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Er kann einen gewaltigen Schaden anrichten: der Zorn. Schließlich schadet er nicht nur dem ›Empfänger‹, sondern ebenso dem Zornigen selbst, und auch gänzlich Unbeteiligte bekommen mitunter ihr Fett weg. Doch Choleriker und ihr Umfeld können beruhigt sein: Der griechische Philosoph Plutarch wusste bereits vor rund 2000 Jahren, wie man den Zorn besiegt – und lässt in seinem ›Ratgeber‹ einen Betroffenen selbst davon erzählen. Der positive Nebeneffekt dieser Therapie: mehr Achtsamkeit und Wohlwollen gegenüber anderen wie gegenüber sich selbst.
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Seitenzahl: 97
Plutarch
Reclam
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2022 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Covergestaltung: Cornelia Feyll, Friedrich Forssman
Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Made in Germany 2022
RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN978-3-15-962139-5
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-014274-5
www.reclam.de
Einleitung
Der Zorn als eine ›Krankheit der Seele‹
Die Philosophie als ›Seelenapotheke‹
Chaironeia statt Rom
Biographie als Seelenkunde
Plutarch als eine philosophisch-pädagogische Persönlichkeit
Annäherung an den Zorn
Wie man den Zorn besiegt
Sprecher des Dialogs: Sulla ...
Anhang
Marcus Tullius Cicero über den Zorn und seine Bezähmung
Anmerkungen
Literaturhinweise
Den Zorn singe, Göttin, des Peleussohnes Achilleus,
Der zum Verhängnis unendliche Leiden schuf den Achaiern,
Und die Seelen so vieler gewaltiger Helden zum Hades
Sandte … nachdem sich einmal im Streite geschieden
Atreus’ Sohn, der Herrscher des Volks, und der edle Achilleus.
(Homer, Ilias 1,1–7, Übers. J. H. Voß)
Zorn, mênis, ist das erste Wort der ersten europäischen Dichtung: der um 750 v. Chr. entstandenen Ilias. Die späteren griechischen Autoren haben die páthe, die Affekte bzw. Emotionen, eingehend beschrieben und jeweils den Zorn, oft an diesem Beispiel, als eine besonders gefährliche Leidenschaft bezeichnet. Sie maskiert sich nämlich gewissermaßen – als gerechter, heiliger Zorn scheint sie ein durchaus positiver Zug zu sein. Wem Unrecht geschehen ist, der darf sich doch beklagen, darf zornig sein! Aber wie weit darf er damit gehen, ohne dass neues Unrecht oder Leid geschieht?
Darum geht es hier, im Heerlager der Griechen im Trojanischen Krieg. Es herrscht eine Seuche, und sie hat schon viele dahingerafft. Nach zehn Tagen beruft Achill eine Heeresversammlung ein. Doch warum er – zwar der Tapferste der Griechen, aber nicht der Oberbefehlshaber? Und dieser, König Agamemnon – ahnt der etwas? Achill meint, man müsse den Seher befragen – offenbar zürnt der Gott Apollon und schickt deshalb seine Pestpfeile auf das Griechenheer. Der ›Hoftheologe‹ Kalchas bittet um Rückendeckung, bevor er etwas sagt – denn es wird König Agamemnon nicht gefallen. Achill verspricht ihm seinen Schutz, und so erklärt Kalchas, warum Apollon zürnt: Agamemnon hat seinen Priester Chryses und damit den Gott selbst beleidigt. Chryses war zu den Schiffen gekommen, um mit reichen Gaben seine Tochter loszukaufen, die von den Griechen auf einem Beutezug gefangen genommen und Agamemnon zugeteilt worden war. Die Griechen hatten einhellig für die Rückgabe gestimmt, nur Agamemnon weigerte sich; er will, sagte er, das Mädchen behalten, und der Alte solle sich davonmachen, sonst passierte ihm auch noch etwas. Chryses ging und betete zu Apollon, er möge ihn rächen. Apollon erhörte ihn und sandte mit seinen Pfeilen die Seuche. Diese wird nicht eher aufhören, als man dem Vater die Tochter zurückgebracht hat, ohne Entgelt, mit Sühneopfern. Dies erklärt der Seher, worauf Agamemnon mit einem Wutanfall reagiert: Wie loderndes Feuer erglänzen ihm zornig die Augen, er beschimpft den Seher, ist aber bereit, das Mädchen zurückzugeben, obwohl sie ihm sogar besser gefällt als seine Gemahlin zu Hause – aber er will dafür sofort einen Ersatz, eine neue Ehrengabe, wie sich das gehört!
Achill antwortet ihm, ebenfalls zornig, nennt ihn einen an Habgier Unübertroffenen: »Wie sollen die Griechen dir etwas geben, es ist alles schon verteilt worden. Wir wollen dir, wenn wir Troja eingenommen haben, alles ersetzen, aber gib nun das Mädchen frei und ehre damit den Gott!« Agamemnon stimmt zu, zähneknirschend, besteht aber darauf, sofort ein Ersatzgeschenk zu bekommen, sonst will er selber gehen und es sich holen, von ihm, Achill, oder von Odysseus oder einem anderen. Aber nun soll man das Schiff zur Ausfahrt rüsten. »Vielleicht übernimmt Odysseus die Leitung der Fahrt«, sagt Agamemnon, »oder du selbst, Achill, dass du den Gott durch heilige Opfer besänftigst!« Hier wäre der Punkt, den Streit beizulegen, aber in Achill lodert der Zorn weiter, und langgehegter Groll macht sich Luft. »Wehe, du tückischer Mann, von Unverschämtheit besessen!« Er, Achill, rackert sich ab, trägt die Hauptlast des Kampfes, aber wenn es ans Teilen der Beute geht, da bekommt Agamemnon den Hauptanteil, und er muss mit wenigem zufrieden sein. Das hat er jetzt satt: Schließlich haben die Troer ihm persönlich nichts getan; nur um ihn, Agamemnon, und seinen Bruder Menelaos (wegen der geraubten Helena) zu rächen, ist er hier, wird missachtet und beschimpft – er wird mit seinen Truppen heimfahren!
Statt abzuwiegeln, gießt Agamemnon noch Öl ins Feuer: »Mach dich nur fort, ich werde dich nicht bitten, zu bleiben, ich habe hier noch andere, die mich ehren, wie es mir gebührt. Du bist mir verhasst vor allen anderen, immer liebst du nur Zank und Streit und Kriegsgetümmel – fahr du nur heim, das kümmert mich wenig! Auch deinen Groll verachte ich – ja, ich werde mir als Ersatz für die Tochter des Priesters aus deinem Zelt das Mädchen Briseis holen, dein Ehrengeschenk, damit du lernst, wie viel höher ich stehe als du, und dass kein anderer es wage, sich mir gleichzustellen und für ebenbürtig zu halten.«
Der Zorn Achills geht in Aggression über – er zieht das Schwert. Da kommt die Göttin Athene, nur für ihn sichtbar, packt ihn am Schopf und hält ihn zurück: Sein ménos, seine zornige Wildheit will sie dämpfen, er soll das Schwert in die Scheide stecken, zornige Worte will sie ihm nicht verbieten. Die hat er in Fülle: »Trunkenbold, mit dem Mut eines Hirschs, du hältst dich immer im sicheren Hintergrund, während wir uns mühen in vorderster Front! Aber damit ist jetzt Schluss!« Achill schwört bei seinem Zepter, dass er nicht mehr mitkämpfen wird. Und wenn dann die Griechen reihenweise fallen, von Hektor, dem Führer der Troer, niedergestreckt: »Dann wirst du von Reue zernagt werden, dass du den tapfersten der Griechen missachtet hast! Und hole nur das Mädchen, ich werde dich nicht hindern!«
Achill zieht sich mit Patroklos, seinem Freund, und seinen Kampfgenossen zurück zu den Zelten. Aber auch Agamemnon gibt den Streit nicht auf; er lässt Briseis holen und in sein Zelt bringen. Achill betet nun zu seiner Mutter, der Meergöttin Thetis, dass sie Zeus dazu bringt, den Troern künftig den Sieg zu verleihen, als Rache und Strafe dafür, dass der Herrscher Agamemnon ihn so missachtet hat!
Der Dichter entfaltet ein ›Zornszenarium‹, das man auch heute noch nachvollziehen kann. Es ist ein Rangstreit zwischen Stellung und Verdienst: Der eine rackert sich ab und trägt die Lasten, und wenn es etwas einzustreichen gibt, dann bekommt es der Anführer. Irgendwann reicht es, der Groll bricht sich Bahn, und man wirft alles hin. Aber wie soll man aus dieser Situation wieder herauskommen? Vernünftiges Zureden hilft nichts, der Gekränkte verhärtet sich so sehr, dass er aus seinem Groll nicht mehr herausfindet. Obwohl er es vielleicht möchte: Achill ist nicht glücklich angesichts seines Rückzugs. Er sitzt vor seinem Zelt und singt Heldengesänge zur Leier. So trifft ihn eine Gesandtschaft von Kampfgefährten, die ihm ein Versöhnungsangebot von Agamemnon überbringt: reiche Gaben, auch die geraubte Briseis, und noch vieles mehr, wenn Troja erst erobert sein wird. Doch Achill lässt sich nicht umstimmen, auch nicht, als die Gefährten ihn an die Kameraden erinnern, die nun durch sein Fernbleiben in Not und Gefahr sind. Schon rücken die Feinde an die Schiffe heran, während er, der tapferste Held, hier im Schmollwinkel sitzt! Doch Achill kümmert die Bedrängnis der Kameraden nicht, er fühlt sich tief gekränkt: Agamemnon ist ihm verhasst wie die Pforten des Hades, er wird morgen absegeln, nach Hause! Das tut er dann freilich doch nicht, aber er verharrt in seinem Zorn und lässt sich auch nicht rühren angesichts der verwundeten Kameraden.
Es bedarf einer Katastrophe, um Achill aus seiner Verhärtung herauszubringen: Sein Freund Patroklos nennt ihn »Du Unglücksheld!«. Er will in den Waffen Achills in den Kampf ziehen, vielleicht werden die Troer ihn für Achill halten, und er wird den Gefährten wenigstens eine Entlastung bringen. Achill rüstet selbst seinen Freund mit seinen Waffen aus und betet zu Zeus um das Gelingen – Zorn schafft letzten Endes Verblendung, die sich gegen den im Zorn Verharrenden richtet. Wie konnte Achill annehmen, dass Patroklos zwar tapfer kämpfen, den Gefährten Luft verschaffen, aber einen Kampf mit Hektor vermeiden könnte, dem er nicht gewachsen sein wird? Er fällt von der Hand Hektors, und angesichts seiner Leiche muss Achill erkennen, wie sinnlos sein Groll war, mit dem er sich selbst das größte Leid bereitet hat. Im Gespräch mit seiner Mutter Thetis sagt er, er habe Patroklos und den anderen Gefährten nicht helfen können, sondern sitze hier bei den Schiffen »als nutzlose Last für die Erde«:
Wenn doch der Streit von den Göttern und von den Menschen verginge
Und der Zorn, der selbst den Verständigen aufreizt, dass er bös wird,
Und der noch viel süßer als niedergleitender Honig
Sich in der Brust der Männer vermehrt, wie Rauch, wenn er aufquillt;
So hat mich nun erzürnt Agamemnon, der Herrscher der Männer.
Aber das vorher Geschehene lassen wir, wenn auch bekümmert,
Notgedrungen den Mut im eigenen Herzen bezwingend.
(Homer, Ilias 18,104 ff., Übers. R. Hampe)
Jetzt will er ausziehen, um den toten Freund zu rächen und Hektor zu töten. Mit dem Wiedereintritt Achills in den Kampf wird die frühere Lage wiederhergestellt, die durch die Zornhandlung unterbrochen war.
Mit ihr hat Homer nicht nur ein bemerkenswertes Psychogramm einer ›Krankheit der Seele‹ gezeichnet. Er hat sich mit dem Rückzug des grollenden Achill auch dichterische Freiräume geschaffen, um sich von der Dominanz des Göttersohnes zu befreien: Homer macht die Bühne frei für die anderen Helden auf griechischer wie auf troischer Seite, die ihre Tapferkeit und ihren Einsatz zeigen können. Am Schluss der Ilias zeigt sich Achill vom Zorn gelöst (páthei máthos wird es später heißen, durch Leiden lernen):
Des Nachts, vom Gott Hermes geleitet, kommt König Priamos zu Achill, um die Leiche seines Sohnes Hektor auszulösen. Achill lässt sie waschen und salben und hebt sie selbst auf den Wagen, und der alte König küsst die Hände dessen, der ihm seine Söhne getötet hat. Priamos erinnert ihn an seinen eigenen Vater Peleus, der alt, einsam und ohne Schutz ist, und Achill weiß, dass er ihn nicht wiedersehen wird. Beide weinen, Priamos um seinen Sohn Hektor, Achill um seinen Vater und um Patroklos. Achill bereitet ein Mahl, sie essen zusammen, dann lässt er dem alten König eine Lagerstatt bereiten, etwas abseits, dass ihn niemand sieht und es Agamemnon sagt, dem Hirten der Völker. Dieser, habgierig wie er ist, würde noch mehr Lösegeld fordern. »Und Verzögerung gäbe es dann für die Lösung des Toten.« Scherzend sagt es Achill – er hat den Zorn überwunden, freilich um einen hohen Preis. Er fragt noch, wie lange die Waffenruhe dauern solle zur Bestattung des Toten, und dann legen sich beide zum Schlaf nieder. Der Gott Hermes aber kommt in der Nacht zu Priamos; auch er meint, es wäre besser, wenn Agamemnon nichts erführe. Und so bringt er den alten König im Schutz der Nacht mit dem Leichnam Hektors wieder zurück nach Troja, wo man dann zu dessen Bestattung rüstet.
Der Streit der beiden Ilias-Helden wurde in der Folgezeit zu einem Paradebeispiel für die verhängnisvollen Folgen einer Leidenschaft, die nicht mehr unter der Kontrolle der Vernunft steht. »Was gibt es Schändlicheres (foedius) als den homerischen Achill, als Agamemnon in ihrem Streit?« So fragt Cicero (106–43 v. Chr.) in seinen Tuskulanischen Gesprächen, in denen er die Lehre von den Affekten wiedergibt, wie sie bei den griechischen Philosophen ihre Ausprägung erfahren hat: »Gibt es etwas, das dem Wahnsinn ähnlicher ist als der Zorn? Gesichtsfarbe, Stimme, Augen, Atem – die ganze Unbeherrschtheit in Worten und Taten,