, welche hier nicht zu besprechen sind.
Kein Lehrer des Geisteslebens will durch solche Regeln eine Herrschaft über andere Menschen ausüben. Er will niemand in seiner Selbständigkeit beeinträchtigen. Denn es gibt keine besseren Schätzer und Hüter der menschlichen Selbständigkeit als die Geheimforscher. Es ist (im ersten Teile in dieser Schrift) gesagt worden, das Band, das alle Eingeweihten umfaßt, sei ein geistiges, und zwei naturgemäße Gesetze bilden die Klammern, welche die Bestandteile dieses Bandes zusammenhalten. Tritt nun der Eingeweihte aus seinem umschlossenen Geistgebiet heraus, vor die Öffentlichkeit: dann kommt für ihn sogleich ein drittes Gesetz in Betracht. Es ist dieses: Richte jede deiner Taten, jedes deiner Worte so ein, daß durch dich in keines Menschen freien Willensentschluß eingegriffen wird.
Wer durchschaut hat, daß ein wahrer Lehrer des Geisteslebens ganz von dieser Gesinnung durchdrungen ist, der kann auch wissen, daß er nichts von seiner Selbständigkeit einbüßt, wenn er den praktischen Regeln folgt, die ihm geboten werden.
Eine der ersten dieser Regeln kann nun etwa in die folgenden Worte der Sprache gekleidet werden: „Schaffe dir Augenblicke innerer Ruhe und lerne in diesen Augenblicken das Wesentliche von dem Unwesentlichen unterscheiden.“ – Es wird hier gesagt, diese praktische Regel laute so in „Worte der Sprache gefaßt“. Ursprünglich werden nämlich alle Regeln und Lehren der Geisteswissenschaft in einer sinnbildlichen Zeichensprache gegeben. Und wer ihre ganze Bedeutung und Tragweite kennenlernen will, der muß erst diese sinnbildliche Sprache sich zum Verständnis bringen. Dieses Verständnis ist davon abhängig, daß der Betreffende bereits die ersten Schritte in der Geheimwissenschaft getan hat. Diese Schritte aber kann er durch die genaue Beobachtung solcher Regeln gehen, wie sie hier gegeben werden. Jedem steht der Weg offen, der ernstliches Wollen hat.
Einfach ist die obige Regel bezüglich der Augenblicke der inneren Ruhe. Und einfach ist auch ihre Befolgung. Aber zum Ziele führt sie nur, wenn sie ebenso ernst und streng angefaßt wird, wie sie einfach ist. – Ohne Umschweife soll daher hier auch gesagt werden, wie diese Regel zu befolgen ist.
Der Geheimschüler hat sich eine kurze Zeit von seinem täglichen Leben auszusondern, um sich in dieser Zeit mit etwas ganz anderem zu befassen, als die Gegenstände seiner täglichen Beschäftigung sind. Und auch die Art seiner Beschäftigung muß eine ganz andere sein als diejenige, mit der er den übrigen Tag ausfüllt. Das ist aber nicht so zu verstehen, als ob dasjenige, was er in dieser ausgesonderten Zeit vollbringt, nichts zu tun habe mit dem Inhalt seiner täglichen Arbeit. Im Gegenteil: der Mensch, der solche abgesonderten Augenblicke in der rechten Art sucht, wird bald bemerken, daß er durch sie erst die volle Kraft zu seiner Tagesaufgabe erhält. Auch darf nicht geglaubt werden, daß die Beobachtung dieser Regel jemandem wirklich Zeit von seiner Pflichtenleistung entziehen könne. Wenn jemand wirklich nicht mehr Zeit zur Verfügung haben sollte, so genügen fünf Minuten jeden Tag. Es kommt darauf an, wie diese fünf Minuten angewendet werden.
In dieser Zeit soll der Mensch sich vollständig herausreißen aus seinem Alltagsleben. Sein Gedanken-, sein Gefühlsleben soll da eine andere Färbung erhalten, als sie sonst haben. Er soll seine Freuden, seine Leiden, seine Sorgen, seine Erfahrungen, seine Taten vor seiner Seele vorbeiziehen lassen. Und er soll sich dabei so stellen, daß er alles das, was er sonst erlebt, von einem höheren Gesichtspunkte aus ansieht. Man denke nur einmal daran, wie man im gewöhnlichen Leben etwas ganz anders ansieht, was ein anderer erlebt oder getan hat, als was man selbst erlebt oder getan hat. Das kann nicht anders sein. Denn mit dem, was man selbst erlebt oder tut, ist man verwoben; das Erlebnis oder die Tat eines anderen betrachtet man nur. Was man in den ausgesonderten Augenblicken anzustreben hat, ist nun, die eigenen Erlebnisse und Taten so anzuschauen, so zu beurteilen, als ob man sie nicht selbst, sondern als ob sie ein anderer erlebt oder getan hätte. Man stelle sich einmal vor: jemand habe einen schweren Schicksalsschlag erlebt. Wie anders steht er dem gegenüber als einem ganz gleichen Schicksalsschlage bei seinem Mitmenschen? Niemand kann das für unberechtigt halten. Es liegt in der menschlichen Natur. Und ähnlich wie in solchen außergewöhnlichen Fällen ist es in den alltäglichen Angelegenheiten des Lebens. Der Geheimschüler muß die Kraft suchen, sich selbst in gewissen Zeiten wie ein Fremder gegenüberzustehen. Mit der inneren Ruhe des Beurteilers muß er sich selbst entgegentreten. Erreicht man das, dann zeigen sich einem die eigenen Erlebnisse in einem neuen Lichte. Solange man in sie verwoben ist, solange man in ihnen steht, hängt man mit dem Unwesentlichen ebenso zusammen wie mit dem Wesentlichen. Kommt man zur inneren Ruhe des Überblicks, dann sondert sich das Wesentliche von dem Unwesentlichen. Kummer und Freude, jeder Gedanke, jeder Entschluß erscheinen anders, wenn man sich so selbst gegenübersteht. – Es ist, wie wenn man den ganzen Tag hindurch in einem Orte sich aufgehalten hat und das Kleinste ebenso nahe gesehen hat wie das Größte; dann des Abends auf einen benachbarten Hügel steigt und den ganzen Ort auf einmal überschaut. Da erscheinen die Teile dieses Ortes in anderen gegenseitigen Verhältnissen, als wenn man darinnen ist. Mit gegenwärtig erlebten Schicksalsfügungen wird und braucht dies nicht zu gelingen; mit länger vergangenen muß es vom Schüler des Geisteslebens erstrebt werden. – Der Wert solcher inneren, ruhigen Selbstschau hängt viel weniger davon ab, was man dabei erschaut, als vielmehr davon, daß man in sich die Kraft findet, die solche innere Ruhe entwickelt.
Denn jeder Mensch trägt neben seinem – wir wollen ihn so nennen – Alltagsmenschen in seinem Innern noch einen höheren Menschen. Dieser höhere Mensch bleibt so lange verborgen, bis er geweckt wird. Und jeder kann diesen höheren Menschen nur selbst in sich erwecken. Solange aber dieser höhere Mensch nicht erweckt ist, so lange bleiben auch die in jedem Menschen schlummernden höheren Fähigkeiten verborgen, die zu übersinnlichen Erkenntnissen führen.
Solange jemand die Frucht der inneren Ruhe nicht fühlt, muß er sich eben sagen, daß er in der ernsten strengen Befolgung der angeführten Regel fortfahren muß. Für jeden, der so verfährt, kommt der Tag, wo es um ihn herum geistig hell wird, wo sich einem Auge, das er bis dahin in sich nicht gekannt hat, eine ganz neue Welt erschließen wird.
Und nichts braucht sich im äußeren Leben des Geheimschülers zu ändern dadurch, daß er anfängt, diese Regel zu befolgen. Er geht seinen Pflichten nach wie vorher; er erduldet dieselben Leiden und erlebt dieselben Freuden zunächst wie vorher. In keiner Weise kann er dadurch dem „Leben“ entfremdet werden. Ja, er kann um so voller den übrigen Tag hindurch diesem „Leben“ nachgehen, weil er in seinen ausgesonderten Augenblicken ein „höheres Leben“ sich aneignet. Nach und nach wird dieses „höhere Leben“ schon seinen Einfluß auf das gewöhnliche geltend machen. Die Ruhe der ausgesonderten Augenblicke wird ihre Wirkung auch auf den Alltag haben. Der ganze Mensch wird ruhiger werden, wird Sicherheit bei all seinen Handlungen gewinnen, wird nicht mehr aus der Fassung gebracht werden können durch alle möglichen Zwischenfälle. Allmählich wird sich solch angehender Geheimschüler sozusagen immer mehr selbst leiten und weniger von den Umständen und äußeren Einflüssen leiten lassen. Ein solcher Mensch wird bald bemerken, was für eine Kraftquelle solche ausgesonderte Zeitabschnitte für ihn sind. Er wird anfangen, sich über Dinge nicht mehr zu ärgern, über die er sich vorher geärgert hat; unzählige Dinge, die er vorher gefürchtet hat, hören auf, ihm Befürchtungen zu machen. Eine ganz neue Lebensauffassung eignet er sich an. Vorher ging er vielleicht zaghaft an diese oder jene Verrichtung. Er sagte sich: O, meine Kraft reicht nicht aus, dies so zu machen, wie ich es gerne gemacht hätte. Jetzt kommt ihm nicht mehr dieser Gedanke, sondern vielmehr ein ganz anderer. Nunmehr sagt er sich nämlich: Ich will alle Kraft zusammennehmen, um meine Sache so gut zu machen, als ich nur irgend kann. Und den Gedanken, der ihn zaghaft machen könnte, unterdrückt er. Denn er weiß, daß ihn eben die Zaghaftigkeit zu einer schlechteren Leistung veranlassen könnte, daß jedenfalls diese Zaghaftigkeit nichts beitragen kann zur Verbesserung dessen, was ihm obliegt. Und so ziehen Gedanke nach Gedanke in die Lebensauffassung des Geheimschülers ein, die fruchtbar, förderlich sind für sein Leben. Sie treten an die Stelle von solchen, die ihm hinderlich, schwächend waren. Er fängt an, sein Lebensschiff einen sicheren, festen Gang zu führen innerhalb der Wogen des Lebens, während es vorher von diesen Wogen hin und her geschlagen worden ist.
Und solche Ruhe und Sicherheit wirken auch auf das ganze menschliche Wesen zurück. Der innere Mensch wächst dadurch. Und mit ihm wachsen jene inneren Fähigkeiten, welche zu den höheren Erkenntnissen führen. Denn durch seine in dieser Richtung gemachten Fortschritte gelangt der Geheimschüler allmählich dahin, daß er selbst bestimmt, wie