Wie Wunder möglich werden - Günter Gunia - E-Book

Wie Wunder möglich werden E-Book

Günter Gunia

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Beschreibung

Günter Gunia steht wie kein anderer in Deutschland als Person für die nachweisbar erfolgreiche Anwendung von Akupunktur. Sein Weg führte ihn von der Schlosserlehre über das Studium der Ökonomie zur Medizin, die er als Landarzt zehn Jahre erfolgreich praktizierte. In den 1990er Jahren folgte ein Neuaufbruch: die Ausbildung am Akupunkturinstitut der Chinesichen Akademie für traditionelle Medizin in Peking. Heute praktiziert und lehrt er als Honorarprofessor und Beauftragter der Pekinger Akademie in Deutschland Traditionelle Chinesische Medizin: mit spektakulären Heilungserfolgen. In diesem Buch erzählt er von seinen außergewöhnlichen Erfahrungen und von dem unglaublichen Potenzial einer Heilkunde jenseits westlicher Apparatemedizin.

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Professor Dr. med. Günter Gunia

Wie Wunder möglich werden

Mein Weg zur chinesischen Medizin

Impressum

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2011

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Redaktion: Cornelia Tomerius

Umschlaggestaltung:

Agentur R•M•E Roland Eschlbeck und Rosemarie Kreuzer

Umschlagmotive:

Autorenfoto: Privat. Alle Rechte vorbehalten

Hintergrund: © Getty Images– Erhard Frost

Konvertierung Koch, Neff & Volckmar GmbH,

KN digital – die digitale Verlagsauslieferung, Stuttgart

ISBN (Buch): 978-3-451-32368-3

ISBN (E-Book): 978-3-451-33858-8

Inhaltsübersicht

Vorwort

Professor Dr. Friedrich Wallner

Zum Geleit

Professor Dr. Jürgen Beckmann

ERSTER TEIL Wie ich zum Chinesen wurde

1 Die Ankunft

2 Der Anfang

3 Erste Wunder

ZWEITER TEIL Wieder auf der Erde

4 Erste Patienten

5 Der Anruf

6 Plötzlich Lehrer

7 Teamwork und Tinnitus

8 Mit dem Ohr sehen

9 Ich bin ein Problem

10 Raum für TCM

11 Berlin, Berlin

12 Akupunktur im Adlon

13 Hannah

DRITTER TEIL Für eine andere Medizin

14 Von der Schwierigkeit des Forschens

15 Das Gespenst namens Placebo

16 Verteidigungskämpfe

17 Wo die Chemie stimmt

18 Was zu tun ist

Lebensdaten von Günter Gunia

Für Sabine

|7|Vorwort

DIE EUROPÄISCHE MEDIZIN – unsere Schulmedizin – und die Traditionelle Chinesische Medizin (TCM) sind heute die erfolgreichsten Medizinsysteme der Welt. Beide haben einen reichen Erfahrungshintergrund, doch eine total verschiedene wissenschaftliche Struktur: Ihre Methoden, Gesundheit zu erhalten und Krankheit zu heilen, sind grundlegend verschieden. Dies führte und führt in Europa zu vielen Missverständnissen und dilettantischen Anwendungen der Chinesischen Medizin – sowohl in englischen als auch in deutschen Lehrbüchern gibt es schwerwiegende Fehler.

Die genuin wissenschaftliche Behandlung der Chinesischen Medizin ist sehr schwierig und für den Arzt und erst Recht für den Laien schwer verständlich. Die naturwissenschaftlichen Untersuchungen der Chinesischen Medizin können wesentliche Inhalte und Strukturen nicht erfassen. Doch auch das Gegenteil – der Weg in eine esoterische Abkapselung – ist unbefriedigend und bedenklich.

Professor Dr.Günter Gunia beschreitet einen dritten Weg, der in der gegenwärtigen Situation der einzig überzeugende ist. Er verfügt nicht nur über einen großen Erfahrungsschatz als Schulmediziner, sondern hat auch in China eine gründliche Ausbildung für die Chinesische Medizin erhalten. Doch das Wichtigste |8|ist: Er ist Arzt mit Leib und Seele. Dies beflügelte seine Intuition und hat ihn medizinische Strukturen und Behandlungsmöglichkeiten erkennen lassen, die vielen anderen verschlossen blieben. Ich selbst kenne Günter Gunia seit vielen Jahren – sowohl als Wissenschaftler wie auch als Patient. Dabei hatte ich oftmals Gelegenheit, seine kreative Rezeption der Chinesischen Medizin zu bewundern.

Nach zahlreichen wissenschaftlichen Arbeiten zur Akupunktur ist nun das vorliegende Buch entstanden. In der Form einer medizinischen Biografie schildert es Gunias Entwicklung und Erfahrungen als Arzt und »Chinese«. Die Form der Darstellung zeigt bereits, was der Schulmedizin vielfach fehlt: die menschliche Nähe zwischen Patient und Arzt, wissenschaftliche Bescheidenheit, intellektuelle Phantasie und Humor. Dies sind wesentliche Bedingungen der Anwendung der Traditionellen Chinesischen Medizin im Westen; eine bloße Übertragung der Techniken würde wenig bringen.

Wissenschaftliche Bescheidenheit soll nicht missverstanden werden: Die Chinesische Medizin beruht auf einem hoch sophistizierten theoretischen Gerüst, dessen Komplexität die Schulmedizin überschreitet. Sie ist absolut keine einfache »Naturmedizin«. Zwei wesentliche Unterschiede zur schulmedizinischen Wissenschaft sind eindeutig: Erstens impliziert die TCM nicht, dass nur das, was wissenschaftlich erklärbar ist, zählt, und zweitens macht sie den Patienten zu keinem »Fall«. Deshalb ist ein direkter Vergleich der beiden Medizinsysteme in der für die Schulmedizin üblichen Methodik– Doppelblindverfahren, placebokontrollierte Studien, große Fallzahlen etc. – nicht zielführend, sondern methodologisch falsch; er reduziert das medizinische Potenzial der TCM beträchtlich. Deren eindrucksvolle Erfolge blieben unverständlich. Um die Chinesische Medizin zu verstehen und sie adäquat anzuwenden, muss man sich in ihr gänzlich anderes System hineindenken; dies ist Günter Gunia hervorragend gelungen.

|9|Am Ende seines Buches stellt er seine Vision – die sich mit meiner deckt – vor: die universitäre Ausbildung zur TCM.Diese würde nicht nur eine gewaltige – und immer notwendiger werdende – Bereicherung unseres Gesundheitssystems darstellen, sondern auch einen wesentlichen Beitrag zur geistigen Öffnung Deutschlands leisten. Je eher dies geschieht, desto besser für uns!

Professor Dr.Friedrich Wallner

Universität Wien

und Academy for Chinese Medical Sciences, Beijing

Peking, Mai 2011

|11|Zum Geleit

GEGEN ENDE DES vorigen Jahrhunderts saß ich an der Universität Potsdam im Büro eines Kollegen. Der Sohn des Kollegen führte einen Mann in das Büro, den er mir als Dr.Gunia vorstellte. Der Kollege ergänzte, »Dr.Gunia ist Chinese, er macht chinesische Medizin«. Anfang der 1990er Jahre hatte ich selbst meinen ersten Kontakt mit der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM) gehabt. Nachdem die Schulmedizin bei meiner chronischen Nebenhöhlenerkrankung nicht weitergekommen war, suchte ich in München einen Arzt für TCM auf, um mich mit Akupunktur behandeln zu lassen – obwohl ich mit meiner naturwissenschaftlichen Ausbildung daran absolut nicht glaubte. Zu meiner Überraschung begann bei mir »ungläubigem Thomas«, während ich mit gefühlten tausend Nadeln in Ohren, Händen und Füßen auf der Liege lag, nach wenigen Minuten die Nase zu laufen und frei zu werden. Nach einigen Monaten Akupunkturtherapie wurde mir von einem Spezialisten der Schulmedizin bescheinigt, dass er keine Probleme bei meinen Nebenhöhlen mehr sehen könne. Nach meinem Ruf an die Universität Potsdam wollte ich mich auch dort chinesisch behandeln lassen. Es gab dort »echte« Chinesen, die des Deutschen praktisch nicht mächtig waren und mich teilweise sehr schmerzhaft akupunktierten – leider aber keine heilenden |12|Wirkungen entfalten konnten. Damals verstand ich noch nicht, warum.

Etwa fünf Jahre später, im Büro des Potsdamer Kollegen, wollte mir der »deutsche Chinese« nun vorführen, wie er durch einen Blick in meine Ohren erkennen könne, was mir fehle. Meine Skepsis war sofort wieder da. Dr.Gunia schaute mir in die Ohren und teilte mir mit, er erkenne Rückenprobleme. Das fand ich nicht sonderlich überraschend. Es dürfte kaum Menschen meines Alters mit hauptsächlich sitzender Tätigkeit geben, die keine Rückenprobleme haben. Dann aber sagte Gunia, er könne auch erkennen, dass ich Probleme mit meinem rechten Knie habe. Das war höchst erstaunlich, denn er hatte mich nicht herumlaufen sehen. Tatsächlich laborierte ich seit mehr als einem halben Jahr an Schmerzen in meinem rechten Knie herum. Die Schulmedizin hatte dagegen kein erfolgreiches Rezept gefunden. Gunia setzte mir einige Nadeln gegen die Knieschmerzen und tatsächlich waren sie einige Tage später wie weggeblasen.

Diese Erfahrung konnte ich in der Folgezeit wiederholt machen. Natürlich stellte sich dabei auch die Frage, weshalb die echten Chinesen in Potsdam das nicht erreichen konnten, was der deutsche Chinese konnte? Was ist an diesem Dr.Gunia so besonders? Die Lektüre des vorliegenden Buches dürfte einiges davon offenbaren. Aus meiner Sicht liegt es unter anderem an der Neugier von Günter Gunia. Er begnügt sich nicht mit einfachen, einseitigen (Schein-)Lösungen, sondern versucht ein Phänomen umfassend und ganzheitlich zu verstehen. Dabei war und ist er stets offen für die vielfältigsten Erfahrungen. Als Persönlichkeitspsychologe kann ich sagen, dass sich dies in seinem Charakter widerspiegelt und in seinem Verhalten niederschlägt. Er schafft es mit seiner zurückhaltenden, freundlichen Art sehr schnell, eine Beziehung zum Patienten herzustellen, die psychologische Therapeuten als »Rapport« bezeichnen. Rapport ist gekennzeichnet durch gegenseitiges Vertrauen und emotionale |13|Kongruenz. Hier gehen Therapeut und Patient eine Art kurzzeitige Symbiose ein, in der sie gewissermaßen im Gleichklang schwingen. Sogar ihr Atemrhythmus gleicht sich einander an. Dazu kommt die Offenheit und gegenseitige Akzeptanz im Gespräch. Arzt und Patient begegnen sich auf gleicher Ebene. Das weicht sehr stark ab vom üblichen Arzt-Patient-Verhältnis in Deutschland, ist aber ein wichtiges Element der traditionellen chinesischen Medizin. Möglicherweise kann es im deutschen Kulturkreis nur schwer von echten Chinesen zu voller Blüte entwickelt werden. Es bedarf wohl eines »deutschen Chinesen« wie Günter Gunia.

Nach unserem damaligen ersten Zusammentreffen im Büro des Potsdamer Kollegen haben wir eine sehr erfolgreiche interdisziplinäre Zusammenarbeit begonnen. Es entstand ein Modell für eine ganzheitlich orientierte Gesundheitsfürsorge, das in Deutschland einzigartig war. Mittlerweile erkennt man an vielen Orten in Deutschland, dass eine technologisch spezialisierte Medizin dazu nicht in der Lage ist. Diese Erkenntnis ist neu für uns, für die Chinesen dagegen bereits jahrtausendealtes Wissen. Insofern mag Günter Gunia heute vielleicht manchmal den Eindruck haben, letztendlich von der Erde (China) doch wieder auf dem Mond (Deutschland) gelandet zu sein.

Professor Dr.Jürgen Beckmann

Dekan der Fakultät für Sport- und Gesundheitswissenschaft

Technische Universität München

|15|ERSTER TEIL

Wie ich zum Chinesen wurde

|17|1Die Ankunft

AUF DEM FLUR wird es plötzlich laut. Ich schaue nach, was los ist. Andreas steht da, mit nichts weiter bekleidet als einer Unterhose und einer Socke am rechten Fuß, die andere baumelt in seiner linken Hand. Er versucht, die Dame zu beruhigen, die sich vor ihm gerade lauthals echauffiert. Eine Zumutung sei ihr Zimmer, die reinste Bruchbude. Und ihr Badezimmer möge sie gar nicht betreten, bei all dem Getier, das da hemmungslos auf dem Boden herumkrabbelt. Ihre Stimme überschlägt sich vor lauter Aufregung. Andreas zuckt die Schultern, breitet die Arme aus mit den Handflächen nach vorn, die Geste derer, die gerade nichts ändern können, wobei die Socke in seiner Hand trostlos nach unten hängt, was den ganzen Anblick noch ein bisschen trauriger macht. Er sagt etwas, das im Wortschwall der anderen untergeht. Wäre ich nicht so müde, würde ich unserem Reiseleiter zur Seite springen. Würde die Frau daran erinnern, dass wir doch bereits vor der Fahrt gebeten wurden, uns auf einige Unannehmlichkeiten einzustellen, und dass China, auch wenn wir das Jahr 1990 schreiben, noch ein Entwicklungsland ist und vieles einfach nicht so funktioniert wie bei uns. Und dass wir schließlich auch nicht zum Vergnügen hier sind und uns doch in Anbetracht dessen durchaus mit den Umständen arrangieren könnten. Aber Andreas, das wird schnell klar, braucht mich |18|nicht. Durch seine souveräne Art oder durch seinen Mitleid erregenden Aufzug oder vielleicht auch aufgrund der unwiderstehlichen Kombination von beidem schafft er es bald, die Frau zu beruhigen. Also schließe ich die Tür, um endlich das zu tun, was ich schon seit Stunden möchte: einfach schlafen.

Ich schaue auf die Uhr. Hier in China ist es Mitternacht, doch in Deutschland erst 17Uhr. Kein Wunder, dass ich keinen Schlaf finde, obwohl ich nach dem langen Flug, den ganzen Empfängen und Treffen, die ich gleich nach der Ankunft absolvieren musste, hundemüde bin. Doch die innere Uhr ist unbarmherzig. Unbarmherzig ist auch der Nachbar, der offensichtlich ebenfalls nicht schlafen kann. Er hat angefangen, auf seiner Klarinette zu spielen, und dank der dünnen Wände sitze ich im Publikum in der ersten Reihe. Fassungslos starre ich an die Decke. Ein Schnaps wäre jetzt nicht schlecht. Doch eine Minibar suche ich in dem winzigen Hotelzimmer vergeblich. Dafür finde ich im Handgepäck die Großfamilienpackung Kirschpralinen, die ich mir in weiser Voraussicht im Duty Free Shop in Frankfurt gekauft hatte. Ich lege mich zurück auf die Matratze, schiebe mir eine Praline nach der anderen in den Mund und fixiere wieder die fleckige Decke über meinem Kopf. Und dann passiert, was auf Reisen wohl nicht selten geschieht, wenn man völlig übermüdet und gereizt ist, wenn die Bilder des Tages im Kopf Karussell fahren und einfach nicht zum Stillstand kommen wollen: Die elementaren Fragen des Seins schieben sich erbarmungslos ins Bewusstsein und fordern Antworten. Wo bin ich? Woher komme ich? Und wie, in aller Welt, bin ich nur hierher gelangt? Und schon fliegen die Gedanken durch Räume und Zeiten, so, wie nur wenige Stunden zuvor das Air-China-Flugzeug über die Länder auf seinem Weg von Frankfurt nach Peking.

|19|»JUNGE, DU SOLLST mal einen Beruf erlernen, in dem du weiße Hemden trägst!«, hatten meine Eltern gesagt, wenn es darum ging, was aus ihrem Sohn einmal werden sollte. Bloß keine schwarze Bergarbeiterkluft, wie sie mein Vater, der als Techniker untertage arbeitete, und so viele andere bei uns in Gelsenkirchen trugen, einer Stadt, geprägt von Steinkohle und Schwerindustrie. Stadt der »Tausend Feuer« wird sie auch genannt – nach den vielen Fackeln, über die das überschüssige Gas der Kokereien verbrannt wurde. Den weißen Kittel eines Arztes hatten meine Eltern vermutlich nicht gemeint. Eher das gebügelte Hemd eines kaufmännischen Angestellten.

Dass es tatsächlich in Richtung Arztkittel gehen könnte, realisierte ich auf dem erzbischöflichen Kolleg in Neuss, wo ich das Abitur nachmachte – nachdem ich während meiner Schlosserlehre gemerkt hatte, dass weder das Schlosser-Dasein noch der danach angepeilte Ingenieursberuf das Richtige für mich sein sollte. Es war eine harte Zeit damals auf dem Kolleg, die Anforderungen waren hoch und nicht alle meiner Mitschüler diesen gewachsen. Ich erlebte, wie einige von ihnen mit dem Stress überhaupt nicht zurechtkamen und in schwere psychische Krisen gerieten. Manche waren zeitweise nicht einmal mehr ansprechbar. Auch mich hat die Schulsituation sehr herausgefordert. Die hohe Belastung habe ich am eigenen Körper erfahren und somit die psychische Anfälligkeit des Menschen. Das Phänomen hat mich irritiert wie fasziniert. So entwickelte ich den Wunsch, Psychiater zu werden. Ich wollte die Psyche des Menschen besser kennenlernen und Leuten mit psychischen Problemen helfen können.

Doch einen Studienplatz für Medizin konnte ich nicht sofort nach dem Abitur antreten. Die Zeit bis dahin überbrückte ich mit ein paar Semestern Volkswirtschaftslehre, meinem Dienst bei der Bundeswehr und einem Jahr als ungelernter Hilfspfleger in einer geschlossenen Psychiatrie. Alle diese Stationen waren rückblickend betrachtet sinnvoll. Bei der Bundeswehr bin ich |20|nach der Grundausbildung zu den Sanitätern gewechselt, weil es mir eher lag, Menschen zu retten, statt auf sie zu schießen. Ich wollte helfen, heilen und wieder herrichten, was kaputt gemacht wurde. So lernte ich, wie man Verbände anlegt, Spritzen setzt, Wunden reinigt, Verletzte bergt – aber vor allem: dass mir das Medizinische liegt. In der Psychiatrie in Hannover Langenhagen habe ich danach genau ein Jahr und zwei Wochen gearbeitet. Ein Jahr hätte genügt, sage ich manchmal im Scherz, die zwei letzten Wochen waren zu viel. Wenn man bis zu vierzehn Stunden am Tag mit acht schwer psychisch Kranken in einem Zimmer eingesperrt ist, weiß man irgendwann nicht mehr, auf welcher Seite man eigentlich steht. Von den anderen unterscheidet man sich quasi nur noch durch den weißen Kittel – und durch den Schlüsselbund. Ich erinnere mich daran, wie es die Insassen einmal auf die Schlüssel abgesehen hatten und sich zusammentaten, um mich zu überwältigen. Ausgerechnet der Patient mit Stupor, einer Krankheit, bei der man sich nicht mehr bewegen kann und der Körper ganz steif ist wie ein Brett, hat die Situation für mich gerettet: Der Mann, der sonst immer nur teilnahmslos und – wie es schien – völlig in sich gekehrt auf seiner Pritsche lag, sprang plötzlich auf und schlug wie wild auf einen Stuhl ein. Natürlich schauten ihn alle überrascht an, der Schlüssel war vergessen. Es war das perfekte Ablenkungsmanöver. Der Patient, der übrigens auch noch Jesus hieß, verhinderte durch seine Aktion, dass mir die anderen gewaltsam den Schlüssel entwendeten, und er bewahrte mich dadurch vermutlich auch vor der einen oder anderen Blessur, wenn nicht Schlimmerem. Was mich viel mehr faszinierte als der Umstand, noch einmal davongekommen zu sein, war die Psychodynamik hinter dieser Verteidigungsaktion: Dieser Mann hatte wahrgenommen, was die anderen ausheckten, wollte einschreiten, konnte dies nur, indem er für einen kurzen Moment aus seiner Starre ausbrach – und war auf einmal sogar dazu in der Lage.

|21|Kurz danach erfuhr ich, dass ich in Hannover mein Medizinstudium beginnen konnte, fast von einem Tag auf den nächsten. Und da warteten ganz andere Herausforderungen auf mich. Gleich im ersten Semester hatten wir Anatomie, mussten also an Leichen die menschlichen Organe studieren und uns an ihnen mit dem Skalpell üben. Ich weiß noch, wie ich zum ersten Mal in diesem Hörsaal stand und verzweifelt gegen den Fluchtreflex sowie die Übelkeit ankämpfte. Was soll ich hier, fragte ich mich, ich möchte doch nur Psychiater werden und kein Chirurg. Doch wer Arzt werden will, muss da durch. Das galt auch für mich. Ich versuchte, mich zu überwinden, und nahm das Skalpell in die Hand. Schließlich sagte der Professor, was ich tun sollte. Er gab mir eine ganz konkrete Anweisung, und ab diesem Moment ging es. Ich war konzentriert und vermochte es, all meine anderen Gefühle auszublenden. Dennoch wurde ich nie ein Freund dieser Anatomie-Stunden, vielmehr wurde ich darin bestärkt, dass – bei allem handwerklichen Geschick, das ich mitbrachte und unter Beweis stellte – die Chirurgie nicht mein Berufsziel sein würde. Allerdings: In der praktischen Auseinandersetzung habe ich natürlich sehr viel gelernt und erfahren – sehr viel mehr als mir Bücher hätten beibringen können.

Während meines ganzen Studiums habe ich immer die Praxis gesucht und die Zeit lieber in der Klinik als in der Bibliothek verbracht. Zwei Studienfreunde von mir hielten es genauso. Irgendwann hatten wir uns angewöhnt, morgens um acht Uhr in die Pathologie zu gehen und um zwölf Uhr dem Treffen zwischen Klinikern und Professoren beizuwohnen, in dem die jüngsten Fälle besprochen und analysiert wurden. Ich habe die Szenerie noch genau vor Augen – wie die Professoren oben auf dem Podest standen wie auf einer Bühne und ihre Diagnostik und Therapie erklärten, während die Pathologen unten anhand der entnommenen, erkrankten Organe vor ihnen auf den Tischen zeigten, was das Problem des Patienten gewesen war und |22|woran er gestorben ist. Man konnte als Student an diesen Treffen teilnehmen, musste es jedoch nicht. Für mich und meine Freunde waren sie bald Pflichttermine. Hier haben wir vermutlich am meisten gelernt, weil wir hier auch unmittelbar Einsicht in ärztliche Fehler bekamen – waren die Therapien doch offensichtlich nicht immer erfolgreich gewesen.

Während des Studiums arbeitete ich in einem Krankenhaus, wo ich Nachtdienste leistete. Es war das Klinikum Großburgwedel, eine halbe Stunde außerhalb von Hannover. »Frère de Nuit« nannten mich die Schwestern liebevoll, Bruder der Nacht. Für mich war die Arbeit nicht nur reich an neuen Erfahrungen, sondern auch notwendig. Im Jahr 1976 war mein Sohn geboren worden, ich musste plötzlich eine Familie ernähren und hatte mit Studium und Job natürlich ganz schön zu tun. Einmal schob ich in drei Monaten 52Nächte Dienst. Tagsüber konnte ich mich kaum mehr wachhalten und musste Kollegen und Kommilitonen bitten, mich aufzuwecken, sollte der Schlaf mich übermannen.

In dem Krankenhaus in Großburgwedel habe ich dann auch im letzten Jahr meines Medizinstudiums mein Praktisches Jahr (PJ) absolviert. In zwölf Monaten hatte man damals drei Stationen zu durchlaufen. Innere Medizin und Chirurgie waren Pflicht, die dritte konnte man frei wählen. Ich entschied mich für die Gynäkologie. Die Innere Medizin war meine erste Station und die Arbeit dort hat mich sehr begeistert. Ohnehin hatte ich mich im Laufe meines Studiums schon langsam von dem Wunsch, Psychiater zu werden, verabschiedet. Die Innere Medizin schien mir ein guter Kompromiss, wird ihr doch zum Beispiel auch die Psychosomatik zugeordnet. In der Abteilung für Innere Medizin fühlte ich mich angekommen, hier schob ich sogar an den Wochenenden freiwillig und unbezahlt Dienst, um noch mehr praktische Erfahrungen zu sammeln, aber auch, um bloß nichts zu verpassen. Am liebsten wäre ich bei sämtlichen |23|Vorgängen – von der Aufnahme oder Einlieferung des Patienten über die Therapie und Visiten bis zur Entlassung und Nachsorge – dabei gewesen.

So viel Interesse ich der Inneren Medizin entgegenbrachte, so viel Respekt, wenn nicht gar etwas Furcht, hatte ich vor der Chirurgie. Bezeichnenderweise kam ich an meinem ersten Tag auf der chirurgischen Station als Patient durch die Tür. Ich hatte einen schlimmen Motorradunfall, war bei 80 bis 100Stundenkilometern in einen abbiegenden Lkw gefahren. Bei meiner Maschine war der rechte Zylinder abgebrochen und der gesamte Antrieb aus dem Rahmen gesprungen. So etwas überlebt man eigentlich nicht, aber ich hatte offensichtlich meine Aufgabe auf Erden noch nicht erfüllt und mir lediglich eine Fraktur des rechten Handgelenkes und der linken Schulter sowie diverse Platz- und Schürfwunden zugezogen. Bei der Frage nach der Unfallursache könnte man natürlich auch die Psyche heranziehen und vermuten, dass ich abgelenkt, weil in Gedanken schon im OP war, was mich ironischerweise genau dorthin brachte, wo ich eigentlich gar nicht hinwollte. So ganz falsch ist diese Vermutung nicht. Ich war in der Tat während der Fahrt mit meinen Gedanken nicht ganz auf der Straße. Und es waren keine schönen Gedanken, die mich vom Verkehr ablenkten: Aber nicht die Arbeit, das Private hatte mich beschäftigt. Ich kam von einem Kaffeetrinken mit meiner Frau. Wir waren gerade dabei, uns zu trennen.

Meine Zeit in die Chirurgie begann also als Patient auf dem Röntgentisch liegend, mit einer Tasse schwarzem Kaffee auf dem Brustkorb und einer Zigarette in der Hand, und all meine Lieblingskollegen waren da: meine Lieblingsassistentinnen aus der Röntgen- und Laborabteilung, der netteste Chirurg des ganzen Krankenhauses und meine Lieblingsambulanzschwester. Nach elf Tagen wurde ich als Patient von der Station entlassen. Trotz des unrühmlichen Starts oder vielleicht auch gerade deshalb habe ich die folgenden Wochen dort dann gut gemeistert. Im |24|Prinzip funktionierte es ähnlich wie im Anatomie-Hörsaal im ersten Semester. Sobald ich eine konkrete Aufgabe bekam und wusste, was ich zu tun hatte, war alles nicht mehr so schlimm. Dann konnte ich die Gefühle beiseiteschieben und habe einfach funktioniert. Auch später als Notarzt war das so. Viele haben mich damals gefragt, wie ich bloß damit klarkommen könne: mit dem furchtbaren Anblick der Verletzten bei Verkehrsunfällen, dem ganzen Leid, dem Stress. Dabei war es eigentlich ganz einfach. Es ging zunächst ausschließlich darum, zu tun, was getan werden musste. Später dann, wenn die Patienten versorgt waren, ließ ich Emotionen zu, keine Sekunde vorher. Dann also, wenn alles vorbei war, steckte ich mir eine Zigarette an – damals rauchte ich noch – und realisierte oft erst in dem Moment der Muße, was eigentlich geschehen war. Und so habe ich es immer gut geschafft, emotional belastende Situationen mit rationalem Denken zu entspannen. Belastender waren später Momente als Arzt, als es kein Leben mehr zu retten gab. Wie zu der Zeit, als ich innerhalb von zwei Wochen zunächst die Anatomie eines völlig zerstörten Körpers auf hundert Meter Bahngleisen zu rekonstruieren hatte, um dann wenige Tage später die Leiche eines ertrunkenen Kindes auf Missbrauchspuren zu untersuchen und mich zuletzt in einer Wohnung befand, in der sich eine Frau mit beidseits geöffneten Pulsadern noch kurz vor ihrem Tod die Bestattungskleidung zurechtgelegt hatte. Um solche Momente zu verarbeiten, hat es Wochen und Monate gebraucht.

MEINE LETZTE STATION während des Praktischen Jahrs verbrachte ich in der gynäkologischen Abteilung. Hier machte ich eine Erfahrung, die mich in meinem ärztlichen Leben stark prägen sollte. Bei einer der herkömmlichen Visiten wurde eine junge Frau, die gerade einen Schwangerschaftsabbruch vor sich hatte, vor versammelter Mannschaft gefragt, warum sie die Abtreibung |25|vornehmen wolle. Dies allein war schon schlimm genug. Aber die Patientin befand sich zudem noch auf dem Gynäkologenstuhl, also in einer ohnehin nicht gerade würdigen Position. Die Frau rang nach Worten und mit den Tränen, und sie tat mir furchtbar leid. Nach der Visite ging ich eigens noch einmal zu ihr, um ihr zu sagen, dass ich das Verhalten der Kollegen äußerst unsensibel fand. Damals wurde mir zum ersten Mal die psychische Belastung bewusst, die eine Abtreibung beziehungsweise die Entscheidung zu diesem Schritt mit sich bringt. In der Folge habe ich mich mit den psychischen Auswirkungen von Schwangerschaftsabbrüchen beschäftigt und zu dem Thema auch einen psychotherapeutischen Workshop besucht. Dort analysierten wir zum Beispiel Bilder, die Frauen nach einem Schwangerschaftsabbruch gemalt hatten. Wieder einmal war ich also bei dem Thema Psyche angekommen und ihrer Bedeutung im Arzt-Patient-Verhältnis. Das Thema hat mich nie mehr losgelassen.

Meine Doktorarbeit schrieb ich dann aber in der Gerichtsmedizin. Nach meinem Examen im Jahr 1984 arbeitete ich in verschiedenen Kliniken im Raum Hannover in den üblichen Schichtdiensten. Meine Urlaubstage nutzte ich oft dazu, Kollegen zu vertreten. Einmal übernahm ich dabei auch die Urlaubsvertretung für einen Landarzt. Seine Praxis lag am Stadtrand von Hannover. Er selbst war schon etwas älter, hatte einen Herzinfarkt gehabt und seitdem Herzrhythmusstörungen. Zunächst suchte er nur jemanden, der die Praxis führte, während er sich in der Kur rehabilitieren wollte, aber eigentlich hielt er langfristig nach jemandem Ausschau, der die Praxis übernahm, so dass er sich zur Ruhe setzen konnte. Ich wusste das. Was ich nicht wusste: dass ich es sein sollte.

Am ersten Tag nach meiner Urlaubsvertretung war ich mit dem Arzt in der Praxis verabredet, um die Übergabe vorzunehmen und zu berichten, wie es in seiner Abwesenheit gelaufen |26|ist. Doch der Mann wollte gar nicht über seine Patienten reden. Er fragte mich direkt, ob ich nicht in seine Praxis einsteigen wolle. Merkwürdigerweise musste ich gar nicht lange überlegen. Meine Antwort war klar. Ich konnte es mir wirklich sehr gut vorstellen. In den letzten Wochen hatte ich gemerkt, dass mir die Arbeit als Allgemeinmediziner sehr lag, dass ich gern mein eigener Chef war und dass ich den engen Kontakt zu den Patienten mochte. Zu einigen von ihnen hatte ich bereits ein sehr gutes Verhältnis aufgebaut, manche würde ich vermutlich sehr vermissen, wenn ich wieder zurück in der Klinik wäre, bei der ich gerade unter Vertrag stand.

»Wann soll ich anfangen?«, fragte ich.

»Sofort.«

»Was heißt sofort?« Ich dachte daran, dass ich in der Klinik erwartet wurde, um meinen Dienst dort anzutreten.

»Na, heute«, sagte mein Vorgänger und zuckte die Achseln.

Und so wurde ich quasi von jetzt auf gleich Landarzt mit einer eigenen Praxis. Mit der Klinik konnte ich mich schnell einigen, die Ärzte dort waren natürlich an einem guten Verhältnis zu den allgemeinmedizinischen Praxen interessiert und legten mir keine Steine in den Weg. Ich konnte also mein neues Leben beginnen.

Es handelte sich um eine kleine verträumte Landarztpraxis, die recht gut lief, aber technisch großen Nachholbedarf hatte. Also rüstete ich sie ein wenig auf. Ich kaufte ein Ultraschallgerät für Bauch- und Schilddrüse, Ultraschallgeräte für die Gefäße, ein Ultraschallgerät für das Herz, ein Lungenfunktionsgerät, Endoskope für den oberen und unteren Verdauungstrakt und einen EKG-Messplatz. So konnte ich auch kardiologisch und gastroentologisch arbeiten. 1,3Millionen Mark investierte ich innerhalb der ersten drei Jahre – in eine Praxis, die bei meiner Übernahme 200.000Mark Jahresumsatz machte. Das war kein Pappenstiel. In den ersten Jahren habe ich mit der Praxis nichts verdient. |27|Das Geld kam über die Notdienste an Mittwochnachmittagen und am Wochenende rein, in den Zeiten also, in denen ich keine Sprechstunde hatte.

Doch die Praxis lief bald sehr gut und immer besser. Schon im ersten Jahr verbuchte ich einen Umsatz von 330.000Mark, im dritten schon fast das Doppelte und zwei Jahre darauf waren es schon über eine Million. Meine Praxis gehörte bald zu den Top 100 in ganz Deutschland – für den kleinen Vorort, in dem sie lag, war das schon bemerkenswert. Und es gab sogar noch einen Kollegen dort, der es in die Top 5 geschafft hatte. Zu einer seiner Patientinnen soll er einmal gesagt haben: »Also wenn du eine Krankschreibung brauchst, dann komm zu mir, ich schreib dich krank. Wenn du gesund werden willst, dann geh zu Günter Gunia, der macht dich gesund.«

Mein Ruf war nicht der schlechteste. Doch wie oft wünschte ich, der Kollege hätte recht gehabt und ich könnte sie wirklich alle gesund machen. Man lernt ja schon im Studium, dass das nicht geht, dass man als Mediziner sehr oft an seine Grenzen stößt. Es fiel mir schwer, dies zu akzeptieren, ich wollte sie ein bisschen ausreizen, nach hinten verschieben, diese Grenzen. Ohnehin hatte ich einen großen Ehrgeiz. Im Prinzip wollte ich alles besser machen als andere Ärzte, vor allem wollte ich mir Zeit nehmen für die Patienten. Als Kind war ich oft krank und hatte erleben müssen, wie Ärzte, die mich kaum angesehen hatten, schon ein Rezept ausfüllten. So wollte ich nie sein. Außerdem wollte ich meinen Patienten so viel wie möglich bieten können und sie nicht wegen jeder Kleinigkeit zum Kollegen oder in die Klinik überweisen. Also machte ich verschiedene Zusatzausbildungen und beschäftigte mich etwa mit Gefäßheilkunde, Venenheilkunde und Diabetologie. Auch psychotherapeutisch bildete ich mich ständig weiter. Ich hatte viele Untersuchungsmethoden im Angebot, die es in anderen Praxen nicht gab. Sogar gynäkologische Untersuchungen führte ich durch. Es war für mich bald |28|selbstverständlich, meine Patienten ganzheitlich zu behandeln, am liebsten hätte ich ihnen eine Rundumversorgung angedeihen lassen. Warum auch sollte ich die Patienten, die mir ein großes Vertrauen entgegenbrachten und deren Krankengeschichten ich genauso gut kannte wie nicht selten auch die gesamte Familiengeschichte, zu Kollegen überweisen, die sie nicht kannten, wo es doch anders ging. Der Preis dieser Einstellung war natürlich die Last großer Verantwortung. Wie oft lag ich nachts wach und ging in Gedanken noch einmal alle Patienten des Tages durch. Ich fragte mich, ob ich sie richtig behandelt und alles für sie getan hatte, was in meiner Macht stand. Erst wenn ich überzeugt davon war, konnte ich einschlafen. Und wie oft gab es Patienten, die mich wach hielten, deren Krankheiten und Leiden mir den Schlaf raubten, weil ich ihnen nicht weiterhelfen konnte, weil ich mit meinem Latein am Ende war.

SO WAR ICH sehr hellhörig, als mich eines Tages Bernd, ein befreundeter Dermatologe, anrief, um mir ganz euphorisch von einem Vortrag zu berichten, den er an der Uni Hannover gehört hatte. Es ging um Akupunktur.

»Günter, du glaubst nicht, was mit Akupunktur alles möglich ist!« Bernd schrie regelrecht ins Telefon, weshalb ich den Hörer ein wenig vom Ohr wegdrehte. »Gerade bei chronisch kranken Patienten ist der Behandlungserfolg sensationell!«

Es war natürlich nicht das erste Mal, dass ich von Akupunktur gehört habe. Akupunktur wird in Deutschland seit Anfang der 1950er Jahre praktiziert und gelehrt. Heribert Schmidt, Erich Stiefvater und Gerhard Bachmann gründeten 1951 die Gesellschaft für Akupunktur, die später in Deutsche Gesellschaft für Akupunktur umbenannt wurde. Bachmann, der als Wegbereiter der Akupunktur in Deutschland gilt, hatte die Nadeltechnik in Frankreich von Roger de la Fuye gelernt. Dieser wiederum war |29|ein Schüler jenes Soulie de Morant (1878–1955), der als französischer Diplomat in China gelebt und zurück in Frankreich die Akupunktur in Europa salonfähig gemacht hatte. Morant gilt als Vater der westlichen Akupunktur, ist aber nicht unumstritten. Seine Übersetzungen einiger Akupunkturklassiker sind mehr als fragwürdig, und es scheint, dass er weder – entgegen seiner ohnehin sehr widersprüchlichen Äußerungen über seine Reisen, Anstellungen und Fertigkeiten – jemals in China an Patienten praktiziert noch die chinesischen Konzepte dieser Lehre tatsächlich verstanden hat. Sein Verdienst jedoch ist, dass durch ihn die Akupunktur in Europa bekannt geworden ist. Gänzlich unbekannt war sie zuvor zwar nicht: Der niederländische Chirurg Isaac Titsing hatte gegen Ende des 18.Jahrhunderts von Reisen für die Ostindiengesellschaft aus Asien die Übersetzung eines Akupunkturstandardwerks und eine Akupunkturpuppe mitgebracht – allerdings auch ein gefährliches Halbwissen und eine bedrohliche Experimentierfreude. In seinen Behandlungen, die er zurück in der Heimat durchführte, stach Titsing seinen Patienten auch schon mal mitten ins Herz, und er unternahm sehr schmerzhafte und erfolglose Versuche mit der Galvano-Akupunktur, einer Art Elektro-Akupunktur. Titsings Wirken trug nicht dazu bei, dass Akupunktur in Europa auf großes Interesse stieß, im Gegenteil. Das war viele Jahrzehnte später das Verdienst der Franzosen, die aufgrund ihrer Kolonien in Indochina mit der dortigen traditionellen Medizin in engeren Kontakt kamen und das Wissen darüber Anfang des 20.Jahrhunderts nach Europa brachten. 1939 erschien Morants mehrbändiges Werk über die Akupunktur und kam in Frankreich zu einer gewissen Verbreitung und Akzeptanz. In Deutschland entwickelte sich die Akupunktur in den 1950er und 1960er Jahren zunächst sehr langsam. Zu exotisch war die asiatische Methode und vielleicht auch zu östlich für ein Land, das in den Wirtschaftswunderjahren weit nach Westen schaute – über den Atlantik und nicht nach Fernost. Damals gab es nur |30|knapp hundert Ärzte, die in Deutschland Akupunktur praktizierten. Erst als US-Präsident Nixon 1972 die Volksrepublik China besuchte, die nach der Kulturrevolution gerade begann, sich wieder zu öffnen – es war der erste Staatsbesuch eines amerikanischen Präsidenten in China–, nahm mit dem Interesse an dem asiatischen Riesenland auch das an der Akupunktur deutlich zu. Zumal es jetzt auch erst wieder möglich wurde, sich mit chinesischen Ärzten auszutauschen. Ende der 1970er Jahre gründeten sich weitere Akupunkturfachgesellschaften in Deutschland. Es wurde vermehrt ausgebildet, die Zahl der Akupunkteure stieg auf einige Tausend. An manchen Universitäten, wie etwa in Gießen oder Heidelberg, wurden sogar Akupunkturambulanzen eingerichtet. Die ersten Forschungsergebnisse, die von dort kamen, lösten natürlich eine rege, kontroverse Diskussion aus. Was nicht von der Hand zu weisen war: dass Akupunktur, vor allem im Bereich der Schmerztherapie, wirkte. Viele Schmerzkliniken integrierten die asiatische Methode in ihr Therapiespektrum, was aber nicht verhinderte, dass man sie weiterhin mit großer Skepsis betrachtete und ihre Wirkung häufig ausschließlich einem reinen Placebo-Effekt zuschrieb. Verschiedene klinische Studien an Patienten mit chronischen Schmerzen hatten ergeben, dass sich zwar in 55 bis 85Prozent der Fälle das Krankheitsbild besserte, sofern echte Akupunkturpunkte genadelt wurden, aber die Behandlung an Placebo-Punkten immerhin noch die beachtliche Erfolgsquote von 33 bis 50Prozent lieferte. Andere Placebo-Methoden – bei denen etwa Nadeln nur auf die Haut gedrückt, jedoch nicht eingestochen werden – wirkten sogar noch bei 30 bis 35