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Wikis und die Wikipedia verstehen E-Book

Ziko van Dijk

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Beschreibung

Kaum eine Website wird so oft aufgerufen wie das Lexikon »Wikipedia«. Möglich wurde es durch das Wiki-Konzept, das zum Mitmachen einlädt. Wie aber funktioniert ein Wiki und wie kann man es für die eigenen Ziele nutzbar machen? Wikis und die Wikipedia wirken undurchdringlich und unüberschaubar. Ein besseres Verständnis ist aber wichtig für diejenigen, die ein Wiki gründen, fördern oder erforschen wollen. »Wikis und die Wikipedia verstehen« ist der unentbehrliche Begleiter für den eigenen Zugang zum Thema und vermittelt Hintergrundwissen aus der Praxis und Erkenntnisse aus der Fachliteratur in einem systematischen Überblick.

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Ziko van Dijk (Dr.), geb. 1973, hat an deutschen Universitäten Lehraufträge über Wi- kis und zur Sprachwissenschaft übernommen. Er war Vorsitzender des Fördervereins Wikimedia Nederland und Mitglied des Schiedsgerichts der deutschsprachigen Wiki- pedia. Er ist Mitgründer des Klexikons, einer Wiki-Enzyklopädie für Kinder.

Ziko van Dijk

Wikis und die Wikipedia verstehen

Eine Einführung

Die freie Verfügbarkeit der elektronischen Ausgabe dieser Publikation wurde ermöglicht durch den Verein Wikimedia CH.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-ShareAlike 4.0 Lizenz (BY-SA). Diese Lizenz erlaubt unter Voraussetzung der Namensnennung des Urhebers die Bearbeitung, Vervielfältigung und Verbreitung des Materials in jedem Format oder Medium für beliebige Zwecke, auch kommerziell, sofern der neu entstandene Text unter derselben Lizenz wie das Original verbreitet wird. (Lizenz-Text: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.de)

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Erschienen 2021 im transcript Verlag, Bielefeld

© Ziko van Dijk

Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld

Umschlagcredit: Ziko van Dijk nach einer Idee von Hilma af Klint Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar

Print-ISBN 978-3-8376-5645-9

PDF-ISBN 978-3-8394-5645-3

EPUB-ISBN 978-3-7328-5645-9

https://doi.org/10.14361/9783839456453

Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de

Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt

Für wen und wozu dieses Buch?

AAllgemeines

A.1Zur Einführung

A.1.1Überblick Wiki-Modell

A.1.2Zu den hier behandelten Wikis

A.1.3Technische, soziale und kulturelle Dimension

A.1.4Wissenschaftliche Forschung

A.2Wikis als Medien

A.2.1Soziale Medien

A.2.2Wesen und Merkmale von Wikis

A.2.3Definition

A.2.4Wiki-Typen

A.2.5Orientierung

A.3Allgemeine Aspekte

A.3.1Identität, Kontinuität und Verbundenheiten

A.3.2Offenheit und Geschlossenheit

A.3.3Wiki-Kreisläufe

A.3.4Chronologische Aspekte

A.3.5Exkurs: Die Entwicklung der Wikipedia

A.3.6Name eines Wikis

A.4Wiki als technisches Medium

A.4.1MediaWiki-Software

A.4.2Benutzerkonto

A.4.3Seite

A.4.4Bearbeitung

A.4.5Code und Arten von Bearbeitungen

A.4.6Kommunikation

A.5Zusammenfassung

BAkteure

B.1Eigentümer

B.1.1Eigentümer und Eigentümerschaft

B.1.2Ziele und Erlösmodelle

B.1.3Exkurs: Wiki-Gründer

B.1.4Aufgaben und Pflichten

B.1.5Umfeld

B.1.6Exkurs: Bewegung für Freie Inhalte

B.2Rezipienten

B.2.1Publikum und Zielgruppen

B.2.2Attraktivität des Wikis

B.2.3Bedeutung von Rezipienten für das Wiki

B.2.4Selbstbild als reine Rezipienten

B.3Modifizienten

B.3.1Annahme der Modifizienten-Rolle

B.3.2Intrinsische Motivation

B.3.3Extrinsische Motivation

B.3.4Wiki-Identität

B.3.5Interner und externer Status

B.3.6Kompetenzen

B.3.7Erwerb von Kompetenzen

B.3.8Minderjährigkeit

B.3.9Exkurs: Niedrigschwellige Beteiligungsformen

B.4Gemeinschaft

B.4.1Gemeinschaftsbildung

B.4.2Größenordnungen

B.4.3Innere Organisation

B.4.4Soziale Gliederung und Diversität

B.4.5Gender Gap

B.4.6Funktionale Rollen

B.4.7Tätigkeiten im Wiki

B.4.8Wiki-Kultur

B.5Zusammenfassung

CRecht und Regeln

C.1Regelsetzung

C.1.1Staatliches Recht

C.1.2Wiki-Regeln des Eigentümers

C.1.3Wiki-Regeln der Modifizienten

C.1.4Adaptierte Regeln

C.1.5Kodifizierung

C.2Handhabung

C.2.1Verantwortung

C.2.2Sanktionen

C.2.3Soziale Sanktionen

C.2.4Selbstjustiz

C.2.5Harassment

C.2.6Zweckentfremdungen

C.2.7Werbung

C.2.8Vandalismus und Fakes

C.3Urheberrecht

C.3.1Urheberrecht und Wikis

C.3.2Konzept Freie Inhalte

C.3.3Hybrid-Konzepte und Inhalte Dritter

C.3.4Urheberrechtsverletzungen und Plagiate

C.3.5Exkurs: Frei und offen

C.4Zusammenfassung

DInhalt

D.1Welt, Modifizienten, Inhalt

D.1.1Wissen

D.1.2Herkunft des Inhalts

D.1.3Welt und Quellen

D.1.4Primärquellen

D.1.5Wiki-Autorschaft und Wiki-Stimme

D.1.6Bewertung

D.1.7Darstellender und diskursiver Inhalt

D.2Struktur

D.2.1Hauptinhalt und Nebeninhalt

D.2.2Makrostruktur

D.2.3Segmentierung

D.2.4Unikaler Inhalt

D.2.5Hypertext und Mesostruktur

D.2.6Mikrostruktur

D.3Inhaltliche Inklusion und Qualität

D.3.1Exkurs: Enzyklopädie

D.3.2Rahmen

D.3.3Relevanz

D.3.4Qualitätskriterien

D.3.5Aktualität

D.3.6Dynamische und statische Inhalte

D.3.7Neutralität

D.3.8Multimodalität

D.3.9Exkurs: Wikis und Politik

D.4Mehrsprachigkeit

D.4.1Soziale Dimension

D.4.2Kulturelle Dimension

D.4.3Technische Dimension

D.4.4Exkurs: Fremde Hilfe

D.5Zusammenfassung

EKollaboration

E.1Gemeinschaft und Inhalt

E.1.1Crowd und Crowdsourcing

E.1.2Weisheit der Vielen

E.1.3Kollaboration und Inhalt

E.1.4Kollaborative Autorschaft

E.1.5Eigentumsgefühle und Eigentumsverbot

E.1.6Konkurrenz zwischen den Modifizienten

E.2Voraussetzungen und Formen

E.2.1Schreibhandlungen

E.2.2Kollaborationsformen

E.2.3Stufen der Kollaboration

E.2.4Konflikte und ihre Lösung

E.2.5Kollaborationsbegrenzung

E.2.6Wiki-Maximen

E.3Zusammenfassung

FSchlussbetrachtungen

Glossar

Literaturverzeichnis

Online-Ressourcen

Tabellen

Abbildungen

Abkürzungen

Für wen und wozu dieses Buch?

Seit dem Jahr 2001 gibt es die Website Wikipedia, die sich im Untertitel »die freie Enzyklopädie« nennt. Innerhalb weniger Jahre hat sich die Wikipedia als das »Wissens-Leitmedium im World Wide Web« (Niesyto 2016: 20) etabliert. Jeden Monat wird sie weltweit 15 Milliarden mal aufgerufen, von anderthalb Milliarden einzelnen internetfähigen Geräten aus (Johnson et al. 2020: 1). Dabei halten viele Leserinnen und Leser1 das Wort »Wiki« einfach nur für eine Abkürzung für »Wikipedia«. Tatsächlich ist ein Wiki eine bestimmte Art Website mit gemeinschaftlichen Inhalten, die von den Besuchern verändert werden dürfen.

Es besteht also ein starker Kontrast zwischen der Popularität der Wikipedia einerseits und der geringen Bekanntheit des Wiki-Konzeptes andererseits. Robert E. Cummings hat diesen Kontrast in einem amüsanten Dialog zwischen einem potenziellen Buchautor und einem Verlagsvertreter dargestellt (Cummings 2008: 3). Übersetzt und gekürzt sieht das Gespräch etwa so aus:

Der Autor bietet auf einer Buchmesse dem Verlagsvertreter ein Manuskript über Wikis an. Der Verlagsvertreter lehnt ab, man veröffentliche keine Bücher über das Okkulte. Nein, erklärt der Autor, es handele nicht von der Sekte der Wiccans, sondern von Wikis. Was ein Wikis sei? Nein, Wiki, Einzahl. Das ist ein kollaborativer Webspace, in dem man die Mechaniken der Epistemologie und die Politik der Wissensschöpfung aufdecken und erforschen kann. Stille. Der Autor: Haben Sie schon mal von der Wikipedia gehört? – Oh! Wikis!

Das Wiki-Konzept ist älter als die Wikipedia und wird für viele weitere, wesentlich kleinere und weniger bekannte Wiki-Websites verwendet: für Wörterbücher und Reiseführer, für Sammlungen von Kochrezepten oder historischen Texten, als innerbetriebliches Tool für das Wissensmanagement, als Datenbank sowie als Lernplattform. Wikis und die Wikipedia gelten als Vorzeigebeispiel der Sozialen Medien und als Beweis für die kreative Kraft, die Ehrenamtliche auf einer offenen Plattform entfalten.

Das Wiki-Konzept kommt mit einer doppelten Verheißung daher (Van Dijk 2017: 1). Demnach eignen Wikis sich gut dazu, umfangreiche Inhalte von beeindruckender Qualität zu erstellen. Außerdem scheinen sie eine gleichberechtigte Beteiligung aller Menschen zu ermöglichen. Wikis führen also zu einem hochwertigen Produkt dank breiter Partizipation ohne Hierarchien. Wenn sich nur genügend Menschen den Inhalt anschauen, dann werden alle Fehler entdeckt, so die klassische Annahme von Eric Raymond (»given enough eyeballs, all bugs are shallow«, zitiert nach Groß 2016: 50). Für die Gründer von Wikis ist die Aussicht verlockend, bei geringem eigenen Einsatz Ehrenamtliche zur Erschaffung von Inhalt zu bewegen. Wikis wurden außerdem in Unternehmen, Behörden und Schulen eingerichtet, um das produktive Potenzial von Wikis zu nutzen.

Die langjährige Erfahrung hat gezeigt, dass nur manche Wikis zur Zufriedenheit der Beteiligten funktionieren und die Verheißungen einlösen. Ein Wiki ist offensichtlich kein Allheilmittel, das sich automatisch und in jeder Situation als das geeignetste Medium erweist. Die Wikipedia ist und bleibt ein »Einzelphänomen« (Mayer 2013: 66); Wiki-Gründer sollten sie sich nicht zum alleinigen Vorbild nehmen. Die Wikipedia ist zudem wohl ein Wiki, aber auch eine Enzyklopädie, sie bietet Ehrenamtlichen eine Plattform zur Erstellung eines Hypertextes und folgt dem Konzept Freie Inhalte. In der Analyse ist es manchmal schwierig zu erkennen, welches dieser Merkmale zu welcher Eigenschaft oder zu welchen Ergebnissen geführt hat.

Zu Wikis und verwandten Themen gibt es mittlerweile zahlreiche Studien. Die vielen Wissenschaftler, die Wikis erforschen, tun dies in erster Linie als Informatiker, Linguisten, Soziologen, Historiker, Juristen, Pädagogen oder vom Standpunkt einer anderen Fachwissenschaft aus. Das Forschungsobjekt dient dazu, Fragen der jeweiligen Fachwissenschaft anhand der Methoden dieser Fachwissenschaft und innerhalb eines institutionellen Rahmens zu beantworten. Wikis nach dem Vorbild der Wikipedia sind für Forscher nicht zuletzt deshalb attraktiv, weil sowohl der eigentliche Inhalt als auch die Diskussionen dazu öffentlich einsehbar sowie nach dem Konzept Freie Inhalte verwendbar sind.

Es ist bereichernd, dass Wikis von so vielen verschiedenen Fachrichtungen erforscht werden. Allerdings steht dadurch oft die jeweilige Fachwissenschaft im Mittelpunkt des Interesses und nicht das Wiki. Es gibt bislang nur Ansätze für ein etabliertes, konturiertes Forschungsgebiet »Wikis und die Wikipedia«, in dessen Rahmen man Fragestellungen direkt zu Wikis entwickelt und zur Vernetzung der Forscher beiträgt.

Wer ein Wiki erforschen will, muss sich ein passendes Forschungsdesign aufbauen. Wer den Umgang mit Wikis unterrichten will, braucht ein Curriculum mit den einzelnen Arbeitsschritten. Wer ein Wiki unterstützen oder im Unternehmen einsetzen will, erstellt einen Arbeitsplan mit geeigneten Fördermaßnahmen. Für diese Tätigkeiten braucht man nicht nur die Kenntnis, wie man forscht, unterrichtet oder fördert, sondern auch eine theoretische Grundlage zu Wikis als Ausgangspunkt für eigene Überlegungen.

Im Gespräch mit vielen verschiedenen Menschen, die mit Wikis umgehen, aber auch für mich selbst habe ich festgestellt, dass diese Grundlage noch ausbaufähig ist. Das vorliegende Buch versucht daher eine Synthese oder zumindest eine Synopse, also eine Zusammenschau, als Beitrag zu einem Forschungsgebiet Wikis und die Wikipedia. Wichtige Leitfragen auf diesem Weg lauten:

•Welches sind die Eigengesetzlichkeiten, die Stärken und Schwächen von Wikis?

•Wie ist Zusammenarbeit möglich, ohne dass Blockaden entstehen?

•Wer stellt die Regeln auf, wer handhabt sie?

•Wie wird die Qualität des Inhaltes gesteigert?

•Gibt es Inhalte, die sich für ein Wiki mehr eignen als andere?

•Wann kann man von einem konkreten Wiki sagen, dass es erfolgreich sei?

Das Buch folgt einer geisteswissenschaftlichen Haltung: Es interessiert sich mehr für Ideen als für Gesetzmäßigkeiten; es strebt nach »Erkenntnis der Wirklichkeit in ihrer qualitativ individuellen Eigenart« und nicht so sehr nach einem »System allgemeingültiger Begriffe und Gesetze« (nach Max Weber, siehe Müller 2007: 56). Es versucht dennoch, auf dem Weg zur »erste[n] Version einer Theorie« zu Wikis Grundannahmen mit Theorien und Untersuchungen anhand der Literatur zu verbinden (siehe Astleitner 2011: 103, 108).

Wegen der vielen möglichen Unterthemen war eine gewisse Beschränkung notwendig, so dass das Buch sicher nicht alle Erwartungen erfüllt, die man berechtigterweise an einen solchen Versuch stellen kann. Es konzentriert sich auf Wikis nach dem Vorbild der Wikipedia sowie auf die weit verbreitete MediaWiki-Software. Viele denkbare fachwissenschaftliche Zugänge kann das Buch bzw. sein Verfasser nur bedingt oder gar nicht leisten. Aussagen über rechtliche Themen sind nicht als Rechtsberatung zu verstehen.

Dieses Buch ist durch die Hilfe vieler Menschen möglich geworden. An allererster Stelle stehen die Unterstützung und der Zuspruch meiner Frau, auch die Rücksichtnahme meines Sohnes. Von den Wiki-Kollegen nenne ich stellvertretend für viele Chuck Smith. Prof. Angelika Storrer, Prof. Michael Beißwenger und Prof. Eva Gredel haben mich auf dem Weg begleitet, Wissen über Wikis akademisch aufzubereiten.

Hinweise zur Verbesserung des Textes habe ich von Markus Glaser, Rainer Halama, Frans Grijzenhout, Gerhard Jahnke, Gereon Kalkuhl, Patrick Kenel, Manfred Lange, Raphael Mair, Lukas Mezger, Daniel Mietchen, Thomas Planinger, Elly Waterman, Thomas Wozniak, Benutzer:Der-Wir-Ing, Benutzer:Gestumblindi, Benutzer:Holder und Benutzer:Toter Alter Mann erhalten, weitere Hilfe gab es von Nadine Anskeit, Cornelia Fiedler, Dariusz Jemielniak, Andreas Möllenkamp, Shani Evenstein Sigalov und Christian Vater. Besonders häufigen und intensiven Austausch hatte ich mit der Wiki-Unternehmerin und Wiki-Forscherin Anja Ebersbach. Ebenso erwähne ich hier gern, dass der Verein Wikimedia CH die Veröffentlichung durch eine finanzielle Förderung unterstützt hat.

Ich bin all diesen Menschen zu Dank verpflichtet. Was am Buch noch verbesserungswürdig geblieben ist, trifft jedoch ganz allein mich.

1Das vorliegende Buch verwendet in der Regel das generische Maskulinum. Damit Frauen nicht unsichtbar bleiben, steht bei vielen Beispielen die weibliche Form. Sollte an einer konkreten Stelle ausdrücklich ein Mensch mit einem bestimmten Geschlecht gemeint sein, so wird dies bei Bedarf entsprechend verdeutlicht.

AAllgemeines

Das erste Kapitel dieses Buches präsentiert das Thema Wikis und die Wikipedia und bereitet die späteren Kapitel vor, die sich einzelne Komponenten des Wiki-Modells vornehmen. Es beginnt mit einem Überblick, der den Einstieg in das Buch und in das Wiki-Modell erleichtern soll. Sogleich wird auch eine Reihe an bedeutenden Wikis vorgestellt, um einen Eindruck von der Vielfalt von Wikis zu geben. Im Buch wird des Öfteren auf diese Wikis verwiesen.

Es folgt eine Behandlung unterschiedlicher wissenschaftlicher Herangehensweisen an das Thema. Auch wegen dieser Unterschiedlichkeit wurde hier nicht versucht, einen allgemeinen heutigen Forschungsstand darzustellen (so auch Groß 2016: 63, Fn. 91). Dazu müsste man teilweise die Entwicklung in jeder einzelnen Fachrichtung nachzeichnen. Stattdessen wird vorgestellt, wie ein entstehendes Forschungsgebiet »Wikis und die Wikipedia« aussehen könnte.

Ausgehend von Medien im Allgemeinen werden Wikis hier vor allem als Unterkategorie der Sozialen Medien betrachtet. Diese Herleitung mündet in einem Versuch, Wikis zu definieren. Die Schwierigkeit dabei liegt darin, Wikis von anderen Sozialen Medien und Plattformen für Zusammenarbeit abzugrenzen, ohne dadurch unnötig viele real existierende Wikis auszuschließen. Eine Wiki-Typologie kann ein Weg sein, mit der Verschiedenheit von Wikis besser umzugehen.

Ferner behandelt das Kapitel einige weitere, allgemeine Aspekte von Wikis, die wiederholt im Buch vorkommen und die nicht einfach einem der Elemente im Wiki-Modell zugeordnet werden können. Eines dieser Elemente schließt das Kapitel gleichwohl ab: das Wiki als technisches Medium. In der Forschung wird vermutet, dass diese technische Grundlage einen bedeutenden Einfluss darauf hat, wie ein Wiki als Gesamtmedium funktioniert.

A.1Zur Einführung

Es ist eine gewisse Herausforderung gewesen, das vorliegende Buch zu gliedern. Für die Behandlung von Wikis scheint es keinen unbestrittenen Ausgangspunkt zu geben, keine natürliche Stelle, von der aus sie den weiteren Weg von selbst fände.

•In der schließlich gewählten Gliederung führt das Kapitel A in das Thema ein, ordnet Wikis in die Medien bzw. Sozialen Medien ein, wagt sich an eine Definition und stellt allgemeine Aspekte sowie das Wiki als technisches Medium vor.

•In Kapitel B geht es um die Akteure: um den Wiki-Eigentümer und Fragen der Eigentümerschaft, um die Rezipienten, welche die Inhalte des Wikis konsumieren, und schließlich um die Modifizienten (d.h. Bearbeiter, Teilnehmer) des Wikis und ihre Gemeinschaft.

•Das Kapitel C handelt von rechtlichen Fragen. Es werden wiki-relevantes Recht und Wiki-Regeln vorgestellt. Hinzu kommen die wichtigsten Arten von Regelverstößen und die Probleme der Handhabung. Breiteren Raum erhielt ferner das Thema Urheberrecht einschließlich des Konzeptes Freie Inhalte, das in vielen Wikis angewandt wird.

•Im Kapitel D geht es um den Inhalt des Wikis, unter anderem um seine Herkunft, seine Beschaffenheit und um die strukturierte Darstellung der Welt im Wiki.

•So vorbereitet erreicht das Buch das Kapitel E zum Thema Kollaboration, dem zentralen Merkmal von Wikis. Es gibt verschiedene Formen der Zusammenarbeit im Wiki und mehrere Arten, mit den Konsequenzen dieses Merkmales umzugehen.

In Querverweisen werden die Gliederungselemente der obersten Ebene Kapitel genannt, diejenigen der zweiten oder dritten Ebene Abschnitte. Am Ende eines Kapitels befindet sich stets eine Zusammenfassung. Ferner findet man am Ende des Buches ein Sachverzeichnis sowie ein Glossar mit den wichtigsten Fachbegriffen zum raschen Nachschlagen.

A.1.1Überblick Wiki-Modell

Die obige Übersicht erwähnt bereits Komponenten und davon abgeleitete Konzepte aus dem Wiki-Modell, das für das vorliegende Buch erarbeitet wurde. Dieses Beschreibungsmodell soll Orientierung zum Sprechen über Wikis geben: einerseits zum Konzept Wiki im Allgemeinen und andererseits für die Beobachtung, die Analyse und den Vergleich konkreter Wikis. Um den Einstieg in dieses Buch zu erleichtern, soll das Modell gleich hier zu Beginn in seinen Grundzügen vorgestellt werden. In den späteren Teilen des Buches findet man Näheres zur gewählten Terminologie, zur Herleitung, Ansätze zu einer Systematik und Hinweise für die Praxis.

Ein Wiki ist ein Medium, das die Produktion und Distribution von gemeinschaftlichem Inhalt ermöglicht. Mit Produktion ist sowohl die Erstellung als auch die Veränderung gemeint. Wenn es im Wiki-Modell um diese Plattform geht, wird vom Wiki als technischem Medium gesprochen (siehe Abschnitt A.4). Dazu benötigt man eine Wiki-Software, deren Funktionen den Anforderungen an ein Wiki genügen. Im Wesentlichen ist das Wiki als technisches Medium eine Datenbank (Mayer 2013: 27): Einerseits werden Seiten mit ihrem Inhalt, andererseits Zugangsrechte über Benutzerkonten verwaltet.

Eine Bearbeitung (oder englisch edit) bedeutet bei Wikis, dass eine Seite verändert wird. Dabei entsteht eine neue Seitenversion. Bei diesem Vorgang registriert und dokumentiert das Wiki als technisches Medium Zusatzdaten (Metadaten), nämlich den Zeitpunkt der Bearbeitung und das Konto, von dem aus die Bearbeitung vorgenommen wurde. Die älteren Versionen bleiben dauerhaft erhalten und einsehbar. Dank der Versionierung lässt sich nachvollziehen, wer die Seite wie bearbeitet hat.

Abbildung 1: Wiki-Modell im Überblick

Am Wiki sind verschiedene Akteure beteiligt. Die wichtigsten werden hier als Eigentümer, Rezipienten oder Modifizienten beschrieben. Weitere Akteure sind beispielsweise Partner des Eigentümers oder Förderer, die ein Wiki auf die eine oder andere Weise unterstützen. Alle Akteure agieren innerhalb eines gesellschaftlichen Umfeldes.

Der Eigentümer des Wikis (siehe Abschnitt B.1) verfügt über die notwendige technische Infrastruktur und beherrscht die Grundeinstellungen des Wikis als technisches Medium. Vermutlich hat er den Namen des Wikis als Marke eintragen lassen. Manche Wiki-Eigentümer haben darüber hinaus die Nutzungsrechte an den Inhalten im Wiki und sind die Arbeitgeber derjenigen, die das Wiki bearbeiten. In anderen Wikis wie der Wikipedia hingegen ist der Inhalt user-generated content (UGC, siehe Abschnitt D.1.2), der zudem auf dem Konzept Freie Inhalte basiert, und die Bearbeiter sind Ehrenamtliche. Eigentümer sind in ein Umfeld eingebettet, zu dem eine Mesoebene, eine Exoebene und eine Makroebene gehören (siehe Abschnitt B.1.5).

Die Menschen, die ein Wiki bearbeiten, werden im Wiki-Modell Modifizienten genannt (siehe Abschnitt B.3). Ein Modifizient interagiert mit anderen Modifizienten, die aus seiner Sicht Ko-Modifizienten sind. Rezipienten (siehe Abschnitt B.2) konsumieren die Inhalte von Wikis. Bei den meisten Wikis ist die Zahl der Rezipienten viel höher als die Zahl der Modifizienten. Wenn ein Rezipient keine andere Rolle als die des Rezipienten annimmt, dann kann man ihn zur Verdeutlichung auch einen reinen Rezipienten nennen. Einige Rezipienten hingegen wechseln die Rolle und werden (auch) zu Modifizienten. In der Praxis wechseln diese Akteure beständig zwischen den Rollen Rezipient und Modifizient, denn ein Modifizient sieht zumindest seine eigenen Bearbeitungen und ist dann wieder ein Rezipient.

Der Inhalt im Wiki wird unterteilt in Hauptinhalt und Nebeninhalt. Manche Seiten eines Wikis beinhalten Hauptinhalt, also diejenigen Inhalte, deretwegen es das Wiki überhaupt gibt. Hauptinhalt richtet sich normalerweise an (reine) Rezipienten. Im Falle der Wikipedia sind dies enzyklopädische Artikel wie »Sibirischer Tiger«, »Ella Fitzgerald« oder »Greifswalder Bodden«, bei Wikidata sind es Aussagen zu Daten-Objekten, in Wikimedia Commons Medien-Dateien, in Wiktionary Wörterbuch-Artikel. Nebeninhalt hingegen fördert direkt oder indirekt den Hauptinhalt und richtet sich vor allem an die Modifizienten. Typischer Nebeninhalt sind die Seiten mit Regeln und technischen Erläuterungen sowie die Diskussionsseiten (siehe Abschnitt D.2.1).

Gerade im Hauptinhalt geht es darum, dass die Modifizienten die Welt bzw. Objekte der Welt beschreiben (siehe Abschnitt D.1). Dies leisten sie aufgrund von eigener Betrachtung der Welt oder aufgrund von medial vermitteltem Wissen, anhand von Quellen. Im vorliegenden Buch wird »Informationsquelle« als Oberbegriff verwendet. Dabei handelt es sich um Primär-, Sekundär- und Tertiärquellen (siehe Abschnitt D.1.3). Welche Inhalte und welche Quellen in einem Wiki erwünscht werden, hängt von dessen Zielen ab.

»Wiki-relevantes Recht und Wiki-Regeln« (siehe Abschnitt C.1) umfasst die Gesamtheit aller Normen, die für ein konkretes Wiki relevant sind. Mit Recht ist hier staatliches Recht gemeint; Wiki-Regeln werden entweder vom Eigentümer oder von den Modifizienten aufgestellt. Ferner können Eigentümer und Modifizienten auch fremde Regeln – zum Beispiel anderer Organisationen – adaptieren. Regeln müssen schließlich gehandhabt werden, um Verstöße einschließlich typischer Zweckentfremdungen des Wikis zu ahnden (Abschnitt C.2.6).

Zusammenarbeit zwischen den Modifizienten wird meist Kollaboration genannt. Bezogen auf den Inhalt ist damit gemeint, dass mehr als eine Person Inhalt bearbeiten kann, darf und soll. Statt von kollaborativem Inhalt wird im vorliegenden Buch oft auch von der Gemeinschaftlichkeit der Inhalte gesprochen (siehe Abschnitt E.1.3). Das Modell unterscheidet zwischen verschiedenen Stufen der Kollaboration: Bei der insularen Kollaboration arbeiten die Modifizienten unabhängig voneinander an Inhalten, tragen aber zu einem gemeinsamen Wiki bei. Schwache Kollaboration liegt vor, wenn ein Leithandelnder oder »Hauptautor« eine zentrale Rolle für eine Wiki-Seite spielt, während die Ko-Modifizienten ihm Vorschläge machen. Bei der starken Kollaboration arbeiten die Modifizienten gleichberechtigt an gemeinschaftlichem Inhalt, was zu Aushandlungskosten und Blockaden führen kann (siehe dazu vor allem Abschnitt E.2.4).

A.1.2 Zu den hier behandelten Wikis

Das vorliegende Buch bemüht sich um Verallgemeinerungen zu Wikis. Dennoch ist es unumgänglich, sich zunächst auf konkrete, einzelne Wikis zu beziehen, wenngleich dies das Risiko in sich birgt, dass eine Vorauswahl von Wikis einen unerwünschten Einfluss auf die Perspektive und folglich auf die Definition von Wikis hat. Die hier kurz vorgestellten Wikis werden im Buch bevorzugt oder zumindest wiederholt behandelt. Dabei liegt der Schwerpunkt auf den offen-öffentlichen Wikis und da vor allem auf den Wikis der Wikimedia-Bewegung wie der Wikipedia.1

Abbildung 2: Wikimedia-Bewegung

Die Wikipedia wurde vom Amerikaner Jimmy Wales gegründet bzw. mitgegründet. Er war der Miteigentümer und CEO des Internet-Startups Bomis. Anfang 2000 gründete der wissensbegeisterte Wales eine Online-Enzyklopädie mit dem Namen Nupedia. Sie orientierte sich an traditionellen Nachschlagewerken und kannte einen aufwändigen Peer-Review-Prozess zur Überprüfung der Inhalte. Die Autoren waren eigens dazu ausgesuchte Akademiker, die ehrenamtlich beitrugen. In naher Zukunft wollte Bomis dank Anzeigen Geld mit der Nupedia verdienen (Rijshouwer 2019: 56/67).

Doch Wales und sein Mitarbeiter für die Enzyklopädie, der Philosoph Larry Sanger, sahen, dass nur wenige Nupedia-Artikel entstanden. Darum schalteten sie am 15. Januar 2001 eine neue Website frei, die sie Wikipedia nannten. Sie sollte als Experimentierplattform für künftige Nupedia-Artikel dienen. Das Wiki zog rasch Ehrenamtliche an, die mehr und mehr Artikel beitrugen. Schließlich gaben Wales und Sanger die Nupedia auf und konzentrierten sich auf die Wikipedia (Lih 2009: 88, 136, 171; Groß 2016: 31-33; Rijshouwer 2019: 57-61). Sanger verließ die Wikipedia 2002 und gründete andere Projekte wie die Enzyklopädie Citizendium (Citizendium/Welcome 2020).

Mit wachsender Aktivität in der Wikipedia stiegen auch die Kosten für ihren Betrieb. Da viele Wikipedia-Modifizienten Werbung auf den Seiten unakzeptabel fanden, entschied Wales sich schließlich im Juni 2003 zu einem radikalen Schritt: Er übertrug die Markenrechte an der Wikipedia, Domain-Namen sowie Server von Bomis einer neuen Organisation, der Wikimedia Foundation (WMF; Rijshouwer 2019: 61). Die gemeinnützige Organisation mit Sitz in den USA lebt seitdem von Spenden und der Arbeit der Wiki-Ehrenamtlichen. Es handelt sich um eine Stiftung mit einem Stiftungsrat als oberstem Organ. Der zehnköpfige Stiftungsrat beschließt Richtlinien und ernennt eine Direktorin, welche die Verwaltung der Wikimedia Foundation leitet. Die WMF ist also die Trägerorganisation der Wikipedia.

Ferner haben sich in verschiedenen Ländern formell eigenständige Vereine gegründet, welche die Arbeit der WMF unterstützen. Man kann diese chapters als Förderorganisationen einordnen: Sie helfen den Modifizienten in ihrem Land und betreiben Öffentlichkeitsarbeit. Der erste dieser Landesvereine war die Wikimedia Deutschland e.V. (WMDE) im Jahr 2004. Die Landesvereine haben mit der Wikimedia Foundation Verträge über die Zusammenarbeit abgeschlossen, wodurch sie Markennamen wie »Wikimedia« und »Wikipedia« verwenden dürfen.

Für Außenstehende mag die genaue Beziehung zwischen Foundation, Wikimedia-Wikis und Landesvereinen schwer durchschaubar sein. Hamann verweist darauf, dass WMDE nicht die Website Wikipedia betreibt, keine Wikipedia-Inhalte produziert und auch »kein offizieller Vertreter der deutschen Wikipedia-Gemeinschaft« ist. »Eine solche offizielle Vertretung gibt es nicht.« Allerdings trete WMDE in der Öffentlichkeit und auch vor Gericht »häufig als Vertreter der Wikipedia« auf, so dass der Verein manchmal durchaus als Vertreter wahrgenommen werde (Hamann 2019: 464).

Seit 2011 gibt es weitere Wikimedia-Organisationen, die sich nicht um ein Land kümmern, sondern um ein bestimmtes Thema. Beispiele sind Wikimedia Medicine, die Gruppe der tatarischsprachigen Wikimedianer, Wikigrannies, AfroCROWD sowie die Gruppe, die sich für das klassische Altertum interessiert. Die Wikimedia Foundation, die Landesvereine und die weiteren Organisationen sowie die Ehrenamtlichen nennt man gemeinsam die Wikimedia-Bewegung (oder auf Englisch Wikimedia Movement, siehe Jemielniak 2014: 128).

Die Wikipedia ist das bekannteste Wikimedia-Wiki. Es gibt sie offiziell in rund 300 Sprachversionen (Meta-Wiki/List of Wikipedias 2020), die sich trotz aller Gemeinsamkeiten deutlich voneinander unterscheiden können. Wird in diesem Buch nichts anderes angegeben, so beziehen sich Aussagen auf die deutschsprachige Wikipedia oder alle Sprachversionen. Zuweilen werden auch die Sprachversionen auf Englisch, Niederländisch, Afrikaans und Friesisch herangezogen, die sowohl sehr große als auch sehr kleine Sprachgemeinschaften repräsentieren.

Ferner hat die WMF außer der Wikipedia weitere Wikis eingerichtet, die man »Schwesterprojekte« (der Wikipedia) nennt. Im vorliegenden Buch wird der deutlichere Ausdruck »Wikimedia-Wikis« bevorzugt. Viele dieser Wikis lassen sich als Auslagerungen aus der Wikipedia verstehen. So wollte man in der Wikipedia keine Nachrichten-Artikel, keine Zitatensammlungen und keine historischen Quellentexte veröffentlicht sehen. Darum wurden Wikinews, Wikiquote und Wikisource gegründet.2

Wikivoyage ist ein Reiseführer (Wikivoyage/Hauptseite: 2020), der unter anderem durch seine Eigentümerwechsel interessiert. Ursprünglich gründete eine Privatperson, Evan Prodromou, im Jahr 2003 ein Wiki namens Wikitravel. Im April 2006 verkaufte er das Wiki jedoch. Unzufriedene Wikitravel-Modifizienten aus Deutschland errichteten im September desselben Jahres den Verein Wikivoyage e.V. als Trägerverein für ein neues Wiki. Das Wiki Wikivoyage ging im Dezember online und übernahm dabei viel Inhalt des ursprünglichen Wikis Wikitravel, das weiter existierte. Im Jahr 2012 entschied die Mitgliederversammlung von Wikivoyage e.V., die WMF um Übernahme des Wikis zu bitten.

Andere Wikimedia-Wikis beziehen ihre Bedeutung nicht zuletzt aus ihrer Hilfsfunktion für die Wikipedia:

•Wikimedia Commons heißt die gemeinsame Sammlung von Medien-Dateien für alle Wikimedia-Wikis. So gut wie alle Fotos, die man in Wikipedia-Artikeln sieht, sind tatsächlich auf Wikimedia Commons gespeichert und werden in die Wikipedia nur eingebunden. Das ist sinnvoller, als wenn man die Fotos in die jeweiligen Wikipedia-Sprachversionen oder andere Wikis hochladen – und dort rechtlich prüfen – müsste (Storrer 2018: 404; Commons/Hauptseite 2020).

•Wikidata ist eine gemeinsame Datenbank, deren Informationen teilweise bereits in Wikipedia-Sprachversionen und auf anderen Plattformen eingebunden werden (Wikidata/Hauptseite 2020).

•Meta-Wiki wurde ursprünglich für die Kooperation zwischen verschiedenen Wikipedia-Sprachversionen gegründet. Mittlerweile dient es der besseren Organisation der internationalen Wikimedia-Bewegung. Hier finden beispielsweise Diskussionen über die Strategie der WMF statt und es werden einzelne Aktivitäten aus der Wikimedia-Bewegung vorgestellt (Meta-Wiki/Main Page 2020).

Die Liste ist nicht vollständig; es gibt noch eine Reihe weiterer Wikis, die mal als Schwesterprojekt bezeichnet werden, mal nicht. Ein Beispiel ist das Wiki Mediawiki.org für Entwickler und Anwender der MediaWiki-Software (MediaWiki/Main Page 2020; siehe eine Liste auf: Meta-Wiki/Complete list of Wikimedia projects 2020).

Außer der Wikimedia Foundation gibt es weitere Organisationen, die mehr als nur ein einziges Wiki betreiben. Ein Beispiel aus dem deutschsprachigen Raum ist etwa die ZUM, die Zentrale für Unterrichtsmedien im Internet. Dieser eingetragene Verein setzt sich für Open Educational Resources (OER) nach dem Konzept Freie Inhalte ein. Dazu hat der Verein mehrere Websites eingerichtet, darunter auch Wikis. Zum Angebot der ZUM gehört die Einrichtung von einzelnen Wikis zum Beispiel für Schulen, die dafür einen Beitrag zahlen.

Das bedeutendste Wiki der ZUM ist oder war das ZUM-Wiki als Zusammenarbeitsplattform für OER; seit 2018 wird es schrittweise durch das Wiki ZUM-Unterrichten abgelöst. Zur ZUM gehören auch das Grundschulwiki (seit 2005), eine Lernplattform für Grundschulkinder, die das Schreiben von Sachtexten üben, sowie das Klexikon (seit 2014). In letzterem schreiben hauptsächlich Erwachsene enzyklopädische Artikel für junge Leser im Alter von sechs bis zwölf Jahren. Das Grundschulwiki ist also vor allem auf die Modifizienten ausgerichtet, das Klexikon auf die Rezipienten.3

Im Jahr 2004 gründete Jimmy Wales zusammen mit Angela Beesley das Unternehmen Wikia Inc., das mittlerweile in Fandom umbenannt worden ist. Das Unternehmen betreibt unter anderem die gleichnamige Plattform Fandom, auf der jedermann ein Wiki einrichten kann. Nach Ansicht von Wikia muss der Initiator Grundsatzentscheidungen gemeinsam mit anderen Beteiligten treffen. Die letztlichen Entscheidungen über das Wiki, wie eine mögliche Schließung, scheint sich das Unternehmen vorzubehalten.

Fandom gibt vor allem sogenannten Fan-Wikis eine Plattform, die Inhalte zu popkulturellen Themen wie Fernsehserien oder Computerspielen anbieten. Als Beispiel für ein erfolgreiches Wiki wurde hier Memory Alpha herangezogen, das sich mit dem Science-Fiction-Franchise Star Trek beschäftigt. Es entstand im Jahr 2003 noch außerhalb von Fandom und ist zwei Jahre später zu Fandom migriert. Ein anderes Wiki auf Fandom hat einen ernsteren Hintergrund: Das VroniPlag Wiki aus dem Jahr 2011 hat es sich zur Aufgabe gemacht, wissenschaftliche Abschlussarbeiten auf Plagiate zu überprüfen (Weber-Wulff 2014: 31-36). Es ist schließlich auf eine andere Plattform des Unternehmens umgezogen, wikia.org.4

Ebenfalls ein kommerziell orientierter Wiki-Eigentümer steht hinter wikiHow, einer viel rezipierten Ratgeber-Website. Das ursprünglich englischsprachige Wiki mit Ablegern in mehreren Sprachen wurde im Jahr 2005 gegründet. Man findet dort eher kurze Beiträge zu Themen wie »rostige Werkzeuge reinigen«, »Körperfett reduzieren beim Bodybuilding« oder »das Grab einer verstorbenen Person finden«.

Zu den erfolgreichsten Wikis gehört TV Tropes. Mit Tropen sind hier Metaphern, Stereotype und überhaupt wiederkehrende Darstellungsweisen in der Popkultur gemeint. Unter »Chirping crickets« wird beschrieben, wie in Filmen das Geräusch von zirpenden Grillen verwendet wird, um Langeweile oder Desinteresse auszudrücken. »Immortal Immaturity« bezieht sich auf unsterbliche Götter oder Aliens, die sich kindisch verhalten, und »New Media Are Evil« darauf, wie auch vernünftige Figuren sich negativ über neue Medien wie das Internet äußern.5 Dazu werden zahlreiche Beispiele für die Verwendung solcher Tropen in Comics, Filmen, Zeichentrick-Serien, Romanen usw. aufgelistet. Die Website wurde im Jahr 2004 von einem pseudonymen Programmierer gegründet und 2014 von Drew Schoentrup und Chris Richmond gekauft.

Tabelle 1: Übersicht Wikis (Auswahl)

URLGründungtägliche SeitenaufrufeEigentümeren.wikipedia.org2001-01-15203 MillionenWMFde.wikipedia.org2001-03-1613,9 MillionenWMFmeta.wikimedia.org2001-11-1964.300WMFde.wiktionary.org2002230.000WMFwikisource.org2003694.000WMFcommons.wikimedia.org20042,33 MillionenWMFde.memory-alpha.org2004n.a.Wikiaen.wikisource.org200494.200WMFka.stadtwiki.net20043.830Bildungsverein Region Karlsruhetvtropes.org20042,68 MillionenRichmond, Schoentrupde.wikisource.org200514.100WMFwikihow.com20058,52 MillionenwikiHow Inc.de.wikivoyage.org200610.600WMFgrundschulwiki.zum.de2006n.a.ZUMvroniplag.wikia.com2011n.a.Wikiawikidata.org2012336.000WMFklexikon.zum.de201412.400ZUM

Ein Beispiel für die Stadt- oder Regio-Wikis ist das Stadtwiki Karlsruhe. Es stammt aus dem Jahr 2004 und hat als Eigentümer den Bildungsverein Region Karlsruhe e.V. Einige andere Stadtwikis wie das FürthWiki haben einen ähnlichen Weg gewählt. Andere Stadtwikis gehören Verlagen oder Behörden. Das RegioWiki der HNA etwa gehört dem Verlag Dierichs GmbH & Co., der auch die Tageszeitung Hessische/Niedersächsische Allgemeine (HNA) herausgibt. Hinter der Wiki-Gründung stand der Gedanke, Inhalte der Zeitung im Wiki weiter zu verwerten.6

Viele große Organisationen wie die NASA, die CIA oder das MOMA haben interne Wikis, die ebenso wie Unternehmenswikis für die Forschung schwieriger zugänglich sind als offen-öffentliche Wikis. Eine Organisation mit einem geschlossen-öffentlichen Wiki ist die Mozilla Foundation mit dem MozillaWiki (Mozilla Wiki/Main Page 2020). Sie stellt Open-Source-Software wie den Firefox-Browser her. Gedacht ist das Wiki laut Eigenaussage, um ein Gesamtbild der Aufgaben und Geschichte von Mozilla zu geben. Es soll die Organisation »navigierbar« machen und einen Anknüpfungspunkt für neue Beiträger zu den Mozilla-Produkten bieten.

Tabelle 1 versucht, einen Überblick über die wichtigsten oder einige hier bevorzugt behandelten Wikis zu geben.7 Statistische Angaben zu Wikis und zu Websites allgemein sind schwierig zu interpretieren, da die Berechnungsgrundlagen nicht immer dieselben sind. Sie werden hier dennoch genutzt, um einen gewissen Eindruck von Größenverhältnissen zwischen den Wikis zu geben.

A.1.3 Technische, soziale und kulturelle Dimension

Wer ein Medium beobachtet oder erforscht und darüber kommuniziert, stößt immer wieder auf das Problem, dass man Phänomene von unterschiedlichen wissenschaftlichen Standpunkten aus betrachten kann. Wer in einer bestimmten Disziplin geschult worden ist, der hat zuweilen Mühe, die Denk- und Ausdrucksweisen anderer Disziplinen zu verstehen. Auch innerhalb eines Faches gibt es oftmals verschiedene Ansätze. Das erschwert die Zusammenarbeit mit Forschern aus anderen Fachrichtungen und überhaupt jeden transdisziplinären Ansatz.

Die Verschiedenheit dieser Denk- und Ausdrucksweisen ist wiederholt von Wissenschaftstheoretikern zum Thema gemacht worden, etwa von Max Weber, der die Sozialwissenschaften sowohl von den Geisteswissenschaften als auch von den Naturwissenschaften abgegrenzt hat (Müller 2007: 51-55). Kagan spricht von »drei Kulturen«, die unterschiedliche Zugänge zur Wirklichkeit anbieten. Die drei Kulturen unterscheiden sich darin, welche Hauptfragen in einer Wissenschaft gestellt werden, welche Quellen man sammelt und welche Kontrolle man über die Umstände hat, unter denen Beweise gesammelt werden, bis zu welchem Grad man generalisiert, in wie weit man historische Phänomene berücksichtigt und welche Bedeutung man ethischen Werten zuspricht. Kagan vermutet übrigens, dass Geisteswissenschaftler und Sozialwissenschaftler in ihren Vorstellungen und Methoden einander ähnlicher sind als beide den Naturwissenschaftlern (Kagan 2009: 2/3). Man kann gegebenenfalls von einem soziokulturellen Zugang sprechen.

Naturwissenschaftlern, so Kagan, geht es um das Vorhersagen und Erklären natürlicher Phänomene. Man beobachtet das Materielle kontrolliert in Experimenten und arbeitet sowohl in kleinen als auch in großen Gruppen zusammen. Geisteswissenschaftler hingegen interessieren sich dafür, wie Menschen auf Ereignisse reagieren und welche Bedeutung sie einer Erfahrung zuschreiben. Historische Umstände und der Einfluss des Ethischen sind für sie von größter Bedeutung. Sie arbeiten normalerweise allein und erfreuen sich an »semantisch kohärenten Argumenten, beschrieben in eleganter Prosa.« Sozialwissenschaftlern geht es um die Vorhersehbarkeit und Erklärung von menschlichem Verhalten (ebd.: 4/5).

Im vorliegenden Buch wird daher zwischen den folgenden drei Ebenen oder Dimensionen unterschieden, in denen wiki-bezogene Phänomene stattfinden bzw. beschrieben werden können:

•Die technische Dimension bezieht sich auf die technischen und naturwissenschaftlichen Fächer samt der Informatik und Mathematik. Ein Schwerpunkt ist das Wiki als technisches Medium einschließlich der Benutzerkonten und Seiten.

•Die kulturelle Dimension beschäftigt sich mit typisch geisteswissenschaftlichen Fragestellungen vor allem mit Blick auf den Wiki-Inhalt.

•Die (menschlich-)soziale Dimension dreht sich um die sozialen Beziehungen zwischen den Akteuren. Diese auch kommunikative Dimension ist dabei umfassend zu verstehen und betrifft nicht nur Fragen der eigentlichen Sozialwissenschaften, sondern auch des Rechts und der Politik; sie handelt ferner von den Motiven der Beteiligten.

Zwei Beispiele sollen verdeutlichen, was die drei Dimensionen bei der Analyse von Wikis bedeuten können. Eine Fußnote in einem Wiki lässt sich wie folgt betrachten:

•In der technischen Dimension ist die Fußnote eine bestimmte Art, Zeichen anzuzeigen. Dazu gehört etwa eine bestimmte Anweisung im Quelltext der Seite.

•In der kulturellen Dimension geht es darum, was für Inhalt in die Fußnote gehört. Manche Modifizienten wollen den Fußnoteninhalt strikt auf Belegangaben beschränken, die anderen wollen ihn auch für bloße Bemerkungen nutzen, die nicht in den Fließtext gepasst haben.

•Sozial dient die Fußnote dazu, den Inhalt gegenüber Rezipienten und Ko-Modifizienten zu legitimieren und eine Löschung dieses Inhaltes unwahrscheinlicher zu machen. Außerdem stellt jemand, der Fußnoten zu setzen weiß, sich gegenüber den Ko-Modifizienten als kompetenter Modifizient dar.

Das zweite Beispiel: Die Wikipedia gibt es in verschiedenen »Sprachversionen« wie der Wikipedia auf Englisch, der Wikipedia auf Deutsch oder der Wikipedia auf Niederländisch. Man listet sie gern in der Rangfolge der Artikelanzahl auf. Diese Rangfolge soll gewissermaßen die Bedeutung einer Sprachversion widerspiegeln. Um zu wissen, welche Sprachversion am meisten Artikel hat, muss man sich aber zunächst fragen, was man unter einem Artikel verstehen will:

•Eine Informatikerin würde versuchen, mit einer einfachen Suchanfrage alle Seiten zu zählen, die sich im Artikelnamensraum befinden. Schließlich ist dieser Namensraum ausdrücklich für Artikel da (siehe Abschnitt A.4.3). Wohl würde die Informatikerin nicht wirklich alle Seiten im Artikelnamensraum als Artikel berücksichtigen: Weiterleitungen und Begriffsklärungen etwa würde sie nicht mitzählen. Solche Seiten kann man leicht über den Quelltext erkennen und herausfiltern. Diese Herangehensweise ist in der technischen Dimension anzusiedeln.

•Eine Germanistin hingegen sieht im enzyklopädischen Artikel vor allem eine bestimmte Textsorte. Ein Text ist nicht einfach eine Aneinanderreihung von Sätzen. Vielmehr müssen die Sätze durch Textkohärenz und Textkohäsion miteinander verwoben sein. Hinzu kommen Kriterien für das Enzyklopädische als Textgattung, wie der sachliche Stil. Die letztliche Unterscheidung, ob ein vorliegender Text enzyklopädisch geschrieben ist oder wie es um seine Textqualität steht, kann wahrscheinlich nur ein Mensch treffen. Eine solche Unterscheidung wäre wohl auch nicht so präzise zu leisten, wie mathematisch-naturwissenschaftlich geschulte Forscher es sich wünschen. Wegen des Umfangs der großen Wikipedia-Sprachversionen muss man mit Stichproben arbeiten (siehe auch Rosenzweig 2006: 119). Diese Herangehensweise ist typisch für die kulturelle Dimension.

•Eine Sozialwissenschaftlerin mag wohl ein anderes Kriterium anwenden: Sie überlässt die Entscheidung, was ein Artikel ist, den Modifizienten, den Mitmachern im Wiki. Man müsste also die Modifizienten befragen, welche Seiten sie bei ihrer Zählung berücksichtigen soll. Alternativ kann man Rezipienten nach ihrer Einschätzung fragen. Hier wird die soziale Dimension der Wikipedia betrachtet.

Alle drei Herangehensweisen haben ihre jeweiligen Vorzüge. Der technische Ansatz besticht durch sein Vermögen, große Datenmengen zu verarbeiten, der kulturelle hilft dabei, Datenmengen besser zu verstehen. Mit der einen Herangehensweise erfährt man, wie viele Seiten der Artikelnamensraum hat, mit der anderen, wie groß der substanziell enzyklopädische Gehalt sein mag. Kombiniert man beides, so erhält man einen brauchbaren Eindruck vom Umfang der betreffenden Sprachversion. Mit der sozialen Dimension berücksichtigt man, dass es Menschen sind, die Seiten im Artikelnamensraum erstellen bzw. auch löschen, womit sie beeinflussen, was Forscher vorfinden (siehe Breiter/Hepp 2018 zum Problem, die digitalen Spuren in »Big Data« zu interpretieren).

Die Bezeichnungen »technisch«, »kulturell« und »sozial« kennzeichnen wenigstens grob unterschiedliche Bereiche oder Ebenen und vermeiden die Anbindung an allzu konkrete Einzeldisziplinen. Interessant bei der Beobachtung – und teilweise eine Quelle für Missverständnisse – sind nicht zuletzt die Bezüge zwischen den Ebenen: Eine Bearbeitung wie eine simple Tippfehler-Beseitigung erscheint für die anderen Mitmacher im Wiki zunächst nur als technische Änderung einer Seite. Der Modifizient und die Ko-Modifizienten beurteilen die Änderung im Abgleich mit dem Wiki-Regelwerk danach, ob die Änderung inhaltlich (in der kulturellen Dimension) regelkonform ist. Die betreffende Handlung des Modifizienten führt zu Mutmaßungen der Ko-Modifizienten über seine Motive und Kompetenzen (soziale Dimension). So sehen die Ko-Modifizienten etwa, dass ein Modifizient einen unfertigen Satz in einen Text eingefügt hat. Sie fragen sich, ob dies ein Versehen war, ob der Modifizient den Satz bald vervollständigen wird oder ob es sich um Vandalismus handelt, eine mutwillige Verschlechterung des Inhalts.

A.1.4 Wissenschaftliche Forschung

Forschung zu Wikis und der Wikipedia findet in unterschiedlichen wissenschaftlichen Fächern statt. Tabelle 2 gibt davon einen unvollständigen Eindruck. Die Forscher sind also normalerweise an ein bestimmtes Fach gebunden und beziehen sich auf dessen Fragestellungen und Herangehensweisen. Allerdings gehen viele Forscher interdisziplinär vor, so dass ihre Arbeiten teilweise auch als Beitrag zu anderen Fächern dienen. Für Gesamtdarstellungen oder Überblickswerke zur Wikipedia ist die fachliche Anbindung des Autoren ohnehin weniger bedeutend: Lih (2009) lehrt Journalistik, Reagle (2010) kommt aus der Kommunikationswissenschaft und Jemielniak (2014) hat Management studiert.

Ein eigenes akademisches Fach zu Wikis hat sich nicht etabliert. Wegen der Verschiedenheit der Herangehensweisen dürfte die Entstehung eines solchen Faches unwahrscheinlich bleiben. Doch wäre es denkbar, dass sich ein Forschungsfeld oder Forschungsgebiet zum Thema stärker herausbildet. Es würde den Austausch zwischen den interessierten Forschern fördern und zu einem gemeinsamen Kanon an Grundannahmen, Forschungsparadigmen und Standardliteratur führen (nach Astleitner 2011: 31-34).

Auch eine eigene Bezeichnung für das Forschungsgebiet hat sich nicht etabliert. Zwar ist schon einige Jahre nach Gründung der Wikipedia 2001 der Ausdruck Wikipedistik entstanden.8 Gredel zufolge hat sich der Ausdruck für das »interdisziplinäre Feld« mit der Wikipedia als »wissenschaftliche[m] Untersuchungsgegenstand« etabliert (Gredel 2019a: 39-41). Doch bleibt er auf den deutschsprachigen Raum beschränkt und bezieht sich streng genommen nur auf ein einziges Wiki, die Wikipedia.

Wegen der großen Bedeutung der Wikipedia ist es gerechtfertigt, sie ausdrücklich in den Namen des Forschungsgebietes aufzunehmen: Wikis und die Wikipedia. Allerdings ließe sich auch von Wiki-Studien (Mayer 2013: 48) oder Wiki-Forschung sprechen, während beispielsweise Wikikunde eher nach einem eigenen Fach klingen würde. Die Wikimedia Foundation verwendet meist einfach das Wort research, so auch auf einer Meta-Wiki-Seite mit Materialien und Links zu wissenschaftlicher Literatur und Konferenzen (Meta-Wiki/Research Index 2020).

Ein Forschungsgebiet Wikis und die Wikipedia bedarf ferner einer Abgrenzung; es ist zu überlegen, welche Literatur man berücksichtigen möchte. Laut einer (offensichtlich sehr unvollständigen) Bibliographie der Wikimedia Foundation Research Group auf Meta-Wiki erschienen bis in das Jahr 2019 hinein 337 Titel zu Wikis im Allgemeinen und zur Wikipedia im Besonderen (Meta-Wiki/Wiki Research Bibliography 2020). Wozniak listet in seiner »Auswahlbibliographie zu Wikipedia und Wissenschaft« (2015a) 502 Titel auf. Eine Scholia-Abfrage zum Wikidata-Objekt »Wiki« (Q171) ergab 2020, dass seit dem Jahr 2008 jährlich stets zwischen 100 und 200 Bücher oder Artikel erschienen sind.9 Hier wäre zu hinterfragen, welche Auswahlkriterien jeweils vorgelegen haben.

Hinzu kommen zahlreiche Studien zu Themen im Bereich der Sozialen Medien, Online-Communitys, peer production usw., in denen unter anderem Wikis und da vor allem die Wikipedia behandelt werden. Um Wikis zu verstehen, benötigt man ferner Wissen aus den verschiedensten Fächern: aus der Psychologie zur Motivationsforschung, aus der Soziologie zur Gemeinschaftsbildung, aus der Bildungsgeschichte zur Entwicklung der Enzyklopädie, wenn das Wiki eine Enzyklopädie ist, aus der Lexikographie zur Erstellung von Wörterbüchern, wenn das Wiki ein Wörterbuch ist usw.

Tabelle 2: Wiki-Forschung in verschiedenen Fächern

FachThemen (Beispiele)RechtswissenschaftRechtsprobleme kollektiver Autorschaft (Simone 2019), Urheberrecht, Störerhaftung (Klingebiel 2015, Ulbricht 2018), PersönlichkeitsrechtePolitikwissenschaftpolitische Willensbildung mit Wikis (Westermeyer 2007), Wissen und politische Kultur (Niesyto 2016), politische Ideen und Extremismus (De Keulenaar/Tuters/Kisjes 2019)Erziehungswissenschaft und Didaktikpolitische Erwachsenenbildung (Brombach 2007), Wikis in der Lehre (Bremer 2012), Wikis als Instrument im Unterricht (Van Dijk 2019b)Sprachwissenschaftkollaborative Schreibforschung (Beißwenger/Storrer 2010, Endres 2012, Kallass 2015), Diskursanalyse (Gredel 2017), Wiki-Wörterbücher (Chr. Meyer 2013)SoziologieKooperation (Stegbauer 2009), soziale Schließungsmechanismen (Dobusch 2013, Groß 2016), Machtverhältnisse (Rijshouwer 2019)Organisationssoziologieinterne Kommunikation und Wissensmanagement im Unternehmen (Komus/Wauch 2008, Yeo/Arazy 20112, Stocker/Tochtermann 2012, Mayer 2013)Medien- und KommunikationswissenschaftWikis als Teil der Sozialen Medien (Jers 2012, Ebersbach/Glaser/Heigl 2016), Crowd Creation (Niederer/Van Dijck 2010), Wissenskultur (Pscheida 2010), Wikis und Hypertext (Vater 2019)GeschichtswissenschaftWikipedia als Informationsquelle (Wozniak 2015b, Van Dijk 2015), Rückschaufehler (Von der Beck et al. 2015), Vergleich von Konfliktthemen in Wikipedia-Sprachversionen (Rogers/Sendijarevic 2012), methodische Fragen (Haber/Hodel 2009)GenderstudienGender Gap (Ford/Wajcman 2017, Adams et al. 2019)InformatikBot-Verwendung in der Wikipedia (Tsvetkova et al. 2017, Zheng et al. 2019)

Würde man also versuchen, die Forschungsliteratur und das Forschungsgebiet zu gliedern, könnte man verschiedenen Grundsätzen und Gesichtspunkten folgen:

•Bestehende Fächer: Man geht von bestehenden Fächern wie Soziologie oder Linguistik aus (siehe Tabelle 2) und erarbeitet Fragestellungen aus der Perspektive dieser Fächer. Eventuell möchte man Wiki-Forschung in solche Fächer integrieren.10

•Vorhandene Literatur: Hierbei untersucht man die Fachliteratur zu Wikis und unterteilt sie in thematische Gruppen.11 Dazu muss man jedoch bereits wissen, welche Literatur man überhaupt berücksichtigen möchte.

•Wiki-Typen: Viele Wikis wie die Wikipedia lassen sich angemessen als Medien beschreiben, wie sie von der Medienwissenschaft behandelt werden. Bei anderen Wiki-Typen (siehe Abschnitt A.2.4) wie den Lernwikis tritt der Charakter als Medium jedoch hinter dem als Lehrinstrument zurück. Fragestellungen der Didaktik bieten sich hier eher an. Für Unternehmenswikis mag die Organisationssoziologie besser passen.

•Methode: Die Fachliteratur unterscheidet sich nach den angewandten Herangehensweisen und Methoden. Manche Forscher führen Interviews, andere werten Wiki-Daten aus. Allerdings kombinieren Forscher auch mehrere Methoden.

•Zentralität: Manche Arbeiten beziehen sich sehr ausdrücklich auf Wikis oder ein konkretes Wiki, andere auf periphere Themen wie die Verbreitung von Fake-News oder die Anonymität im Internet.

•Wiki-Modell: Man kann den Komponenten des Modells folgen und dann von einer Eigentümerforschung, einer Inhaltsforschung, einer Kollaborationsforschung, einer Forschung zum Wiki als technisches Medium usw. sprechen. Eine weitere Möglichkeit der Gliederung wären die drei Dimensionen. Sowohl bei den Komponenten wie auch bei den Dimensionen ist von Überschneidungen auszugehen.

Man könnte meinen, dass Wikis und die Wikipedia in erster Linie ein Forschungsinteresse für die Computerwissenschaft darstellen. Schließlich benötigen Menschen, die ein Wiki bearbeiten oder rezipieren, dazu einen Computer oder allgemeiner ein internetfähiges Gerät. Dies gilt aber heutzutage für viele menschliche Handlungen, ohne dass sie als Forschungsgegenstand automatisch den Computerwissenschaftlern zufallen. Da Wikis technisch gesehen einfach nur Content-Management-Systeme sind, mag man sich sogar fragen, wie bedeutsam oder innovativ sie aus Sicht der Informatik überhaupt sind. Interessant sind neuartige Protokolle oder Prozeduren und eben die Weise, wie Menschen mit Wiki-Software umgehen.

Wozniak hat universitäre Veranstaltungen und Abschlussarbeiten im deutschsprachigen Raum ausgewertet. Demnach dominieren mit Blick auf die Wikipedia nicht nur die Informatik, sondern vor allem die Kultur- und Medienwissenschaften sowie die Geschichtswissenschaften (Wozniak 2015b: 34-36). Gredel zufolge ist ein »beträchtlicher Teil« der Arbeiten zur Wikipedia der Linguistischen Wikipedistik zuzuordnen (Gredel 2019a: 41).

Die Etablierung und Erschließung des Forschungsgebietes Wikis und die Wikipedia bleibt wegen dieser Spannbreite also eine große Herausforderung. Doch es bereichert nicht nur die beteiligten Fächer, sondern fördert auch das Wissen zu Wikis und ihren Nutzen für die Praxis. Angesichts der bisherigen Forschungsliteratur und Strukturen braucht man außerdem, wie gesehen, nicht bei null anzufangen.

A.2Wikis als Medien

Das vorliegende Buch stellt Wikis vor allem als Medien dar. Allerdings hat die Medienwissenschaft noch immer keine allgemein akzeptierte, trennscharfe Definition für Medien gefunden (Saxer 1999: 4/5; Petko 2014: 13). Denkt man beispielsweise an den Brief, wie man ihn im 19. Jahrhundert verschickt hat, so kann man sich fragen, was genau das Medium ausmacht: der Beschreibstoff, also das verwendete Papier; der Inhalt, der Brief als Textsorte oder gar das Zeichensystem Schrift selbst; oder aber die Post, die als Organisation nach klaren Regeln dafür sorgt, dass das Papier vom Sender zum Empfänger transportiert wird. Ausführungen zum Forschungsgegenstand der Medienwissenschaften neigen daher oftmals zu einem umfassenden Ansatz, um nicht einzelne Aspekte zu vernachlässigen.

So sind Medien für Saxer einerseits »Kommunikationskanäle«, die »bestimmte Zeichensysteme transportieren«, andererseits aber auch »Organisationen«, Sozialsysteme für bestimmte Zwecke. Medien müssen sich, um ihre vielen Funktionen erfüllen zu können, »ins gesellschaftliche Regelungssystem« einfügen. Kurzum: »Medien sind komplexe institutionalisierte Systeme um organisierte Kommunikationskanäle von spezifischem Leistungsvermögen.« (Saxer 1999: 5/6) Beck formuliert diese Gedanken so, dass Kommunikationsmedien »Mittel zum Zweck der Kommunikation (symbolische Interaktion) zwischen Menschen auf einer technischen Grundlage« sind. Institutionen geben einen sozialen Rahmen mit Regeln und Erwartungsstrukturen vor, denen der »Gebrauch von Medientechniken und die Verwendung von Zeichen« folgen muss (Beck 2010: 17).

Für die beteiligten Menschen, für die Organisation und Institutionen und für die übermittelte Botschaft finden sich in der Kommunikations- und Medienwissenschaft sowie Nachbardisziplinen verschiedene Begriffe. Im vorliegenden Buch wird das Begriffspaar Sender und Empfänger als Modifizient und Rezipient wiedergegeben. Das Thema Organisation wird bewusst im Begriff der Eigentümerschaft konzentriert. Die Botschaft, also das Kommunikat bzw. der Medieninhalt, erscheint im Wiki-Modell als Inhalt; in den entsprechenden Abschnitten werden die verwendeten Zeichensysteme oder Formen der Wissensrepräsentation mitbehandelt. Der Kommunikationskanal ist das Wiki als technisches Medium, die konkrete Website.12

A.2.1 Soziale Medien

Wikis werden üblicherweise als eine Klasse der Sozialen Medien eingeordnet.13 Dies bleibt jedoch ein »schwammiger Begriff« (Schmidt 2013: 11-14) ohne allgemein anerkannte Definition. Es dürfte kein Zufall sein, dass Soziale Medien im alltäglichen Sprachgebrauch selten umschrieben oder definiert werden. Stattdessen bezeichnet man sie prototypisch mit den bekanntesten Vertretern: »so etwas wie Facebook und Twitter«.

Abbildung 3: Soziale Medien

Alternative Ausdrücke schaffen nicht unbedingt mehr Deutlichkeit, allein schon deshalb, weil es fraglich bleibt, ob sie ein reines Synonym sind oder die Bedeutung des Begriffs verengen, erweitern oder verschieben. Bei der Bezeichnung »Soziale Netzwerke« etwa ist zu bedenken, dass ein soziales Netzwerk grundsätzlich ein Beziehungsgeflecht zwischen Menschen ist und nicht etwa zwischen Seiten oder Benutzerkonten (Weyer 2014: 48). Vom sozialen Netzwerk als solchem wäre daher eine Website zu unterscheiden, die einem Netzwerk dient, eine »Social Network Site«. Weitere Begriffe sind »Social Web«,14 »Social Software« und »soziotechnisches System«.15

Gerade der Ausdruck Web 2.0 ist im Zusammenhang mit den Sozialen Medien kontrovers diskutiert worden. Er geht auf eine Rede von Tim O’Reilly aus dem Jahr 2004 zurück. Der Medien-Unternehmer unterschied zwischen einem »alten« und einem »neuen« Internet:

•Klassische Websites orientieren sich demnach an den alten Verbreitungsmedien Zeitung, Radio und Fernsehen und erlauben Kommunikation in nur eine Richtung: Der Eigentümer der Website bestimmt als Gatekeeper, was die Leser oder Nutzer der Website dort konsumieren können.

•Eine soziale Website hingegen erlaubt die Kommunikation auch in die umgekehrte Richtung: vom Nutzer zum Eigentümer, aber auch zwischen den Nutzern. Der Unterschied von Sender und Empfänger wird aufgehoben.16 Man spricht gar vom prosumer, der an die Stelle von producer und consumer tritt.17

Aus seiner unternehmerischen Perspektive heraus fand O’Reilly es sehr attraktiv, dass Inhalte kostengünstig von den Nutzern beigetragen werden. Dies wurde in der Folge als mögliche Ausnutzung der Nutzer kritisiert.18 Hier geht es also um Praktiken des sogenannten Crowdsourcing (siehe Abschnitt E.1.1) und um den user-generated content (UGC, siehe Abschnitt D.1.2).

Kritisiert wurde auch die Gegenüberstellung alter und neuer Medien, da sie die historische Entwicklung des Internets sehr vereinfachend bis verzerrt darstelle (Mehler/Sutter 2008: 267-269; Jers 2012: 33-35). Tatsächlich haben die Teilnehmer des frühen Internets seit den 1970er Jahren viel untereinander kommuniziert, beispielsweise in chat groups und später auf Mailinglisten. Auf einer typischen Website der 1990er Jahre konnte der Besucher nicht nur eine Mail an den Eigentümer schicken, vergleichbar dem Leserbrief eines Zeitungslesers, sondern auch in ein »Gästebuch« schreiben. Die Einträge dort waren auch für andere Besucher einsehbar, so dass sie sich kommentierend aufeinander beziehen konnten. Ob ein Besucher etwas ins Gästebuch geschrieben hat, lag am Individuum, an der Situation und an der Website.

Tabelle 3: Klassische und Soziale Medien

 ProduktionDistributionklassische MedienEigentümer: redaktioneller Inhaltgeht vom Eigentümer aus:one-to-manySoziale MedienTeilnehmer: user-generated contentgeht von den Teilnehmern aus:many-to-manyMischformbeidegeht vom Eigentümer aus

Trotz dieser Kritik scheint die oben genannte Einteilung dabei zu helfen, das Wesen der Sozialen Medien zu erfassen. Bei den klassischen Medien sind Produktion und Distribution (one-to-many) des Inhaltes in Händen des Website-Eigentümers. Es sind reine Abrufmedien (siehe Beck 2010: 2). Bei den Sozialen Medien hingegen obliegen Produktion (UGC) und Distribution (many-to-many) den Teilnehmern. Es sind Beteiligungsmedien (Pscheida 2010: 286; siehe auch Bilandzic/Schramm/Matthes 2015: 19).

Hinzu kommt eine Mischform: Manche Eigentümer bereichern ihre klassische Website mit Elementen der Sozialen Medien. Beispiele sind Online-Zeitschriften wie Faz.net oder Spiegel Online. Nur der Eigentümer bzw. seine Redaktion darf neue Seiten erstellen. Dort veröffentlicht er einen eigenen, redaktionellen, privilegiert dargestellten Inhalt, den Zeitungsartikel. Die Besucher der Website dürfen eigene Inhalte nur in einem Sonderbereich der Seite veröffentlichen. Dabei ist es unerheblich, ob man solche Inhalte »Kommentare« nennt, ob sie sich auf den redaktionellen Inhalt oder auf andere Kommentare beziehen und ob die Kommentierenden eine Gemeinschaft bilden.

Anders sieht es wiederum bei den eigentlichen Sozialen Medien aus, wie YouTube, der Wikipedia oder einem traditionellen Online-Forum. Dort dürfen die Teilnehmer eine neue Seite erstellen, wodurch es viel wahrscheinlicher wird, dass Teilnehmer sich in ihren Beiträgen auf andere Teilnehmer beziehen. Dies fördert eine Gemeinschaftsbildung. Sofern es in so einem Medium überhaupt nennenswerten redaktionellen Inhalt gibt, reichert der UGC ihn nicht nur an: UGC ist der Schwerpunkt.

Eine weitere Herausforderung besteht darin, Soziale Medien in Gruppen einzuteilen. Gängige Kategorisierungen von Sozialen Medien haben sich historisch-zufällig gebildet.19 Außerdem wandelt sich die Medienlandschaft und damit auch die Kategorisierung von Sozialen Medien. Beispielsweise wurden virtuelle Welten wie Second Life in der Literatur nach 2007 kaum noch mit aufgeführt.20

Für die Abgrenzung der Wikis von anderen Sozialen Medien ist relevant, wie die Beziehung zwischen Inhalt und Urheber dargestellt wird. Die Beiträge auf Facebook oder Twitter oder in einem Forum sind namentlich gekennzeichnet und grafisch voneinander getrennt. In einem Wiki geht es hingegen um die Produktion und Distribution von gemeinschaftlichem Inhalt (siehe unten).

Erwähnt sei hier noch ein weit verbreiteter funktionaler Ansatz nach Jan Schmidt. Demzufolge unterstützen die Sozialen Medien drei Leistungen:

•»Das Zugänglich-Machen von Aspekten der eigenen Person« nennt er Identitätsmanagement.

•»Die Pflege bereits bestehender oder das Knüpfen neuer sozialer Beziehungen« ist ein Beziehungsmanagement.

•»Routinen und Erwartungen, die das Rezipieren von Informationen berühren«, heißen Informationsmanagement.

Diese drei Funktionen erforderten jeweils andere Medienkompetenzen der Beteiligten, zum Beispiel bei der Einschätzung von Inhalten oder von Profilen auf einer Kontaktplattform (Schmidt 2008: 23/24, 35). Je nach Gruppe von Sozialen Medien oder besser noch je nach einzelnem Medium müsste dann ermittelt werden, welches Management und welche Handlungen im Vordergrund stehen.

Bei der Wikipedia dürfte es unstrittig sein, dass das Informationsmanagement die wichtigste Funktion darstellt. Wer hingegen auf einer »Netzwerkplattform« wie Facebook einen persönlichen Beitrag postet, dem geht es in erster Linie um das Herausstellen der eigenen Identität und um die Pflege von Beziehungen. Im Vergleich zu anderen Sozialen Medien verfügt die Wikipedia wegen der Inhaltsproduktion über eine weitere Schicht an Komplexität (Miquel de Ribé 2016: 39). Van de Belt zufolge sind bei Wikis die Elemente des kollaborativen Schreibens stark und die Konversationselemente schwach ausgeprägt, bei Twitter verhalte es sich umgekehrt (2015: 93, 101).

A.2.2 Wesen und Merkmale von Wikis

Wikis unterscheiden sich von anderen Sozialen Medien dadurch, dass die Teilnehmer den gesamten Inhalt einer Seite verändern können, dürfen und sollen – auch denjenigen Inhalt, den jemand anders hinzugefügt hat. Auf diese Weise kann nicht nur eine Ansammlung von vielen Einzelbeiträgen entstehen, sondern ein tatsächlich gemeinschaftlicher Inhalt. Andere Soziale Medien mögen insulare oder schwache Kollaboration erlauben oder fördern, also ein gemeinsames Beitragen, in dem man nebeneinander seine eigenen Inhalte erstellt oder einander Feedback gibt. Typisch für Wikis ist zusätzlich die Möglichkeit starker Kollaboration, bei der die Teilnehmer gleichberechtigt auch fremde Inhalte verändern (siehe Abschnitt E.2.3).

Als Erfinder der Wikis gilt der amerikanische Informatiker Ward Cunningham, der im Jahr 1995 eine Website entwickelt hat, die einfach und schnell bearbeitet werden kann. Er arbeitete damals in der Software-Entwicklung und war mit der Kommunikation auf Mailinglisten unzufrieden (Cummings 2008: 3). Ein Wiki ist nach seinen Worten

»a composition system; it’s a discussion medium; it’s a repository; it’s a mail system; it’s a tool for collaboration. We don’t know quite what it is, but we do know it’s a fun way to communicate asynchronously across the network.« (ContentCreationWiki/Welcome Visitors 2020)

Auf die Bezeichnung kam Cunningham zufällig: Bei einem Hawaii-Urlaub sah er einen Bus, auf dem »Wiki Wiki« stand. Dies bedeutet im Hawaiischen »schnell-schnell«. Das Wort »Wiki« sprach ihn an, weil es unkonventionell war und das rasche Bearbeiten ohne vorgefasste Konzepte betonte (Pscheida 2010: 351). Cunningham schrieb damals auf einer Mailingliste: Man müsse sich sein neues Tool als eine Art moderierte Mailingliste vorstellen, auf der jeder Teilnehmer Moderator sein kann und alles archiviert wird (Cummings 2008: 5). Für eine Definition sind Cunninghams Bemerkungen allenfalls ein erster Ausgangspunkt. Es überwog damals das Unbestimmte, so als ob das Wiki seine Nützlichkeit noch finden musste.

In der Literatur zu Sozialen Medien und Wikis findet man eine Reihe von mehr oder weniger ausführlichen Definitionen vor. Je nach eigenem Forschungsinteresse beziehen sich die Autoren mal auf ein Wiki-Konzept21 und mal auf das Wiki als technisches Medium, als konkrete Anwendung im Browser.22 Manche Autoren leiten die Definition mit den beteiligten Menschen und ihrer Interaktion ein,23 andere gehen eher vom entstehenden Produkt aus, dem Inhalt als Hypertext.24

Meist decken sie aber mehrere dieser Elemente ab;25 überhaupt überwiegen in der Gesamtschau die Gemeinsamkeiten. Wikis werden mal als Website und mal als das Konzept einer Website dargestellt, mal ist die verwendete Software gemeint. Dies lässt sich begrifflich leicht klären: Eine bestimmte Website ist ein konkretes Wiki oder Einzelwiki. Ein Konzept für eine schon bestehende oder erst noch einzurichtende Website nach bestimmten Kriterien ist ein Wiki-Konzept. Eine Software, die den Anforderungen eines Wikis genügt, ist eine Wiki-Software.

Gerade in der älteren Literatur werden manche Merkmale als wiki-typisch aufgeführt, die in der Rückschau ihre Besonderheit verlieren. So fand man es erwähnenswert, dass man ein Wiki als Website direkt im Browser bearbeiten kann, ohne dass man dazu ein Programm auf dem eigenen Rechner installieren muss. Überhaupt rühmte man die Einfachheit der Bearbeitung, für die man kein HTML kennen müsse, die komplizierte Auszeichnungssprache des Internets, sondern nur eine sehr reduzierte Variante, den Wiki-Code (siehe Abschnitt A.4.5).26

Heutzutage jedoch benötigen die meisten Menschen, die etwas im Internet veröffentlichen, längst keine HTML-Kenntnisse mehr (und auch schon früher kaum). Und ob das Bearbeiten einer Website oder spezieller eines Wikis »einfach« ist, hängt von vielen Faktoren ab – beispielsweise davon, was für ein Inhalt erwünscht wird. Petko weist allgemein darauf hin, dass jedes neue, weitverbreitete Angebot im Internet die Nutzungsgewohnheiten der Menschen beeinflusst, dass usability stets wieder neu zu bestimmen ist (Petko 2014: 50). Ein wesensbestimmendes Merkmal für Wikis lässt sich aus der Einfachheit schlecht konstruieren, ansonsten müsste man streng genommen der Wikipedia das Wiki-Sein absprechen, sollte sich herausstellen, dass sie nicht »einfach« zu bearbeiten ist.

Die Literatur nennt eine Reihe von weiteren Merkmalen als typisch für Wikis. Oftmals erweisen sie sich bei näherem Hinsehen als wenig geeignet, Wikis von anderen Websites oder Sozialen Medien abzugrenzen. Oder aber das Merkmal würde vorschnell viele Wikis definitionsgemäß ausschließen:

•Verlinkung: Viele Autoren erwähnen das Verlinken und Vernetzen von Inhalten bzw. von Seiten im Wiki. Auf diese Weise kann ein Hypertext entstehen.27 Allerdings ist das Verlinken im Internet weit verbreitet.

•Versionierung: Moderne Wiki-Seiten bewahren die früheren Versionen der Seite und damit den früheren Inhalt. Dadurch lässt sich nachvollziehen, wer für den Inhalt verantwortlich ist. Allerdings gab und gibt es Wikis ohne Versionierung (siehe Abschnitt A.4.3).

•Offenheit: Ein radikal offenes Wiki müsste in der technischen Dimension jedem Internet-Nutzer die Seitenbearbeitung ermöglichen, in der kulturellen Dimension jeden Inhalt und in der sozialen Dimension jedes Verhalten tolerieren. Realisiert wurde eine derartige Offenheit jedoch wohl nirgendwo. Manche Wikis wie Unternehmenswikis sind ausdrücklich geschlossen und nichtöffentlich (siehe Abschnitt A.3.2).

•Selbstbestimmtheit: Versucht man zu erklären, warum Ehrenamtliche sich an Wikis beteiligen, dann scheint Selbstbestimmtheit das entscheidende Motiv zu sein. Allerdings müssen sich die Wiki-Modifizienten mit ihren Ko-Modifizienten verständigen und sich an Recht und Regeln halten. Überhaupt dürfte die Selbstbestimmtheit in Unternehmenswikis sowie in Lernwikis in Schule und Hochschule sowieso stark eingeschränkt sein (siehe Abschnitte B.3.2 und B.3.3).

Die zentrale Funktion eines Wikis ist unbestritten die Zusammenarbeit an kollaborativen, gemeinschaftlichen Inhalten. Merkmale für eine Wiki-Definition (siehe Abschnitt A.2.3) sollten daher daran gemessen werden, ob sie Kollaboration fördern. Im vorliegenden Buch werden als solche Merkmale vorgestellt:

•die Gemeinschaftlichkeit von Inhalten (siehe Abschnitt E.1.4), so dass ein Inhalt von mehr als einem Menschen bearbeitet werden kann (technische Dimension), darf (soziale Dimension) und soll (kulturelle Dimension, in dem Sinn, dass der Inhalt für Kollaboration geeignet ist);

•die Trennung des Inhalts in Hauptinhalt und Nebeninhalt (siehe Abschnitt D.2.1), das heißt in den eigentlich interessierenden Hauptinhalt für Rezipienten und in den Nebeninhalt wie Regelseiten, Diskussionsseiten usw., welche die Produktion von Hauptinhalt unterstützen;

•und das unikale Prinzip (siehe Abschnitt D.2.4), demzufolge ein Inhaltselement im Wiki nur einmal behandelt werden soll.

Von weiteren Funktionen und Merkmalen wurde hier abgesehen, um die Definition nicht mit Details zu überlasten. Das heißt aber nicht, dass je nach eigenem Forschungsinteresse oder Anwendungsbezug nicht weitere Funktionen und Merkmale herausgestellt werden können. Außerdem entwickelt sich das Internet einschließlich der Wiki-Landschaft weiter und macht dann eine Anpassung der Definition notwendig.

A.2.3 Definition

Aus den bisher behandelten Funktionen und Merkmalen ergibt sich der folgende Versuch für eine Definition von Wikis:

•Ein Wiki ist ein Medium für die Produktion und Rezeption von gemeinschaftlichem Inhalt. Gemeinschaftlich ist Inhalt, wenn er von mehr als einer Person erstellt und verändert werden kann, darf und soll.

•Der Inhalt ist im Wiki getrennt in Hauptinhalt und Nebeninhalt; letzterer dient dazu, über den Hauptinhalt und das Wiki zu kommunizieren.

•Ein Wiki hat eine Makrostruktur, die nur ein Segment zu ein und demselben Thema zulässt (unikales Prinzip).

Die Definition schließt mehrere Medien bzw. Websites oder Anwendungen bewusst aus. Keine Wikis, selbst wenn sie eine Wiki-geeignete Software verwenden, sind Installationen, zu denen nur eine einzige Person Zugang hat. Ausgeschlossen sind reine Veröffentlichungsplattformen oder Verbreitungsmedien (wie Blogs), auf denen Inhalte nicht gemeinschaftlich bearbeitet werden. Ebenfalls kein Wiki sind reine Zusammenarbeitsplattformen (wie ein digitaler Arbeitsplatz), deren Resultate woanders veröffentlicht bzw. rezipiert werden.

Die Trennung von Hauptinhalt und Nebeninhalt ist bedeutsam, damit die Plattform tatsächlich Zusammenarbeit ermöglicht. Im Nebeninhalt werden Regeln aufgestellt, die sozialen Beziehungen gepflegt und Inhalte und Verhaltensweisen diskutiert. Diese Einzelheiten wurden nicht in die obige Definition explizit mitaufgenommen, um die Definition nicht zu sehr zu verengen. Das unikale Prinzip dient ebenfalls zur Förderung von Kollaboration: Es verhindert ein Nebeneinander von verschiedenen Segmenten von verschiedenen Teilnehmern zum selben Thema. Ein solches Nebeneinander wäre nicht im Sinne der Kollaboration (siehe Abschnitt D.2.4).

Davon abgesehen muss ein System, das man ein Wiki nennen will, mindestens zwei Voraussetzungen erfüllen: Es müssen, erstens, mindestens zwei verschiedene Menschen einen Zugang zur Bearbeitung haben. Ein einzelner Mensch kann grundsätzlich nicht mit sich selbst zusammenarbeiten, weil es dann kein Gegenüber gibt, das eigene, abweichende Meinungen einbringt und Aushandlungen abverlangt. Erst wenn zwei Menschen einen Wiki-Inhalt bearbeiten können, ist er potenziell gemeinschaftlich. So entsteht eine Plattform zur Produktion von gemeinschaftlichem Inhalt.

Zusätzlich zu diesen beiden Menschen muss es, zweitens, mindestens einen weiteren Menschen geben, der Zugang hat, um die Wiki-Inhalte wenigstens zu rezipieren. Ohne diesen dritten Menschen mag zwar gemeinschaftlicher Inhalt vorliegen. Doch erst durch einen dritten Menschen, der nicht an diesem Inhalt mitgearbeitet hat, wird das Wiki auch zur Plattform zur Distribution von gemeinschaftlichem Inhalt.

Das kleinste denkbare Wiki wäre folgerichtig ein System, das für mindestens zwei Personen offen (bearbeitbar) und für insgesamt mindestens drei Personen öffentlich (einsehbar) ist. Zudem muss es einen Hauptinhalt geben, so rudimentär er sein mag, der von mehr als einer Person bearbeitet werden kann, unabhängig davon, ob er bereits von einer zweiten Person bearbeitet wurde.

Ein Beispiel soll den Unterschied zwischen einer reinen Zusammenarbeitsplattform und einem Wiki näher verdeutlichen. Google Docs ist eine Plattform, die von Google für Einzelpersonen und Organisationen bereitgestellt wird, um in einem eigenen Bereich Seiten bearbeiten zu können. Diese Plattform wird normalerweise nicht als Wiki angesehen. Wäre sie aber als Wiki verwendbar?

Angenommen, in einem Unternehmen bearbeiten sowohl die Vorgesetzte als auch einer ihrer Mitarbeiter Google Docs, um ein Dokument zu erstellen. Die Vorgesetzte hat den Text verfasst und für den Mitarbeiter freigegeben. Beide kommunizieren über E Mail und per Telefon über den Text. Die Vorgesetzte wünscht, dass der Mitarbeiter den Text liest und Kleinigkeiten wie Tippfehler sofort beseitigt, weitergehende Änderungen ihr aber erst per E Mail vorschlägt. Nach einer abschließenden Prüfung durch die Vorgesetzte wird der Text woanders, zum Beispiel in einem Newsletter, veröffentlicht.

Nach der obigen Definition würde man hier nicht von einem Wiki sprechen: Es gibt Hauptinhalt, aber keinen Nebeninhalt etwa mit Regeln, auf die man sich berufen könnte. Die Teilnehmer kommunizieren nicht über das Wiki und es fehlen die Rezipienten. Allerdings könnte man Google Docs sehr wohl für ein Wiki verwenden: Dazu müsste es eine weitere Google-Seite mit Nebeninhalt geben und die Google-Seite mit Hauptinhalt müsste für die künftigen Rezipienten freigeschaltet werden.