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Mit 14 Jahren stellt Antonia von heute auf morgen das Essen ein. Die Ärzte tun ihr Problem als vorübergehendes Pubertätsphänomen ab, bis sie eines Tages in der geschlossenen Psychiatrie landet. Diagnose: Magersucht.In den folgenden Jahren bestimmt die Erkrankung ihr Leben. Ihr Umfeld und sie selbst sind ratlos. Niemand versteht: Warum möchte sich ein ansonsten kerngesunder, fröhlicher Teenager zu Tode hungern? Drei Klinikaufenthalte und mehrere ambulante Therapien helfen Antonia dabei, die Sprache ihrer Psyche zu entschlüsseln. Nach und nach durchschaut sie die Mechanismen, die hinter der Anorexia nervosa stecken, und erkennt: Es geht gar nicht ums Dünnsein. Die Ursachen für die gefährliche Essstörung liegen tiefer: Antonia ist unzufrieden mit sich selbst, fühlt sich zu laut, zu anstrengend, zu viel. In ihrem Buch erzählt sie ihre persönliche Geschichte, räumt mit gängigen Klischees über Essstörungen auf, erklärt, warum die Magersucht ein Hilfeschrei der Psyche ist und reicht Betroffenen wertvolle Ratschläge. Darüber hinaus kommt ihr ehemaliger Therapeut, der Chefarzt der Kinder- und Jugendpsychiatrie Duisburg, als Experte zu Wort.
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Seitenzahl: 294
Warum dieses Buch?
Die falsche Freundin Magersucht
Vom Mut, sich anzuvertrauen
Erste Hilfe
Mein Leben mit der Magersucht
Was verbirgt sich hinter der Magersucht?
Die Krankheit loslassen
Die Sprache der Gefühle
Auf dem Weg der Heilung
Mein Leben ohne die Magersucht
Und heute?
Danksagung
Ich werde dich so was von stolz machen.Notiz an mich selbst
Als mein letzter Fantasyroman erschien, fragte mich meine Mutter, ob ich mir vorstellen könne, jemals über die Magersucht zu schreiben. »Nein!«, sagte ich sofort. »Die Krankheit hat mir so viel genommen. Mein Schreiben bekommt sie nicht.«
Meine Einstellung zu diesem Thema hat sich ebenso sehr verändert wie ich mich selbst. In diesem Buch stecken viele Kapitel Leidensweg, aber auch viele Kapitel Hoffnung und Kampf. Ein Kampf, den ich letztendlich gewann. Mit diesen Seiten hat die Magersucht mir deshalb nicht »auch noch das Schreiben genommen«. Sie hat mir mit diesen Texten wiedergegeben, was ich auf meinem Weg fast verloren hätte.
Deshalb widme ich dieses Buch der Liebe meines Lebens: dem geschriebenen Wort selbst.
Heute auf dem Weg zu meiner Therapeutin sah ich auf der Straße ein sympathisches junges Mädchen, ungefähr in meinem Alter. Als ich an der Tür der Praxis ankam, merkte ich, dass wir dieselbe Adresse ansteuerten. Ich erwischte mich bei dem Gedanken: Warum sucht so ein junges, nett wirkendes Mädchen sich wohl psychologische Hilfe? Wieder einmal wurde mir klar, dass psychische Erkrankungen jeden betreffen können.
Vielleicht hast du zu diesem Buch gegriffen, weil dich das Thema »Magersucht« selbst betrifft. Oder du kennst jemanden in einer seelischen Notlage, für den du gern da sein willst. Egal warum du dir dieses Buch ausgesucht hast – ich möchte mich für dein Vertrauen bedanken, das du mir mit dem Lesen entgegenbringst. Ich weiß, dass es nicht ganz einfach ist, über solche Themen zu reden und nach Hilfe zu suchen. Denn nach wie vor leben wir in einer Gesellschaft, in der Gefühle meist topsecret sind. Und tatsächlich werde ich in diesem Buch viel mehr von mir preisgeben, als – sagen wir es mit den Worten meines Vaters – »mein zukünftiger Arbeitgeber über mich wissen sollte«.
Bevor ich 2013 die ersten Symptome einer »Anorexia nervosa« – der Fachbegriff für Magersucht – aufwies, wusste ich selbst nicht, wie viel Kummer in mir steckt. Meine eigene Unwissenheit und Angst von damals haben mir gezeigt, wie wichtig es ist, offen über die eigenen Gefühle zu reden. Zum ersten Mal sprach ich öffentlich über meine Krankheit im Frühjahr 2019 auf meinem YouTube-Kanal Tonipure. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich dort vorwiegend Bücher rezensiert, doch meine persönliche Entwicklung bewegte mich irgendwann dazu, meinen Weg Stück für Stück mit meinen Zuschauerinnen und Zuschauern zu teilen. Denn ich wusste, dass es da draußen so viele Menschen gab, die in genau der gleichen Not steckten, die ich selbst erlebt hatte.
Mittlerweile bekomme ich auf meinen Social-Media-Kanälen jeden Tag private Nachrichten. Meine Follower stellen immer mehr Fragen über die Magersucht, meine Klinikaufenthalte und verschiedene Therapieansätze. Viele schreiben von großen Ängsten, zerstörerischen Selbstzweifeln und vollkommener Orientierungslosigkeit im Leben. In der Zwischenzeit bin ich mit einer riesigen Anzahl von Betroffenen in Kontakt, die mir immer wieder sagen, dass sie sich von mir verstanden fühlen. Und wenn ich eines in den letzten Jahren gelernt habe, dann, wie wichtig es ist, nicht allein zu sein. Deshalb schreibe ich dieses Buch für alle da draußen, die den Kampf noch nicht gewonnen haben. Und für mich selbst. Damit wir gemeinsam mit diesen Seiten wachsen können.
Eines vorweg: In meinen schwersten Magersuchtzeiten habe ich viele Autobiografien gelesen, in denen genaue Gewichts- oder Angaben zu Nahrungsmengen gemacht wurden. Als Resultat habe ich mich unheimlich viel mit diesen Zahlen verglichen, und der ursprüngliche Gedanke, nämlich, gesund zu werden, ging automatisch verloren. Auch heute noch bekomme ich starke Beklemmungen, wenn ich Dokumentationen oder Berichte sehe, in denen es nur ums Gewicht, um Probleme mit der Figur und die Angst vorm Essen geht. Weil ich solche Effekte auf meine Leserinnen und Leser vermeiden will, habe ich in diesem Buch auf konkrete Angaben verzichtet.
Denn weißt du was? Im Grunde genommen spielen das Gewicht und das Essverhalten bei der Magersucht gar keine so große Rolle. Genau darum geht es mir in diesem Buch: Ich will dir zeigen, dass die Magersucht nur die Konsequenz oder ein Symptom dessen ist, was sich unter der Oberfläche des Hungerns abspielt. Ich möchte in diesem Buch über Gefühle sprechen. Über Gefühle, die wir alle kennen – manche mehr und manche weniger.
Bevor es losgeht, möchte ich dich allerdings noch bitten, dir eine wichtige Frage zu stellen. Warum hast du zu diesem Buch gegriffen? Was versprichst du dir davon? Es ist wichtig, dass du ehrlich zu dir bist. Denn in den letzten Jahren habe ich vor allem eines gelernt: Kein Therapeut dieser Welt kann deine Seele heilen. Keine Klinik dieser Welt kann dich ohne deine Mithilfe von einer psychischen Krankheit befreien. Und kein Buch dieser Welt kann dein Leben retten, wenn du dich nicht selbst dazu entscheidest, aus deiner Komfortzone zu treten.
Auf den folgenden Seiten nehme ich meine Leserinnen und Leser gedanklich an die Hand. Ihren Weg kann ich nicht für sie gehen. Was ich dir aber versprechen kann, ist, dass ich dich immer dann, wenn du beim Gehen ins Stocken oder Stolpern gerätst, daran erinnern werde, wie schön es auf der anderen Seite des Lebens ist und warum es sich lohnt, weiterzugehen und nicht auf die Stimme der Angst zu hören, die dich zurückhält und daran hindert, dein volles Potenzial auszuschöpfen.
Noch ein ganz wichtiger Hinweis zum Schluss: Bei psychischen Krankheiten gibt es kein Rezept, das für alle gilt. Deshalb muss ich dich an dieser Stelle darauf hinweisen, dass alles, was ich in meinem Buch schreibe, meine eigenen Erfahrungen und Meinungen sind. Ich bin weder Ärztin noch Psychologin. Die Tipps, die ich dir gebe, sind nicht wissenschaftlich belegt. Dennoch hoffe ich, dass sie dir in schweren Zeiten ein guter Begleiter sein können.
Meine Freunde sagen immer, ich sei in einer Bilderbuchfamilie groß geworden. Und auf gewisse Weise haben sie vielleicht sogar recht: Meine Eltern sind seit mehr als 25 Jahren glücklich verheiratet, und ich wurde sehr liebevoll erzogen. Auch um Finanzielles musste ich mir nie Gedanken machen. Meine Geschichte beginnt also nicht vor dem Hintergrund einer schwierigen Familiensituation, wie ich mir das früher vielleicht vorgestellt hätte, wenn die Rede auf psychische Krankheiten kam. Ganz im Gegenteil: Als die Magersucht sich in mein Leben schlich, besuchte ich gerade die neunte Klasse eines Düsseldorfer Gymnasiums.
Ich ging gern zur Schule, aber machte mir schon damals großen Druck, was andere über mich dachten. In meiner Klasse galten teure Statussymbole als selbstverständlich, und ich hatte oft den Eindruck, da nicht mithalten zu können. Mein Motto damals lautete: bloß nicht negativ auffallen! Für mich bedeutete das, dass ich jeden Nachmittag stundenlange Telefonate mit meiner besten Freundin führte, die sich darum drehten, welches Outfit ich am nächsten Schultag tragen würde. Ich bekam regelmäßig Heulkrämpfe, wollte am Wochenende nichts unternehmen und trieb langsam, aber sicher meine gesamte Familie in den Wahnsinn. Für Außenstehende musste mein Verhalten absolut oberflächlich wirken, schließlich drehte sich alles in meinem Leben nur um mein Aussehen.
Dabei hätte ich von außen betrachtet doch glücklich sein können: Ich war offen und engagiert, hatte viele Freunde und kam in meinem schulischen Umfeld gut zurecht. Aber obwohl ich Klassensprecherin war, zu vielen Geburtstagen eingeladen wurde und mich im Unterricht fleißig beteiligte, versteckte sich hinter meiner extrovertierten Art eine enorme Unsicherheit. Ich zweifelte ständig an mir und hatte Angst, etwas falsch zu machen. Und die einzige Möglichkeit, die es in meinen Augen gab, meine zahlreichen Fehler zu verstecken, lag darin, bloß nicht aufzufallen, sondern immer so zu sein wie alle anderen.
Bis ich 14 Jahre alt war, kam mir das noch nicht so besonders vor. Ich glaubte, eine durchschnittliche Neuntklässlerin mit ganz normalen Problemen zu sein: nervige Eltern, Stress mit den Freundinnen, das erste Herzflattern und natürlich langweilige Lateinvokabeln. Zu diesem Zeitpunkt war ich weder dick noch unzufrieden mit meiner Figur. Mein ganzes Leben lang hatte ich mir ums Essen keine Gedanken gemacht und stets den Worten meiner Mutter vertraut: »Wer so isst, wie er Hunger hat, der wird nicht dick.« Meinen Körper stellte ich zum ersten Mal infrage, als meine Freundinnen und ich uns über eine Schülerin im Jahrgang über uns unterhielten, die ungesund viel abgenommen hatte. Gewicht wurde damit plötzlich zu etwas, das nicht einfach nur da war, sondern das sich verändern konnte. Und diese Veränderung konnte man selbst steuern. Von diesem Zeitpunkt an betrachtete ich plötzlich auch mein eigenes Gewicht kritisch, schob diese Zweifel jedoch zuerst auf die Pubertät und sagte mir, ich sollte einfach weniger über all das nachdenken.
Erst ein paar Monate später legte sich von jetzt auf gleich ein Schalter um. Das Letzte, woran ich mich erinnere, ist, dass ich im Herbst zu einer Übernachtungsparty eingeladen war und abends mit meinen Freundinnen Unmengen an Flips futterte. Ohne schlechtes Gewissen. Am nächsten Morgen brachte die Mutter der Gastgeberin uns Kakao an den Frühstückstisch, und ich bewunderte die hübsche Emma, die sich traute, stattdessen nach einer Tasse Tee zu fragen. Die hätte ich eigentlich auch viel lieber getrunken. Aber Tee? Ich glaubte, damit irgendwie uncool zu wirken. Anders. Aus dem Rahmen zu fallen. Andererseits empfand ich für die Leute, die den Mut hatten, anders zu sein, auch unfassbar viel Bewunderung …
Bald darauf wurden in meiner Klasse die Themen Abnehmen und Diät immer präsenter. Gar nicht untypisch für unser Alter. Da fielen Kommentare wie: »Schau mal deren Hose an. An ihrer Stelle würde ich so was nicht tragen.« Für Menschen mit einem gesunden Selbstbewusstsein sind solche Bemerkungen sicher leicht wegzustecken. Doch bei mir führten sie dazu, dass ich auf einmal meine Ernährung infrage stellte, obwohl ich mich davor nie zu dick gefühlt hatte.
Als ich mich mit meinen Freundinnen in der Schule immer häufiger stritt, der Junge, in den ich mich verliebt hatte, nichts von mir wissen wollte und ich auch sonst eine konkrete Perspektive in meinem Leben vermisste, fühlte es sich so an, als hätte ich nichts mehr zu verlieren.
»Wir könnten ein Experiment machen«, schlug ich einer Freundin vor. »Lass uns 48 Stunden lang nichts essen.«
Meine Intention dahinter war nicht mal das Abnehmen. Ich suchte vielmehr nach dem Kick, nach etwas, womit ich zeigen konnte, wie stark ich war. Für mich war das eher wie eine Challenge.
»Okay. Aber wir erzählen keinem davon!«, stimmte meine Freundin zu.
Ich nickte. »Natürlich nicht. Die würden uns für verrückt halten.«
Von da an wurde mein Verhalten immer extremer. Ein paar Tage später bekam ich mit, dass meine besten Freundinnen sich am Nachmittag ohne mich verabredet hatten. Das traf mich hart. Ich fühlte mich einsam und wertlos, und es kam mir so vor, als würde mein ganzes Leben an mir vorbeiziehen. Während ich mich im Badezimmer im Spiegel betrachtete, überkam mich auf einmal Panik. Es war, als würde ich so vieles in meinem Leben verlieren. Ich hatte keine Kontrolle mehr. In meinem Kopf spulte ich den vergangenen Tag und die letzten Wochen im Schnelldurchlauf ab. Da waren so viele Momente, in denen ich mich traurig und wertlos gefühlt hatte. Ohne weiter darüber nachzudenken, schlug ich den Klodeckel gegen die Wand. Verzweifelt beugte ich meinen Oberkörper über die Schüssel und steckte mir das allererste Mal in meinem Leben den Finger in den Hals. Ich würgte. Sofort schossen mir Tränen in die Augen, und Magensäure lief mir über die Lippen. Während ich über der Toilettenschüssel hing und versuchte, den ganzen Scheiß aus mir rauszukotzen, verlor ich völlig das Zeitgefühl. Als nichts mehr kam, sank ich zu Boden und heulte. Ich schämte mich so unfassbar für das, was ich gerade getan hatte.
Im Nachhinein war das für mich der entscheidende Moment in meiner Geschichte mit der Magersucht. Es kam mir so vor, als könnte ich durch das selbst herbeigeführte Erbrechen meine ganzen Gedanken aus mir herauskotzen. Während eines späteren Klinikaufenthaltes sagte ich mal zu einer Therapeutin, die innere Leere mache es mir leichter, die Intensität meiner Emotionen auszuhalten. »Ich habe das Gefühl, dieser Druck bringt mich sonst zum Platzen.« Alles war einfach zu viel, und ich wollte es loswerden. Deshalb war ich auch der festen Überzeugung, ich könnte mein Leben unter Kontrolle bringen, indem ich an Gewicht abnahm.
Also reduzierte ich meine Mahlzeiten. Mein Schulbrot ließ ich auf dem Pausenhof im Mülleimer verschwinden, beim Mittagessen häufte ich mir den Teller hauptsächlich mit Gemüse voll, und erfand ich immer mehr Ausreden. Am Ende des Monats konnte ich die Kalorientabellen zu sämtlichen Lebensmitteln, die ich im Internet gefunden hatte, auswendig. Ich aß morgens ein Brot und abends eines. Mittags vertilgte ich anfangs noch etwas von dem, was meine Mutter kochte. Es sollte ja nicht auffallen. Bloß zu viel durfte es nicht sein. Jedes Mal, wenn ich meine Gabel in eine Kartoffel steckte, musste ich an die Kohlenhydrate denken, die mich ganz bestimmt dick machen würden. Im Kopf rechnete ich durch, wie viel Fett in einem Ei war. Das Eigelb machte mir besonders Angst. Deshalb schnitt ich es meistens aus dem Ei heraus und aß das Eiweiß pur. Zu trinken gab es nur noch Cola Zero.
Schockierend schnell und ohne dass ich es wirklich merkte, ergriff die Krankheit Besitz von mir. In mein Tagebuch schrieb ich: »Ich will zwei Kilo abnehmen, um ein bisschen femininer und schützenswerter zu wirken. Aber keine Sorge, liebes Tagebuch, magersüchtig werde ich eh nicht!«
Meine Freundinnen wurden ziemlich schnell auf meine Veränderung aufmerksam. »Hast du kein Schulbrot dabei?« oder »Ist das das Einzige, was du isst?« waren die ersten Fragen, die ich zu hören bekam. Später dann hieß es: »Wir machen uns Sorgen. Du hast dich total verändert. Es macht uns Angst.« Doch all diese Kommentare prallten an mir ab.
Ein Teil von mir wusste, dass ich mich in Gefahr begab. Aber der viel größere Teil von mir fand die Idee, weiterzumachen, spitzenmäßig. Im Nachhinein kann ich sagen: Ich wollte magersüchtig werden. Ich fand die Krankheit faszinierend. Faszinierend gefährlich, aber auch berauschend. Immerhin war Magersucht ja auch die Krankheit der Models. Und irgendwie hatte ich das Gefühl, dadurch plötzlich zu einer Art Elite zu gehören. Von diesem Gefühl wollte ich mehr. Schließlich konnte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht ahnen, was die Krankheit mit mir machen würde.
Der Fachbegriff für Magersucht, Anorexia nervosa, heißt wörtlich übersetzt »psychisch bedingte Appetitlosigkeit«. Jeder, der an der Krankheit leidet, kann über diese Beschreibung wahrscheinlich nur schmunzeln, denn mit Appetitlosigkeit hat die Magersucht so ziemlich nichts zu tun. Bei der Krankheit geht es vielmehr darum, dass Betroffene all ihre mentalen Kräfte, ihren Ehrgeiz und ihre Disziplin dafür aufwenden, sich über das Grundbedürfnis »Essen« zu stellen. Das Resultat hiervon sind eine selbst herbeigeführte Gewichtsreduktion, eine verzerrte Körperwahrnehmung und zahlreiche körperliche Störungen.
Körperliche Symptome von Magersucht
•Hormonstörungen (Ausbleiben der Periode und Libidoverlust)
•Unfruchtbarkeit
•Frieren
•Vermehrte Körperbehaarung an Rücken und Armen
•Haarausfall
•Kalte Hände
•Sinkende Knochendichte (höheres Osteoporoserisiko)
•Schwindel und Müdigkeit
•Depression
Wichtig: Nicht bei allen Betroffenen treten alle Symptome auf. Ich habe zum Beispiel nie unter Haarausfall gelitten und hatte keine vermehrte Körperbehaarung. Das sagt nichts darüber aus, dass du nicht krank genug bist. Jeder Körper ist anders – jeder Körper sendet andere Signale.
Um bei den harten Fakten zu bleiben, kommt hier erst mal eine schlechte Nachricht: Momentan liegt die Sterblichkeitsrate bei Magersucht bei bis zu acht Prozent. Zwanzig Prozent der Magersüchtigen sind chronisch krank. Trotz dieser enormen Gefahr erkranken in europäischen Ländern jedes Jahr durchschnittlich etwa 4,5 von 100.000 Menschen an der Magersucht. 2017 wurden in deutschen Krankenhäusern 7.821 Fälle diagnostiziert, die Dunkelziffer liegt wahrscheinlich aber viel höher. 2015 soll es in Deutschland insgesamt 440.000 an Essstörungen erkrankte Menschen gegeben haben.
Mediziner und Psychologen sagen, dass die Entstehung der Krankheit auf ein Zusammenspiel von biologischen, sozialen und psychischen Faktoren zurückzuführen ist. Was es mit diesen Risikofaktoren genau auf sich hat, bespreche ich später noch im Detail.
Mein früherer Therapeut meinte mal zu mir, dass psychische Krankheiten schleichend entstehen. Sie schlummern manchmal schon Ewigkeiten im Inneren eines Menschen, bevor sie wirklich ausbrechen. Die Frage »Wie lange bist du schon krank?« lässt sich bei psychischen Erkrankungen also genau genommen gar nicht beantworten, denn niemand ist von einem auf den anderen Augenblick infiziert.
Als Kind kannte ich die Magersucht nur aus Geschichten oder eben aus den Medien: die Krankheit der Models und Ballerinen. Oft wird gesagt, dass Fernsehsendungen wie Germany’s next Topmodel dazu beitragen, dass Jugendliche immer häufiger an Essstörungen erkranken. Auch für mich waren diese gesellschaftlichen Ursachen für Essstörungen damals am leichtesten zu verstehen, denn zu Beginn meiner Magersucht war ich fest davon überzeugt, es ginge mir darum, den perfekten Körper zu bekommen. Und ja, natürlich spielen falsche Schönheitsideale irgendwie bei dieser Krankheit mit. Doch nicht jeder, der unter einer Essstörung leidet, hat vorher Modelshows geschaut oder hungert einem falschen Vorbild nach.
Auslöser ≠ Ursache
Bei psychischen Krankheiten ist es besonders wichtig, zwischen Auslöser und Ursache zu unterscheiden. Viele Betroffene berichten, dass eine Diät für sie der Beginn ihrer Essstörung war. Am Anfang wollten sie nur überschüssiges Gewicht verlieren und können dann plötzlich nicht mehr aufhören. Diäten sind damit ein Risikofaktor, der Essstörungen begünstigen kann. Dennoch sind sie nie die Ursache dieser Erkrankung. Ein völlig gesunder und stabiler Mensch würde durch eine Diät nämlich niemals in eine Essstörung rutschen.
Psychische Krankheiten funktionieren nach dem Angebot-und-Nachfrage-Prinzip. Man kann sich das so vorstellen: Die Nachfrage unserer Psyche nach Bewältigungsmechanismen ist genau dann besonders hoch, wenn wir insgesamt nicht gefestigt sind und es uns an etwas fehlt. Beschäftigen wir uns in so einer Zeit intensiv mit dem Abnehmen, führt eins zum anderen – der Fokus ist gesetzt, und wir entwickeln eine Essstörung. Folglich ist es auch verständlich, dass Frauen häufiger Essstörungen entwickeln und Männer ihre Gefühle mit Drogen oder Alkohol betäuben. Unsere Psyche nimmt eben das, was ihr gerade angeboten wird.
Psychische Krankheiten sind also Alarmzeichen, die auf ein Ungleichgewicht in unserem Inneren hinweisen. So wie körperliche Schmerzen hervorragende Sensoren für Gefahr sind, lässt auch unsere Psyche uns wissen, wenn etwas nicht in Ordnung ist. Wer auf eine heiße Herdplatte fasst, zieht die Hand zurück, wer sich den Knöchel verstaucht, schont sich in der nachfolgenden Zeit, um den Fuß nicht weiter zu belasten. Ähnlich müssen auch psychische Symptome verstanden werden. Natürlich äußert sich eine Angststörung anders als eine Essstörung, eine Zwangserkrankung weist andere Merkmale auf als eine Depression, und Schizophrenie sollte nicht mit einer dissozialen Persönlichkeitsstörung verwechselt werden. Im Grunde steckt hinter jedem Symptom aber unsere schmerzende Seele, die darum bittet, dass wir etwas in unserem Leben verändern.
Das Gefährliche ist, dass vielen Menschen nicht einmal bewusst ist, dass ihre Psyche ihnen etwas mitteilen will. Irgendwas fühlt sich zwar falsch an, aber eigentlich hat man ja keinen Grund, sich zu beschweren. In unserer Gesellschaft ist es leider normal, dass über Gefühle wenig gesprochen wird und Probleme stattdessen mit Drogen, Alkohol oder Essen kompensiert werden. Frauen greifen laut den gängigen Klischees zur Frustschokolade, während Männer ihren Kummer in Bier ertränken. Diese Verhaltensweisen verschaffen kurzfristig vielleicht Erleichterung, aber bei schwerwiegenden Problemen lässt unsere Psyche nicht mit sich verhandeln.
Mir wird häufig die Frage gestellt, inwieweit man bei Magersucht wirklich von einer Sucht sprechen kann. Weil ich das Thema sehr wichtig und spannend finde, habe ich darüber mit meinem Psychiater Dr. med. Gosciniak gesprochen.
Definitiv. Betroffene erleben, ähnlich wie bei einer Drogenabhängigkeit, ein Gefühl von »Ich muss das machen. Ich kann nicht anders.« Im Gegensatz zur Alkohol- oder Drogenabhängigkeit ist die Magersucht allerdings nicht an eine Substanz gebunden. Bei einer Drogensucht merken Abhängige nach einem Hoch, dass ihnen das eigene Verhalten schadet. Magersüchtige sind dauerhaft so in ihrer eigenen Wirklichkeit gefangen, dass ihnen die Krankheit als richtig und einzig wahre Realität vorkommt.
Bei der Funktion beziehungsweise Ursache ist es wichtig, zwischen den psychischen und physischen Faktoren zu unterscheiden. Biologisch ist eine Sucht durch die freigesetzten Belohnungsboten erklärbar. Wenn wir Menschen bestimmte Rituale durchführen und damit Erfolg haben, erleben wir einen Dopaminschub. Das heißt: Wir fühlen uns gut und motiviert, genauso weiterzumachen. Evolutionär gesehen ist das auch wichtig. So wissen wir, was sich zuvor als richtig erwiesen hat und wir können an sinnvollem Verhalten festhalten – so war es beispielsweise auch in früheren Zeiten bei der Jagd und so ist es auch bei der Magersucht. Das kurzfristige Glücksgefühl bei der Gewichtsabnahme bestärkt Betroffene, nicht loszulassen. Doch auch der psychologische Aspekt ist wichtig zu beachten. Anorexiepatienten fühlen sich in ihrem Leben häufig unverstanden. Die Krankheit erscheint ihnen als Gewinn in der eigenen Identität. Betroffene fühlen sich in ihrem Verhalten willensstark und es kommt zu einer Selbstaufwertung. Die Angst, ohne die Krankheit »ein Niemand« zu sein, kann so weit überhandnehmen, dass Betroffene fürchten, ohne sie den Halt im Leben zu verlieren.
Auch hier muss man beide Faktoren beachten. Um die Konditionierung im Gehirn zu stoppen, ist es wichtig, einen Entzug zu machen. Bei einer Magersucht ist das noch einmal schwieriger als bei einer Drogensucht, denn man kann nun einmal nicht auf das Essen verzichten. Hier gilt: Maß finden! In vielen Kliniken wird so gearbeitet, dass Betroffene ihr destruktives Verhalten ablegen müssen. Die Gewichtsabnahme wird gestoppt, das Essverhalten stabilisiert und typische Rituale unterbrochen.
Aber das allein genügt nicht. Auch nach einer Gewichtszunahme und Unterbrechung der Hungerphase fällt es Betroffenen im Normalfall schwer, von der Sucht loszulassen. Sie fürchten, ihre Identität zu verlieren.
Deshalb ist es wichtig, parallel die Gründe aufzuarbeiten, die zu der Erkrankung geführt haben.
Zu dieser Frage gibt es viele Meinungen. Ich denke, dass ehemalige Betroffene irgendwann eine neue Sicht auf ihr Krankheitsverhalten bekommen. Wer einmal wirklich aus dieser Gedankenspirale ausgestiegen ist, kann die Vergangenheit reflektieren und quasi von außen sehen, welches Verhalten geschadet hat. Wichtig ist es aber, in der Therapie einen neuen Umgang mit unangenehmen Gefühlen zu erlernen und die Ursachen der Erkrankung zu behandeln. Eine Person, die einmal essgestört war, behält allerdings ein Suchtgedächtnis. Das bedeutet, dass Betroffene beim Wiederholen damaliger Rituale mit alten Gefühlen konfrontiert werden. Wichtig ist dann aber, die Vergangenheit mit der Gegenwart abzugleichen und sich bewusst zu machen, dass diese Gefühle und Gedanken nicht dem JETZT entsprechen, sondern mehr mit einer Erinnerung vergleichbar sind. Um das Suchtgedächtnis zu schwächen, ist es hilfreich, neue Erfahrungen zu machen.
Mein Tipp
Betrachte dein Problem oder deine Krankheit als etwas von dir Getrenntes. Er oder sie ist ein lästiger Untermieter, der derzeit bei dir wohnt, weil du auf seine Mietzahlungen angewiesen bist. Du bist und bleibst aber der Boss über deine Bude, okay?
Mir hilft es außerdem, die Magersucht zu personifizieren. Wenn ich merke, dass meine Krankheit mit mir spricht und mir Befehle erteilt, denke ich an eine Sirene. Das ist ein Fabelwesen aus der griechischen Mythologie, das mit seinem schönen Gesang Schiffe auf dem Meer anlockt. Die Seemänner verfallen den Sirenen und werden von ihnen getötet. Nur die wenigsten überleben, weil die Musik der Sirenen so verlockend schön ist. Genau so ging es mir am Anfang auch mit der Essstörung. Sie hat versprochen, mir zu helfen und für mich da zu sein. Aber dann hätte sie mich fast getötet. Deswegen lautet mein Appell an dich: Sei stärker als dieser vermeintlich wunderschöne Gesang. Behalte die Kontrolle am Steuer!
Meinem Biologielehrer fiel mein niedriges Gewicht damals als Erstem auf. Er nahm mich nach einer Stunde zur Seite und fragte, ob bei mir alles gut sei. »Ja«, erwiderte ich perplex.
Genau wie viele andere Essgestörte habe ich anderen lange vormachen wollen, dass alles in Ordnung sei. Die Angst vor dem, was kommen würde, war viel zu groß. Tief in mir drin wusste ich allerdings, dass ich so nicht weitermachen konnte. Meine Gedanken drehten sich permanent nur noch ums Thema Essen. Ich guckte stundenlang food diaries auf YouTube, durchstöberte Kochseiten im Internet, schrieb Kalorientabellen ab und versuchte, meinen Körper möglichst lange und effektiv in Bewegung zu halten. Allein die Vorstellung, mit anderen Leuten essen gehen zu müssen, bereitete mir Panik, und die Lügen, die ich meinen Freunden und meiner Familie auftischte, nahmen weiter zu.
»Nein, ich mag das nicht.«
»Ich habe zu Hause schon genug gegessen.«
»Ich habe verschlafen, ich frühstücke in der Schule.«
Es ging so weit, dass ich Streitereien provozierte, nur um eine Ausrede zu haben, um nicht am gemeinsamen Familienfrühstück teilnehmen zu müssen: »Ihr könnt mich mal! Ich esse allein in meinem Zimmer.«
Mein Leben kam mir nicht mehr lebenswert vor. Es war anstrengend und kompliziert. Ich fühlte mich wie der einzige Mensch auf diesem Planeten, der meine Sprache sprechen konnte. Im Internet durchsuchte ich Foren und bat um Tipps, um »mich nach dem Essen nicht mehr so schuldig zu fühlen«, aber die einzige Antwort, die ich regelmäßig bekam, war: »Such dir professionelle Hilfe!« Damals fand ich diese Reaktion ziemlich enttäuschend, denn ich wusste, dass eine Therapie bedeuten würde, dass ich jemandem von meinen Problemen erzählen musste.
Ein paar Monate nach der Übernachtungsparty, nach der alles seinen Lauf genommen hatte, wagte ich den ersten Versuch, mir Hilfe zu holen. In einem ruhigen Moment vertraute ich meiner Mutter meine Angst darüber an, in eine Essstörung zu rutschen. Gemeinsam gingen wir zu einer Kinder- und Jugendärztin. Dort wurde beschlossen, dass ich regelmäßig dorthin zurückkommen sollte, damit die Ärztin mein Gewicht überprüfen konnte. Das löste in mir jedoch nur das Verlangen aus, noch weiter abzunehmen. Ich merkte damals, wie viel Angst mir das Wiegen bereitete, und behauptete bald darauf, keinerlei Probleme mehr zu haben. So hielt die Ärztin mein Verhalten nur für eine Phase. Und auch ich selbst wurde wieder mal darin bestätigt, dass ich mich selbst nicht so ernst nehmen sollte.
Doch in den folgenden Monaten wurde meine Mutter immer mehr auf meinen geschwächten Zustand aufmerksam. Im Frühjahr stand sie eines Abends an meinem Bett und griff nach meiner Hand. Ein Dreivierteljahr hatte ich zu diesem Zeitpunkt schon gegen meine inneren Dämonen gekämpft.
»Wenn du mit mir sprichst, kann ich dir helfen, Toni«, sagte sie.
Als sie mich so ansah, brach es aus mir heraus: »Versprochen?« Zu diesem Zeitpunkt hatte ich die Hoffnung, dass man mir umgehend helfen könnte, wenn ich nur endlich ehrlich war. »Ich schäme mich so, Mama«, sagte ich und versteckte mein Gesicht in meinem Kissen. »Du musst es Papa sagen. Es ist mir so unangenehm. Aber ich muss eine Therapie machen. Ich packe das alleine nicht.«
Noch heute sehe ich uns gemeinsam auf meiner Bettkante sitzen. Mit meinen immer kalten Fingern suchte ich die warme Hand meiner Mutter. Dann erzählte ich ihr alles. Die ganzen Lügen, die ich ihr aufgetischt hatte, das Erbrechen, meine Lehrer, die sich bereits Sorgen machten. Und Mama? Sie weinte leise.
»Wir schaffen das, hörst du?«, sagte sie und drückte meine Hand.
An diesem Abend blieben wir bis spät in die Nacht auf, und am nächsten Tag musste ich nicht in die Schule. Stattdessen suchte ich im Internet die Telefonnummern von Kinder- und Jugendtherapeuten heraus und legte meiner Mutter einen Zettel auf den Küchentisch mit der Bitte, mir möglichst schnell einen Termin zu vereinbaren. Sprechen wollte ich über das Ganze so wenig wie möglich, weil ich mich wie die Schande der Familie fühlte.
Mama sagt:
»Natürlich war das Gespräch für mich aufwühlend. Ich hatte Angst um mein Kind. Doch gleichzeitig war ich überzeugt, dass wir einen Weg finden würden. Vielleicht habe ich im ersten Augenblick auch nicht das ganze Ausmaß der Krankheit verstanden. Der wirkliche Schock kam erst im Laufe der Zeit, als ich sah, wie meine Tochter sich mit der Magersucht veränderte.«
Über Gefühle zu sprechen, ist auch im 21. Jahrhundert nicht einfach. Das weiß ich aus eigener Erfahrung. Doch der erste Schritt lohnt sich! Wenn du aus einer Familie kommst, in der psychische Probleme mit Vorurteilen belegt sind oder belächelt werden, ist es wichtig, dass du dich selbst trotzdem ernst nimmst. Nur du kannst deine eigenen Gefühle einschätzen. Je nachdem, in welcher Ausgangslage du dich befindest, gibt es verschiedene Wege, Hilfe in Anspruch zu nehmen.
Wenn du noch zu Hause wohnst und ein gutes Verhältnis zu deinen Eltern oder deinen Geschwistern hast, rate ich dir, einen ruhigen Moment abzupassen und deine Sorgen direkt zu erklären. »Ich habe Angst, dass du mich nicht ernst nimmst«, ist ein guter Satz zum Anfang. So weiß die andere Person, dass es um etwas Wichtiges geht. Du kannst auch in der Schule mit einem Vertrauenslehrer sprechen, dich online an eine Beratungsstelle wenden oder das Gespräch mit einem Arzt suchen.
Was ich aber vornweg unbedingt sagen möchte: Gib auf keinen Fall auf, wenn der erste Anlauf ein Reinfall ist. Viele Allgemeinmediziner zum Beispiel geraten oft an ihre Grenze, wenn es um die Psyche geht. Wenn du dich an deinen Hausarzt wendest, kannst du also eventuell Pech haben. Das muss aber absolut nichts heißen.
Erst letztens hatte ich eine Blasenentzündung und erklärte dem Urologen, dass ich Antidepressiva nehme. Er sah mich verdutzt an: »Warum denn das? Sie sehen für mich nicht depressiv aus.« Die beste Antwort darauf wäre vermutlich gewesen: »Warum sagen Sie denn so was? Sie sehen gar nicht so dumm aus.« Aber erstens war ich viel zu überrascht, um etwas erwidern zu können, und zweitens habe ich aufgehört, solche Kommentare persönlich zu nehmen. Das Problem liegt, wie mir immer wieder schmerzhaft bewusst wurde, nämlich nicht bei den einzelnen Menschen, sondern in unserer Gesellschaft. »Es existiert nur, was ich sehen und greifen kann.« Die meisten Menschen setzen Depressionen einfach mit traurig sein gleich, Borderliner sind die, die sich die Arme aufschlitzen, und Essstörungen kann man am besten in Kilogramm messen.
Schockierend finde ich im Übrigen, dass es in der Medizin sogar den sogenannten Body-Mass-Index gibt, der bestimmt, ab welchem Gewicht eine Person als magersüchtig eingestuft wird. Für mich ist das so, als würde man Depressionen an der Litermenge der geweinten Tränen messen. Absoluter Schrott, denn: Jeder Körper ist anders! Jeder Mensch hat andere Symptome, ein anderes Ausgangsgewicht und eine andere Geschichte. Essstörungen sind auf keinen Fall gleichzusetzen mit starkem Untergewicht. Und genauso wenig wie alle untergewichtigen Menschen magersüchtig sind, sind alle von Magersucht Betroffenen untergewichtig. Okay?
Mein Tipp
Gib nicht auf, sondern setz dich für dich ein! »Nein, das ist keine Phase. Nein, ich stelle mich nicht nur an!« Ab deinem 15. Lebensjahr kannst du übrigens sogar Psychotherapie in Anspruch nehmen, ohne dass deine Eltern davon wissen. Die gesetzliche Krankenkasse bezahlt diese Therapie, sodass für deine Eltern keinerlei Gebühren anfallen. Fällt es dir also schwer, mit deiner Familie über deine Probleme zu reden, oder nehmen sie dich nicht ernst, ist das kein Hinderungsgrund, dir Hilfe zu suchen. Kämpfe für dich und deine Gesundheit!
Erste Anlaufstationen in Deutschland
Nummer gegen Kummer (Sorgentelefon für Kinder und Jugendliche)
116111
www.nummergegenkummer.de
Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung – Essstörungen
+49 221 892031
www.bzga-essstoerungen.de
PS: Ich habe mal beim Sorgentelefon angerufen, und es hat mir wirklich geholfen. Offen mit jemand Fremdem zu reden, kann echter Balsam für die Seele sein. Die Person am Ende der Leitung ist auf dich vorbereitet, und ein Gespräch ergibt sich von ganz allein. Du kannst das Angebot jederzeit beanspruchen, auch wenn dein Problem sich für dich vielleicht »nicht schlimm genug« anfühlt. Sobald du das Bedürfnis hast, mit jemandem zu reden, ist die Berechtigung gegeben.
Als meine Mutter mich zu meiner ersten Therapeutin brachte, hatte ich riesige Angst, nicht ernst genommen zu werden. Was, wenn mein Untergewicht nicht dramatisch genug war, um als klassisch magersüchtig zu gelten? Ich fragte mich, ob ich nicht anderen Patienten den Platz wegnahm, indem ich mich behandeln ließ.
Bin ich krank genug?
Man hört oft, viele Essgestörte hätten keine Krankheitseinsicht. Ich glaube, dass die meisten Betroffenen schon wissen, dass sie ein Problem haben, aber sie nehmen sich selbst nicht ernst oder gönnen sich die Hilfe nicht. Ich kann mich an Tage erinnern, an denen ich mir vor der Therapie dunklen Lidschatten unter die Augen schmierte, um kränker auszusehen. Ich dachte, nur wenn ich krank genug wäre, hätte ich einen Anspruch auf Hilfe. Heute verstehe ich: Allein der Wunsch, krank zu sein, ist die Krankheit selbst! Ein gesunder Mensch wünscht sich nicht, krank zu sein. Und niemand sollte sich abhungern, um Unterstützung zu bekommen.
Ich habe erst Jahre später akzeptiert, dass dieser Gedanke eines der gefährlichsten Merkmale vieler psychischer Erkrankungen ist. Jahrelang hatte ich das Gefühl, trotz Magersucht gesund zu sein und deshalb keine Hilfe zu verdienen. Selbst auf meinem niedrigsten Gewichtsstand war ich immer noch davon überzeugt, noch mehr abnehmen zu müssen. Heute weiß ich: Der Zeitpunkt, an dem man sich krank genug fühlt, wird niemals eintreffen. Das Gefühl hat nämlich nichts mit dem tatsächlichen Gewicht zu tun, sondern mit der Einstellung, die man zu sich selbst hat. Menschen mit seelischen Problemen fühlen sich oft wertlos oder fehl am Platz. Sie räumen sich nicht die Berechtigung ein, Hilfe anzunehmen. Ich zum Beispiel wollte mich jahrelang beweisen. Ich wollte zeigen, dass ich keine Heuchlerin war oder nur nach Aufmerksamkeit suchte, indem ich mir eine Selbstdiagnose aufdrückte. Deswegen war ich in meinen Augen nie krank genug.
»Hallo, Antonia«, begrüßte mich die Therapeutin bei unserem Erstgespräch. »Jetzt lerne ich dich also endlich kennen. Deine Mutter hat gesagt, dass wir uns mal unterhalten sollten. Magst du mir etwas über dich erzählen?«
Ich war ziemlich unschlüssig, wo ich anfangen sollte. Es war mir so unangenehm, eine Selbstdiagnose zu stellen. Also schob ich es einfach auf meine Mutter: »Meine Mutter sagt, ich esse zu wenig.«
Die Therapeutin nickte. »Und du? Findest du das auch?«
Ich wusste absolut nicht, was ich sagen sollte. »Ich … ich weiß nicht«, stotterte ich nur. »Wahrscheinlich schon. Ich habe so ein schlechtes Gewissen.« Nach und nach erzählte ich ihr, was in den letzten Monaten passiert war. Ich versuchte, möglichst nichts auszulassen.
»Du Arme«, warf sie immer wieder ein.
In den nächsten Stunden ließ mich meine neue Therapeutin mehrfach meinen eigenen BMI ausrechnen und gab mir außerdem einen Zettel mit, auf dem die möglichen Folgen der Magersucht aufgelistet waren. Sie sollten mich vermutlich abschrecken. Taten sie aber nicht. Ganz im Gegenteil: Meine kranke Magersuchtstimme sagte mir, dass ich endlich von anderen wahrgenommen wurde.
In der folgenden Zeit ging zu Hause alles mehr und mehr den Bach runter, weil wir in der Therapie keinen roten Faden fanden. Die Gespräche zwischen meiner Therapeutin und mir blieben oberflächlich. Jede Stunde ging es nur um mein weiter sinkendes Gewicht, die sogenannte Körperschemastörung und verbotene Lebensmittel. Aber selbst diese Erfahrung mit einer inkompetenten Therapeutin war im Nachhinein wichtig für mich. Ohne ein paar Wochen lang ausschließlich über mein Essverhalten zu sprechen, hätte ich vielleicht niemals erkannt, worum es bei meiner Krankheit eben nicht geht.
Mein Tipp
Wenn du merkst, dass die Chemie zwischen dir und deinem Therapeuten oder deiner Therapeutin nicht stimmt, solltest du einen Wechsel in Betracht ziehen. Allerdings ist es hier wichtig, sich ehrlich selbst zu fragen: Warum möchtest du den Therapeuten wechseln? Meine erste Therapeutin war auf keinen Fall unsympathisch, aber sie machte es mir zu bequem. Psychotherapie sollte ein sicherer Raum sein, aber kein Wünsch-dir-was-Programm. Man muss dabei über Dinge sprechen, die außerhalb der eigenen Komfortzone liegen. Gute Therapeuten reden dir nicht immer nach dem Mund, sie bedauern dich nicht, sondern helfen dir dabei zu wachsen. Deswegen frage dich: Magst du deinen Therapeuten nicht, weil er dir nicht weiterhilft oder weil er dich herausfordert?