Wie Gott und Spencer-Brown Welten erschufen - Josef Freystetter - E-Book

Wie Gott und Spencer-Brown Welten erschufen E-Book

Josef Freystetter

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Beschreibung

Es ist mehr als erstaunlich, mit welcher Präzision ein 2500 Jahre alter Text, die sogenannte erste Schöpfungsgeschichte der Genesis, mit den Laws of Form George Spencer-Browns übereinstimmt. Offensichtlich wurde im vorderasiatischen Raum über Jahrhunderte ein Sprachdenken und eine Welt- und Wirklichkeitstheorie entwickelt, die nach und nach vom europäisch-altgriechischen Seinsdenken – weil einfacher – abgelöst wurde. Die häufigen Bezugnahmen Spencer-Browns auf den Daodejin, ein Text, der dem Weisen Lao Ze zugeschrieben wird, lassen darauf schließen, dass zwischen dem altbabylonischen Denken und dessen Mathematik fast völlige Entsprechung herrschte. Das Anliegen des Strukturvergleichs beschränkt sich darauf, die beiden Texte Schritt für Schritt sich selbst wechselseitig interpretieren zu lassen. Es ist vor allem der Genesistext, der es erlaubt, den Gesamtzusammenhang der Laws of Form einfacher zu erfassen, und es sind vor allem die Laws of Form, die es erlauben, den Genesistext eindeutig als wortalgebraische Konstruktionsanweisung zu lesen bzw. zu hören.

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Josef Freystetter

Wie Gott und Spencer-Brown Welten erschufen

Laws of Form und Genesis – ein Strukturvergleich

2022

Der Verlag für Systemische Forschung im Internet:

www.systemische-forschung.de

Carl-Auer im Internet: www.carl-auer.de

Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis an:

Carl-Auer Verlag

Vangerowstr. 14

69115 Heidelberg

Über alle Rechte der deutschen Ausgabe verfügt

der Verlag für Systemische Forschung

im Carl-Auer-Systeme Verlag, Heidelberg

Fotomechanische Wiedergabe nur mit Genehmigung des Verlages

Reihengestaltung nach Entwürfen von Uwe Göbel

Printed in Germany 2022

Erste Auflage, 2022

ISBN 978-3-8497-9027-1 (Printausgabe)

ISBN 978-3-8497-9061-5 (ePub)

DOI 10.55301/9783849790271

© 2022 Carl-Auer-Systeme, Heidelberg

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Diese Publikation beruht auf der Dissertation „Zeit in Form“ zur Erlangung des akademischen Grades Dr. phil. an der Universität Witten/Herdecke, Fakultät für Wirtschaft und Gesellschaft, 2020.

Die Verantwortung für Inhalt und Orthografie liegt beim Autor.

Inhaltsverzeichnis

VORWORT

EINLEITUNG UND HINFÜHRUNG

DIE BEIDEN KALKÜLE: LAWS OF FORM UND GN 1,1–2,4A

Entstehung, Konzeption und Rezeption der beiden Kalküle

Anmerkungen zum Strukturvergleich

KALKÜL DER SPRACHE :: ZEIT IN FORM

Als ein Anfang

0. Schritt: Nicht-aktualisierte Relationalität oder die konditionierte Struktur ‚in‘ Nichts

1. Schritt: Zeitigung der Form

1.1 Selbstunterscheidung und Eigenwert von Sprache

1.2 Selbstreflexion und Wertäquivalenz von Sprache

1.3 Die Unterscheidung von Sprache und Anderem

1.4 Sprache als Rufen des Namens

1.5 Zeit in Form

2. Schritt: Ausdehnung der Universen an Möglichkeiten

3. Schritt: Sammlung aus der Ansammlung an Möglichkeiten als Grund

4. Schritt: Artspezifische Selbstverursachung auf dem Grund

5. Schritt: Orientierung für den Grund

6. Schritt: Interne Umwelten, Gelegenheiten und Resonanzen

7. Schritt: Bifurkation des Grundes

8. Schritt: Wiedereinführung von Sprache in sich selbst

Das Versteckspiel

9. Schritt: Ankommen in der verloren gegangenen Gegenwart

ANHANG 1

Interlinearübersetzung, Etymologie zu Gn1,1–2,4a

Alternativübersetzung Genesis 1,1–2,4a

ANHANG 2

Literargeschichte und Traditionsgeschichte von Gn 1,1–2,4a aus bibelexegetischer Sicht

ANHANG 3

Europäisches Sprachdenken

ZITIERTE LITERATUR

WEITERFÜHRENDE LITERATUR

ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS

TRANSKRIPTIONSLEGENDE

Vorwort

Es war eher eine Ahnung als eine konkrete Fragestellung, die zu einem Vergleich der Gesetze der Form von George Spencer-Brown mit dem sehr alten, im antiken Babylon verfassten Text Genesis 1 veranlasst hat. Ein rein äußerlicher Vergleich hat an der Prominenz der Stellung bestimmter Ausdrücke wie sprechen, scheiden, nennen, Universen gezeigt, dass beide Texte in einem Verwandtschaftsverhältnis stehen müssen. Ein inhaltlicher Vergleich, so meine Annahme, könne erst ergiebig sein, wenn die Gesetze der Form mit dem in althebräisch verfassten Originaltext verglichen werden – ein Unternehmen, das zweierlei Schwierigkeiten in sich enthielt. Zum einen wurde der Genesistext ursprünglich in reiner Konsonantenschrift verfasst, jedoch vokalisiert tradiert und damit seine Bedeutung erheblich verändert, zum anderen gelten die Gesetze der Form in ihrer Gesamtheit nicht als eine gerade leicht zu verstehende und zu interpretierende Lektüre.

Die ersten Ergebnisse des Vergleichs waren dann erstaunlich übereinstimmend und einfach. Und es waren Einfachheit und Übereinstimmung, die die Ahnung Schritt für Schritt bestätigten. Meine Leistung bestand darin Genesis 1 von der tradierten Leseweise zu entbinden um die Vergleichbarkeit der beiden Texte herzustellen. Ich bin mir bewusst, diese Entdeckung nur einen ersten Schritt vorangebracht zu haben, und weiß, dass andere, die besser ausgestattet sind, sie noch weit vorantreiben können. Und ich schließe mich der versteckten Aufforderung Spencer-Browns an: Ich hoffe, dass sie dies tun.

Unterstützt wurde die anfängliche Unbeholfenheit von präzise ausgearbeiteten Interpretationen und Applikationen der Laws of Form. Erwähnen möchte ich den Verfasser selbst, George Spencer-Brown, den Mathematiker Louis Kauffman, die Biologen Humberto Maturana und Francisco Varela, den Soziologen Niklas Luhmann, den Biophysiker Heinz von Foerster, die Soziologen und Systemtheoretiker Dirk Baecker und Fritz B. Simon, die Philosophen Tatjana Schönwälder-Kuntze, Katrin Wille und Thomas Hölscher sowie Gottfried Glaßner, der bei der Übersetzung des althebräischen Textes von unverzichtbarer Hilfe war. Tiefen Respekt empfinde ich gegenüber dem anonymen Verfasser von Genesis 1.

Die vorliegende Abfassung stellt eine veränderte Version der von mir an der Universität Witten-Herdecke eingereichten Dissertationsschrift Zeit in Form dar.

Einleitung und Hinführung

Die hier vorliegende Arbeit strebt einen Strukturvergleich zwischen den Laws of Form (LoF) George Spencer-Browns und dem Initialtext des ersten Buches der jüdischen Tora bzw. des christlichen Pentateuchs Genesis 1,1–2,4a (Gn1) an. Beide Texte weisen eine streng formale Struktur auf, beide beanspruchen für sich eine Konstruktionsanleitung eines – nicht des – Universums bzw. der Universen zu sein und beide Texte konstruieren ein Universum und eine Welt im Medium von Wort bzw. Zeichen. Die Laws of Form werden von ihrem Autor auch calculus of indications genannt - meist mit Indikationenkalkül oder Kalkül der Bezeichnung übersetzt – und der Genesistext wird Wortschöpfung genannt. In diesem für europäisches Denken fremd anmutenden Wort- und Sprachverständnis wird Sprache in ihrer operativen Funktion einsehbar, eine Funktion, die im natürlichen Sprachgebrauch unbewusst und verborgen bleibt. Zeichen, Worte und Namen fungieren in diesem Formalismus als Anweisung, Operator, Operand, Operation und Operationsresultat.

Es war Spencer-Browns ausdrückliche Absicht, einen kennzeichnenden Kalkül zu beleuchten1, und er hat die Gesetze der Form Kalkül der Bezeichnung genannt2, obwohl er mit einer anonymen Aufforderung zu einer Unterscheidung beginnt. Die Dominanz der Bezeichnung gegenüber der Unterscheidung, die sich im Namen Kalkül der Bezeichnung ausdrückt, rührt meines Erachtens aus der Einsicht, dass seine funktionalen Grundeinheiten nicht Elemente wie Zahlen, Punkte oder Einheiten sind, sondern Relationen, Beziehungsverhältnisse innerhalb der Zeichen selbst und zwischen Zeichen (Elementen), die in einem endlichen Prozess von Unterscheidungen zu stabilen Zuständen und weiteren Ausdrücken führen. Heinz von Foerster nennt solch stabile Zustände Eigenwerte oder Eigenverhalten, die im ontologisch materiellen Subjekt-Objekt-Schema dann als Gegenstände oder Elemente betrachtet werden.3

„Elementbildung“ in einer Bauweise durch Selbstunterscheidung und Selbsthinweis besagt, der Kalkül selbst, d. h. formale Sprache selbst, operiert auf sich selbst, generiert „Wirklichkeit“ als variable Ausdrücke, mit denen sie dann weiteroperiert, ihre Strukturen aufbaut und so ein Universum und eine Welt ausdifferenziert, erhält und steuert. Das Besondere an diesem Kalkül ist nicht nur seine selbstgenerierende rekursive Operationsweise, sondern dass er seine Voraussetzung in der Voraussetzungslosigkeit hat, in der Leere, aus der Schritt für Schritt Welt und Universum entstehen. Solch selbstevolutiver Mechanismus von Sprache widerspricht dem ontologischen Verständnis einer außersprachlichen Welt des Seienden, die durch Sprache repräsentiert werden kann indem sie dieses bezeichnet. Die grundlegenden Fragen die aus dieser unorthodoxen „Berechnung“ der Welt hervorgehen sind: Wie kommt es zu all dem, das wir Welt und Universum nennen – die Frage nach der Wirklichkeit? Wie kann es möglich sein, eine sich verändernde Wirklichkeit zu erkennen – die Frage der Erkenntnis? Welche verdeckte Funktion von Sprache erzeugt Wirklichkeit und lässt diese auch erkennen – die Frage der Sprachtheorie? Und wie lässt sich der Zusammenhang zwischen uns als Erkennende und Bezeichnende von Welt und der Welt als bezeichnete Wirklichkeit verstehen – die Frage nach der Verfasstheit des Beobachters?

Eine Einreihung dieses Formalismus in den Kanon der Wissenschaften ist denn alles andere als unproblematisch. Er kann trotz seiner Formalisierung weder rein der Mathematik zugeordnet werden noch aus sprachtheoretischer Sicht der Sprachphilosophie oder Linguistik noch aus erkenntnistheoretischer Sicht den Geisteswissenschaften. Dies nicht nur, weil keine der Wissenschaften den Gesamtanspruch und Zusammenhang von Sprache, Erkennen und Wirklichkeit als ihr Formalobjekt hat, sondern weil die beiden Kalküle (LoF und Gn1) eine noch einfachere Syntax aufweisen als die Mathematik und diese und allen anderen Wissenschaften zugrunde liegt. Am ehesten ließe sich dieser Formalismus, wenn man diese Einteilung akzeptiert, zu den Strukturwissenschaften zählen, die für sich beanspruchen, zu einem einheitlichen Wirklichkeitsverständnis zu führen, das den jeweiligen Einzelwissenschaften, der Erkenntnistheorie, Linguistik, Kosmologie, Sozialtheorie, Systemtheorie und allen, in denen der Kalkül angewandt werden kann, zugrunde liegt.

Die ungewöhnliche Leseart der semitischen Schöpfungsgeschichte als Selbstanweisung zur Konstruktion der Universen und des Grundes (der Welt) sowie die Ableitung der LoF aus der Protomathematik, der Primären Arithmetik und Primären Algebra, wie sie Spencer-Brown nennt, verlangen eine Klärung des Begriffes „Kalkül“ und des zugrundeliegenden mathematischen Verständnisses. Eine solche Klärung wird im nächsten Abschnitt gegeben. Die Verschränkung von Sprache und Mathematik ist auch deshalb von Bedeutung, weil in der Mathematik des antiken Babylon, dem Verfassungsort von Gn1, algebraische Rechnungen in Worten, der sogenannten Wortalgebra und nicht in mathematischen Symbolen notiert wurden.

Der Hauptteil dieses Strukturvergleichs erfolgt als eine Anweisung in radikal rekursiv-operativem Gebrauch von Sprache. Betitelt mit Kalkül der Sprache :: Zeit in Form, stellt er den inhaltlichen Vergleich der beiden Texte an. Er ist in zehn Abschnitte die Beschreibung des Anfangs, acht Aufbauschritte und einen Schritt des Abbaus gegliedert.

Die klare zeit-räumliche Aufbauarchitektur, die strenge Formalisierung in Wort-, Satz- und Textgrammatik, die Vollständigkeit4 in Aufbau und Abbau, die Kürze und Bekanntheit des Genesistextes führten dazu, Gn1 als Leittext im Strukturvergleich mit den LoF zu verwenden, auch weil er aufgrund seiner Einfachheit die für ein Verstehen des Gesamtzusammenhangs notwendige mnemotechnische Stützfunktion zu leisten vermag.

Der inhaltliche Strukturvergleich selbst ist nicht als diskursiver Vergleich zwischen den Laws of Form und Genesis 1,1–2,4a angelegt, er verfolgt weder eine transdisziplinäre Perspektive noch eine theoretische Konfrontation mit anderen Strukturwissenschaften wie Erkenntnistheorie, Systemtheorie, Sinntheorie, Quantentheorie, Biologie oder anderen mit dem Indikationenkalkül assoziierten Wissenschaften, wenngleich mit ihm die Geltungsgrenzen wissenschaftlicher Systematik in Frage gestellt werden können und eine erweiterte grundlagentheoretische Perspektive für alle Real- und Formalwissenschaften angeboten werden kann. Die Erwartung des Lesers, eine exegetisch-theologische Abhandlung zu finden, wird mit dem Vergleich der beiden Texte mit hoher Wahrscheinlichkeit enttäuscht werden. Dies gilt auch unter dem Umstand, dass der Genesistext genuin theologischen Ursprungs ist und im religiösen Kontext tradiert und rezipiert wurde. Auch für eine theologische Interpretation kann dieser Formalismus, wie für alle anderen Wissenschaften, bloß als Interpretandum fungieren und verständlich werden. Theoretische Modelle der Sozialwissenschaften, der Biologie und der Exegese des Pentateuchs werden zwar für Passagen herangezogen, in denen eine wechselseitige Explikation der beiden Kalküle unzureichend erscheint, doch sollten diese Verstehenshilfen und Hintergrundinformationen in keinem Fall dazu verleiten, die allgemeinen Gesetzlichkeiten von formaler Sprache (Laws of Form) mit deren Anwendung in einer Fachdisziplin zu verwechseln.

Dieser Vergleich, der mehr einer Synthese gleicht, beschränkt sich ausschließlich darauf, die unterschiedlichen Notationen und Konzeptionen der beiden Kalküle (LoF und Gn1) für eine wechselseitige Explikation und Vervollständigung zu einem selbstevolutiven Kalkül von Sprache zu nutzen und zugänglich zu machen.

Für ein Verstehen der folgenden Arbeit ist kein Vorwissen erforderlich, alle Begriffe und impliziten Regeln werden von Anfang an konstruiert, sodass sie sich im Text formal und inhaltlich selbst erschließen. Den hebräischen Versen von Genesis 1,1–2,4a werden ausführliche etymologische Angaben in Anhang 1 zur Verfügung gestellt.5 Der hebräische Text selbst wird als Konsonantentext samt Transkription zitiert6 und zunächst ins Englische und dann ins Deutsche übersetzt. Alle verwendeten Passagen der Laws of Form7 werden in vollem Umfang im Text angeführt. Dennoch empfiehlt es sich, die LoF als Begleitlektüre zu verwenden sowie den Anmerkungsteil zu den einzelnen Kapiteln parallel zu lesen.

Die Vieldeutigkeit der hebräischen Morpheme benötigt im Deutschen häufig Mehrfachübersetzungen, um ihre verwendete Bedeutung im jeweiligen Zusammenhang zu bezeichnen, was die Lesbarkeit des Textes stellenweise an Grenzen führt. Eine zusätzliche, das Geschlecht unterscheidende Formulierung würde den Text in die Nähe der Unverständlichkeit bringen – die Leserinnen mögen der eingeschlechtlichen Ausdruckweise gegenüber Nachsicht walten lassen.

1 Vgl. LoF 1997 xxxi.

2 Vgl. LoF 1994 viii.

3 V. Foerster H. (1993): Gegenstände: greifbare Symbole für (Eigen-)Verhalten. In: Wissen und Gewissen S. 103-115.

4 In der Einleitung zur ersten Ausgabe bemerkt Spencer-Brown: „Im Text habe ich darauf abgezielt, die Entwicklung nur so weit auszuführen, daß ich imstande war, alle Formen, die sich auf jeder Stufe entwickeln, vernünftig und vollständig zu betrachten. Obwohl ich die Ausweitung in komplexe Formen im Kapitel 11 anschneide, versuche ich ansonsten, die Entwicklung zu beschränken, um die Darlegung, so weit sie reicht, vollständig zu machen.“ LoFxxix.

5 Alle etymologischen Teile werden mit Seitenangabe entnommen aus: Brown F./Driver R./Briggs Ch. A. (2012): The Brown-Driver-Briggs Hebrew and English Lexicon.

6 Der hebräische Text wird ohne Vokalisation zitiert aus: Steurer R. M. (1986): Das Alte Testament. Interlinearübersetzung Hebräisch-Deutsch und Transkription des hebräischen Grundtextes.

7 Für Zitationen aus den Laws of Form wird folgende Ausgabe verwendet: Spencer-Brown G. (1997): Gesetze der Form. Übersetzung Thomas Wolf. Lübeck, Bohmeier Verlag 2. Aufl. 1999.

Die beiden Kalküle: Laws of Form und Gn 1,1–2,4a

Allgemein versteht man unter einem Kalkül ein formales System von Regeln, anhand derer sich aus gegebenen Ausdrücken – mathematische Objekte – weitere Ausdrücke ableiten lassen. Die Grundelemente eines Kalküls bestehen aus konstanten und oder variablen Ausdrücken, Relationszeichen wie „und“, „oder“, „nicht“ sowie aus Formations- und Transformationsregeln, die festlegen, wie gegebene Ausdrücke durch eine endliche Anzahl von Schritten zu anderen Ausdrücken geformt und umgeformt werden dürfen, bis ein ganzes formales System entsteht, das dann als Kalkül bezeichnet wird. Kürzer wird der Begriff Kalkül in den LoF definiert: „Nenne Kalkulationen einen Vorgang, durch den sich eine Form infolge von Schritten in eine anderer verwandelt, und nenne ein System von Konstruktionen und Vereinbarungen, welches Kalkulationen gestattet, ein Kalkül.“ (LoF10)

Entscheidendes Kriterium eines Kalküls ist dessen Formalität. Dieses Kriterium ist dann erfüllt, wenn die Qualität der Beschreibung der Qualität des Beschriebenen entspricht.8 Die innerhalb eines formalen Systems verwendeten Zeichen weisen nicht auf etwas anderes hin; das Wort „Haus“ weist z. B. in einem natürlichen Sprachverständnis auf ein Haus hin. In einem Formalismus wird die Hinweisfunktion von Zeichen so weit reduziert, dass die darin verwendeten Zeichen nur auf das hinweisen, was die Zeichen selbst sind; ein Zeichen z. B. weist auf seine Eigenschaft hin, dass es ein Zeichen ist. Die Kalkülisierung von Sprache verlangt eine Reduktion der Zeigefunktion von Zeichen, die durch strenge „mathematische“ Formalisierung sowie einer eigenen Notationsweise geleistet wird. Die implizite, nicht sichtbare Zeige- und Unterscheidungsfunktion von Zeichen wird durch die strenge Form der graphischen Darstellung explizit sichtbar und als Wissen zugänglich. Ausdrücke eines Kalküls erlangen dadurch prinzipiell allgemeine Gültigkeit und sind endgültig bestimmt. Der Vorteil der Generalisierung eines Kalküls liegt in den Anwendungsmöglichkeiten in unterschiedlichen Wissens- und Wissenschaftsgebieten wie der Aussagenlogik, Prädikatenlogik, Schaltalgebra, Soziologie, Biologie oder der Theologie und anderen. Erst in der und durch die Anwendung formal errechneter Ausdrücke und Aussagen in einem Teilgebiet, erlangen diese Ausdrücke konkrete empirische Bezüge und werden auf diese Weise interpretiert. Dies gilt, wenn hier vom Kalkül der Sprache gesprochen wird, auch für die natürliche Sprache.

Das Eigenverhalten von Sprache, anhand dessen wir eine Welt und uns selbst als Teil von ihr konstruieren, wird hier vorgestellt als Eigenverhalten der Innenseite von formaler Sprache (injunktiv-operative Sprache), aus dem auf ihrer Außenseite jeder Sprachgebrauch, die menschliche Rede und ebenso alles Tun und jede Lebensweise ihre und seine Beredsamkeit nehmen.

Sind aber, wie die moderne Sprachphilosophie nahelegt, die vorprädikativen Bedingungen von Sprache in der menschlichen Sprachpraktik und Medialität zu finden oder muss nicht ursprünglicher nach den Bedingungen von Wirklichkeit gefragt werden; danach, worauf Sprache Bezug hat, wenn sie spricht? Der Indikationenkalkül Spencer-Browns und der Sprachkalkül Gn1 nehmen den Anfang des Sprachverständnisses nicht aus ihrem Endresultat, der menschlichen Sprachlichkeit, sondern für beide konstituiert sich Wirklichkeit und damit auch die Wirklichkeit des Sprache gebrauchenden Menschen – Derridas Auffassung zum Trotz – aus einem und als ein Sprachgeschehen.9

Entstehung, Konzeption und Rezeption der beiden Kalküle

Die Quantenphysik wurde nur möglich, indem sie gelernt hat ihren Gegenstand mit Begriffen zu beschreiben, die zur Natur ihres Gegenstandes nur ungenau passen. Sie sah und sieht sich einer merkwürdigen Art von physikalischer Realität gegenüber, die in der Mitte von Möglichkeit und Wirklichkeit liegt. In solchem wissenschaftlichen Zeitgeist, zu dem auch neue erkenntnistheoretische Ansätze des Biologen und Entwicklungspsychologen Jean Piagets gehörten, die den radikalen Konstruktivismus Ernst von Glasersfelds wesentlich beeinflussten, veröffentliche im Jahr 1969 George Spencer-Brown die erste englische Originalausgabe der Laws of Form. Der Haupttext besteht aus zwölf Kapiteln und umfasst je nach Ausgabe 60 bis 70 Seiten. Ihm folgt ein Anmerkungsteil zu jedem der zwölf Kapitel, ursprünglich zwei und inzwischen neun Appendizes sowie ein Index der Formen.

Grundsätzliches Anliegen dieser Abhandlung waren die Fundierung und Erweiterung der Booleschen Algebra,10 das Bestreben, diese von der Logik zu trennen, die nur irrtümlich für deren Arithmetik gehalten wird, und wieder mit der Mathematik zu verbinden.11 Die Primäre Arithmetik, wie sie Spencer-Brown nennt, wird als die Wissenschaft der Konstanten und deren Beziehungsverhältnisse verstanden, aus der Axiome und Theoreme abgeleitet werden können. Als letzter rückführbarer Grund zeigt sich die Form der Unterscheidung mit ihren beiden Seiten als maximale Leere und maximale Verdichtung ohne jede konkrete Bestimmung. Ausgangspunkt aller mathematischen Operationen ist nicht Einheit und Identität, sondern Unterscheidung und Differenz. Die Primäre Algebra wird als die Wissenschaft der Beziehungen zwischen Variablen bezeichnet, unabhängig ihrer arithmetischen Bestimmung. Mit der Erweiterten Algebra führt Spencer-Brown eine dritte Dimension ein, den imaginären Wert, der als Reentry einen Ausdruck bestimmen lässt durch den Ausdruck, in dem er selbst vorkommt.

Mathematik wird im Sinne Booles nicht als Wissenschaft der Zahl und Quantität verstanden, sondern allgemeiner als Wissenschaft symbolischer Operationen, die für verschiedenste Bereiche, so auch den der Zahlen, der Logik u. a. angewandt werden können. „Die Disziplin der Mathematik wird als Weg erkannt, der, machtvoll im Vergleich zu anderen, uns Aufschluß gibt über unser inneres Wissen von der Struktur der Welt.“12 Ihre Symbolik erlangt in diesem Verständnis nicht nur mediale Funktion zur Formalisierung innerer Erkenntnisstrukturen, sondern sie erweist sich im diagrammatischen Denken selbst als Struktur von Erkennen.

Dieser Idee folgend, führt Spencer-Brown neue graphische Gestalten in seine Mathematik ein. Das Crosssteht für Kennen, indem es das Unterschiedene markiert. Wird diese Markierung der Unterscheidung kopiert, fungiert sie als Name. Durch die Kopie der Markierung der Unterscheidung in Zeichen wird das im Inneren Markierte und Erkannte wiederverwendbar. Die Doppelverwendung der Markierung der Unterscheidung als Kenntnis und Name lässt bereits die Grundidee seines Kalküls sichtbar werden, nämlich „dass wir keine Bezeichnung vornehmen können, ohne eine Unterscheidung zu treffen.“ (LoF1)

In diesem Sprach- und Erkenntnissystem erlangt noch eine weitere, im alltäglichen und wissenschaftlichen Sprachgebrauch unbeachtete Sprachfunktion explizite Bedeutung. Ebenfalls im zweiten Kapitel wird unter der Überschrift Instruktion auf die Hinweisfunktion von Sprache durch Fehlen von Sprache/Zeichen bzw. das Ausbleiben von deren Gebrauch hingewiesen – dargestellt als Raum ohne Zeichen, der als leerer Raum auf einen unmarkierten (nicht erkannten) Zustand hinweist, ohne dass auf diesen durch Zeichen oder einen Namen hingewiesen werden muss. Zu dem Cross kommen im vierten Kapitel noch Zeichen von variabler Form, Buchstaben (p, q, r, a, b …) als Ausdrücke der Primären Algebra hinzu und im elften Kapitel das Reentryzeichenfür Wiedereinfügen von Ausdrücken in bereits vorhandene Ausdrücke. Dieses Wiedereinfügen wird als ungeradzahliges Reentry und Einführung von Zeit, als geradzahliges Reentry und Gedächtnisfunktion sowie als mehrzahliges Reentry und Modulatorfunktion vorgestellt. Die Selbstreferenz des Kalküls und der Form wird im zwölften Kapitel als vierte Reentryart eingefügt. Neben den mathematischen Zeichen, mit denen gerechnet wird, werden die Rechenregeln als Gesetze, Theoreme und Kanons deskriptiv vorgestellt.

Unabhängig von der Eigenanwendung in den Appendizes Spencer-Browns auf die Aussagenlogik, die Vierfarbentheorie, die Generierung der natürlichen Zahlen, Fragen der Existenz und anderer mathematischer Problemstellungen haben die LoF als theoretisches Fundament in der Kybernetik, Biologie, Erkenntnistheorie und Systemtheorie eine intensive und anhaltende Rezeption und Anwendung erfahren. Der Biologe Francisco Varela findet mit dem Reentry einen einheitlichen Formalismus der Selbstreferenz13, welche alle Arten autopoietischer Systeme formal darzustellen erlaubt. Einige bedeutende Vertreter konstruktivistischer Denkpositionen greifen die LoF für ihre grundlegenden erkenntnistheoretischen Fragestellungen nach dem Zusammenhang von Erkennendem und Erkanntem auf und finden in der Form der Unterscheidung ein dynamisches Konstruktionsmuster, in dem der erkennende Beobachter und sein erkanntes Beobachtetes als Erkenntnisrelation koproduziert werden.14 Zu ihnen zählen interdisziplinär tätige Wissenschaftler wie der Biophysiker Heinz von Foerster, der Philosoph und Kommunikationstheoretiker Ernst von Glasersfeld und der Kommunikationstheoretiker und Psychotherapeut Paul Watzlawick.

Den Mathematiker Louis Hirsch Kauffman interessiert in seinem Projekt der Virtual Logic an den Laws of Form die Verschränkung von Einfachheit und Komplexität im Prozess des Aufbaus und Abbaus seiner Logik. Vor allem gelingt es ihm mit seiner eigenen komplexen formalen Sprache, im Abbau seines Kalküls deren implizite Komplexitäten erfahrbar werden zu lassen.

Die breiteste und wirksamste Rezeption, haben die LoF durch den Soziologen Niklas Luhmann erfahren, der vor allem den Beobachterbegriff und den Reentrybegriff zur Konzeption seiner Systemtheorie nutzte und zumindest indirekt auf die Wichtigkeit der Erweiterung der Anwendung der Algebra auf Gesellschaftssysteme aufmerksam machte.15. Theoretische Reflexion und praktische Anwendung hat der Kalkül in der Soziologie, Kulturtheorie, Organisationstheorie und Gesellschaftstheorie durch Dirk Baecker, Tatjana Schönwälder-Kuntze, Katrin Wille, Thomas Hölscher, Fritz Simon, Mathias Varga von Kibet und andere gefunden.

Die Applikation der Laws of Form in Biologie, Systemtheorie und Kybernetik zweiter Ordnung stellt den ersten ernstzunehmenden Versuch dar, diese neue Denkart zur epistemologischen Grundlage der Wissenschaft und Wissenschaften zu machen. Die Gesetze der Form werden dennoch meist nur eklektisch rezipiert und angewandt: als Indikationenkalkül der Primären Arithmetik, aus dem der Form- und Beobachterbegriff sowie ein undifferenzierter Reentrybegriff herangezogen wird. Die algebraischen Konsequenzen finden als ‚Gesetze des Möglichen‘ in den Interpretationen kaum Beachtung.

Die fünf Bücher sind ein inhomogenes literarisches Sammelwerk, dessen Entstehung zwischen dem 9. Jh. und 4. Jh. vor unserer Zeitrechnung datiert wird. Größere und kleinere literarisch autonome Überlieferungseinheiten wurden von unbekannten Autoren verfasst, in eigenständigen Textsammlungen tradiert und ein- oder mehrmals redigiert, bis sie vermutlich im 4. Jh. kanonisiert wurden.16

Übersetzt wurde der Pentateuch in ca. 2600 Sprachen. Er gehört damit zu den Schriften der Menschheit mit der größten kulturellen Wirkungsgeschichte. Unter den Büchern des Pentateuchs nimmt das Buch Genesis mit den Themen Schöpfung, Paradies, Kain und Abel, Sintflut, Turmbau zu Babel (Gn1–11) und der Erzvätergeschichte von Abraham, Isaak und Jakob (Gn12–50) nochmals eine Sonderstellung ein. Es ist über alle Grenzen der Weltreligionen Judentum, Christentum und Koran hinweg, das am häufigsten interpretierte Buch, wobei die beiden Schöpfungsberichte in Genesis 1,1–2,4a die Erschaffung von Himmel und Erde, und in Genesis 2,4b–3,24 die Paradieserzählung zu rezeptionellen Schwerpunkten wurden.

Die textkritischen Forschungen haben ergeben, dass allen Abschriften und Übersetzungen ein gemeinsamer Ursprungstext vorlag. Dieser wurde ursprünglich als reiner Konsonantentext verfasst und auch als solcher tradiert. Die Eigentümlichkeit der althebräischen Schreibweise ohne Vokale erlaubt nicht nur unterschiedliche Aussprachen, sondern lässt auch unterschiedliche Bedeutungen zu.

Die Masoreten, jüdische Kopisten und Bearbeiter von Bibelhandschriften, setzten es sich im 8. und 9. Jh. zur Aufgabe, die Mehrdeutigkeit mündlich überlieferter Lesearten zu vereinheitlichen, ohne den Konsonantenbestand zu verändern. Hierfür entwickelten sie eigene Vokalisations-systeme, mit denen zugleich die Grammatik des Bibelhebräisch vereinheitlicht und festgelegt wurde. Dieses zusätzliche Zeichen- und Anmerkungssystem führte zu exegetischen Urteilen, die die Aussage der Texte wesentlich beeinflussten.

Das priesterschriftliche Werk, dessen literarische Phase sich nicht mit Bestimmtheit datieren lässt, dessen Entstehung jedoch zwischen dem 6. und 4. Jh. v. Chr. anberaumt wird,17 verdankt sich in seiner Gesamtheit der Exilsbzw. Nachexilszeit. In dieser Zeit wurde Israel der Expansionspolitik des babylonischen Königs Nebukadnezar II unterworfen. Mit ihr verbunden war die Deportation der israelitischen Oberschicht nach Babylon und der Verfall des religiösen-kulturellen Lebens in Jerusalem – eine existentielle Bedrohung, die den überlieferten Erzählungen ihren Erklärungswert genommen hatte und eine Neubegründung Israels hervorgerufen hat.

Soziologisch gesehen, verlangt die Selbstthematisierung einer religiösen Ethnie unter sich selbst auflösenden Bedingungen eine von der eigenen Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte unabhängige alternative Selbstbegründung. Diese, so meine These, fällt mit Genesis 1,1–2,4a in einer Radikalität aus, die bis zum Anfang von Zeit und Raum zurückreicht.

Von besonderem Interesse für den Strukturvergleich von Gn1 und LoF wäre eine mögliche Einflussnahme der ostasiatischen Philosophie, speziell des Daodejing, einer Spruchsammlung, die dem Weisen Laozi zugeschrieben wird. Nach heutigem Erkenntnisstand kann die Entstehungszeit dieser Texte zwischen dem 6. und dem 4. Jh. v. Chr. datiert werden – ein Zeitraum, der sich mit der literarischen Phase von Gn1 deckt.

Das Interesse rührt von zahlreichen Bezugnahmen Spencer-Browns auf ostasiatische Kulturen her. Seinen Indikationenkalkül hat er mit Kapitel Null von Anfang an in den Kontext des philosophischen und religiösen Daoismus gestellt.18 Der zitierte dritte Vers des ersten Kapitels des Daodejing kann je nach Leseweise als 1) Ohne Name ist der Anfang des Himmels und der Erde oder 2) „Nichts“ ist Name des Anfangs von Himmel und Erde übersetzt werden. Ohne genaue Erörterung lässt sich zumindest eine gleiche Themenlinie der beiden Texte feststellen. Die traditions- und literaturgeschichtlichen Zusammenhänge dieser Denkart mit dem Genesistext sind meines Wissens sowohl von östlicher Seite als auch westlicher Seite völlig unerforscht, obwohl bekannt ist, dass zwischen Orient und Okzident seit dem zweiten Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung, also bereits 1500 Jahre vor der Abfassung der beiden Texte, ein wirtschaftlicher, kultureller und „philosophischer“ Austausch gepflegt wurde. Mag sein, dass der Eurozentrismus, wie dies Günter Wohlfart beurteilt, sich im Philosophischen von jeher in eine Einbahngasse begeben hat und für eine komparative Philosophie blind war.19

Von nicht minderem Interesse könnte ein direkter Zusammenhang von Gn1 mit der babylonischen Mathematik sein. Die ältesten überlieferten Tontafeln mit Zahlzeichen in sumerischer Keilschrift entstanden um 2900 v. Chr. im mesopotamischen Uruk. Sie enthalten den ersten Beleg eines Positionssystems, das auf dem Sexagesimalsystem beruht. Die meisten der in Mesopotamien gefundenen Dokumente mathematischen Inhalts stammen aus der Zeit des Altbabylonischen Reichs (1728–1686) und des Neubabylonischen Reichs (625–539), weshalb die mesopotamische Mathematik auch „Babylonische Mathematik“ genannt wird. Im Neubabylonischen Reich erfuhr die Mathematik eine ungeahnte Blüte; das ist jene Zeit, in der Gn1 verfasst wurde.

Zu unserem Referenztext zeigt sich vor allem in der Darstellungsweise eine vielversprechende Gleichheit: Die mathematischen Keilschrifttexte wurden in der Form einer Vorschrift verfasst. „In den Aufgaben wird mit konkreten Zahlen gerechnet. Die Texte sind jedoch so formuliert, dass an ihrer Stelle auch andere Zahlen oder gar Variablen (Wortalgebra) eingesetzt werden können, für welche die Babylonier aber keine Zeichen hatten. Einige Aufgaben bzw. Probleme lassen Rückschlüsse auf theoretisches Denken zu, z.B. die Betrachtung von Gleichungen vierten oder höheren Grades oder die Kenntnis von Infinitesimals“.20

Ohne eine Beweisführung eines direkten Zusammenhanges von babylonischer Mathematik und Gn1 leisten zu können, zeigen sich auf den ersten Blick erstaunliche Parallelitäten, die sich im Sprachkalkül von Gn1 wiederfinden:

1) Das bei den Babyloniern geltende Sexagesimalsystem bildet die zeitliche Grundstruktur von Gn1 – sechs Tage (Zeiten) der Erschaffung.

2) Die Darstellung ist nicht als Beschreibung, sondern wie in der Mathematik als Injunktion zum Errechnen eines Universums verfasst.

3) Die verwendeten Worte fungieren als Wortvariable; das sind Vorläufer der modernen algebraischen Symbolsprache.

4) Es handelt sich um mathematische Texte, die mit Gleichungen höheren Grades (Zeit) und Infinitesimals operieren.

5) Die Blütezeit der babylonischen Mathematik fällt in die Zeit der Abfassung von Gn1.

6) Es gibt weder im mesopotamischen noch im ägyptischen Raum einen Text mit vergleichbarer Gesamtkonzeption.

7) Sowohl die Entdecker und Verfasser der mathematischen Erkenntnisse als auch der oder die Verfasser von Gn1 sind unbekannt und ohne Namen.

Anmerkungen zum Strukturvergleich

Vergleichsmethode

Voraussetzung für die Leseweise des Genesistextes als formaler Kalkül von Sprache war eine alternative Übersetzung des hebräischen Originaltextes, der in reiner Konsonantenschrift verfasst wurde. Konsonantentexte weisen eine breitere Bedeutungsvielfalt auf als vokalisierte Texte. Daher lassen sich die einzelnen Wortbedeutungen nur im Verstehen eines Zusammenhangs bestimmen. Die Wiederentdeckung des Genesistextes als Formalismus wäre ohne die explizit formulierten Gesetzlichkeiten und deskriptiven Teile der Laws of Form kaum möglich gewesen.

Methodologisch betrachtet, bestimmte sich die Bedeutung der hebräischen Morpheme durch ihr Verhältnis zu den Laws of Form selbst. Ähnlich wie in einem Pivotverfahren zur mathematischen Optimierung und Suche nach der bestmöglichen Lösung aus vielen Alternativlösungen wurde die Bedeutung der hebräischen Konsonantenausdrücke im Vergleich mit den LoF Schritt für Schritt so lange eingegrenzt, bis sich eine einfache und im Zusammenhang dieses Formalismus sinnvolle Wort- und Satzbedeutung herausgebildet hatte. Diese wechselseitige Referenz der beiden Texte führte einerseits zur vorliegenden Alternativübersetzung des Genesistextes und andererseits zu einem leichteren Verstehen der Gesetze der Form.

Ein Beispiel anhand Gn1,3 und LoF erster Satz von Kp.2:

ויאמר אלהים יהי

Das hebräische Morphem אמר (’amar ) hat die Bedeutungen: sprechen, sagen, berichten; im Innersten sagen; befehlen, anweisen.

Die erste Konstruktionsanleitung der LoF lautet: Triff eine Unterscheidung!

Dieser Imperativ lässt im Unklaren, wer diese Anweisung gibt und wem die Anweisung gilt.

In der Genesiskonzeption wird hingegen eindeutig bezeichnet, wer eine Anweisung zur Unterscheidung gibt: אלהים (’elohim ). Elohim hat die Bedeutung: eine redende und wirkende Kraft, Sprachpotentialität; Gott.

Aus den LoF kann entnommen werden, dass es um eine Anweisung geht.

Damit erübrigen sich die anderen Bedeutungen von ’amar.

Es ist nun möglich, die ersten beiden hebräischen Morpheme aus Vers 3 zu übersetzen mit: eine redende wirkenden Kraft, Sprachpotentialität, weist an.

Wird auch noch nach dem Adressaten der Anweisung gefragt, so hilft eine weitere Bedeutung von ’amar weiter: im Inneren sagen. Eine redende wirkende Kraft sagt in ihrem Inneren, weist sich in ihrem Inneren selbst an, d.h. sie weist an und sie weist sich selbst an. Die basalste Figur von Selbstreferenz – in der Sprache der LoF ein ungeradezahliges Reentry – ist gefunden. Vereinfacht lässt sich nun übersetzten: Sprache wies sich selbst an (eine Unterscheidung zu treffen).

Zu der für ein alternatives Verstehen von Gn1 erforderlichen Mehrdeutigkeit von Zeichen kommt noch eine Eigenschaft von Zeichen hinzu, die für ein auf Eindeutigkeit konditioniertes Sprachverständnis zunächst so gar nicht passen mag: die Verwechslung von Zeichen. Für die Experimente in Kp12 wird dem „=“ Zeichen ausdrücklich die Funktion „wird verwechselt mit“ (confused with) zugewiesen.21

Mit solchen Verwechslungen „spielt“ auch der Verfasser von Gn1, wenn er an ausgewählter Stelle Homophone, Worte mit gleicher oder ähnlicher Konsonantenfolge, jedoch unterschiedlicher oder verwandter Wurzel verwendet, um Verwechslung und Irritation zu erzeugen. Die in der Übersetzung mit „cf“ gekennzeichneten hebräischen Wörter führen den Leser zu anderen Wurzeln, die entweder mit der verwendeten verwandt oder nicht verwandt sind, jedoch mit ihnen verwechselt werden können. So kann z. B. hebr. אור /’or/Licht und ארר/’rr/Plage, Fluch verwechselt werden.22

Gn1 wird auch als Erzählung, als Schöpfungsgeschichte bezeichnet, weil der Text in Erzählform tradiert wurde.23 Geschichten eignen sich, eine größere Anzahl von Elementen in Gemüt und Gedächtnis zu halten und komplizierte Zusammenhänge einfach erscheinen lassen. Sie erfüllen das tiefe Bedürfnis, die Grundmuster des Lebens zu verstehen.24 Die Stärke des Genesistextes liegt nicht nur darin, dass er mit seinen acht Werken an sechs Tagen (Zeiten) als ein Gesamtzusammenhang einfach zu verstehen und zu merken ist und in sich eine kohärente und einfach nachzuvollziehende Struktur aufweist, aus deren Anfang sich die Form mit ihren Gesetzlichkeiten wie von selbst vor unseren Ohren und Augen ausdifferenziert. Sie hat überdies noch den Vorteil, dass sie die bekannteste Geschichte der Menschheit ist und zumeist auswendig gewusst wird.

Injunktiv-operative Sprache und Notation

Die Bezeichnung der beiden Texte als Kalkül resultiert aus der injunktiven Konstruktions- und Erkenntnismethode, die den Kalkül und seine mathematischen Ausdrücke (Objekte) erst hervorbringt. Während die Wissenschaften die Gegenstände, ihr Materialobjekt der Untersuchung, als vorgegeben betrachten und ihr Wissen über die Gegenstände aus den jeweiligen Untersuchungsmethoden generieren, verläuft der Erkenntnisprozess in einem mathematischen Kalkül in umgekehrte Richtung. Gegeben ist eine Anweisung, eine bestimmte Methode anzuwenden, anhand derer Gegenstände (mathematische Objekte, Ausdrücke) errechnet werden, die dann als Gegenstände bzw. Ausdrücke dieses formalen Systems gelten. Für Spencer-Brown ist die injunktive Sprache mit ihrer operativen Funktion die einzige, die zu Wissen führt. „Das ganze gegenwärtige Bildungsestablishment der zivilisierten Welt ist mit einem gigantischen Betrug beschäftigt: dem großen Schwindel von GI – Gerede und Interpretation: der ganz und gar falschen Doktrin, dass jemand etwas wissen kann, indem man es ihm erzählt. Erzählen kommuniziert in keiner Weise Wissen, welcher Art auch immer. Es tat es nie, konnte es nie und es wird es niemals tun. Der einzige Weg, auf dem Wissen mitgeteilt werden kann, ist durch BB – Befehl und Betrachtung.“25 Es bedarf eines beträchtlichen Entlernens der geläufigen deskriptiven Struktur von Sprache, welche, bis sie abgelegt ist, irrtümlich für die Wirklichkeit gehalten werden kann.26

Im natürlichen Gebrauch von Sprache bleibt uns ihre injunktiv-operative Funktion verborgen.27 Um die innere operative Eigenschaft von Zeichen bzw. Sprache zu demonstrieren, erfand Charles Sanders Peirce (1839–1914) eine Schreibweise von Zeichen, die ihre Bedeutung buchstäblich in sich tragen.

Diese Zeichen, Diagramme oder Graphen repräsentieren keine Gegenstände, sie fungieren als Werkzeuge für Beziehungen und Verhältnisbestimmungen (Relationen) zwischen Ausdrücken bzw. Entitäten. Mit dieser speziellen Notation und diagrammatischen Denkweise werden allgemeine Denkschemata, dynamische Strukturen und Eigenschaften von Zeichen konkret anschaubar und vollzogen. Denken und Erkennen werden darin nicht als intersubjektive Zustände gedacht, sondern werden materialisiert, sinnlich anschaulich und als Zeitunterschied im Zeichen sichtbar. Dem Auge werden Transformationen präsentiert, die auf die Zeitspanne zwischen der Beziehung zum Zeichen vor einer Handlung und der Beziehung zum Zeichen nach einer Handlung hinweisen.28 Eine Folge von Zeichen ist somit keine bloße Darstellung von Denkvorgängen, sondern wird als Vollzug des Denkens von Relationen sichtbar. Das Zeichen als Bild des Denkens, ist Denken.29

Dieselbe Konvergenz von Mathematik und Sprache lässt sich einige Jahrzehnte später im Denken und der Notation George Spencer-Browns (1923–2006) finden. Ausgehend von einem einzigen Zeichen, dem Crossdas isomorph mit dem Peirceschen Signe of illation ist, entwickelt er seinen Calculus of Indications.30 Auch Spencer-Brown bleibt dem diagrammatischen Denken verbunden. Ein Denken, das der graphischen Darstellung den Primat gegenüber der Mündlichkeit eingeräumt.

Die modernen Sprachtheorien vertreten eine ähnliche Bevorzugung der Schrift. Sowohl die universalgrammatischen als auch die universalpragmatischen Sprachtheorien (siehe Anhang 3) rechnen es der Schriftkultur zu, die inneren Operationsweisen geistiger und sozialer Vorgänge überhaupt erst zugänglich zu machen. Die jedem Sprachgebrauch inhärenten universalen Strukturen und Regeln können je nach sprachphilosophischer Position als verborgenes Können und Sprachkompetenz oder als virtuelle, ideale Sprache und universale Grammatik sinnlich wahrnehmbar und sichtbar gemacht werden.31 Jede konkrete Äußerung gilt als Operationalisierung des vorausliegenden Regelwerkes einer universalen Struktur, die allerdings nur im Medium der Schriftlichkeit als Wissen explizit verfügbar wird.

Die Überbetonung der Schrift zur Demonstration innerer grammatikalischer, pragmatischer Strukturen in der Sprachtheorie geht mit der Marginalisierung mündlicher Rede einher, in der der mündlichen Rede zwar Performativität zugesprochen wird, ihr jedoch Formalisierbarkeit abgesprochen wird. Das Medium der Stimme bleibt seit dem antiken griechischen Denken für das abendländische Sprachdenken unthematisiert.32 Der Dialog bei Wilhelm von Humboldt, die Sprachspiele bei Ludwig Wittgenstein und ebenso die universalpragmatischen Kommunikationstheorien kommen ohne Reflexion der Stimmlichkeit zu ihren Ergebnissen. 33

Diese Hierarchisierung der Sinne räumt dem Sehen den Vorrang gegenüber dem Hören ein, der Vergangenheit den Vorrang gegenüber der Gegenwärtigkeit und dem Raum den Vorrang gegenüber der Zeit. Im Medium der Schriftlichkeit wird die Fläche, der leere Raum zum originären Ort des Erkennens.34 Im Medium der Mündlichkeit wird Zeit, Gegenwärtigkeit zum originären „Jetzt“ von Wirklichkeit, die nur dem Gegenwärtigen zukommt. Wirklich im mündlich-zeitlichen Denkschema ist nur die Gegenwart. Die Stimme im mündlich Gesagten ist nicht bloß ein Instrument des Sagens, sie deutet das Gesagte ebenso wie sie es unterminiert und das Unsagbare zum Ausdruck zu bringen vermag, das was die Rede verschweigt.35 Ist Schweigen nicht beredet? Eine Beredsamkeit die in der Interpunktation eines Gedankenstriches zwar graphischen Ausdruck finden kann, jedoch ihre Beredsamkeit verliert.

Die Flüchtigkeit des gesagten Wortes und das beständige Verschwinden des Gesagten lassen die Unterscheidung von bezeichnendem Wort und Wortbedeutung kaum mehr vernehmen. Kann sich in mündlicher Sprache das Wort vom Sprechenden soweit lösen, dass über den Wahrheitsgehalt seiner Aussage entschieden werden kann, ohne die Wahrhaftigkeit des Sprechenden in Frage zu stellen?36 Das verklingende Wort hat, so scheint es, seine Eigenschaften nicht in sich selbst. Es ist vom Sprechenden und Hörenden nicht zu trennen, weil Sprache von Zeit und Gegenwart des Sprechens nicht zu unterscheiden ist.37

Darf jedoch von der Flüchtigkeit und Zeitlichkeit gesprochener Sprache und ihrer UnUnterscheidbarkeit von Signifikant und Signifikat, von Sprecher und Gesprochenem, auf die Unzugänglichkeit ihrer inneren formalen Strukturen geschlossen werden? Werden die Grundfunktionen und Eigenschaften von Zeichen, die innere Struktur und Dynamik von Sprache nur graphisch d. h. im Medium von Schriftlichkeit explizierbar? Und bedarf es zur Veranschaulichung des Zusammenhanges von Denken/Erkennen und Zeichen unbedingt der Schriftlichkeit?

Die scheinbar unlösbare Aufgabe, universale Muster nicht nur anhand eigener graphischer mathematischer und logischer Zeichen zu formalisieren, sondern in akustischen Worten sprechen zu lassen, ist offensichtlich 2500 Jahre zuvor bereits gelöst worden. Die Konzeption von Gn1 beruht, so meine These, primär auf Wortalgebra, in der Wörter für Konstante und Variable und deren Beziehungen verwendet wurden38. Sie wurde, dem semitischen Sprachdenken entsprechend, im Medium der Lautlichkeit rezipiert, da die altsemitische Sprachauffassung stets dem Hören den Primat eingeräumt hat.39

Gn1 lässt im injunktiven Modus des Hörens, d. h. in der Anweisung zum Mitvollzug, die einfachsten Grundfunktionen von Worten und deren Äquivalenzverhältnisse als Wortalgebra in Erfahrung und in das Wissen bringen, und das ist eben auch ohne spezielle graphische Notation, d. h. ohne Schriftlichkeit möglich. Im mitrechnenden Sprechen und Hören generiert sich Sprache bzw. generiert Sprache aus nicht aktualisierten Grundrelationen einen vollkommenen und widerspruchsfreien Kalkül ihrer selbst.

Wie keine andere Philosophie nimmt der Sprachkalkül von Gn1 Zeit in dieser Welt als philosophisches Datum ernst. Der „Ort“ des Erkennens liegt nicht im Raum (wie ein Kreis auf einem weißen Blatt Papier) und räumt Sprache nicht im Medium schriftlicher Zeichen den Vorrang ein. Der Anfang von Erkennen, erfolgt aus der Präsenz des gesprochenen Wortes, aus Sprechen in Zeit. Der in der dominanten Schriftkultur verloren gegangene Zusammenhang von Laut und Wort ist nicht nur von poetischem oder rhetorischem Interesse, sondern von sprachphilosophischem und erkenntnistheoretischem Gewicht. Nicht die Sprachkompetenz des Lesers oder Schreibers verleiht der Sprache ihre Sprachlichkeit, es ist ihre rekursive verborgene Operationsweise, die Sprache selbst zur sprechenden Sprache macht und zugleich Wirklichkeit erzeugt.

Es gehört zur unentdeckten Seite des Genesistextes, dass er, obwohl in Prosa verfasst, die gleiche formale Stringenz aufweist wie eine mathematische Symbolsprache. Er darf daher als Wortalgebra und formaler Sprachkalkül gelesen und bezeichnet werden. Zum anderen wurden Texte wie erwähnt, in der semitischen Tradition nicht still gelesen, sondern rezitiert, und das Hören des in Gegenwart gesprochenen Wortes war Grunderfahrung von Sprache. Die Gegenwart des Hörenden nimmt die Freiheit der Wahl, wer etwas sagt, hat es jetzt gesagt, und wer etwas hört, hat es jetzt gehört. Aus dieser Gegenwart kann sich niemand befreien. In ihr liegt das Verständnis von Wirklichkeit – Wirklichkeit ist gegenwärtig und weder vergangen noch zukünftig.

Zeit lässt sich nicht durch Raumanalogie vorstellen, sie hat keine Ausdehnung und Größe, sie ist nur als Relation und Unterscheidung zwischen vorher und nachher ohne Größe fassbar. Und diese Unterscheidungen sind zählbar.40 Das „Jetzt“, die Gegenwart ist die Einheit der Zahl. Der gegenwärtige Augenblick ist als Augenblick derselbe und er ist nicht derselbe, sondern ein anderer Augenblick als der vorherige. Und erst aufgrund dieses Unterschiedes eines vorherigen Augenblicks vom gegenwärtigen Augenblick wird Zeit erfahrbar. Daher übersetzt Thrasybulos Georgiades die Zeitdefinition von Aristoteles wie folgt: „Denn das ist die Zeit: Die Zahl der Bewegung nach dem vorherigen und nachherigen Jetzt.“41 Die Zeit ist die Unterscheidung von vorher und nachher. Die Zeit als Zahl ist zählbare Unterscheidung. Diese elementarste Spracheigenschaft, die Unterscheidung der genuinen Relation von vorher und nachher, wird in der gegenwärtigen Rede wenn auch meist unbeachtet erfahrbar und geht in der Schriftlichkeit völlig verloren.

Zeit als Prozess und Dauer stellt für die Mathematik und Physik kein Problem dar. Erst „der Pfeil der Zeit“, wie es Prigogine nennt, ihre Irreversibilität, wird als Angriff auf das Ideal objektiver Erkenntnis gewertet.42 Das Blatt Papier, auf dem die Berechnungen durchgeführt werden, hat eine Historie, doch diese kommt in der Berechnung nicht vor, wohingegen es unmöglich ist, irreversible Zeit aus einer konkreten mündlichen Rede zu abstrahieren.

Auf irreversible Zeit wird mit der Gesamtkonzeption beider Kalküle LoF und Gn1 hingewiesen. Die Zeit, von der aus der Anfang gemacht wird, ist nicht die Zeit der Mitte, nicht die momentane Gegenwart, in der eine Unterscheidung vollzogen wird. Die Zeit des Denkens des Anfangs ist die Zeit des Anfangs selbst, die mit der ersten Unterscheidung erst rekursiv zur Zeit und Gegenwart wird. Wird die erste Unterscheidung von der Zeit des bereits Konstruierten aus vollzogen, kommen eine ganze Menge Schwierigkeiten auf, die zuerst in einem dekonstruierenden Prozess überwunden werden müssen, um zum Anfang eines konstruktiven Prozesses zu gelangen. Wird der sprachbegabte Beobachter (Mensch) und mit ihm menschliche Sprache im Konstruktionsprozess immer schon vorausgesetzt, muss diese zunächst soweit dekonstruiert werden, bis sie zu jenem sprachlichen Formalismus wird, der den Menschen als sprachlichen Kalkül und Beobachter 2. Ordnung erst generiert. Eine andere Lösung wäre, neben der Ebene der ersten Unterscheidung (Unterscheidung/Bezeichnung) eine zweite Ebene der Unterscheidung mitzuführen, eine Unterscheidung zwischen Unterscheidung und Unterscheider. Die Implikation des Beobachters 2. Ordnung (konkreter Beobachter Mensch) in der Unterscheidung (Unterscheiden/Bezeichnen), die von einem Beobachter 1. Ordnung vollzogen wird, bleibt mit dem „unwritten cross“ der LoF latent. Auch in Gn1 bleibt im gesamten Konstruktionsprozess der konkrete Hörer bzw. Leser solange latent, bis er als letzter Generierungsschritt des Kalküls hervorgeht.

Der Vorteile der beiden Konzeptionen ist eine Konstruktion von Anfang an, nicht von der Mitte zum Anfang zurück. Das vereinfacht Verstehen und legt die Differenzierungsprozesse offen. Deshalb müssen die Konstruktionsresultate nicht als verborgene (concealed) Objekte wiederentdeckt werden; sie werden im Lesen bzw. Hören erst errechnet. Die Richtung des Denkens läuft parallel zur Richtung von irreversibler Zeit, und produziert daher keine Paradoxien wie die Henne-Ei-Thematik.

Der injunktive Erkenntnisweg der beiden Kalküle geht nicht von einer vorgegebenen Wirklichkeit aus, die mittels sprachlicher Zeichen und mathematischer Symbole repräsentiert werden kann. Für ihn gibt es keine irgendwie existierende Wirklichkeit, sein Anfang liegt vor Zeit und Raum sodass selbst Zeit und Raum Ergebnisse (mathematische Objekte/Ausdrücke) der durchgeführten Operationen sind, die in rekursiven und modularen Unterscheidungs- und Bezeichnungsprozessen erschaffen und aufrechterhalten werden. Erste Zeit und erster Raum liegen noch vor jeder chronologisch messbaren Zeit und vor einem geometrischen Raum. Der Kalkül nimmt seinen Anfang im Unterschied zum ontologischen Existenzbegriff noch vor allem Existierenden. „Daß uns die Mathematik, gemeinsam mit anderen Kunstformen, über die gewöhnliche Existenz hinaus führen und uns etwas von der Struktur zeigen kann, in der alle Schöpfung zusammenhängt, ist keine neue Idee. Aber mathematische Texte beginnen die Geschichte irgendwo in der Mitte und überlassen es dem Leser, den Faden aufzunehmen, so gut er kann. Hier wird die Geschichte vom Anfang an verfolgt.“ (LoF 1997xxxv.)

Das Bemerkenswerte an den beiden Kalkülen ist, dass sie es nicht erlauben, hinter den Anfang zurückzugehen, indem ein Vorher angenommen oder gewusst werden kann. Sie haben kein primäres Argument, von dem aus gerechnet werden könnte, und sind sich daher selbst voraussetzungslose Voraussetzungen. Die Antwort des Woraus der ersten Unterscheidung gibt in den LoF die konditionierte Struktur ‚in Nichts‘. Für Gn1 gibt die Antwort die Sprache selbst. Sprache in ihrer injunktiv-operativen Funktion erzeugte und erzeugt sich, wenn auch unbewusst, durch Aktualisierung ihrer Selbstbeinhaltung, Selbstinterpretation und ihres Selbstbezuges rekursiv selbst. Sie kann als ihre eigene Motivation betrachtet werden, ohne die sie nicht werden oder fortfahren zu werden würde. Der Zweck von Sprache ist sie selbst, ihr eigenes Werden.43

Entsprechung und Konzeptionelle Unterschiede der beiden Kalküle

Es ist mehr als erstaunlich, in welcher Genauigkeit sich die beiden Kalküle, LoF und Gn1 entsprechen. Dennoch zeigt ihre Grundkonzeption zwei wesentliche Unterschiede:

Erstens beginnen die LoF mit der Spaltung (engl. severance) des Raumes, der als vierter Aspekt zugleich mit der ersten Unterscheidung entsteht. In der Genesiskonzeption erhält die Zeitdimension den Primat. Die erste Unterscheidung beginnt mit der Spaltung von Ewigkeit in Zeit.

Zweitens wird in der Genesiskonzeption nicht nur zum Aufbau eines Kalküls angewiesen, sondern in der letzten siebenten Zeit zum Abbau und zur Beendigung der kalkulatorischen Tätigkeit, wodurch eine andere Art des Wissens von Potentialität in Erfahrung gebracht werden kann.

8 Vgl. Krämer S. (1988): Symbolische Maschinen. Die Geschichte der Formalisierung in historischem Abriß, Darmstadt. S. 73ff.

9 „Wir werden zu zeigen versuchen, daß es kein sprachliches Zeichen gibt, das der Schrift vorherginge.“ Derrida J. (1983): Grammatologie S. 29. Für Derrida ist die Unterscheidung zwischen Signifikant und Signifikat nicht aufrechtzuerhalten. Eine vom Zeichenträger unabhängig vorhandene Realität kann es für ihn nicht geben. Derrida lässt aber den Ursprung des Bezeichneten weiterhin im Verborgenen und bleibt in seiner Sprachanalyse auf der Ebene der menschlichen Sprache, die den Denkweg für die sprachliche Verfasstheit der Wirklichkeit nicht freigibt.

10 Boole G. (1854): An Investigation of the Laws of Thought.

11 Vgl. LoFxxvi. Boole entwarf eine Algebra und passte sie der Logik an, welche eine ihrer Auslegungen ist, aber nicht ihre Arithmetik. Eine der besonderen Leistungen Spencer-Browns war es, die Boole’sche Algebra um eine nicht-numerische Arithmetik zu erweitern, die er ‚Primäre Arithmetik’ nennt.

12 Vgl. LoF 1997 xxvii.

13 Varela F. (1975): A Calculus for Self-Reference. In: International Journal of General Systems. 2.5-24.

14 Vgl. Schönwälder-Kuntze T. (2009): In: George Spencer-Brown. Eine Einführung in die „Laws of Form“ S. 235ff.

15 Vgl. Luhmann N. (1990): Die Wissenschaft der Gesellschaft S. 71ff.

16 Vgl. Fischer G. (2018): S.43-80.

17 Vgl. Fischer G. (2018): S. 58 und 701.

18 Mit einer Danksagung nach dem Vorwort der Ausgabe von 1968 deklariert Spencer-Brown die den Laws of Form vorangestellten asiatischen Schriftzeichen als Faksimile-Kopie des Daodejing.

19 Vgl. Wohlfart G. (2001): Der philosophische Daoismus. S.11ff. Wie sehr zu dieser Zeit die strukturgebende Funktion von Sprache von Bedeutung war, zeigt sich in der Abfassung der ältesten bekannten Sanskrit-Grammatik durch den indischen Grammatiker Panini im 5. bzw. 4. Jh. vor unserer Zeitrechnung.

20 Djafari Naini A. (2003): Mesopotamische (Babylonische) Algebra. In: Alten H.-W. (2003): 4000 Jahre Algebra S. 27.

21 LoF S. 60.

22 Vgl. Brown-Driver-Briggs S. 1177.

23 „Gn 1,1-2,4a ist eine Erzählung. Auch wenn diese Bestimmung noch erheblich zu modifizieren ist, muß von dieser Grundbestimmung ausgegangen werden.“ Westermann C. (1974): S. 111.

24 Aus einem Gespräch mit Robert McKee in Harvard Business Manager, Oktober, 2003 S. 112.

25 LoF ix: Kanon Null. Koproduktion.

26 sowie LoF 1997 S. 88. „Es ist, so fürchte ich, der intellektuelle Block, dem die meisten von uns an den Punkten gegenüberstehen, wo wir, um die Welt klar zu erfahren, Existenz auf Wahrheit reduzieren müssen, Wahrheit auf Bezeichnung, Bezeichnung auf Form und Form auf die Leere, der so sehr die Entwicklung der Logik und ihrer Mathematik aufgehalten hat.“

27 In den Anmerkungen zum mathematischen Zugang bemerkt Spencer-Brown: „Indem wir unserer Darstellungsweise einer…Trennung nachspüren, können wir damit beginnen, die Formen, die der Sprachwissenschaft wie der mathematischen, physikalischen und biologischen Wissenschaft zugrunde liegen, mit einer Genauigkeit und in einem Umfang die fast unheimlich wirken, zu rekonstruieren, und können anfangen zu erkennen, wie die vertrauten Gesetze unserer eigenen Erfahrung unweigerlich aus dem ursprünglichen Akt der Trennung folgen. Der Akt selbst bleibt, wenn auch unbewußt, im Gedächtnis als unser erster Versuch, verschiedene Dinge in eine Welt zu unterscheiden, …. (LoFxxxv)

28 „Eine Transformation ist jede Handlung, die eine Zeitspanne einnimmt, … erstens in ihrer Relation zu dem gesamten Graphen auf dem Behauptungsblatt genau vor der Handlung und zweitens in ihrer Relation zu dem gesamten Graphen auf dem Behauptungsblatt genau nach der Handlung.“ Transformationsregeln in: Collected Papers of Charles Sanders Peirce – 5. Band, 3. Abschnitt – Existential Graphs. Hrg. Hartshorne Ch./Weiss P. (1933) Harvard University Press, Cambridge.

29 Vgl. Krämer S. (2010): Vorlesungsmanuskript: Das ‚Auge des Denkens‘. Visuelle Epistemologie am Beispiel der Diagrammatik. Zwölfte Vorlesung: Charles Sanders Peirce. Sichtbarkeit und Graphematik des Denkens.

30 Unabhängig von Peirce erfand auch Jean Nicod (1893-1924) unter Verwendung des Sheffer-stroke eine ähnliche Kombination. Ein Zusammenhang, den L. Kauffman in seinem Beitrag zu The Mathematics of Charles Sanders Peirce ausführlich darstellt und klärt. Vgl. Kauffman L. (2001): S. 83ff.

31 Sybille Krämer hat in einer Studie die modernen sprachtheoretischen Positionen auf die Zuordenbarkeit zu einem Sprachdenken hin untersucht, das den konkreten sprachlichen kommunikativen Äußerungen ein ideales Sprachsystem zugrunde legt. Krämer S. (2001): Sprache, Sprechakte, Kommunikation. Siehe auch Anmerkungen Teil 3 Europäisches Sprachdenken.

32 Riedel M. (1986): Logik und Akroamatik. Vom zweifachen Anfang der Philosophie.

33 Krämer S. (2002): S. 337. Eine Strukturähnlichkeiten von Wort und Ding wird bereits vom Heraklitschüler Kratylos im gleichnamigen Dialog Platons ausführlich erörtert blieb jedoch in seinem Logosverständnis ohne weitere Bedeutung. (siehe Exkurs europäisches Sprachdenken)

34 Krämer S. (2002): Sprache – Stimme – Schrift: Sieben Gedanken über Performativität als Medialität. In: Wirth U. (2002): Performanz S. 337f.

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