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Sheila lebt in Toronto: Frisch geschieden und künstlerisch blockiert von der Arbeit an einem feministischen Stück, das sie für ein Theater schreiben soll, steckt sie mitten in der Lebenskrise. Alle anderen scheinen zu wissen, wie das geht: authentisch leben. Nur sie weiß es nicht, hat sie doch das meiste von Männern gelernt, die ihr etwas beibringen wollten. Also beginnt sie, Gespräche mit ihrer besten Freundin auf Band aufzuzeichnen, und macht sie damit zu einem Untersuchungsobjekt ihrer philosophischen Neugier. Und nicht nur sie, sondern auch ihren dominanten neuen Lover Israel. Aber wo bleibt dabei sie selbst? Und was ist das überhaupt, ein authentisches Leben? Oder dessen Sinn? In den USA bekam Sheila Hetis formal wagemutiger Roman, der teils Seelenreise, teils literarisches Künstlerporträt, teils Bekenntnis ist, begeisterte Kritiken. Ein Muss für jeden, der in einer Zeit manischer Jugendlichkeit nach dem sucht, was man altmodisch Charakter nennt.
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Seitenzahl: 292
Sheila Heti
Wie sollten wir sein?
Ein Roman aus dem Leben
Aus dem Englischen von Thomas Überhoff
Dies ist ein Werk der Literatur. Alle darin beschriebenen Figuren, Organisationen und Ereignisse sind Erzeugnisse der Phantasie der Autorin oder fiktionalisiert.
Für Margaux
Wie sollten wir sein?
Jahrelang fragte ich das jeden, den ich traf. Ich achtete immer darauf, was Leute in irgendwelchen Situationen taten, damit ich es auch tun konnte. Ich lauschte ihren Antworten, damit ich sie zu meinen machen konnte, wenn sie mir gefielen. Ich beobachtete, wie sie sich kleideten, wie sie ihre Liebespartner behandelten – alle hatten irgendetwas Beneidenswertes an sich. Es fällt einem ja leicht, Menschen dafür zu bewundern, dass sie so in sich ruhen. Es ist im Gegenteil richtig schwer, es nicht zu tun, wenn jeder so gut darin ist. Aber wenn man sie sich dann alle zusammen vorstellt – wie soll man sich da entscheiden? Wie soll man sagen: Ich wäre lieber so verantwortungsbewusst wie Misha als so verantwortungslos wie Margaux? Zu Misha passt eben das Verantwortungsbewusste gut und zu Margaux das Verantwortungslose. Woher soll ich wissen, was zu mir selbst am besten passt?
Ich bewunderte all die großen Persönlichkeiten aus der Vergangenheit, etwa Andy Warhol und Oscar Wilde. Sie schienen in jeder Hinsicht in sich zu ruhen. Nie dachte ich: Das sind großartige Menschen, sondern: Es sind eben große Persönlichkeiten unserer Zeit. Charles Darwin, Albert Einstein – sie leisteten etwas, aber sie standen auch für etwas.
Ich weiß, dass Persönlichkeit eine Erfindung der Nachrichtenorgane ist. Ich weiß, dass es Charakter nur rein äußerlich gibt und dass sich im Körper alles bloß um Temperatur dreht. Wie also arbeitet man an seiner Seele? An einem gewissen Punkt, das weiß ich, muss man seine Seele vergessen und einfach tun, was von einem verlangt wird. Immer nur über die Seele zu reden heißt, dem eigentlichen Sinn des Lebens zuwiderzuhandeln. Mit noch größerer Gewissheit könnte ich das sagen, wenn ich den Sinn des Lebens kennen würde. Sich über Oscar Wilde und Andy Warhol zu viele Gedanken zu machen ist eben ziemlich eitel.
Wie sollten wir sein? Manchmal frage ich mich das und komme nicht umhin, folgendermaßen zu antworten: wie Berühmtheiten. Aber sosehr ich auf Berühmtheiten stehe, niemals würde ich irgendwohin ziehen, wo sich Berühmtheiten tatsächlich aufhalten. Ich hoffe auf ein einfaches Leben, an einem einfachen Ort, wo es alles nur auf eine einzige Art und Weise gibt.
Mit einfachem Leben meine ich ein Leben unsterblichen Ruhms, mit dem ich mich aber nicht abmühen muss. Ich will, dass sich nichts ändert, außer dass ich so berühmt bin, wie man eben nur sein kann, ohne dass es irgendetwas ändert. Im Grunde ihres Herzens wüssten alle, dass ich der berühmteste Mensch auf Erden bin – aber sie sprächen nicht groß darüber. Und niemandem wäre allzu sehr daran gelegen, Fotos von mir zu machen, denn im Kopf trügen sowieso alle ein Bild von mir herum, das immer gleich überraschend und faszinierend wäre. Niemand braucht zu wissen, was ich denke, denn eigentlich denke ich gar nichts, und niemand braucht Einzelheiten meines Lebens zu kennen, denn es gibt keine berichtenswerten Einzelheiten. Es geht hier um das Streben nach dem reinen Wesen des Ruhmes, ganz ohne dessen Wesenheiten.
In einer Stunde kommt Margaux vorbei, und wir werden unser übliches Gespräch führen. Vor meinem fünfundzwanzigsten Lebensjahr hatte ich nie Freunde, aber diejenigen, die ich heute habe, interessieren mich grenzenlos. Margaux ergänzt mich auf eine Weise, die spannend ist. Sie malt mich, und ich nehme auf Band auf, was sie sagt. Wir tun beide, was wir können, damit die andere sich berühmt fühlt.
So gesehen sollte ich mich damit zufriedengeben, für drei oder vier meiner Freunde berühmt zu sein. Und doch ist das illusorisch. Sie mögen mich als die, die ich bin, aber ich würde lieber als die gemocht, die zu sein ich vorgebe, und die zu sein ich vorgebe, möchte ich auch sein.
Wir sind alle Staub, die wir zugleich auf dieser Erde sind. Ich schaue mir die Leute an, die heute leben, und denke: Das sind also meine Zeitgenossen. Das sind meine verdammten Zeitgenossen! Wir leben in einer Zeit ziemlich großartiger Blowjob-Künstlerinnen. Jede Ära hat ihre Kunstform. Das 19. Jahrhundert, das weiß ich, war super für den Roman.
Ich gebe mir bloß alle Mühe, nicht zu sehr zu würgen. Ich weiß, Männer werden richtig erregt, wenn sie hinten in deiner Kehle das weiche Fleisch berühren können. In solchen Momenten versuche ich eben, durch die Nase zu atmen und ihnen nicht auf den Schwanz zu kotzen. Neulich habe ich mich ein bisschen erbrochen, aber ich habe einfach weitergelutscht. Bald war das Erbrochene weg, und dann zog mein Freund mich auch schon hoch, um mich zu küssen.
Vom Blasen abgesehen bin ich aber damit durch, die perfekte Freundin zu sein, richtig durch. Wenn ihm das stinkt, soll er doch Schluss machen. Dann hätte ich mehr Zeit, ein Genie zu sein.
Eine gute Sache am Frausein ist, dass wir noch nicht allzu viele Beispiele dafür haben, wie so ein Genie aussieht. Ich könnte durchaus eines sein. Es gibt kein ideales Vorbild dafür, wie mein Hirn ticken sollte. Bei den Männern ist die Sache ziemlich klar. Deshalb ertappt man sie ja ständig dabei, wie sie sich aufspielen. Ich lache immer, wenn sie mal wieder nicht sagen, was sie meinen, damit die Wissenschaft sie in alle Ewigkeit studiert. Ich denke dabei an dich, Mark Z., und an dich, Christian B. Geht ruhig weiter mit eurem Pseudogeniescheiß hausieren, während ich im Himmel Schwänze blase.
Meine Vorfahren nahmen, was sie besaßen, nämlich nichts, und entzogen sich der Routine des Sklavenlebens in Ägypten, um Mose auf der Suche nach dem Land der Verheißung in die Wüste zu folgen. Vierzig Jahre lang wanderten sie durch Sand. Nachts rasteten sie, wo immer sie konnten, hinter den vom Wind aufgetürmten Dünen. Beim Aufwachen am nächsten Morgen nahmen sie das Mehl aus ihren Säcken, feuchteten es mit Speichel an, schlugen einen glatten Teig und machten sich dann, den Teig auf dem Rücken, gebückt durch den Sand auf den Weg. Der Teig vermischte sich mit dem Salz ihres Schweißes und trocknete in der Sonne, und zu Mittag aßen sie ihn. Manche klopften den Teig flach, und er wurde zu Matze. Andere formten ihn zu Rollen und drückten die Enden aufeinander, die aßen dann Bagels.
Über viele Jahre hinweg schrieb ich Seele sould. Einen anderen ständigen Rechtschreibfehler mache ich nicht. Eine Frau, die ich mal in Frankreich kennengelernt habe, sagte: Kopf hoch! Vielleicht bedeutet es gar nicht, dass du deine Seele verkauft hast – ich starrte unglücklich auf mein Bier –, sondern dass du nie eine hattest, die du hättest verkaufen können.
Wir aßen indisch. Unser Tischnachbar war Engländer und schien anlehnungsbedürftig. Er sagte: Das ist aber schön, dass hier Englisch gesprochen wird! Ich habe seit Wochen kein Englisch mehr gehört. Wir gaben uns Mühe, nicht zu lächeln, denn Lächeln ermutigt die Männer bloß, dich zu langweilen und dir die Zeit zu stehlen.
Eine ganze Woche dachte ich darüber nach, was die Frau gesagt hatte. Ich war entschlossen, in Angriff zu nehmen, was ich immer wieder verschoben hatte, weil ich mir zu lange einbildete, es würde sich irgendwann von selbst erledigen, während ich insgeheim immer wusste, dass ich mich davor drückte und lieber versuchte, mich durch die Bewunderung jener charakterlichen Eigenschaften zu heilen, die mir an anderen so deutlich auffielen. Ich tadelte mich streng: Es ist Zeit, dass du damit aufhörst, andere Leute auszufragen. Es ist Zeit, dass du dich einspinnst und deine Seele fortentwickelst. Aber als ich in die Stadt zurückkehrte, ließ ich diesen Plan schnell fallen und hing lieber jeden Abend der Woche mit meinen Freunden ab, genauso wie vor meinem Aufbruch nach Europa.
Die Frau, die mir auf diese Weise ihr Mitgefühl ausgesprochen hatte, war Mitte dreißig, eine Amerikanerin in Paris namens Jen. Sie war die Freundin einer Freundin und hatte mir freundlich gestattet, bei ihr zu übernachten, solange ich in der Stadt war. Beruflich organisierte sie Fokusgruppen für Großunternehmen, etwa die US-Armee, die Hilfe bei ihren Rekrutierungskampagnen brauchte. Das bereitete ihr ein paar ethische Skrupel, aber mehr noch beschäftigte sie ihr Freund, der plötzlich angefangen hatte, sie zu ignorieren. Als ich ankam, trieb sie das am allermeisten um, weil es das emotionalere Problem war.
Es gibt Leute, die sich nicht so vorkommen, als wären sie von Wölfen aufgezogen worden, und genau die sind es, die dafür sorgen, dass die Welt sich weiterdreht. Sie halten alles am Laufen, damit wir anderen uns Gedanken darüber machen können, wie wir als Menschen sein sollten. Ich habe die einschlägigen Bücher gelesen, und ich weiß, was darin steht: Sei wie du – nur in jeder Hinsicht besser! Und doch gibt es so viele Wege, besser zu werden, und sie können in entgegengesetzte Richtungen führen!
Gestern hat Margaux mir eine Geschichte von sich als Kleinkind erzählt, die ihre Mutter immer zum Besten gibt. Margaux hat erst spät sprechen gelernt, und alle glaubten, sie sei leicht beschränkt. Ihre Mutter hatte eine Freundin, die ein bisschen durchgeknallt war und viel von Selbsthilfebüchern und -videos hielt. Eines Tages hatte sie Margaux’ Mutter von einer Methode erzählt, die darin bestand, dass du einfach, egal, vor welchem Lebensproblem du gerade stehst, die Hände hochwirfst und sagst: Was soll’s? Ein paar Stunden später, als Margaux’ Eltern und ihre etwas ältere Schwester beim Abendbrot am Tisch saßen und Margaux auf ihrem Hochstuhl daneben hockte, stieß die Schwester ihre Milch um, und die Glasscherben flogen über den ganzen Tisch. Ihre Mutter begann zu brüllen, die Schwester zu heulen. Da hörten sie aus dem Hochstuhl die kleine Margaux sagen: Was soll’s?
Tut mir leid, aber ich bin richtig froh, dass sie meine beste Freundin ist. Hätte ich als Kleinkind gewusst, dass es in Amerika ein anderes Kleinkind gab, das die Arme hochwarf und dazu, mit seinen allerersten Worten überhaupt, Was soll’s? sagte und dass dieses Kind eines Tages meine beste Freundin werden würde, dann wäre ich die nächsten dreiundzwanzig Jahre so richtig entspannt angegangen, ganz unbesorgt.
Wir hatten uns zum Brunch verabredet. Es war Sonntag. Ich traf als Erste ein, dann kamen Misha und Margaux, schließlich Sholem und sein Partner Jon.
Ein paar Wochen vorher hatten die Besitzer des Diners die früher in einem fettbespritzten Beige gehaltenen Wände in ein debiles Pastellblau umgestrichen und dann gigantische Rühreier, Speckstreifen und Pfannkuchen mit Sirup draufgesprüht. Das hatte zwar den Raum ein bisschen verschandelt, aber das Essen war billig, es war nie etwas los, und wir bekamen immer einen Tisch.
Ich teilte mir mit Margaux ein Spezialfrühstück und einen Grillkäse. Jon wollte unsere Fritten haben. Ich erinnere mich nicht, worüber wir zu reden begannen oder wer an dem Tag am lustigsten war. Ich erinnere mich an kein einziges Detail, bis das Gespräch auf Hässlichkeit kam. Ich sagte, vor ein paar Jahren hätte ich mein Leben mal unter die Lupe genommen und gemerkt, dass alle hässlichen Menschen daraus entfernt waren. Sholem sagte, er könne nicht wirklich mit jemandem befreundet sein, den er nicht anziehend finde. Margaux sagte, es sei ihr unmöglich, sich einen hässlichen Menschen auch nur vorzustellen, und Misha gab zu bedenken, dass hässliche Menschen sowieso eher zu Hause blieben.
Aus solch fauligen Früchten erwuchs der Wettbewerb ums hässlichste Bild.
Als Teenager hatte Sholem davon geträumt, Bühnenschauspieler zu werden, aber seine Eltern wollten ihn nicht auf die Schauspielschule schicken. Sie fanden das unpassend und ermutigten ihn, doch lieber auf die Kunsthochschule zu gehen. Also tat er das, und in seinem ersten Studienjahr, als er einmal die Nacht durchgemalt hatte und am Morgen die Sonne aufzugehen begann, überkam ihn ein heftiges Gefühl, das besagte: Ich muss Künstler werden. Ich muss mein Leben lang malen. Mit weniger gebe ich mich nicht zufrieden. Keine andere Zukunft ist akzeptabel.
Es war eine Epiphanie und zugleich eine Entscheidung, von der es kein Zurück gab – der erste und ernsthafteste Schwur seines Lebens. Also hat er im vergangenen Frühjahr seine Dissertation abgeschlossen und in Kunst promoviert.
Von wem stammte eigentlich die Idee für den Wettbewerb ums hässlichste Bild? Ich erinnere mich nicht, aber kaum fing ich Feuer, taten es plötzlich alle. Die Idee war, dass Margaux und Sholem darum wetteifern sollten, wer von ihnen das hässlichere Bild malen konnte. Ich hoffte sehr, dass es auch wirklich dazu kommen würde. Ich war neugierig auf die Ergebnisse, und insgeheim beneidete ich die beiden. Plötzlich wollte ich Malerin sein. Wollte ein hässliches Bild malen, es dann an ihren messen und schauen, wer gewann. Wie würde mein Bild aussehen? Wie würde ich vorgehen? Ich fand, es war ein simples, interessantes Vorhaben. So viel Zeit hatte ich damit verbracht, das Stück, an dem ich schrieb – wie auch mein Leben und mich selbst –, zu etwas Schönem zu machen. Das war ermüdend, und es war alles, was ich konnte.
Margaux ließ sich sofort auf den Wettbewerb ein, aber Sholem zögerte. Er sah keinen Sinn darin. Die Prämisse ging ihm so sehr gegen den Strich – dass man in voller Absicht etwas Hässliches kreieren sollte. Warum? Aber ich drängte ihn, bettelte, und schließlich gab er nach.
Sobald er nach dem Brunch zu Hause war, machte er sich an seinen Teil der Aufgabe – damit er keinen Gedanken mehr daran zu verschwenden brauchte, erklärte er mir später, und auch, damit ihm die Aussicht, etwas Hässliches erschaffen zu müssen, nicht weiter bevorstand.
Er ging direkt in sein Atelier, weil er sich bereits entschieden hatte, was er tun wollte. Er hatte sich nämlich vorgenommen, sozusagen hintenherum eine Art intellektuelle Übung daraus zu machen. Er würde einfach das tun, was ihm zuwider war, wenn seine Studenten es taten. Er begann die Komposition mitten auf einem Blatt Papier, weil Papier hässlicher ist als Leinwand. Dann malte er ein komisches Zeichentrickmännchen im Profil, mit Spiegelei-Augen, und er hob Dinge hervor, anstatt sie zu schattieren, indem er etwa jede einzelne Wimper nachzog. Statt eines Nasenlochs machte er einen Kringel. In den Hintergrund malte er weiße Plusterwolken über orangefarbenen Dreiecksbergen. Als Grundfarbe wählte er ein ekliges rosa-bräunliches Grau und verwendete dazu mineralische Ablagerungen vom Boden des Glases, in dem er seine Pinsel auswusch. Für den Hautton mischte er einfach Rot und Weiß, und für die Schatten benutzte er Blau. Obwohl er dachte, dass bei dem Bild am Ende doch irgendetwas Verwertbares herauskommen würde, wurde es bloß immer abscheulicher, bis er sich schließlich so mies zu fühlen begann, dass er es schnell fertig malte. Er tauchte einen dicken Pinsel in schwarze Farbe und schrieb äußerst schlampig Morgen kommt die Sonne raus unten hin. Dann trat er zurück, sah sich das Ergebnis an und fand es so widerlich, dass er es aus dem Atelier entfernen musste und zum Trocknen auf den Küchentisch legte.
Sholem ging fürs Abendessen einkaufen, aber die ganze Zeit war ihm übel. Als er nach Hause kam und die Tüten auf dem Tresen absetzte, sah er das Bild liegen und dachte: Ich kann das Ding doch nicht jedes Mal anschauen, wenn ich in die Küche komme. Also brachte er es in den Keller und stellte es neben den Wäschetrockner.
Danach wurde der Tag erst richtig schlimm. Das Bild zu malen hatte eine Kette wirklich bedrückender, schrecklicher Gedanken losgetreten, sodass er, als der Abend anbrach, vollkommen verzweifelt war. Jon kam nach Hause, und Sholem verfolgte ihn mit Gejammer und allgemeinem Wehklagen durch die ganze Wohnung. Selbst als Jon aufs Klo gegangen war und die Tür hinter sich geschlossen hatte, blieb Sholem davor stehen, stöhnte, was für ein Versager er sei, sagte, ihm werde und sei in der Tat nie etwas Gutes widerfahren, sein Leben sei vertan. Es ist so, wie wenn du dir richtig Mühe gibst, einem Hund anzutrainieren, dass er brav ist!, rief er durch die Tür. Und der Hund ist deine Hand. Und dann, eines Tages, wirst du gezwungen, dem Hund die ganze Bravheit rauszuprügeln, damit er grausam wird. Das war heute!
Jon grunzte.
Darauf schleppte Sholem sich ins Wohnzimmer und schickte uns eine Gruppenmail, in der stand: Dieses Projekt erfüllt mich mit Scham und Selbsthass. Ich habe gerade mein hässliches Bild gemalt und komme mir vor, als hätte ich mich selbst vergewaltigt. Wie ist denn deins, Margaux?
Margaux, die bessere Künstlerin, schrieb zurück: ich hab den ganzen tag auf meinem inselbett verbracht und die new york times gelesen.
Vor fünfzehn Jahren lebte in unserer Stadt ein Maler namens Eli Langer. Als er sechsundzwanzig war, zeigte ein Künstlerforum seine erste Ausstellung. Die Bilder waren umwerfend und beunruhigend, absolut meisterhaft und allesamt in kräftigen Braun- und Rottönen gehalten. Sie waren düster und verschwommen und voller alter Männer, Mädchen, Plüschsessel, Fenster und nackter Schöße. Die wenigen Gesichter, verschattet vom Dunkel und nur von schwachem Mondlicht erhellt, umwölkte Traurigkeit. Die Leinwände waren riesig, und sie schienen das Werk eines Menschen von großer Selbstgewissheit und Unabhängigkeit zu sein.
Die Ausstellung hatte kaum eine Woche geöffnet, da wurde sie von der Polizei geschlossen. Man behauptete, die Bilder seien Kinderpornographie. Sie wurden konfisziert, und ein Gericht ordnete ihre Zerstörung an.
Zeitungen überall im Land berichteten darüber, und der Prozess wurde ein ganzes Jahr lang im Fernsehen gezeigt. Prominente Künstler und Intellektuelle ergriffen Partei, hielten öffentliche Reden und schrieben Leitartikel über die künstlerische Freiheit. Schließlich entschied der Richter teilweise zu Elis Gunsten; die Bilder wurden ihm zurückgegeben, aber unter der Bedingung, dass niemand sie je wieder zu Gesicht bekäme. Er stellte sie in eine Ecke des Dachbodens seiner Mutter, wo sie, bedeckt von Ruß und Schimmel, bis heute stehen.
Nach dem Ende des Prozesses fühlte Eli sich ausgelaugt und erledigt. Wenn er nun mit dem Pinsel in der Hand vor eine Leinwand trat, stellte er fest, dass seine Inspiration erloschen war. Er verließ Toronto und ging nach L.A., wo er glaubte, sich freier fühlen zu können, aber die Eingebungen stellten sich nach wie vor nicht so ein wie früher.
Bedrückt von einer ungekannten Unsicherheit und Gehemmtheit, trug er auf seine nunmehr winzigen Leinwände nur zögerliche Weißtöne auf – mit Pink oder ein bisschen Gelb oder dem reumütigsten Blau vermengtes Weiß –, sodass man kaum etwas erkennen konnte, selbst wenn man ganz nah an das Bild heranging. Für die wenigen Einzelausstellungen, die es ihm in den Jahren nach dem Prozess zu bestücken gelang, schuf er nur noch zutiefst abstrakte Werke, nichts auch nur entfernt Figürliches.
Mehrmals im Jahr kehrte Eli für etwa eine Woche nach Toronto zurück, ging zu den Künstlerfesten und redete über Maler und die Bedeutung des Malens, ließ sich mit Überzeugung über Pinselstrich, Farbe und Linienführung aus, und er kokste, war empfindsam und grob. Auf seine Unterarme waren Zwölf-Punkt-Lettern tätowiert – die Initialen von lokalen Künstlerinnen, die er geliebt hatte und von denen keine mehr mit ihm sprach. Die männlichen Maler begrüßten ihn wie einen verlorenen Sohn, und jedes Mal ging die Botschaft herum: Hast du Eli Langer schon gesehen? Eli ist zurück!
Gegen Ende des letzten Winters unterhielt sich Margaux zum ersten Mal mit ihm. Sie saßen nach einer Vernissage im Hof einer Galerie auf einer gusseisernen Bank, umgeben von Schnee und gewärmt vom Feuer in einer Tonne.
Margaux arbeitete härter und war skeptischer hinsichtlich der Wirkung ihrer Kunst als jeder andere Künstler, den ich kannte. Obwohl sie in ihrem Atelier glücklicher war als irgendwo sonst, habe ich sie niemals sagen hören, dass Malen wichtig sei. Sie hoffte, dass es etwas bedeuten könnte, hatte aber ihre Zweifel daran und arbeitete deshalb doppelt so hart, um ihrem Entschluss, Malerin zu werden, so viel Bedeutung wie möglich zu verleihen. Nie sprach sie über Galerien oder ließ sich über die besten Farbfabrikate aus. Bisweilen setzte ihr zu, dass sie nicht in die Politik gegangen war – was auf geradlinigere Weise nützlich schien und wozu sie, wie sie fand, wahrscheinlich gut geeignet war, da sie etwas Diktatorisches an sich hatte oder etwas von der grausamen Bestimmtheit eines Despoten. Das Gefühl, das sie an jedem Morgen als Erstes überkam, war die Scham darüber, was auf der Welt alles schiefging und dass sie es nicht in Ordnung zu bringen versuchte. Deshalb war es ihr peinlich, wenn Leute sich zu ihrem charakteristischen Pinselstrich äußerten oder wenn sie ihr Werk schön nannten, ein Wort, das sie vorgab, nicht zu verstehen.
An diesem Abend aber, neben einem Feuer in einer Tonne, verbrachten sie und Eli mehrere Stunden damit, über Farbe, Pinselstrich und Linienführung zu sprechen. Das setzten sie per Mail noch eine Weile fort, und für kurze Zeit war sie in den Typ Maler verwandelt, der er war – ein Maler, der dem Malen an sich Respekt zollte. Aber nach zwei Monaten hatte sich ihre Kunstschwärmerei verflüchtigt.
«Er ist doch bloß wieder so ein Mann, der mich belehren will», sagte sie.
Misha und ich hatten vorgehabt, am besagten Nachmittag einen Spaziergang zu machen, und so begab ich mich zu der Wohnung, die er sich mit Margaux teilte. Als ich ankam, saß er im Arbeitszimmer an seinem Computer und sorgte sich um sein Leben, indem er Mails checkte.
Wir verließen zusammen das Haus und durchquerten die Nachbarschaft Richtung Norden. Es war einer der wenigen richtig heißen Tage, die wir in jenem Sommer hatten. Als die Dämmerung den Himmel eintrübte, fragte ich ihn, ob Margaux schon mit ihrem hässlichen Bild angefangen habe. Er sagte, er glaube nicht. Ich sagte, ich sei gespannt auf die Ergebnisse.
Misha sagte: «Das wird Sholem echt guttun. Er hat solchen Schiss vor diesen Hippie-Sachen.»
«Ist ein hässliches Bild zu malen hippiesk?», fragte ich ihn.
«Irgendwie schon», sagte er. «Es geht doch ums Experimentieren ohne klar erwiesene Nützlichkeit. Das ist bestimmt hippiesker, als ein Bild zu malen, von dem du weißt, dass es gut wird.»
«Warum sollte Sholem ein Bild malen, von dem er nicht weiß, dass es gut wird?»
«Keine Ahnung», sagte er. «Aber ich glaube, Sholem hat generell Schiss davor, etwas zu vergeigen oder das Verkehrte zu tun. Er scheint sich in jedem Augenblick davor zu fürchten, einen falschen Schritt zu machen, egal, in welche Richtung. Und wenn du dich davor fürchtest, einen falschen Schritt zu machen, dann kann dich das sehr einschränken. Für einen Künstler ist es gut, wenn er Sachen ausprobiert. Für einen Künstler ist es gut, wenn er sich Blößen gibt. Sholem sollte ein Hippie sein, weil er immer so extreme Vorsicht walten lässt.»
«Was ist an Vorsicht falsch?»
«Na, da besteht doch ein Missverständnis, oder? Hat sich das nicht beim Brunch herausgestellt? Sholem meinte, Freiheit sei für ihn, dass er über die technischen Fertigkeiten verfüge, umzusetzen, was immer er will, einfach jedes Bild in seinem Kopf. Aber das ist nicht Freiheit! Das ist Kontrolle, oder Macht. Margaux dagegen versteht unter Freiheit offenbar, dass man sich herausnehmen darf, Risiken einzugehen, etwas nicht gut zu machen oder sich zu blamieren. Wer diesen Unterschied nicht erkennt, ist vernagelt.»
Ich verfiel in angespanntes Schweigen. Ich wollte Sholem verteidigen, wusste aber nicht genau, wie.
«Es ist wie bei der Improvisation», sagte Misha. «Bei der echten Improvisation geht es darum, sich selbst zu überraschen – aber die meisten improvisieren unehrlich. Sie fürchten sich davor. Stattdessen machen sie ihre Trickkiste auf. Sie nehmen etwas, was sie schon können, und wenden es auf die aktuelle Situation an. Aber das ist Betrug! Und für den Künstler ist Betrug schlecht. Er ist auch fürs Leben schlecht, aber für die Kunst ist er Gift.»
Wir hatten zehn Blocks umrundet, und während wir uns unterhielten, war die Sonne untergegangen. Häuser und Bäume waren nun in ein dunkles, schwärzliches Blau getaucht. Misha sagte, er habe gleich eine Telefonkonferenz, also gingen wir zurück zur Wohnung. Er führte ein seltsames Arbeitsleben, das ich nicht ganz durchschaute, aber er selbst auch nicht, was ihn bisweilen bestürzte und traurig machte. Es schien weder Struktur noch Zusammenhang zu haben. Misha tat nur das, worin er gut war und was ihm Freude bereitete. Mal gab er eine Improvisation für Nicht-Schauspieler, mal versuchte er, Nachtclubs aus der portugiesischen Nachbarschaft herauszuhalten, in der wir lebten, mal moderierte er Shows. Nur fand man keinen rechten Begriff für das alles. In der Kurzbiographie, die in Harvard eingereicht werden sollte – für einen dicken, ledergebundenen Schinken, der an seinem fünfzehnjährigen Collegetreffen verteilt werden würde –, verfassten seine Exkommilitonen ausufernde Einträge über ihren weltlichen Erfolg, ihre Kinder, ihre Frauen. Mishas Eintrag hatte schlicht gelautet:
Gibt es außer mir vielleicht noch jemanden, für den es sich, gemessen an seinen heutigen Lebensumständen, total komisch anfühlt, in Harvard gewesen zu sein? Ich wohne mit meiner Freundin Margaux in einer Zweizimmerwohnung über einem Bikiniladen in Toronto.
«Gute Nacht», sagte ich.
«Gute Nacht.»
Vor ein paar Jahren, als ich bereits verlobt war, aber noch Angst davor hatte, das mit der Ehe wirklich durchzuziehen – weil ich befürchtete, am Ende geschieden dazustehen wie meine Eltern, und weil ich keinen großen Fehler machen wollte –, wandte ich mich mit meinen Bedenken an Misha. Wir tranken ein paar Gläser auf einer Party und brachen dann zu einem nächtlichen Spaziergang auf, bei dem unsere Füße durch die dünne Neuschneedecke streiften.
Unterwegs erzählte ich ihm von meinen Ängsten. Nachdem er mir lange zugehört hatte, sagte er schließlich: «Das Einzige, was ich je verstanden habe, ist, dass jeder seine großen Fehler machen sollte.»
Also nahm ich mir seine Worte zu Herzen und heiratete. Drei Jahre später war ich geschieden.
In den Jahren vor meiner Hochzeit war jeden Morgen mein erster Gedanke, dass ich heiraten wollte.
Eines Abends, in einer Bar auf einem stillgelegten Schiff im Hafen, saß ich neben einem alten Seemann. Er hatte mich eingehend beim Trinken beobachtet. Dann begannen wir über Kinder zu reden; er hatte nie welche gehabt, und ich meinte, ich glaubte, ich wolle auch keine bekommen, denn ich sei sicher, ein Kind von mir müsste missraten. Entgeistert sagte er: «Wie kann denn etwas von Ihnen missraten?»
Damals war ich so gerührt – ich erschauderte beim Gedanken an eine göttliche Liebe, die uns alle so umfassend akzeptiert. Die Bar um uns herum erglänzte in leuchtenden Farben, als wäre jedes Molekül in der Luft vor lauter Insistieren auf seine Vollkommenheit zum Bersten prall.
Dann war der Moment auch schon vorbei. Ich sah nur noch den alten Mann in ihm, der ein Mädchen anstarrte – und es sah, aber eigentlich gar nichts sah. Er kannte mich eben nicht von innen. Da war irgendetwas Faules in mir, etwas Hässliches, das ich niemanden sehen lassen wollte und das alles vergiften würde, was ich jemals tat. Ich wusste, diese Schlechtigkeit ließ sich nur ausgleichen, indem ich mich der Liebe hingab – mich versprach. Dieses Sich-Verpflichten kam mir so schön vor – als Inbegriff dessen, wie ich jemals sein wollte: im Reinen mit mir, weise, liebevoll und aufrichtig. Ich wollte ein Ideal leben und glaubte, die Heirat würde mich zu jenem anständigen, durch und durch guten Menschen machen, den ich der Welt zu präsentieren hoffte. Vielleicht würde sie meine Flatterhaftigkeit, meine Verwirrung und meine Selbstsucht ausgleichen, die ich verachtete, weil sie ständig preisgaben, dass mir eine innere Geschlossenheit fehlte.
Also dachte ich Tag und Nacht ans Heiraten. Und griff sofort zu, wie der Krüppel nach dem Stock.
Einige Monate vor unserer Hochzeit schlenderten mein Verlobter und ich durch einen gepflegten Park, als wir in der Ferne ein Brautpaar vor einer Schar Hochzeitsgäste stehen sahen, groß und aufrecht wie zwei Figuren auf einem Kuchen. Das Publikum saß auf Klappstühlen in der Nachmittagssonne, und wir liefen übermütig hin, um zuzuhören, hockten uns hinter ein paar künstliche Steine, um Ernsthaftigkeit bemüht, aber trotzdem kichernd. Das Gesicht des Bräutigams konnte ich nicht sehen, aber die Braut stand mir zugewandt. Die Eheversprechen wurden ausgetauscht, und der Pfarrer redete leise. Dann sah und hörte ich, wie der Braut vor Rührung die Stimme stockte, als sie die Worte in guten wie in schlechten Zeiten wiederholte. Eine Träne rann ihr über die Wange, und sie musste innehalten und sich sammeln, bevor sie zu Ende sprach.
Als mein Verlobter und ich uns entfernten, sagte ich, das sei doch ein viel zu bedeutungsloser, blöder und materialistischer Teil des Eheversprechens, als dass man darüber ins Stocken geraten sollte – aber wir gaben zu, dass wir nichts über die Finanzlage der Braut wussten.
Am Tag unserer eigenen Hochzeit standen mein Verlobter und ich in einem Erker vor einem Dutzend Leute – Angehörige und engste Freunde – und sprachen das Eheversprechen nach, das der Säkularpriester uns vorsagte.
Dann geschah etwas. Als ich die Worte in guten wie in schlechten Zeiten sagte, kam mir diese Braut hoch. Tränen stiegen mir in die Augen, genau wie ihr. Meine Stimme brach von der gleichen Rührung, die ihre Stimme hatte brechen lassen, aber ich empfand nichts von alledem. Es war eine Kopie, eine Übernahme, aus der Konserve. Diese Braut ergriff von mir in exakt dem Moment Besitz, in dem ich am präsentesten hätte sein sollen. Es war, als wäre ich gar nicht da – als wäre das nicht ich.
In den folgenden Monaten und Jahren unserer Ehe schrak ich entsetzt zurück, wann immer mir diese Szene einfiel, die doch zu den schönsten meines Lebens hätte zählen sollen. Manche betrachten ihren Hochzeitstag als Unterpfand ihrer Liebe, aber ich war, wenn ich daran zurückdachte, immer im Zweifel darüber, ob meine Hochzeit wirklich mein genannt werden konnte.
Vorher hatte ich nur mit einem Mann zusammengelebt: meinem High-School-Freund – dem Ersten, den ich aufrichtig geliebt habe. Wir dachten, wir würden für immer zusammenbleiben oder, falls wir uns trennen sollten, am Ende wieder zusammenkommen.
Bevor wir in eine gemeinsame Wohnung zogen, wohnten wir an entgegengesetzten Enden des Flurs im ersten Stock eines schäbigen Wohnheims in winzigen Einzelzimmern. Er saß an seinem Schreibtisch und schrieb Stücke, während ich an meinem Schreibtisch saß und ebenfalls Stücke schrieb. Eines Abends lauschte er an meiner Tür und hörte mich mit einer Freundin über einen Fotografen aus New York telefonieren, in den ich mich verliebt und von dem ich geglaubt hatte, es wäre aufregend, mit ihm zusammenzuleben. Der Fotograf hatte mir vorgeschlagen, als seine Freundin und Assistentin bei ihm einzuziehen. Vor dem Aufbruch aus seiner Heimatstadt Toronto hatte er ein paar schmeichelhafte Fotos von mir gemacht, und ab und zu dachte ich noch ein bisschen an ihn.
Mein eifersüchtiger Freund, der sich verletzt und betrogen fühlte, stahl in dieser Nacht, während ich schlief, meinen Computer aus dem Zimmer, schrieb darauf bis zum Morgengrauen und stellte ihn, bevor ich aufwachte, zurück auf meinen Schreibtisch.
Als ich am nächsten Morgen aufstand, fand ich auf dem Bildschirm den Entwurf für ein Theaterstück über mein Leben, wie es sich von Jahrzehnt zu Jahrzehnt entfalten würde. Während ich ihn verschlang und die Sonne im Fenster hinter mir aufging, kriegte ich es unglaublich mit der Angst zu tun. Tränen liefen mir die Wangen hinunter, als ich das furchtbare Bild, das er von meinem Leben gezeichnet hatte, auf mich wirken ließ: Es war scharf und gemein und gespickt mit all jenen Dingen, von denen er mit Herz und Verstand wusste, dass sie mich am tiefsten verletzen würden.
In dem Stück führte mich mein Wunsch, mit dem Fotografen in New York zusammenzusein, auf einen Weg immer fruchtloserer Aussichten, denen ich, indem ich mich weiter und weiter vom Guten entfernte und Männer aufriss und fallen ließ, in beständiger Unzufriedenheit nachjagte. Während mein Freund, liebevoll umsorgt von einer größer werdenden Familie, zu Ansehen und Macht gelangte, marschierte ich, meiner ewigen Suche wegen immer häufiger ungeliebt und allein gelassen, auf mein kümmerliches, schrecklich pervertiertes Ende zu. In der Schlussszene kniete ich in einem Müllcontainer – eine verbrauchte Hure, zahnlos und mit einer Pussi wie Sauermilch – und gab einem Nazi einen kraftlosen Blowjob, das letzte bisschen Liebe, das ich der Welt noch abpressen konnte. Mit dem finalen Bläschen Hoffnung, das in meinem Herzen aufstieg, fragte ich den Nazi: Bist du jetzt mein?, worauf er erwiderte: Klar, Baby, sich umdrehte, mit der Hand meine Nase gegen seinen haarigen Hintern drückte und zu scheißen begann. Ende.
Ich bemühte mich, dieses Stück zu vergessen, aber es gelang mir nicht, und je weiter ich es zu verdrängen versuchte, desto tiefer brannte es sich ein. Es keimte in mir wie ein Samen, den ich bereits wurzeln und in mein Leben wachsen sah. Die aus jeder Zeile dieses Dramas sprechende Schuldzuweisung verfolgte mich. Ich war mir sicher, dass er in mich hineinschauen konnte, weil er der erste Mann war, der mich geliebt hatte. Ich war entschlossen, mich so zu verhalten, dass der Fluch des Stücks getilgt wurde, entschlossen, den faulen Samen, den er in mir entdeckt oder gesät hatte, weit von meinem Herzen entfernt zu vergraben.
Was für eine Macht kann eine Frau über einen Mann haben, dass sie ihn solche Dinge schreiben lässt. Und was für eine Macht kann ein Mann über eine Frau haben, dass er sie glauben machen kann, er habe ihr Schicksal vorhergesehen. Wir kennen die Wirkung nicht, die wir auf andere haben, aber wir haben eine.
Im Verlauf meiner Ehe war unsere Wohnung jeden zweiten Mittwoch erfüllt vom Rauch der Zigaretten unserer Freunde. Sie tranken in unseren Zimmern und knutschten auf der Feuertreppe. Anfangs fühlte es sich so an, als wäre da etwas wahrhaft Bedeutsames im Werden. Leute kamen, und es gab von allem reichlich: Käse, Trauben, Brot und Wein und so viel Alkohol, wie man trinken konnte.
Aber nach zwei Jahren blickte ich vom Rande aus über das Geschehen und fragte mich: Warum geben wir diese Partys eigentlich? Was erreichten wir, indem wir mit anderen so zusammenkamen? Wir versuchten zu beweisen, dass wir alles hatten, weil wir ja Partys gaben, aber ich bekam allmählich das Gefühl, wir hatten außer Partys nichts. Wenn jemand aus der Zukunft auf das, was wir da schufen, hätte zurückschauen können, wäre ich mir sicher gewesen, er hätte gesagt: Das kann nur von Sklaven geschaffen worden sein.
Freunde kamen durch unsere Tür herein. Wir servierten Essen und Getränke. Erst ging ich um eins ins Bett, dann um Mitternacht, dann um elf, dann um zehn. Wenn schließlich um zwei oder um drei oder um vier alle gegangen waren, stand ich auf, lief nach unten, räumte das Essen weg und machte die Flaschen zu. Ich strich die Kissen glatt, rückte die Stühle zurecht, kehrte Brot- und Käsekrümel auf und warf Kippen und Plastikbecher in den Müll. Für mich war das inzwischen der beste Teil der Party.
Als ich klein war, fürchtete ich mich ernsthaft davor, eines Tages erwachsen und geschieden zu sein. Mit zunehmendem Alter wurde diese Furcht immer größer, und bei der Verlobung setzte sie sich in meinem tiefsten Innern fest. So eine Furcht kann sich wie ein Omen anfühlen, und so war es auch bei mir; vor der Hochzeit, und selbst nachdem wir verheiratet waren, malte ich mir nie die glücklichen Jahre aus, die er und ich vielleicht gemeinsam erleben würden. Stattdessen empfand ich Angst – Hilflosigkeit angesichts des unvermeidlichen Endes unserer Ehe.
Ich kam mir vor wie der Blechmann, der Löwe und die Vogelscheuche zugleich: Ich spürte mein Herz nicht, hatte keinen Mut und konnte meinen Verstand nicht benutzen.
An einem dieser Partyabende ging ich mit grummelndem