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Nach dem Schwarzen Freitag von 1929 ist nichts mehr wie zuvor. Das muss in
Wiedersehen mit Babylon auch der Börsenspekulant Charlie Wales erfahren. Schnell hat er sein Vermögen gemacht, noch schneller hat er es wieder verloren. Charlie kehrt nach Paris zurück, sein Geld ist weg, die Frau tot, die kleine Tochter will man ihm nicht anvertrauen und selbst die Ritz-Bar ist leer.
Geschichten aus den Jahren 19291934, über Gewinn und Verlust über das Leben in Zeiten der Krise.
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Seitenzahl: 699
F. Scott Fitzgerald
Wiedersehen
mit Babylon
Erzählungen
Herausgegeben von Silvia Zanovello
Aus dem Amerikanischen von
Bettina Abarbanell, Christa Hotz,
Renate Orth-Guttmann, Alexander Schmitz,
Christa Schuenke, Walter Schürenberg
und Melanie Walz
Mit einem Nachwort von Daniel Kampa
Nachweis der einzelnen Erzählungen
am Schluss des Bandes
Umschlagillustration: Création Anna,
›Lui et Moi – Smoking du Soir‹, 1926
Alle deutschen Rechte vorbehalten
Copyright © 2012
Diogenes Verlag AG Zürich
ISBN Buchausgabe 978 3 257 24183 9 (1. Auflage)
ISBN E-Book 978 3 257 60142 8
Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.
[5] Inhalt
Wie du mir… [9]
›Two Wrongs‹, deutsch von Christa Schuenke
Die Hochzeitsparty [45]
›The Bridal Party‹, deutsch von Walter Schürenberg
Eine Reise ins Ausland [75]
›One Trip Abroad‹, deutsch von Walter Schürenberg
Wiedersehen mit Babylon [114]
›Babylon Revisited‹, deutsch von Walter Schürenberg
Ganz allein [148]
›On Your Own‹, deutsch von Melanie Walz]
Ein neues Kapitel [177]
›A New Leaf‹, deutsch von Melanie Walz
Seelischer Bankrott [201]
›Emotional Bankruptcy‹, deutsch von Melanie Walz
Klassenwechsel [230]
›A Change of Class‹, deutsch von Christa Hotz und Alexander Schmitz
[6] Ausgeschieden [262]
›A Freeze-Out‹, deutsch von Christa Hotz und Alexander Schmitz
Flucht und Verfolgung [300]
›Flight and Pursuit‹, deutsch von Melanie Walz
Familie im Sturm [329]
›Family in the Wind‹, deutsch von Christa Schuenke
Der ungedeckte Scheck [364]
›The Rubber Check‹, deutsch von Christa Hotz und Alexander Schmitz
So ein schönes Paar [403]
›What a Handsome Pair!‹, deutsch von Bettina Abarbanell
Verrückter Sonntag [436]
›Crazy Sunday‹, deutsch von Walter Schürenberg
Genau nach Plan [466]
›On Schedule‹, deutsch von Christa Hotz und Alexander Schmitz
Mehr als nur ein Haus [501]
›More Than Just a House‹, deutsch von Melanie Walz
Die Familienkutsche [539]
›The Family Bus‹, deutsch von Melanie Walz
Keine Blumen [581]
›No Flowers‹, deutsch von Melanie Walz
[7] Hundert Fehlstarts [614]
›One Hundred False Starts‹, deutsch von Renate Orth-Guttmann
Nachwort von Daniel Kampa [629]
Leben und Werk [653]
Editorische Notiz [657]
[9] Wie du mir…
I
»Guck mal die Schuhe«, sagte Bill, »– achtundzwanzig Dollar.«
Mr. Brancusi guckte. »Schnieke.«
»Maßanfertigung.«
»Dass du ’n feiner Pinkel bist, war mir auch so bewusst. Du hast mich ja wohl nicht hier raufkommen lassen, um mir deine neuen Schuhe zu zeigen, oder?«
»Ich bin doch kein feiner Pinkel. Wer sagt ’n das, dass ich ’n feiner Pinkel bin?«, wollte Bill wissen. »Bloß weil ich ’ne Ecke gebildeter bin als die meisten Leute im Showgeschäft?«
»Na ja, und zusätzlich bist du halt ein hübscher junger Kerl«, sagte Brancusi trocken.
»Klar bin ich das – im Vergleich zu dir allemal. Die Mädels denken immer, ich bin Schauspieler, bis sie dann dahinterkommen… Hast du mal ’ne Zigarette? Und was noch wichtiger ist, ich sehe aus wie ein Mann – was du von den meisten hübschen Bürschchen rund um den Times Square herum nicht unbedingt behaupten kannst.«
»Gutaussehend. Feiner Herr. Feine Schuhe. Ein richtiger Glückspilz eben.«
[10] »Da irrst du dich«, widersprach Bill. »Köpfchen. Drei Jahre – neun Shows – vier Riesenerfolge – nur ein einziger Flop. Wie kommst du darauf, dass das was mit Glück zu tun hat?«
Brancusi, leicht gelangweilt, guckte einfach geradeaus. Hätte er nicht die Augen auf »blind« geschaltet und an etwas anderes gedacht, dann hätte er einen jungen Iren mit rosigem Gesicht gesehen, der ein derartiges Selbstvertrauen ausstrahlte, dass einem schier die Luft knapp wurde im Büro. Brancusi wusste: Nicht mehr lange, und Bill würde merken, was er gerade für eine Tonlage draufhatte, und würde verschämt die Stimmung wechseln und den Überlegenen, Zurückhaltenden geben, den Empfindsamen, den Freund der Künste, ganz nach dem Beispiel der Intellektuellen von der Theatervereinigung. Bill McChesney war noch nicht ganz eins mit sich, zu welcher Seite er gehören wollte, so ein Verschnitt wie der ist in der Regel frühestens mit dreißig reif.
»Nimm zum Beispiel Ames, nimm Hopkins, nimm Harris – nimm irgendeinen von denen«, insistierte Bill. »Was haben die denn schon zu bieten – im Vergleich zu mir? Was ist los? Willst du was zu trinken?« Er hatte Brancusis Blick zu dem Schrank auf der anderen Seite des Zimmers hinüberwandern sehen.
»Vormittags trinke ich grundsätzlich nichts. Ich hab mich bloß gefragt, was das da draußen für ein Geklopfe ist. Sorg doch gefälligst dafür, dass das aufhört. Das macht mich ja ganz fusselig, richtig irre macht mich das.«
Bill ging rasch zur Tür und riss sie auf.
»Niemand da«, sagte er… »Hallo! Was wollen Sie?«
[11] »Oh, tut mir ja so leid«, antwortete eine Stimme, »tut mir schrecklich leid. Ich war so aufgeregt, ich hab gar nicht gemerkt, dass ich diesen Stift hier in der Hand hab.«
»Ja, und was wollen Sie?«
»Ich will zu Ihnen, und die Sekretärin sagt, Sie sind beschäftigt. Ich habe einen Brief für Sie von Alan Rogers, dem Theaterautor – den wollte ich Ihnen gern persönlich übergeben.«
»Ich bin beschäftigt«, sagte Bill. »Gehen Sie zu Mr. Cadorna.«
»Da war ich schon, aber der hat mir nicht viel Mut gemacht, und Mr. Rogers hat gesagt –«
Brancusi kam neugierig angeschlichen und musterte sie mit einem kurzen Blick. Sie war sehr jung, hatte schönes rotes Haar und mehr Charakter im Gesicht, als man bei ihrem Geplapper erwartet hätte; dass das damit zusammenhängen könnte, dass sie aus Delaney, South Carolina, stammte, kam Mr. Brancusi nicht in den Sinn.
»Was soll ich denn nun machen?«, fragte sie und legte ihre Zukunft seelenruhig in Bills Hände. »Ich habe Mr. Rogers einen Brief überbracht, und daraufhin hat er mir diesen hier für Sie gegeben.«
»Und was soll ich jetzt machen – soll ich Sie heiraten, oder was?«, explodierte Bill.
»Ich möchte gerne eine Rolle in einem von Ihren Stücken haben.«
»Dann setzen Sie sich hin und warten Sie. Ich bin beschäftigt… Wo ist denn Miss Cohalan?« Er drückte auf die Klingel, warf dem Mädchen noch einen mürrischen Blick zu und schloss seine Bürotür. Doch während dieser [12] Unterbrechung war seine Stimmung abermals umgeschlagen, und als er sein Gespräch mit Brancusi nun fortsetzte, hatte er einen Ton, als wäre er sich in Bezug auf die künstlerische Zukunft des Theaters voll und ganz mit Reinhardt einig.
Um 12 Uhr 30 hatte er alles vergessen, alles bis auf die Tatsache, dass er im Begriff stand, der größte Theaterproduzent der Welt zu werden, und dass er mit Sol Lincoln zum Essen verabredet war, um ihm dies mitzuteilen. Und so kam er nun aus seinem Büro hervor und sah Miss Cohalan erwartungsvoll an.
»Mr. Lincoln schafft’s nicht, sich mit Ihnen zu treffen«, sagte sie. »Die Minute hat er angerufen.«
»So, die Minute«, wiederholte Bill wie vor den Kopf geschlagen. »Na schön. Streichen Sie ihn halt für Donnerstagabend von der Liste.«
Miss Cohalan zog einen Strich auf dem Blatt Papier, das vor ihr lag.
»Sie haben mich doch nicht etwa vergessen, nicht wahr, Mr. McChesney?«
Er drehte sich nach dem rothaarigen Mädchen um.
»Nein«, sagte er hinhaltend, und dann, zu Miss Cohalan gewandt: »Also, das geht in Ordnung; laden Sie ihn trotzdem ein für Donnerstag. Soll er sich zum Teufel scheren.«
Er hatte keine Lust, alleine Mittag essen zu gehen. Er hatte jetzt überhaupt keine Lust, irgendwas alleine zu machen, weil es, wenn man bekannt und mächtig war, einfach viel mehr Spaß machte, in Gesellschaft zu sein.
»Kann ich Sie denn nicht rasch sprechen, bloß zwei Minuten –«, fing sie wieder an.
»Ich fürchte, das geht jetzt nicht.« Doch da bemerkte er [13] auf einmal, dass sie das schönste Wesen war, dass er jemals gesehen hatte.
Er starrte sie an.
»Mr. Rogers hat gesagt –«
»Kommen Sie mit, wir gehen einen Happen essen«, sagte er, und dann gab er vor, es ganz furchtbar eilig zu haben, erteilte Miss Cohalan rasch noch ein paar sich gegenseitig ausschließende Anweisungen und hielt der Kleinen die Tür auf.
Draußen auf der Forty-second Street atmete er das ihm zustehende Quantum Luft ein – die Luft reicht dort immer nur für wenige Leute gleichzeitig. Es war November, der erste Rausch der Spielzeit war vorüber, aber er brauchte bloß in Richtung Osten zu schauen, schon sah er eines seiner Stücke in Leuchtschrift angekündigt, und schaute er in Richtung Westen, war dort ebenfalls eines angezeigt. Und gleich um die Ecke lief das Ding, das er mit Brancusi zusammen produziert hatte – nie wieder würde er sich auf so eine Gemeinschaftsproduktion einlassen.
Sie gingen ins Bedford, wo die Kellner und Oberkellner bei ihrem Eintreten einen gewaltigen Wirbel veranstalteten.
»Was für ’n reizendes Restaurant«, sagte die Kleine beeindruckt und ganz darauf eingestellt, sich gesellig geben zu müssen.
»Das Paradies der Knallchargen.« Er nickte etlichen Leuten zu. »Hallo, Jimmy – Bill… Tach, Jack… Das ist Jack Dempsey… Ich komm nicht oft hierher zum Lunch. Normalerweise esse ich im Harvard Club.«
»Oh, Sie waren in Harvard? Ich kannte mal einen –«
[14] »Ja.« Er zögerte; zu Harvard gab es zwei Versionen; er entschied sich spontan für die wahre. »Ja, und für die Leute dort war ich schlicht das Landei, aber das war mal. Letzte Woche war ich draußen auf Long Island bei Gouverneur Haights – sehr elegante Leute – paar Burschen von der Gold Coast, für die ich seinerzeit in Cambridge Luft war, kamen gleich angerannt von wegen ›Hallo Bill, alter Junge‹ und so.«
Er überlegte kurz und beschloss spontan, die Geschichte nicht weiter zu vertiefen.
»Was wollten Sie noch mal – eine feste Stelle?«, fragte er. Plötzlich fiel ihm wieder ein, dass sie Löcher in den Strümpfen hatte. Löcher in den Strümpfen, das hatte so was Rührendes, da wurde er immer ganz weich.
»Ja, sonst muss ich nämlich wieder heimfahren«, sagte sie. »Ich möchte Tänzerin werden – russisches Ballett, wissen Sie. Aber die Stunden sind so teuer, darum brauch ich eine feste Stelle. Dann krieg ich auch gleich irgendwie Bühnenerfahrung, hab ich mir gedacht.«
»Hupfdohle, ja?«
»O nein, was Seriöses.«
»Na, die Pawlowa ist doch auch bloß ’ne Hupfdohle, oder nicht?«
»Aber nein!« Sie war ganz schockiert über so viel Blasphemie und musste sich erst mal kurz erholen, eh sie fortfahren konnte: »Ich hab bei Miss Campbell Unterricht gehabt – Georgia Berriman Campbell – bei uns zu Hause – vielleicht kennen Sie sie ja. Sie war Schülerin von Ned Wayburn, und sie ist wirklich wundervoll. Sie –«
»Ja?«, sagte er zerstreut. »Na ja, is ’n hartes Geschäft – [15] die Casting-Agenturen können sich kaum retten vor Leuten, die alle alles können, bis ich sie mir mal näher anschaue. Wie alt sind Sie eigentlich?«
»Achtzehn.«
»Ich bin sechsundzwanzig. Bin vor vier Jahren hergekommen, ohne einen Cent in der Tasche.«
»Echt?!«
»Jetzt hab ich ausgesorgt, könnte mich glatt für den Rest meines Lebens zur Ruhe setzen.«
»Echt?!«
»Nächstes Jahr nehm ich mir frei, das ganze Jahr – ich heirate nämlich… Schon mal was von Irene Rikker gehört?«
»Na und ob! Die ist für mich so ziemlich die Größte.«
»Wir sind verlobt.«
»Echt?!«
Als sie nach einer Weile auf den Times Square hinaustraten, fragte er beiläufig: »Und was machen Sie jetzt?«
»Na ja, ich suche Arbeit.«
»Ich meine jetzt im Moment.«
»Na ja, nichts.«
»Wollen Sie nicht noch auf einen Kaffee mit zu mir raufkommen? Ich wohne in der Forty-sixth Street.«
Ihre Blicke begegneten sich, und Emmy Pinkard kam zu dem Schluss, dass sie durchaus in der Lage war, auf sich aufzupassen.
Er bewohnte ein großes helles Einzimmerapartment mit einem drei Meter breiten Diwan, und nachdem sie ihren Kaffee ausgetrunken hatte und er seinen Highball, hatte sie plötzlich seinen Arm um die Schultern liegen.
[16] »Wieso sollte ich Sie küssen?«, fragte sie. »Ich kenne Sie ja kaum, und außerdem sind Sie mit einer anderen verlobt.«
»Ach, das! Die sieht das nicht so eng.«
»Nein, lassen Sie das!«
»Sie sind ’n braves Mädchen.«
»Ich bin jedenfalls nicht blöd.«
»Na fein, dann bleiben Sie mal schön weiter ’n braves Mädchen.«
Sie stand in aller Ruhe auf, sehr forsch und kühl, und kein bisschen beleidigt.
»Ich nehme an, das heißt, dass Sie mir keine Rolle geben, stimmt’s?«, fragte sie ganz gelassen.
Er war mit den Gedanken längst bei etwas anderem – nämlich beim nächsten Interview und bei der nächsten Probe –, doch nun sah er sie sich noch mal genauer an und stellte fest, dass ihre Strümpfe nach wie vor Löcher hatten. Er griff zum Telefonhörer:
»Joe, hier ist der Milchreisbubi… Du hast doch nicht etwa geglaubt, ich weiß nicht, dass du mich so nennst, oder?… Ist schon in Ordnung… Sag mal, hast du diese drei Mädels für die Partyszene schon beisammen? Also, pass auf: Die eine lässt du offen für so ’n kleinen Käfer aus dem Süden. Ich schicke sie dir heute noch vorbei.«
Er sah sie quietschvergnügt an und fand, dass er ein richtig netter Bursche war.
»Also, ich weiß wirklich nicht, wie ich Ihnen danken soll. Und Mr. Rogers natürlich«, fügte sie keck hinzu. »Auf Wiedersehen, Mr. McChesney.«
Er würdigte sie keiner Antwort.
[17] II
Häufig kam er auf die Proben, stand da und schaute mit wissender Miene zu, als könnte er sehen, was in den Köpfen der Leute vor sich ging; doch davon, wie es um sein eigenes Glück bestellt war, hatte er allenfalls eine vage Ahnung und sah in dieser Hinsicht herzlich wenig, und im Moment war ihm das auch nicht weiter wichtig. Seine Wochenenden verbrachte er größtenteils auf Long Island mit denselben feinen Leuten, die ihm »zum Aufstieg verholfen« hatten. Brancusi sagte immer, er sei der große Paradiesvogel der besseren Gesellschaft, worauf er zu erwidern pflegte: »Na und? Ich war schließlich in Harvard! Oder glaubst du etwa, mich hat man auch in einem Apfelkarren auf der Grand Street aufgelesen, so wie dich?« Bei seinen neuen Freunden war er wohlgelitten, und das nicht nur wegen seines guten Aussehens und seiner Gutmütigkeit, sondern ebenso wegen seiner Erfolge.
Das Einzige, was er an seinem Leben wirklich unerfreulich fand, war die Verlobung mit Irene Rikker; die zwei hatten einander längst schon satt und waren doch nicht willens, die Sache zu beenden. Wie sich die beiden reichsten jungen Leute in einer Stadt oft nur wegen ihres Reichtums zueinander hingezogen fühlen, genauso ging es Bill McChesney und Irene Rikker; Seite an Seite segelten sie auf den Wogen des Triumphs dahin, außerstande, auf die wechselseitige wohlwollende Würdigung der Umstände zu verzichten, denen sich ihr Erfolg verdankte. Doch ungeachtet dessen stritten sie sich immer öfter und immer heftiger, und das Ende war absehbar. Verkörpert wurde es durch [18] einen gewissen Frank Llewellen, einen großen, gutaussehenden Schauspieler, der Irenes Bühnenpartner war. Bill, der die Lage mit einem Blick erfasst hatte, erging sich in sarkastischen Bemerkungen; von der zweiten Probenwoche an war die Luft zum Zerreißen gespannt.
Unterdessen hatte Emmy Pinkard genug Geld für Milch und Zwieback und einen Freund, der sie abends zum Essen ausführte, und war dementsprechend glücklich. Ihr Freund, Easton Hughes aus Delaney, studierte an der Columbia University und wollte Zahnarzt werden. Hin und wieder brachte er ein paar einsame junge Kommilitonen mit, ebenfalls lauter angehende Zahnärzte, und so bekam Emmy stets zu essen, wenn sie Hunger hatte, und das alles um den Preis, wenn man das denn als Preis bezeichnen kann, von ein paar Küssen im Taxi. Eines Nachmittags machte sie Easton und Bill McChesney am Bühneneingang miteinander bekannt, worauf Bill zum Spaß den Eifersüchtigen spielte, und das blieb fortan die Basis ihrer Beziehung.
»Ich seh schon, dieser Zahnklempner hat mich mal wieder ausgestochen. Passen Sie bloß auf, dass er Ihnen kein Lachgas gibt.«
Zwar trafen sie sich eher selten, aber wenn sie sich trafen, behielten sie einander im Blick. Wenn Bill sie ansah, riss er jedes Mal die Augen auf, als ob er sie noch nie gesehen hätte, bis ihm plötzlich einfiel, dass sie geneckt werden musste. Wenn Emmy ihn ansah, dann sah sie vieles: einen sonnigen Tag draußen auf der Straße, wimmelnde Menschenmengen, eine sehr gute nagelneue Limousine, die am Straßenrand auf zwei sehr gut gekleidete Leute in [19] nagelneuen Sachen wartet, die einsteigen und irgendwohin fahren, wo es genauso ist wie in New York, nur dass dieser andere Ort eben weit weg ist und es dort amüsanter zugeht. Wie oft haderte sie mit sich, weil sie ihn damals nicht doch geküsst hatte, und mindestens genauso oft war sie froh, es nicht getan zu haben, denn mit jeder Woche, die verstrich, ließ seine romantische Ader nach; und wie die ganze Truppe, so war auch er bald völlig von der mühevollen Arbeit an der Inszenierung absorbiert.
Die Erstaufführung sollte in Atlantic City stattfinden. Bill hatte plötzlich immerzu schlechte Laune, und das bekam jeder zu spüren. Er blaffte den Regisseur an und verhöhnte die Schauspieler. Das liege daran, so wurde gemunkelt, dass Irene Rikker und Frank Llewellen gemeinsam mit einem anderen Zug gekommen seien. Am Abend der Generalprobe saß Bill neben dem Autor im Halbdunkel des Zuschauerraumes; richtig unheimlich sah er aus, sagte aber kein einziges Wort – bis zum Ende des zweiten Akts, als Llewellen und Irene allein auf der Bühne waren, und er plötzlich rief: »So, das machen wir jetzt gleich noch mal – aber ohne diese ganze Gefühlsduselei!«
Llewellen trat an die Rampe.
»Wie meinen Sie das – ohne Gefühlsduselei?«, fragte er. »Das steht doch alles genau so im Text, oder etwa nicht?«
»Sie wissen sehr gut, was ich meine – bleiben Sie gefälligst bei der Sache.«
»Ich hab keine Ahnung, was Sie meinen.«
Bill stand auf. »Ich meine dieses ganze Getuschel, verdammt noch mal.«
»Was denn für Getuschel. Ich hab doch bloß gefragt –«
[20] »Schluss jetzt – weitermachen.«
Llewellen wandte sich wütend ab; er wollte gerade fortfahren, da fügte Bill durchaus hörbar hinzu: »Auch eine Knallcharge hat sich an ihre Rolle zu halten.«
Llewellen wirbelte herum. »Ich muss mir solche Reden nicht gefallen lassen, Mr. McChesney.«
»Wieso denn nicht? Sie sind doch eine Knallcharge, oder etwa nicht? Ist es Ihnen neuerdings peinlich, dass Sie eine Knallcharge sind? Ich bin hier der Produzent, und ich verlange, dass Sie sich an Ihre Rolle halten.«
Und damit marschierte Bill durch den Mittelgang nach vorn zur Bühne. »Und wenn Sie das nicht tun, dann müssen Sie sich’s genauso wie jeder andre gefallen lassen, dass ich Sie zur Ordnung rufe.«
»Hören Sie, wenn Sie nicht sofort einen anderen Ton anschlagen –«
»Ja? Was dann?«
Llewellen sprang in den Orchestergraben.
»Von Ihnen lass ich mir überhaupt nichts gefallen!«, schrie er.
»Um Himmels willen, seid ihr denn verrückt geworden?«, rief Irene Rikker ihnen von der Bühne herab zu. Im selben Moment holte Llewellen aus und versetzte Bill einen einzigen kurzen, aber kräftigen Schwinger. Bill flog rückwärts über die Sitze und plumpste in einen der Sessel, der Sessel zersplitterte, und Bill krachte durch die Sitzfläche und blieb eingeklemmt liegen. Daraufhin gab es erst mal ein wildes Durcheinander, dann hielten ein paar Leute Llewellen fest, der kreidebleich gewordene Autor zog Bill wieder hoch, der Inspizient kreischte: »Soll ich ihn töten, [21] Chef? Soll ich ihm seine fette Fresse einschlagen?«, Llewellen keuchte, und Irene Rikker schlotterte vor Angst.
»Alles zurück auf die Plätze!«, schrie Bill, der schwankend in den hilfreichen Armen des Autors Halt gesucht hatte und sich ein Taschentuch vors Gesicht hielt. »Alles zurück auf die Plätze! Die ganze Szene noch mal von vorne, aber ohne Reden! Zurück auf Ihren Platz, Llewellen!«
Im Handumdrehen waren alle wieder oben auf der Bühne; Irene zog Llewellen am Arm und redete hastig auf ihn ein. Irgendwer hatte das Licht im Zuschauerraum voll aufgedreht und dann gleich wieder heruntergedimmt. Als Emmy einen Moment später für ihren Auftritt auf die Bühne kam, sah sie mit einem raschen Blick, dass Bill eine regelrechte Maske aus Taschentüchern vor seinem blutenden Gesicht hatte. Sie hasste Llewellen und hatte Angst, dass jeden Augenblick alles abgeblasen werden könnte und sie nach New York zurückfahren müssten. Doch Bill hatte dem von ihm selbst verzapften Unsinn ein Ende gesetzt und damit die Produktion gerettet, denn wenn Llewellen jetzt noch weitergegangen wäre und darauf bestanden hätte, seine Rolle hinzuschmeißen, dann hätte er damit nur seinem eigenen Ansehen in der Zunft geschadet. Man brachte den Akt zu Ende und fing, ohne eine Pause zu machen, mit dem nächsten an, und als sie damit durch waren, war Bill verschwunden.
Am nächsten Abend saß er während der Vorstellung in der Seitenkulisse auf einem Stuhl, gut sichtbar für jeden, der auftrat oder abging. Sein Gesicht war geschwollen und blutunterlaufen, doch er tat so, als ob nichts gewesen wäre, und niemand erlaubte sich eine Bemerkung. Einmal ging er [22] nach vorne, und als er wieder zurück war, sickerte durch, zwei New Yorker Agenturen seien ganz groß eingestiegen. Es wurde ein Bombenerfolg für Bill – für ihn selbst und für die ganze Truppe.
Als Emmy ihn erblickte, ihn, dem sie alle, wie sie fand, so viel verdankten, floss ihr das Herz vor Dankbarkeit über. Sie ging zu ihm und bedankte sich.
»Wenn’s darum geht, Entscheidungen zu fällen, bin ich wirklich ganz gut, mein kleiner Rotschopf«, stimmte er ihr mürrisch zu.
»Danke, dass Sie sich für mich entschieden haben.«
Und dann ließ sich Emmy plötzlich zu einer unüberlegten Bemerkung hinreißen.
»Wie schrecklich Ihr Gesicht zugerichtet ist!«, rief sie. »Wissen Sie, ich fand es irrsinnig mutig von Ihnen, wie Sie gestern Abend dafür gesorgt haben, dass nicht alles in die Binsen geht.«
Er fasste sie kurz, aber scharf ins Auge und versuchte dann, allerdings ohne Erfolg, sein dick geschwollenes Gesicht zu einem ironischen Lächeln zu verziehen.
»Na, Kleines, nun bewundern Sie mich wohl?«
»Ja.«
»Und als ich über die Sitze geflogen bin, haben Sie mich da auch bewundert?«
»Aber Sie hatten doch blitzschnell alles wieder im Griff.«
»Das nenne ich Loyalität. Dass jemand selbst an diesem ganzen blöden Schlamassel noch was zu bewundern findet.«
»Sie waren jedenfalls absolut großartig«, platzte sie in ihrem überschäumenden Glücksgefühl heraus. Und dabei [23] sah sie so rosig und so jung aus, dass Bill, der einen verdammt miesen Tag gehabt hatte, Sehnsucht danach verspürte, sich einfach mit seiner dicken Backe an ihre Wange zu schmiegen.
Am nächsten Morgen nahm er beides, die dicke Backe und die Sehnsucht, mit nach New York; die dicke Backe schwoll nach und nach ab, die Sehnsucht aber blieb. Und als das Stück dann am Broadway herauskam und ihm auffiel, wie sich alsbald andere Männer um ihre Schönheit scharten, da war sie für ihn plötzlich eins geworden mit dieser Inszenierung, mit diesem Erfolg, eins mit allem, was das Theater ihm bedeutete. Das Stück lief ausgezeichnet, bis es irgendwann abgesetzt wurde, was zu einer Zeit passierte, als er zu viel trank und jemand nötig hatte für die grauen Tage nach dem Rausch. Anfang Juni heirateten sie ziemlich überstürzt in Connecticut.
III
In London in der Rotisserie des Savoy Hotel saßen zwei Männer und warteten auf den vierten Juli. Es war schon Ende Mai.
»Ist er nett?«, fragte Hubbel.
»Sehr nett«, antwortete Brancusi; »sehr nett, sehr gutaussehend, sehr beliebt.« Und nach kurzer Überlegung fügte er noch hinzu: »Ich will versuchen, ihn dazu zu bringen, dass er wieder nach Hause kommt.«
»Genau das ist es eben, was ich nicht verstehen kann bei ihm«, sagte Hubbel. »Das Showgeschäft hier drüben ist [24] doch gar nichts im Vergleich zu dem bei uns daheim. Wieso will der eigentlich unbedingt hierbleiben?«
»Er treibt sich mit allen möglichen Dukes und Ladys herum.«
»Ach so?«
»Als ich ihn letzte Woche getroffen habe, da war er in Gesellschaft von drei Ladys – Lady Dings, Lady Bums und Lady Dingsbums.«
»Ich denke, er ist verheiratet.«
»Stimmt, verheiratet, seit drei Jahren schon«, sagte Brancusi, »hat ein entzückendes Kind, und das zweite ist unterwegs.«
Als McChesney hereinkam, brach er ab und schraubte seinen typisch amerikanischen Schädel kühn aus dem Kragen seines breitschultrigen Überziehers.
»Hallo, Mac; darf ich dir meinen Freund Mr. Hubbel vorstellen.«
»Tach«, sagte Bill. Er setzte sich und ließ den Blick ungeniert im Restaurant umherschweifen, um zu schauen, ob er vielleicht irgendwelche Bekannten entdeckte. Nach ein paar Minuten ging Hubbel weg.
»Was ist das denn für ein komischer Vogel?«, fragte Bill.
»Der ist erst seit vier Wochen hier. Da hat er noch keinen Titel. Vergiss nicht, bei dir sind’s jetzt schon sechs Monate.«
Bill grinste.
»Du hältst mich für einen Snob, nicht wahr? Na schön, ich mach mir jedenfalls nichts vor. Ich mag das; ich hab ein Faible für solche Sachen. Ich fänd’s toll, der Marquis de McChesney zu sein.«
[25] »Vielleicht gelingt’s dir ja im Suff«, erwiderte Brancusi.
»Halt die Klappe. Wer sagt dir eigentlich, dass ich saufe? Erzählt man sich das neuerdings, ja? Hör zu: Nenne mir einen einzigen amerikanischen Impresario in der Theatergeschichte, der so viel Erfolg gehabt hat wie ich in nicht mal acht Monaten hier in London, dann geh ich morgen mit dir zurück nach Amerika. Nenne mir auch nur einen einzigen –«
»Das war mit deinen alten Stücken. In New York hast du zwei Flops gelandet.«
Bill stand auf, seine Miene wurde hart.
»Was glaubst du eigentlich, wer du bist?«, herrschte er Brancusi an. »Bist du hergekommen, um mir das zu sagen?«
»Jetzt sei doch nicht gleich sauer, Bill. Ich will doch bloß, dass du zurückkommst. Dafür würde ich dir sonst was sagen. Noch mal drei solche Spielzeiten, wie du sie 1922/23 hattest, und du kannst dich endgültig zur Ruhe setzen.«
»New York macht mich krank«, sagte Bill mürrisch. »Gerade warst du noch der Größte, dann landest du zwei Flops, und schon heißt’s überall, es geht bergab mit dir.«
Brancusi schüttelte den Kopf.
»Das war nicht der Grund. Der Grund war, dass du dich mit Aronstael in die Wolle gekriegt hast, mit deinem besten Freund.«
»Schöner Freund!«
»Jedenfalls dein bester Geschäftsfreund. Und dann –«
»Ich möchte mich dazu nicht äußern.« Er sah auf seine Armbanduhr. »Hör zu: Emmy fühlt sich nicht wohl, also, [26] ich fürchte, das wird heute nichts mit unserem gemeinsamen Abendessen. Komm doch noch mal im Büro vorbei, bevor du wieder abdampfst.«
Fünf Minuten später, Brancusi war gerade am Zigarrenstand, sah er, wie Bill das Savoy erneut betrat und die Treppe zur Teestube hinunterstieg.
›Ist ja ein richtiger Diplomat aus ihm geworden‹, dachte Brancusi, ›früher hat er’s einfach gesagt, wenn er ein Rendezvous gehabt hat. Aber dieser Umgang mit den Dukes und Ladys, der hat dem Burschen tüchtig Schliff verpasst.‹
Gut möglich, dass er ein wenig gekränkt war, obwohl es eigentlich gar nicht seinem Wesen entsprach, gekränkt zu sein. Jedenfalls war dies der Augenblick, in dem er zu dem Schluss gelangte, dass McChesney auf dem absteigenden Ast sei; da löschte er ihn ein für alle Mal aus seinem Gedächtnis, und das entsprach sehr wohl seinem Wesen.
Nach außen hin war nichts davon zu merken, dass Bill auf dem absteigenden Ast war; ein Bombenerfolg am New Strand, ein Bombenerfolg am Prince of Wales, und die Wocheneinnahmen flutschten fast genauso prima wie vor zwei, drei Jahren in New York. Ein Mann der Tat wie er hatte ja wohl noch das Recht, auch mal den Standort zu wechseln. Und der Mann, der eine Stunde später zum Abendessen heimkam in sein Haus am Hyde Park, war ebenso quicklebendig wie die späten zwanziger Jahre insgesamt. Emmy, todmüde und furchtbar behäbig, lag oben im Wohnzimmer auf der Couch. Er schloss sie kurz in die Arme.
»Hast’s bald geschafft«, sagte er. »Schön siehst du aus.«
»Mach dich doch nicht lächerlich.«
[27] »Das ist die Wahrheit. Du siehst immer schön aus. Ich weiß auch nicht, warum. Vielleicht, weil du Charakter hast, das steht dir ins Gesicht geschrieben, immer, auch wenn du so bist wie jetzt.«
Sie freute sich; sie strich ihm durchs Haar.
»Charakter ist das Größte auf der Welt«, erklärte er, »und ich kenne niemanden, der so viel Charakter hat wie du.«
»Hast du dich mit Brancusi getroffen?«
»Hab ich, diese kleine Ratte! Ich hab’s mir anders überlegt, hab ihn doch nicht zum Essen mitgebracht.«
»Was war denn los?«
»Nichts weiter, hat sich halt aufgespielt – wegen meinem Krach mit Aronstael, als ob das meine Schuld wäre.«
Sie zögerte, biss sich auf die Unterlippe und sagte dann leise: »Zu diesem Streit mit Aronstael ist es gekommen, weil du getrunken hattest.«
Er stand unwirsch auf.
»Fängst du schon wieder damit an –«
»Nein, Bill, aber du trinkst zu viel. Das weißt du doch selber.«
Er wusste nur zu gut, dass sie im Recht war, wich dem Thema aber aus; sie gingen zum Essen. Erwärmt von einer Flasche Rotwein beschloss er, von morgen an so lange, bis das Baby da war, keinen Tropfen mehr zu trinken.
»Wenn ich will, kann ich jederzeit aufhören, oder etwa nicht? Ich hab noch immer zu meinem Wort gestanden. Oder hast du schon mal erlebt, dass ich mich gedrückt hätte?«
»Bis jetzt noch nicht.«
[28] Sie nahmen noch zusammen den Kaffee, dann stand er auf.
»Komm nicht so spät nach Hause«, sagte Emmy.
»Ach i wo… Was hast du denn nur, mein Kleines?«
»Ach nichts, ich heule bloß. Kümmer dich nicht um mich. Na, nun geh schon; steh nicht rum wie ein Idiot.«
»Aber ich mach mir Sorgen, ist doch normal. Ich sehe dich nun mal nicht gerne heulen.«
»Na ja, ich weiß nie, wo du abends hingehst; ich weiß nicht, mit wem du zusammen bist. Und dann diese Lady Sybil Combrinck, die ständig hier anruft. Bestimmt ist das alles völlig in Ordnung, aber ich wache nachts immer auf, Bill, und dann fühl ich mich so einsam. Weil, wir waren doch immer zusammen, nicht wahr, bis vor kurzem?«
»Aber wir sind doch immer noch zusammen… Was hast du denn bloß, Emmy?«
»Ich weiß ja – ich seh einfach Gespenster. Nicht wahr, wir lassen uns niemals im Stich? Wir haben uns doch noch nie –«
»Natürlich nicht.«
»Komm bald wieder heim, so bald, wie du kannst.«
Er schaute kurz im Prince-of-Wales-Theatre vorbei, dann ging er in das benachbarte Hotel und wählte eine Telefonnummer.
»Könnte ich bitte Ihre Ladyschaft sprechen. Hier ist Mr. McChesney.«
Es dauerte eine Weile, bevor Lady Sybil am Apparat war.
»Das ist aber eine nette Überraschung«, sagte sie. »Es ist ja etliche Wochen her, seit ich das Glück hatte, von Ihnen zu hören.«
[29] Ihre Stimme knallte wie eine Peitsche und war so kalt wie ein elektrisches Kühlaggregat, eben genau so, wie man es gewohnt war, seit die englischen Ladys dazu übergegangen waren, sich ihre Identität aus allen möglichen literarischen Vorbildern zusammenzuklittern. Eine Zeitlang hatte Bill das faszinierend gefunden, aber nur eine Zeitlang. Er hatte sich seinen Verstand bewahrt.
»Ich hab einfach keine freie Minute gehabt«, erklärte er obenhin. »Sie sind doch nicht etwa sauer?«
»Von ›sauer‹ zu reden, käme mir schwerlich in den Sinn.«
»Ach, und ich hab schon Angst gehabt, Sie sind womöglich sauer; Sie haben mich nicht zu Ihrer Party heute Abend eingeladen. Ich hatte mir gedacht, wir könnten ausführlich über alles reden und uns dann darauf einigen, dass wir –«
»Geredet haben Sie ja nun schon eine ganze Menge«, sagte sie, »womöglich gar ein bisschen zu viel.«
Bill war ganz perplex, als sie unvermittelt auflegte.
›Jetzt ist sie mir aber echt britisch gekommen‹, dachte er. ›Kleiner Sketch mit dem Titel Die Tochter der tausend Earls.‹
Die Abfuhr stachelte ihn auf, Sybils Gleichgültigkeit fachte sein Interesse, das bereits im Schwinden gewesen war, neu an. Für gewöhnlich pflegten die Damen seine Unbeständigkeit in Herzensangelegenheiten mit seiner unübersehbar innigen Beziehung zu Emmy zu entschuldigen, und nicht selten gaben die diversen Ladys einen keineswegs unfreundlichen Seufzer von sich, wenn sie an ihn dachten. Gerade eben am Telefon hatte er allerdings keinen derartigen Seufzer vernommen.
[30] ›Ich würde den Schlamassel schon ganz gerne wieder in Ordnung bringen‹, dachte er. Wäre er in Abendgarderobe gewesen, hätte er vielleicht rasch bei dieser Tanzparty vorbeigeschaut und sich mit Lady Sybil ausgesprochen; jedenfalls hatte er keine Lust, jetzt schon nach Hause zu gehen. Er dachte weiter nach und befand zu guter Letzt, dass dieses Missverständnis auf der Stelle aus dem Weg geräumt werden müsse, und gleich darauf gewann auch der Gedanke Gestalt, dass er sehr wohl so hingehen konnte, wie er war; immerhin sah man den Amerikanern ihren Nonkonformismus in Kleidungsfragen gemeinhin nach. Sei’s drum, es war ohnehin noch viel zu früh; fürs Erste würde er ein Stündchen in Gesellschaft des einen oder anderen Highball zubringen, um sich die Sache noch mal gründlich zu überlegen.
Um Mitternacht stieg er die Eingangsstufen zu ihrem Haus in Mayfair hinauf. Die Bediensteten an der Garderobe musterten tadelnd seinen Tweedanzug, und ein Lakai ging vergeblich die Gästeliste nach seinem Namen durch. Glücklicherweise traf in diesem Moment sein Freund Sir Humphrey Dunn ein und überzeugte den Lakai davon, dass es sich nur um einen Irrtum handeln könne.
Drinnen hielt Bill sogleich Ausschau nach seiner Gastgeberin.
Sie war eine sehr hochgewachsene junge Frau und zur Hälfte Amerikanerin, weshalb sie sich nur umso britischer gab. In gewissem Sinne war sie diejenige gewesen, die Bill McChesney entdeckt und sich trotz seines ungestümen Charmes für ihn verbürgt hatte; dass er sich zurückgezogen hatte, war eine ihrer größten Demütigungen, seit sie angefangen hatte, ein böses Mädchen zu sein.
[31] Sie und ihr Mann – Bill hatte die beiden vorher noch nie zusammen gesehen – bildeten den Kopf der Begrüßungsreihe. Er beschloss, einen weniger förmlichen Moment abzuwarten, um sich bemerkbar zu machen.
Schier endlos zog sich die Begrüßung der Gäste in die Länge, und währenddessen wuchs sein Unbehagen. Er sah ein paar Bekannte, aber nicht sehr viele, und ihm entging durchaus nicht, dass seine Kleidung einige Aufmerksamkeit erregte; außerdem hatte er bemerkt, dass Lady Sybil ihn gesehen hatte; ein Wink von ihr hätte ihm aus seiner Verlegenheit helfen können, aber sie tat nichts dergleichen. Er bedauerte, überhaupt hergekommen zu sein, sich jetzt jedoch zurückzuziehen, wäre absurd gewesen, und darum ging er ans Buffet und nahm sich ein Glas Champagner.
Als er sich umdrehte, war sie endlich allein, doch als er gerade zu ihr treten wollte, sprach ihn der Butler an.
»Verzeihung, Sir. Haben Sie eine Einladung?«
»Ich bin ein Freund von Lady Sybil«, sagte Bill unwirsch und ließ den Butler stehen, doch dieser folgte ihm.
»Es tut mir leid, Sir, aber ich muss Sie bitten, mit mir zu kommen und die Sache zu klären.«
»Nicht nötig. Ich bin gerade dabei, das mit Lady Sybil persönlich zu klären.«
»Meine Anweisungen lauten aber anders, Sir«, sagte der Butler unnachgiebig.
Und dann, ehe Bill noch recht wusste, wie ihm geschah, drückte man ihm lautlos die Arme an die Seiten und führte ihn in einen kleinen Raum hinter dem Buffet.
Dort sah er sich einem Herrn mit Kneifer gegenüber, in dem er den Privatsekretär der Combrincks erkannte.
[32] Der Sekretär nickte dem Butler zu. »Das ist der Mann«, sagte er, worauf Bill losgelassen wurde.
»Mr. McChesney«, sagte der Sekretär, »Sie haben es für angebracht befunden, sich uneingeladen hier Zutritt zu verschaffen, Seine Lordschaft fordert Sie auf, sein Haus umgehend zu verlassen. Hätten Sie wohl die Güte, mir die Garderobenmarke für Ihren Mantel auszuhändigen?«
Jetzt hatte Bill begriffen, und da kam ihm das einzige Wort über die Lippen, das ihm auf Lady Sybil zu passen schien; hierauf winkte der Sekretär zwei Lakaien herbei, die den sich heftig sträubenden Bill unter den neugierig glotzenden Blicken der emsigen Abräumer durch eine Spülküche und einen langen Korridor schleiften und ihn dann durch einen Hinterausgang in die Nacht hinausbeförderten. Die Tür ging zu, um gleich darauf noch einmal geöffnet zu werden, sein im Wind sich blähender Mantel kam geflogen, und sein Spazierstock hüpfte klappernd die Stufen hinab.
Und während er noch so dort stand, geschlagen, fassungslos, hielt plötzlich ein Taxi neben ihm.
»Geht’s Ihnen nich gut, Meister?«, rief der Fahrer.
»Was?«
»Ich weiß was, Meister, wo Sie sich ’n bisschen stärken können. Is nie zu spät.« Als Bill aus dem Taxi stieg, befand er sich mitten in einem Alptraum. Er war in einem Varieté gelandet, das sich nicht an die Sperrstunde hielt, und er befand sich in Begleitung von wildfremden Leuten, die er irgendwo aufgelesen hatte; dann gab es Rangeleien und den Versuch, einen Scheck einzulösen, und plötzlich musste er ein ums andere Mal beteuern, dass er William McChesney sei, der Produzent, was ihm freilich keiner glaubte, nicht [33] mal er selbst. Er hatte gemeint, es sei wichtig, unverzüglich mit Lady Sybil zu reden und sie zur Rechenschaft zu ziehen; doch im Augenblick war gar nichts mehr wichtig. Er saß in einem Taxi, dessen Fahrer ihn soeben wachgerüttelt hatte – vor seinem eigenen Haus.
Als er eintrat, klingelte das Telefon, aber er ging wie versteinert an der Haushälterin vorbei und hörte ihre Stimme erst, als er den Fuß bereits auf der Treppe hatte.
»Schon wieder das Krankenhaus, Mr. McChesney. Mrs. McChesney liegt im Krankenhaus, die rufen jede Stunde hier an.«
Immer noch völlig benommen, hob er den Hörer ans Ohr.
»Hier ist das Midland Hospital, es geht um Ihre Gattin. Sie wurde heute früh um neun von einer Totgeburt entbunden.«
»Moment mal.« Seine Stimme war heiser und brüchig. »Ich verstehe nicht.«
Es dauerte eine Weile, bis er begriffen hatte, dass Emmys Kind tot war und sie ihn brauchte. Mit vor Erschöpfung zitternden Knien ging er hinunter auf die Straße und hielt Ausschau nach einem Taxi.
Im Zimmer war es dunkel; Emmy schaute aus zerwühlten Kissen zu ihm hoch.
»Da bist du ja!«, schrie sie. »Ich dachte, du bist tot! Wo warst du denn bloß?«
Er warf sich neben ihrem Bett auf die Knie, sie aber wandte sich ab.
»Du riechst ja schrecklich«, sagte sie. »Mir wird ganz übel.«
[34] Doch sie ließ ihre Hand in seinem Haar, und er blieb lange reglos so auf Knien liegen.
»Ich bin fertig mit dir«, murmelte sie, »aber als ich dachte, du bist tot, das war ganz furchtbar. Alle sind tot. Ach, könnte ich doch selber auch tot sein.«
Ein Windstoß schob den Vorhang auseinander, und als er aufstand, um ihn wieder zuzuziehen, da sah sie ihn im hellen Licht des Morgens, blass und verwüstet, mit zerknautschten Kleidern und blauen Flecken im Gesicht. Und diesmal hasste sie nicht die, die ihn verprügelt hatten, sondern ihn. Sie spürte förmlich, wie er ihr aus dem Herzen glitt, spürte die Leere, die er zurückließ, und auf einmal war er weg, und da konnte sie ihm sogar vergeben und Mitleid mit ihm haben. Und alles das in einer einzigen Minute.
Sie war vorm Portal des Krankenhauses hingefallen, als sie versucht hatte, allein aus dem Taxi zu steigen.
IV
Als Emmy wieder gesund war, körperlich und auch seelisch, hatte sie nur noch einen Wunsch: Sie wollte unbedingt tanzen lernen; der alte Traum, den ihr Miss Georgia Berriman Campbell damals in South Carolina ins Herz gepflanzt hatte, er war noch immer da und war wie eine helle Straße zurück in ihre Jugend und in die hoffnungsvollen Zeiten damals in New York. Für sie war Tanzen jene raffinierte Mischung aus qualvollen Positionen und vorschriftsmäßig ausgeführten Pirouetten, die vor ein paar hundert Jahren in Italien entstanden und Anfang des [35] zwanzigsten Jahrhunderts in Russland zu höchster Vollendung gelangt war. Emmy wollte sich einer Sache hingeben, an die sie glauben konnte; für sie war der Tanz die weibliche Interpretation der Musik; Tschaikowski und Strawinsky darzubieten, das war nicht nur mit starken Fingern möglich, sondern mit allen Gliedern; und bei Les Sylphides konnten die Füße genauso beredt sein wie die Stimmen beim Ring. Am unteren Ende war es irgendwie ein Mittelding zwischen Akrobatik und Seehunddressur, ganz oben aber war’s die Pawlowa und war es Kunst.
Sobald sie wieder in New York waren und eine Wohnung gefunden hatten, stürzte Emmy sich wie eine Sechzehnjährige in ihre Arbeit – vier Stunden täglich an der Stange, Positionen, Sprünge, Arabesken und Pirouetten. Bald schon gab es in ihrem Leben nichts mehr, das realer war als dieses Training, und ihre einzige Sorge war, ob sie nicht doch bereits zu alt sein könnte. Mit ihren sechsundzwanzig hatte sie zehn Jahre aufzuholen, aber sie war ein Naturtalent, geradezu geboren für den Tanz, und hatte einen wunderschönen Körper – und eben dieses reizende Gesicht.
Bill unterstützte das Ganze; wenn sie erst einmal so weit wäre, dann wollte er das erste echt amerikanische Ballett aufbauen, mit ihr im Mittelpunkt. Es gab sogar Phasen, da beneidete er sie um ihre Besessenheit; denn auf seinem eigenen Gebiet gestalteten sich die Dinge schwieriger, seit sie wieder zu Hause waren. Zum einen, weil er sich damals, als er noch vor Selbstvertrauen strotzte, nicht wenige Feinde gemacht hatte; da wurde manches aufgebauscht, er sei ein Trinker, hieß es, er behandle die Schauspieler schlecht, und überhaupt sei es nicht einfach, mit ihm zu arbeiten.
[36] Nachteilig war auch, dass er es nie geschafft hatte, Geld zu sparen, und bei jedem neuen Stück immer wieder um finanzielle Unterstützung betteln musste. Andererseits war er intelligent, wenn auch auf eine etwas sonderbare Weise, und hatte zugleich den Mut, sich hier und da auf Projekte einzulassen, die, rein kommerziell betrachtet, nicht besonders vielversprechend waren, aber er hatte keine Theatervereinigung hinter sich, und wenn er Geld verlor, dann musste er allein den Schaden tragen.
Natürlich gab es auch Erfolge, aber sie kosteten ihn inzwischen mehr Anstrengung, oder jedenfalls kam es ihm so vor, denn er merkte allmählich, dass er den Preis für seinen unregelmäßigen Lebenswandel zahlen musste. Immer wieder nahm er sich vor, eine Pause zu machen oder seine Kettenraucherei aufzugeben, aber es gab jetzt so viel Konkurrenz – neue Leute kamen nach oben, und jeder Einzelne von ihnen galt als todsicherer Tipp –, und zudem war er einfach keine Regelmäßigkeit gewohnt. Er erledigte am liebsten immer alles auf den letzten Drücker, und damit die Inspiration nicht versiegte, trank er ständig schwarzen Kaffee, was zum Showgeschäft zwar irgendwie dazugehört, aber für einen, der die dreißig überschritten hat, das reinste Gift ist. In gewisser Weise zehrte er unterdessen schon von Emmys robuster Gesundheit und ihrer Vitalität. Sie waren permanent zusammen, und es bereitete ihm ein diffuses Unbehagen, dass er sie mittlerweile mehr brauchte als sie ihn, wobei natürlich immer die Hoffnung bestand, dass es im kommenden Monat, in der kommenden Spielzeit wieder besser für ihn aussehen würde.
Eines Abends im November schlenkerte Emmy auf dem [37] Heimweg von der Ballettschule vergnügt ihr graues Täschchen hin und her, zog sich den Hut überm noch feuchten Haar tief in die Stirn und gab sich allerlei erfreulichen Gedanken hin. Seit vier Wochen fiel ihr auf, dass es Leute gab, die eigens ins Studio kamen, um sie tanzen zu sehen – sie war so weit, sie konnte auftreten. Früher hatte sie genauso hart und genauso lange an etwas anderem gearbeitet, nämlich an ihrer Beziehung zu Bill, und damit das Elend und die Verzweiflung lediglich auf die Spitze getrieben, jetzt aber konnte ihr niemand mehr einen Strich durch die Rechnung machen, niemand als sie selbst. Und doch befürchtete sie immer noch, es könnte ein wenig vorwitzig sein zu denken: ›Jetzt ist es so weit. Jetzt werde ich glücklich.‹
Sie hatte es eilig, denn heute hatte sie etwas erfahren, worüber sie mit Bill sprechen musste.
Sie traf ihn im Wohnzimmer an und rief ihm zu, er solle doch mit rüberkommen, sie müsse sich rasch was anderes anziehen. Und dann, ohne sich umzuschauen, fing sie an zu reden.
»Stell dir mal vor, was heute passiert ist!« Sie sprach mit lauter Stimme, um das Wasser, das in die Wanne plätscherte, zu übertönen. »Paul Makova möchte, dass wir diese Spielzeit an der Met zusammen tanzen; ist aber noch nicht sicher, also es ist noch ein Geheimnis – eigentlich darf nicht mal ich was davon wissen.«
»Das ist ja großartig.«
»Die Frage ist bloß, ob es nicht besser wäre, wenn ich im Ausland debütiere. Donilof sagt jedenfalls, ich bin so weit, dass ich auftreten kann. Was meinst denn du dazu?«
»Ich weiß nicht.«
[38] »Na, so richtig begeistert klingt das aber nicht.«
»Ich war mit den Gedanken grade bei was anderem. Ich erzähl’s dir später. Sag du erst mal weiter.«
»Das war’s schon. Wenn dir immer noch danach ist, für vier Wochen nach Deutschland zu gehen, wie du neulich gesagt hast – Donilof würde ein Debüt in Berlin für mich arrangieren, ich würde allerdings lieber doch hier debütieren und mit Paul Makova tanzen. Stell dir doch bloß mal vor –« Sie unterbrach sich, denn plötzlich spürte sie, selbst durch die dicke Haut der Euphorie hindurch, wie wenig er mit den Gedanken bei der Sache war. »Komm, erzähl mir, was dir durch den Kopf geht.«
»Ich war heut Nachmittag bei Doktor Kearns.«
»Und was sagt er?« Im Herzen jubilierte sie noch immer vor lauter Glück. Über Bills zeitweilige Anfälle von Hypochondrie machte sie sich schon lange keine Sorgen mehr.
»Ich hab ihm das mit dem Blut heute Morgen erzählt, und er hat das Gleiche gesagt wie letztes Jahr, dass wahrscheinlich drinnen im Kehlkopf ein Äderchen geplatzt ist. Aber weil ich andauernd huste und mich die Sache beunruhigt, sollten wir vielleicht sicherheitshalber mal röntgen, damit wir Klarheit haben. Na ja, und jetzt haben wir tatsächlich Klarheit. Mein linker Lungenflügel ist so gut wie weg.«
»Bill!«
»Zum Glück sind auf dem andern keine Flecke.«
Sie wartete, zu Tode erschrocken.
»Der Zeitpunkt, wo mich das erwischt, ist alles andere als günstig«, fuhr er gefasst fort, »aber man muss den Tatsachen ins Auge sehen. Der Doktor meint, ich soll den Winter über in die Adirondacks gehen oder nach Denver, [39] er persönlich ist mehr für Denver. Wahrscheinlich wär die Sache damit in fünf bis sechs Monaten überstanden.«
»Ja, dann müssen wir natürlich –«, sie hielt plötzlich inne.
»Ich erwarte nicht von dir, dass du mitkommst – zumal, wo du jetzt so eine Chance hast.«
»Aber selbstverständlich komme ich mit«, sagte sie schnell. »Deine Gesundheit hat Vorrang. Wir sind doch schließlich immer überall zusammen hingegangen.«
»Nein, nein.«
»Doch.« Sie sprach mit starker, entschlossener Stimme. »Wir sind immer zusammen gewesen. Niemals könnte ich ohne dich hierbleiben. Wann musst du fahren?«
»So schnell wie möglich. Ich war bei Brancusi, wollte mal sondieren, ob er das Richmond-Stück nicht übernehmen will, aber er schien nicht gerade begeistert zu sein.« Seine Miene verhärtete sich. »Im Moment läuft natürlich gerade nichts anderes, aber für mich alleine wird’s schon reichen, zumal ich ja noch einiges an Außenständen –«
»Ach, wenn ich doch bloß Geld verdienen würde!«, jammerte Emmy. »Du musst so schwer arbeiten, und was tu ich, ich gebe zweihundert Dollar die Woche allein für meinen Ballettunterricht aus, mehr als ich in zig Jahren verdienen kann.«
»In sechs Monaten bin ich natürlich wieder ganz der Alte – sagt er.«
»Aber sicher, Liebster; wir kriegen dich schon wieder gesund. Sobald wir können, fahren wir los.«
Sie nahm ihn in den Arm und gab ihm einen Kuss auf die Wange.
[40] »Ich alte Parasitin«, sagte sie. »Ich hätte doch merken müssen, dass mein Schatz nicht auf dem Posten ist.«
Er griff automatisch nach einer Zigarette, besann sich aber eines Besseren.
»Oje, das hab ich ganz vergessen – ich muss mich ja mit dem Rauchen einschränken.« Und dann riss er sich plötzlich zusammen, wie es die Situation gebot: »Nein, Kleines, ich hab beschlossen, dass ich alleine fahre. Du würdest doch da oben durchdrehen vor Langeweile, und ich würde die ganze Zeit bloß daran denken, dass ich dich von deiner Tanzerei abhalte.«
»Darüber mach dir mal keine Sorgen. Jetzt geht es einzig und allein darum, dass du schnell wieder gesund wirst.«
Stunde um Stunde diskutierten sie in der folgenden Woche über das Problem, und beide sagten sie dabei alles Mögliche, bloß nicht die Wahrheit, nämlich, dass er sich wünschte, sie möge mit ihm kommen, und dass sie keinen sehnlicheren Wunsch hatte, als in New York zu bleiben. Mit aller Vorsicht sondierte sie, was Donilof, ihr Ballettmeister, meinte, und musste erfahren, dass er jeden Aufschub für einen furchtbaren Fehler gehalten hätte. Und wenn sie sah, wie andere Mädchen in der Schule Pläne für den Winter schmiedeten, dann wäre sie lieber gestorben, als mit ihm mitzufahren, und so sehr sie sich auch bemühte, sich nichts anmerken zu lassen, Bill sah genau, in was für einer Zwickmühle sie sich befand. Eine Weile erwogen sie noch die Adirondacks als Kompromisslösung, denn dort hätte ihn Emmy jedes Wochenende mit dem Flugzeug besuchen können, doch inzwischen hatte er leichtes Fieber und bekam endgültig den Westen verordnet.
[41] An einem trüben Sonntagabend machte Bill dem Ganzen ein Ende, und er tat es mit demselben rauhen, großzügigen Sinn für Gerechtigkeit, der ihm damals ihre Bewunderung eingebracht hatte und der ihn jetzt in seinem Unglück ebenso sehr zu einer eher tragischen Figur machte, wie er ihn in den Zeiten seines maßlosen Erfolgs doch immer noch erträglich hatte bleiben lassen.
»Hör zu, Kleines, ich muss das mit mir selbst ausmachen. Ich bin in diesen Schlamassel hineingeraten, weil ich keinerlei Selbstbeherrschung hatte – die hat in der Familie hier nur einer vollends abgekriegt, wie’s aussieht, nämlich du –, und nun muss ich auch alleine sehen, wie ich da wieder rauskomme. Du hast drei Jahre hart an deinen Sachen gearbeitet, du hast dir deine Chance verdient – wenn du jetzt mit mir mitkommen würdest, dann würdest du mich das doch bloß bis ans Ende meiner Tage büßen lassen.« Er grinste. »Und das könnt ich nicht ertragen. Außerdem wär es auch für das Kind nicht gut.«
Letztendlich gab sie nach, beschämt ob ihres Egoismus, unglücklich – und froh. Denn mittlerweile war die Welt ihrer Arbeit, in der sie ohne Bill existierte, größer für sie als die andere Welt, in der sie beide miteinander existierten. Und in der einen war mehr Raum, um froh zu sein, als in der anderen, um Kummer zu empfinden.
Zwei Tage später, das Ticket für den Zug um fünf Uhr nachmittags war schon gekauft, verbrachten sie die letzten Stunden zusammen und sprachen nochmals voller Hoffnung über alles. Sie protestierte immer noch, und zwar ehrlichen Herzens; wäre er auch nur einen Augenblick lang schwach geworden, sie wäre mit ihm mitgefahren. Aber der [42] Schock war nicht spurlos an ihm vorübergegangen, unter seinem Einfluss bewies Bill so viel Charakter wie schon seit Jahren nicht mehr. Vielleicht war es ja doch das Beste, wenn er diese Angelegenheit allein durchstand.
»Im Frühling!«, sagten sie.
Nachher auf dem Bahnhof mit dem kleinen Billy, sagte Bill: »Ich hasse solche Friedhofsabschiede. Geht jetzt. Ich muss im Zug noch einen Anruf machen, bevor er abfährt.«
In den letzten sechs Jahren waren sie nie länger als eine Nacht getrennt gewesen, außer damals, als Emmy im Krankenhaus war; abgesehen von der Zeit in England hatten sie, was Treue und liebevollen Umgang miteinander anging, eine sehr ordentliche Bilanz aufzuweisen, trotz seiner Lust am Risiko und seines Draufgängertums, das sie von Anfang an alarmiert und oft unglücklich gemacht hatte. Nachdem er die Bahnsteigschranke allein durchschritten hatte, war Emmy froh, dass er noch einen Anruf machen musste, und stellte sich vor, wie er telefonierte.
Sie war eine gute Frau; sie hatte ihn geliebt, von ganzem Herzen. Als sie hinaustrat auf die Thirty-third Street, war dort alles wie ausgestorben, und im ersten Moment fühlte auch sie sich wie tot; das Apartment, das er bezahlte, würde leer sein ohne ihn, und sie war hiergeblieben, um etwas zu tun, das sie glücklich machen würde.
Ein paar Querstraßen weiter blieb sie stehen. »Meine Güte, das ist ja entsetzlich – was tue ich denn hier! Ich lasse ihn im Stich, als ob er der schlechteste Mensch wäre, den man sich überhaupt nur denken kann. Ich lasse ihn einfach sitzen und geh mit Donilof und Paul Makova aus, der mir gefällt, weil er so gut aussieht und weil sein Haar dieselbe [43] Farbe hat wie seine Augen. Und Bill sitzt mutterseelenallein im Zug.«
Plötzlich nahm sie den kleinen Billy und schwenkte ihn herum, ganz so, als wollte sie wieder zum Bahnhof zurückkehren. Sie sah ihn vor sich, ihren großen Bill, wie er im Zug saß, das Gesicht so blass und müde, ohne seine Emmy.
»Ich kann ihn doch nicht einfach so im Stich lassen«, schrie sie sich an, hin und her gerissen von Gefühlen, die in Wellen über sie hinwegrollten. Aber apropos Gefühle – hatte er sie nicht auch im Stich gelassen, damals in London, und einfach gemacht, was er wollte?
»Ach, armer Bill!«
Unschlüssig stand sie da, und in diesem letzten Augenblick der Ehrlichkeit musste sie sich eingestehen, wie schnell sie alles das vergessen würde, wie schnell sie Rechtfertigungen finden würde für das, was sie hier tat. Sie musste sich bloß konzentrieren und an London denken, schon ließen die Gewissensbisse nach. Und doch, wie schrecklich, solche Gedanken zu hegen, während Bill dort mutterseelenallein im Zug saß. Sie konnte immer noch umkehren, konnte zum Bahnhof zurückgehen und Bill sagen, dass sie ihn begleitete, stattdessen aber wartete sie weiter, und ihre Lebenskräfte waren stark und kämpften für sie. Der Gehweg war recht schmal dort, wo sie stand; und gerade eben strömte eine große Menschenmenge aus dem Theater, überflutete förmlich die Straße und riss sie und den kleinen Billy mit sich fort.
Im Zug telefonierte Bill bis zur letzten Minute, schob es immer wieder auf, in sein Coupé zurückzukehren, denn [44] ihm war ziemlich klar, dass sie nicht dort sein würde. Erst nachdem der Zug sich in Bewegung gesetzt hatte, ging er wieder in sein Abteil, und natürlich fand er dort nichts weiter vor als seine Koffer im Gepäcknetz und ein paar Zeitschriften auf dem Sitz.
Da wusste er, er hatte sie verloren. Ganz ohne Illusionen sah er das Szenario vor sich – dieser Paul Makova, und dann all die Monate der räumlichen Nähe und der Einsamkeit – nichts mehr wäre danach so wie früher. Als er lange über das alles nachgedacht und zwischendurch immer wieder in der Variety und der Zit’s gelesen hatte, kam es ihm nach und nach – also jedes Mal, wenn seine Gedanken das Thema wieder streiften –, so vor, als ob Emmy irgendwie tot sei.
»Sie war ein prima Mädel – eins von den Besten. Sie hatte Charakter.« Und ihm war völlig klar, dass er sich das alles selber eingebrockt hatte und dass das Ganze irgendwas mit Gerechtigkeit zu tun hatte. Und er erkannte auch, dass er mit seinem Weggehen genauso viel Anstand bewiesen hatte wie sie; am Ende gleicht sich eben alles aus.
Er hatte das Gefühl, alles hinter sich gelassen zu haben, sogar seinen Schmerz, ein beinah angenehmes Gefühl, in der Hand von etwas zu sein, das größer war als er; und jetzt, wo er ein wenig müde geworden war und nicht mehr so vor Selbstvertrauen strotzte und weder das eine noch das andere auch nur eine Sekunde lang ertragen konnte, kam es ihm gar nicht mehr so schrecklich vor, dass er zum großen Finale nach Westen fuhr. Am Ende würde Emmy schon noch kommen, da war er sich vollkommen sicher, ganz egal, was sie dann gerade machte oder was für ein großartiges Engagement sie hätte.
[45] Die Hochzeitsparty
I
Es kam das übliche verlogene Briefchen, das besagte: »Ich wollte, dass du es als Erster erfährst.« Für Michael war es ein doppelter Schock, denn da wurden zugleich die Verlobung und die unmittelbar bevorstehende Heirat angekündigt; und die sollte obendrein nicht in New York stattfinden, taktvoll entfernt von ihm, sondern hier in Paris, genau vor seinen Augen oder zumindest fast, nämlich in der Protestant Episcopal Church of the Holy Trinity in der Avenue George V. Der Termin war in zwei Wochen, Anfang Juni.
Zuerst wurde Michael angst, und er fühlte eine Leere im Magen. Als er an diesem Morgen das Hotel verließ, spürte die femme de chambre, die in sein gutgeschnittenes Profil und in sein munteres Wesen verliebt war, sogleich, dass ihn etwas beschäftigte und bedrückte. Er ging wie betäubt zu seiner Bank, kaufte bei Smith in der Rue de Rivoli einen Detektivroman, betrachtete eine Weile bewegt ein ausgeblichenes Panorama der Schlachtfelder im Fenster eines Reisebüros und verfluchte einen griechischen Straßenhändler, der ihn mit einem halb vorgezeigten Päckchen harmloser Postkarten verfolgte, die angeblich sehr unanständig waren.
[46] Aber das Angstgefühl blieb, und nach einer Weile erkannte er darin die Angst, dass er nie wieder glücklich sein würde. Er hatte Caroline Dandy kennengelernt, als sie siebzehn war, hatte ihr junges Herz während ihrer ganzen ersten Ballsaison in New York besessen und es dann langsam auf tragische, sinnlose Weise verloren, weil er kein Geld besaß und nicht zu Geld kommen würde; weil er bei aller Anstrengung und allem guten Willen nicht zu sich selbst finden konnte; weil Caroline, die ihn immer noch liebte, kein Vertrauen mehr hatte und ihn allmählich als mitleiderregend, unfähig und heruntergekommen empfand, ausgeschlossen von dem großen glänzenden Lebensstrom, zu dem es sie unwiderstehlich hinzog.
Da er sich einzig und allein darauf stützen konnte, dass sie ihn liebte, suchte er darin seinen Halt; die Stütze zerbrach, dennoch klammerte er sich an sie, wurde aufs Meer hinausgetrieben und an die französische Küste geschwemmt, die Bruchstücke immer noch in seinen Händen. Er schleppte sie mit sich herum in Form von Fotos und gebündelten Briefen und der Schwäche für einen rührseligen Gassenhauer, der Among My Souvenirs hieß. Er hielt sich von anderen Frauen fern, als würde Caroline das irgendwie spüren und es aus treuem Herzen vergelten. Ihr Brief aber sagte ihm, dass er sie für immer verloren hatte.
Es war ein schöner Morgen. Vor den Läden in der Rue de Castiglione standen die Ladeninhaber und ihre Kunden auf dem Bürgersteig und blickten nach oben, denn der »Graf Zeppelin«, Symbol von Rettung und Zerstörung – von Rettung notfalls durch Zerstörung – schwebte silberglänzend und prächtig am Himmel von Paris. Michael [47] hörte eine Frau auf Französisch sagen, es würde sie nicht überraschen, wenn er jetzt Bomben fallen ließe. Dann hörte er eine andere Stimme, die von einem kehligen Lachen begleitet war, und die Leere in seinem Magen erstarrte. Er fuhr herum und stand Auge in Auge mit Caroline Dandy und ihrem Verlobten.
»Nein, Michael! Wir haben uns schon überlegt, wo du wohl steckst. Ich fragte beim Guaranty Trust an und bei Morgan & Co, und dann schickte ich eine Nachricht an die National City…«
Warum wichen sie nicht zurück und verschwanden? Warum gingen sie nicht einfach rückwärts die Rue de Castiglione hinunter, über die Rue de Rivoli, durch die Tuilerien, und immer weiter rückwärts, so schnell sie konnten, bis sie undeutlicher wurden und jenseits des Flusses verschwanden?
»Das ist Hamilton Rutherford, mein Verlobter.«
»Wir haben uns schon kennengelernt.«
»Bei Pat, nicht wahr?«
»Und voriges Frühjahr in der Bar vom Ritz.«
»Michael, wo haben Sie sich denn herumgetrieben?«
»Hier in der Gegend.« Was für eine Qual! Frühere Begegnungen mit Hamilton Rutherford blitzten vor ihm auf – eine rasche Folge von Bildern, Aussprüchen. Er erinnerte sich, gehört zu haben, dass Rutherford 1920 für ein Darlehen von hundertfünfundzwanzigtausend einen Landsitz gekauft und ihn unmittelbar vor dem Fälligkeitstermin für mehr als eine halbe Million verkauft hatte. Er war nicht so gutaussehend wie Michael, aber von anziehender Vitalität, selbstsicher, gebieterisch und für Caroline gerade richtig [48] groß – Michael war immer etwas zu klein für sie gewesen, wenn sie tanzten.
Rutherford sagte gerade: »Und ich fände es sehr nett, wenn Sie zu dem Junggesellenabschied kämen. Ich habe die Ritz-Bar dafür gemietet, von neun Uhr an. Und dann gleich nach der Hochzeit gibt es einen Empfang und Frühstück im Hotel George V.«
»Und, Michael, George Packman gibt übermorgen eine Party im Chez Victor, und ich möchte, dass du unbedingt kommst. Und auch am Freitag zum Tee bei Jebby West; sie würde dich bestimmt dabeihaben wollen, wenn sie wüsste, dass du hier bist. Welches ist dein Hotel, damit wir dir eine Einladung schicken können? Der Grund, weißt du, warum wir es hier machen, ist, weil Mutter hier in einer Privatklinik gepflegt wird, und der ganze Clan ist in Paris. Schließlich ist auch Hamiltons Mutter gerade hier…«
Der ganze Clan! Mit Ausnahme ihrer Mutter hatten diese Leute ihn immer gehasst, hatten sein Werben stets missbilligt. Was für eine kleine Münze war er doch in diesem Spiel um Familien und Geld! Unter seinem Hut schwitzte er vor Demütigung darüber, dass er bei all seinem Unglück noch so vieler Einladungen für wert befunden wurde. Halb von Sinnen murmelte er etwas von Abreisen.
Da geschah es – Caroline sah tief in ihn hinein, und Michael spürte das. Sie sah hindurch bis auf den Grund seiner tiefen Verletztheit, und etwas regte sich in ihr und erstarb in ihren Mundwinkeln und ihren Augen. Er hatte sie angerührt. Alle unvergesslichen Regungen der ersten Liebe stiegen noch einmal in ihr auf; ihre Herzen hatten sich über [49] zwei Fußbreit dieses sonnigen Pariser Morgens hinweg berührt. Sie nahm plötzlich den Arm ihres Verlobten, als müsse sie sich dadurch wieder einen Halt geben.
Sie verabschiedeten sich. Michael entfernte sich zügigen Schrittes; nach einer Minute blieb er unter dem Vorwand, ein Schaufenster zu betrachten, stehen und sah sie weiter oben in der Straße, wie sie schnell zur Place Vendôme gingen – Leute, die viel vorhatten.
Auch er hatte etwas vor – er musste seine Wäsche abholen.
›Nichts wird je wieder, wie es war‹, sagte er zu sich. ›Sie wird in ihrer Ehe niemals glücklich sein, und ich werde überhaupt nie mehr glücklich sein.‹
Die beiden lebhaften Jahre seiner Liebe zu Caroline bewegten sich rückläufig um ihn wie Jahre in Einsteins Physik. Quälende Erinnerungen stiegen in ihm auf – an Fahrten im Mondschein auf Long Island; an eine schöne Zeit am Lake Placid, als ihre Wangen so kalt waren, aber innerlich glühten; an einen hoffnungslosen Nachmittag in einem kleinen Café in der Forty-eighth Street in den letzten traurigen Monaten, als ihre Heirat schon unmöglich erschien.
»Herein«, sagte er laut.
Es war die Concierge mit einem Telegramm. Sie war unfreundlich, weil Mr. Curlys Anzüge ziemlich abgetragen waren, weil Mr. Curly wenig Trinkgeld gab und weil er ganz offensichtlich nur ein petitclient war.
Michael las das Telegramm.
»Eine Antwort?«, fragte die Concierge.
»Nein«, sagte Michael, und dann aus einem plötzlichen Impuls: »Hier, lesen Sie.«
[50] »Sehr bedauerlich«, sagte die Concierge. »Ihr Großvater ist gestorben.«
»Nicht allzu bedauerlich«, sagte Michael. »Es bedeutet, dass ich eine Viertelmillion Dollar erbe.«
Einen einzigen Monat zu spät; nach der ersten Aufregung über die Nachricht fühlte er sich unglücklicher denn je. Wach im Bett liegend, hörte er in dieser Nacht endlos die lange Karawane eines Zirkus durch die Straßen fahren, von einem Pariser Rummelplatz zum anderen.
Als der letzte Zirkuswagen außer Hörweite gerumpelt war und die Winkel des Zimmers sich mit der Morgendämmerung pastellblau lichteten, dachte er immer noch an den Ausdruck in Carolines Augen – ein Blick, der zu sagen schien: »Oh, warum hast du nicht etwas tun können? Warum konntest du dich nicht als stärker erweisen, mich dazu bringen, dich zu heiraten? Siehst du nicht, wie unglücklich ich bin?«
Michael ballte die Fäuste.
»Ich darf jetzt noch nicht aufgeben«, flüsterte er. »Ich hatte bis jetzt alles erdenkliche Pech, und vielleicht wendet sich am Ende das Blatt noch. Man nimmt, was man kriegen kann, soweit man die Kraft dazu hat, und wenn ich Caroline nicht haben kann, so wird sie wenigstens etwas von mir im Herzen tragen, wenn sie in diese Ehe geht.«
[51] II
Und so ging er zwei Tage später zu der Party im Chez Victor, oben in den kleinen Salon neben der Bar, wo man sich zum Cocktail versammeln sollte. Er war früh dran; außer ihm war nur noch ein großer magerer Mann von etwa fünfzig Jahren da. Sie kamen ins Gespräch.
»Sind Sie auch wegen George Packmans Party hier?«
»Ja. Mein Name ist Michael Curly.«
»Mein Name ist…«
Michael hatte den Namen nicht richtig mitbekommen. Sie bestellten einen Drink, und Michael gab der Vermutung Ausdruck, dass Braut und Bräutigam sich dieser Tage wohl bestens amüsierten.
»Viel zu sehr«, meinte der andere stirnrunzelnd. »Ich weiß nicht, wie sie das durchhalten. Wir kamen alle zusammen mit dem Schiff herüber; fünf verrückte Tage und dann zwei Wochen Paris. Sie werden…«, er zögerte lächelnd, »Sie werden es mir nicht übelnehmen, wenn ich sage, dass Ihre Generation zu viel trinkt.«
»Nicht Caroline.«
»Nein, Caroline nicht. Es scheint, sie nimmt nur einen Cocktail und ein Glas Champagner, und dann hat sie genug, Gott sei Dank. Aber Hamilton trinkt zu viel und dieses ganze junge Volk trinkt zu viel. Leben Sie in Paris?«
»Im Augenblick, ja«, sagte Michael.
»Ich mag Paris nicht. Meine Frau – will sagen, meine Exfrau, Hamiltons Mutter – lebt in Paris.«
»Sie sind Hamilton Rutherfords Vater?«
»Ich habe diese Ehre. Und ich leugne nicht, dass ich [52] stolz bin, wie weit er’s gebracht hat; das hört man jetzt allgemein.«
»Natürlich.«