Wilde Demokratie - Tim Wihl - E-Book

Wilde Demokratie E-Book

Tim Wihl

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Beschreibung

»Völlig bescheuert« nannte Bundeskanzler Scholz die Aktionen der Klimaaktivisten »Letzte Generation«. Andere verurteilen den zivilen Ungehorsam der Umweltschützer gar als »Terror«, mittlerweile wird gegen den verhassten Protest sogar mit Präventivhaft vorgegangen. Entgegen der landläufigen Meinung, die solche wilden Protestformen als antidemokratisch abkanzelt, macht der Rechtswissenschaftler Tim Wihl in seiner präzisen Analyse deutlich, dass gerade diese Aktionen entscheidend zur Stärkung und Legitimierung der Demokratie beitragen. Wihl untersucht verschiedene Protestformen von Adbusting über Massendemonstrationen bis hin zu Besetzungen und Blockaden. Er vergleicht die Chancen politischer Freiheit in Deutschland, Frankreich, den USA oder Chile. Und er zeigt, dass das deutsche Protestrecht wesentlich an die Verfassung der Kaiserzeit anknüpft – und nicht etwa an das fortschrittliche Erbe der Revolution von 1918. Entschieden plädiert Wihl dafür, einem alternativen Verfassungsdenken zum Durchbruch zu verhelfen. Denn ziviler Ungehorsam ist keine Straftat, sondern eine demokratische Errungenschaft.

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Freisprüche für politischen Aktivismus sollten keine Gnadenakte sein, sondern verfassungsrechtlicher Anspruch. Tim Wihl erklärt, wie Recht demokratiefördernden Dissens ermöglichen statt verhindern könnte.

Tim Wihl

WILDE DEMOKRATIE

Das Recht auf Protest

Verlag Klaus Wagenbach Berlin

EINFÜHRUNG

WIDERSPRECHEN

SICH-WIDERSETZEN

NEU-VERFASSEN

SCHLUSS

DANK

ANMERKUNGEN

EINFÜHRUNG

Jede reife Demokratie entwickelt neben ihrer institutionellen Ordnung eine wilde Seite, in der sich bürgerschaftlicher Protest auslebt. Diese wilde Seite muss nicht anti-institutionell bleiben, sondern kann die demokratischen Prozesse als eigenständige Gewalt jenseits von Staat und Gesellschaft ergänzen.

Institutionell besteht die Demokratie – wie allseits bekannt – aus drei Staatsgewalten, die vom Staatsvolk durch Akte der Wahl und Abstimmung legitimiert werden, wobei in der Bundesrepublik die Legislative als einzige direkt gewählte Gewalt im Zentrum steht.1 Die Exekutive und die Gerichtsbarkeit hängen in unterschiedlichem Maße von Wahlakten der gesetzgebenden Körperschaft ab, entwickeln aber ein Eigenleben, das im Fall der Judikative sogar durch ein eigenes Grundrecht auf richterliche Unabhängigkeit formal abgesichert ist. Und die Regierungs- und Verwaltungsbürokratie hat ihre eigenen, informellen Beharrungsmechanismen. Den drei Staatsgewalten – sie können auch supranational organisiert sein – überlässt das Staatsvolk, das seinerseits nationale Grenzen zu überschreiten vermag (Unionsbürgerschaft!), in aller Regel die Macht der politisch verbindlichen Sachentscheidung. Wollen wir oder wollen wir gerade nicht? Die Antwort nur darauf gibt der Souverän aus der Hand. Er verliert damit aber nicht all seine souveräne Macht.

Es wäre dementsprechend verfehlt, die Entscheidungsmacht der Herrschaft zur Seele des Staatswesens erklären zu wollen. Im demokratischen Staat – und in supranationalen oder internationalen Verbänden – wird nicht nur entschieden. Es wird auch kontrollierend geurteilt, und zwar nicht allein im judikativen Sinn. Auch mit Kontrollurteilen kann man Macht ausüben. Es ist jedoch eine andere Art von Macht, von der wir dann sprechen – die Macht der urteilenden Rede. Demokratisch sind nur solche Gemeinwesen, die die souveräne Macht nicht am Wahltag allein wirksam werden lassen, sondern dem Souverän permanent die Macht zu urteilen gewähren. Dazu gehört, dass diese Urteile Folgen haben.

Ähnliches gilt für Gerichte, in denen das Entscheiden nur den Abschluss eines Urteilsprozesses bildet, der Sachverhalte der Vergangenheit umfassend bewertet. Ein Urteil ohne Entscheid wäre dem Rechtsfrieden kaum dienlich, denn dann wären zwar alle Argumente vorgetragen und abgewogen worden, die Prozessbeteiligten wüssten aber immer noch nicht, wie sie sich anschließend zu verhalten haben. Rein logisch betrachtet ist es aber nicht erforderlich, ja fast etwas hasardeurhaft, über die Vergangenheit zu entscheiden – das beurteilende »Richten« würde völlig genügen. Das Entscheiden (»A muss dem B 1 000 Euro zahlen.«) wirkt wie ein bloßer Zusatz zum Urteilen (»Gerechter wäre es nach Sichtung aller Tatsachen und Wägung aller Rechtsargumente, wenn A dem B 1 000 Euro zahlte.«). So hat die juristische Tätigkeit eine Schlagseite zum Urteilen, nicht zum Entscheiden. Die Frage »Was wäre möglicherweise gerecht?« ist erst einmal zu bestimmen. Jede Verkürzung des Urteils auf das Entscheiden nimmt ihm dagegen seine besondere Kraft, Argumente und Alternativen abzuwägen und letztlich offenzuhalten2 – etwa zur Korrektur in höheren Instanzen, die noch weitere Gesichtspunkte berücksichtigen können.

All das kann man für Akte der Exekutive gewiss nicht sagen, bei denen das Entscheiden vielmehr ganz in den Vordergrund rückt: Die Gegenwart ist zu gestalten. Die Legislative wiederum vereinigt die Extreme in sich: Sie kennt Momente, in denen ins Offene hinein quasi willkürlich zu entscheiden ist, aber genauso Perioden des ausgedehnten argumentativen Streits.

Den drei Staatsgewalten attestiert man gemeinhin einen engen Bezug zur Macht – in der Regel mit sicherem Gespür für die herausgehobene Entscheidungsmacht der Exekutive, deren Legitimation dafür gleichzeitig oft in Frage gestellt wird. Gerichten wiederum, der nach Alexander Hamilton ungefährlichsten Gewalt, gesteht man einerseits eine gewisse Machtferne zu, wohl weil zentral um Argumente gerungen wird. Andererseits erkennen viele in der konkreten, individuellen Entscheidung der dritten Gewalt eine besonders unmittelbare, manchmal brutale Art der Machtausübung.

Doch auch ein rein (unter anderem politisch) wertendes Urteil, eingreifende Rede wie alle Sorten entscheidungsbefreiter Kommunikation sind machtpraktisch keineswegs unschuldig. Die Ansicht mag teils noch verbreitet sein, dass Reden und Tun grundlegend verschiedene Dinge seien. Schon lange aber haben die Linguistik und philosophische Sprechakttheorie über den Handlungscharakter des Sprechens und anderer Formen von Kommunikation aufgeklärt.

In der Rechtswissenschaft halten sich unterdessen gewisse Restbestände eines schlechten Idealismus, der Reden auf geistige Prozesse reduziert. Vielleicht ist das Recht der letzte Hort cartesianischer Vorurteile, womöglich trennen manche Jurist:innen mehr als andere Wissenschaftler:innen noch immer Körper (einschließlich Affekten) und Geist. Das gilt aber gewiss nicht durchgängig. Zwar hat sich die deutsche Verfassungsrechtsprechung im »Lüth«-Urteil früh darauf festgelegt, dass die rechtlich geschützten Wirkungen der Rede nur die geistigen seien.3 Das ändert aber nichts daran, dass die Rede neben ihrer geistigen auch eine Machtseite hat, eben weil sie genauso eine Handlung ist, die sich nicht in ein Paralleluniversum der guten Gründe des Geistes einsperren lässt. Fast 30 Jahre nach »Lüth«, dem berühmtesten aller seiner Urteile (auf dessen Folgen in Kapitel 1 näher eingegangen wird), hat das Bundesverfassungsgericht just diese materialistische Einsicht in seinen Leitentscheid zur Versammlungsfreiheit, den herausragend wichtigen Brokdorf-Beschluss, einfließen lassen (Thema in Kapitel 2).4 Versammlungen haben nach der maßgeblichen Rechtsauslegung etwas irreduzibel Körperliches, sie bauen auf Präsenz und darauf, wirksam Druck aufzubauen. Kategorien wie die »Sicht- und Hörweite« einer Versammlung sind fest etabliert.

Parallel wurde in den letzten Jahrzehnten über die Machtförmigkeit der Kommunikation theoretisch umfassend publiziert. Michel Foucault, Jacques Derrida, Judith Butler, Gayatri Chakravorty Spivak und andere waren Wegbereiter:innen einer neuen Stufe der modernen Aufklärung über gesellschaftliche, nicht nur in staatlich-repressiven Formen allgegenwärtige Machteffekte, gerade auch in der sprachlichen Kommunikation. Heute ist in der Theorie vielfach belegt, dass Körper und Geist, Sprache und Materie keine philosophisch oder politisch relevanten Gegensätze darstellen. Praktisch gab es davon schon früher ein allgemeines Bewusstsein: Rede kann verführen, aufstacheln, verletzen und vielerlei weitere Wirkungen in körperlichen Affekten und Tathandlungen zeitigen. Sie gibt auch Macht – insbesondere in der mediterranen Antike mit ihrer ausgefeilten Rhetorik war dieser Sachverhalt wohlbekannt. Die rhetorische Macht der Handlung tritt dabei in der Moderne kategorial an die Seite der herrschaftlich befehlenden Entscheidungsmacht und der konstituierenden Macht des demokratischen Souveräns.5 Sie ordnet sich der Herrschaft keineswegs vollständig unter. Die Macht der Rede ist in demokratischen Gemeinwesen auch in den Räumen der Herrschaft präsent, gelegentlich in Parlamenten oder, nur proto-herrschaftlich, auf Parteitagen.

Noch auffälliger ist die dialektische Verbindung von rhetorischer Handlungs- und Konstitutionsmacht in Demokratien. Das Volk – verstanden als »die Leute«6 – repräsentiert sich dann als die konstituierende Macht der staatlichen Gewalten oder Apparate, indem es sich in einer »expressiven« Demokratie7 auf verschiedenste Weisen zum Ausdruck bringt. Dazu gehören auch die sogenannten Repräsentant:innen in der Legislative, die als Abgeordnete allerlei in parlamentarischen Formen ausdrücken können. Am Ende von deren Expressionsakten steht potentiell eine legitimierte Entscheidung.

Das Potential zur allgemeingültigen Entscheidung ist der einzige relevante Unterschied zwischen der Expression in Parlamenten und politischem Protest von Bürger:innen »auf der Straße«. Diejenige Demokratie, die sich auf Erstere stützt, werde ich im Schwerpunkt eine herrschaftliche, diejenige, welche sich auf das Zweite beruft, eine überwiegend rhetorisch-konstituierende Demokratie nennen. Diese Unterscheidung nimmt die tradierten Gegensätze von »politischer« und »sozialer« Demokratie sowie von demokratischer »Herrschaftsform« und »Lebensform« in sich auf und versucht sie zugleich zu überschreiten. Die Lebensform wird Teil einer Herrschaftsform Demokratie, und zwar über eine den Staat und die Gesellschaft umspannende »Gesamtverfassung«8 vermittelt; die soziale Demokratie des sich im Protest Ausdruck verschaffenden, politisch urteilenden Volkes ist am besten als konstitutiver Teil der Staatsmacht zu begreifen. In der (schwächer oder stärker) protestierenden, konkret negierenden Öffentlichkeit als »Gesamtpolitikum« (Ridder) von Staat und Gesellschaft lässt sich eine eigene Staatsgewalt ausmachen, die nicht nur den Vorzug aufweist, öffentlich zu sein, sondern zudem eine demokratisch voll legitimierte Teilhabe an der politischen Macht vermittelt. Diese Staatsgewalt sollte Protestative genannt werden. Die Protestative verkörpert die »wilde Demokratie«9 beziehungsweise deren wilde Seite.

Die Protestative ist mehr als eine »Demonstrationsdemokratie«10 und zugleich weniger als eine »Gegendemokratie«11. Voraussetzung für ihre Eingliederbarkeit in den demokratischen Verfassungsstaat ist, dass dieser aus konstitutionell-grundrechtlichen Gründen jeden Etatismus abgelegt hat. Dazu gehört, dass er weder abgekoppelt ist von der regelmäßig aktualisierten faktischen Zustimmung des Volkes, noch letztentscheidend oder unkontrolliert ist oder sich auf von der Bürgerschaft geschiedene Apparate reduzieren lässt. Kurz gesagt, muss die Demokratie vom Staat lösbar sein, aber der Staat niemals von der Demokratie. Die Demokratie, die die Protestative in sich integriert, löst das Rätsel des Staates restlos auf, indem sie diesen an die Verfassung angleicht.

Die volle demokratische Legitimation des Protestes wirkt sich verfassungsrechtlich derart aus, dass die diesbezüglich relevanten Grundrechte eine Sonderstellung erhalten, indem das Bundesverfassungsgericht schon früh ihre »schlechthin konstituierende Bedeutung« für die Demokratie markiert hat.12 Gleichzeitig geht die Aufwertung zur demokratischen Staatsgewalt ohne Entscheidungsmacht mit bestimmbaren neuen Rechten einher, die vornehmlich als Privilegien für kontrollierend-urteilende politische Handlungen in juristischen Prozessen – also letzthin: gerichtlichen Urteilen – kenntlich werden. Jedoch verleiht die Anerkennung der Protestative dem Nein einzelner Bürger:innen nicht notwendigerweise eine besondere Dignität im Entscheidungsprozess anderer Staatsgewalten, insbesondere von Exekutive und Legislative. Gleichwohl ist es nicht nur verfassungspolitisch, sondern sogar verfassungsrechtlich geboten, dem Protest beim Entscheiden zumindest argumentativen Raum zu geben, mit anderen Worten: ihn zu berücksichtigen. Das bleibt zunächst eine weiche und scheinbar rein geistig-deliberative Pflicht. Aber die später zu präzisierenden Bedingungen müssen gerade auf die Stärke der rhetorisch-konstituierenden Macht des protestierenden Volkes Acht nehmen, und diese Macht wird den ihr eigenen, differenzierten Druck entfalten. Dennoch bleibt es juristisch geboten, unter Verweis auf die Urteil-Entscheidung-Differenz die Legitimationskraft des protestierenden Volkes zu begrenzen. Juristische Instrumente für den Zwischenraum der demokratischen Legitimation nach dem Urteil, aber vor der Entscheidung, stehen zuhauf zur Verfügung: Sie reichen von Gründen, Protestierende, wenn sie Straftaten begehen, aufgrund der Meinungs- oder Versammlungsfreiheit strafrechtlich zu entlasten, bis zu Rechten auf argumentative Berücksichtigung und Gehör in Verwaltungs- oder Gesetzgebungsverfahren.13 Denkbar wäre unter bestimmten Bedingungen auch ein aus dem Status der Protestative folgendes suspensives Veto, das die Exekutive oder Legislative zu weiterer Beratschlagung zwingt. Es ist jedenfalls gut begründbar, dass demokratische herrschaftliche Politik die Regungen der Protestative zur Kenntnis nehmen muss.

Um zu verstehen, welche Bedeutung der protestierenden Gewalt im Verfassungsgefüge zukommt, sollte man sich nicht mit idealistischen, bloß auf gute Gründe und subjektive Geistesakte blickenden Argumenten begnügen. Zugleich darf man nicht den umgekehrten Fehler begehen, von politischer Kommunikation am Ende nur noch die materiellen Kräfteverhältnisse übrig zu lasse, im Sinne des Vorurteils, es sei ohnehin stets der an Ressourcen, Geld und materiellen Druckmitteln Reichere, der sich politisch durchsetze – völlig unabhängig von der Qualität der vorgebrachten Argumente. Beide Reduktionismen werden dem schillernden Phänomen des politischen Protests in der demokratischen Verfassungsordnung keinesfalls gerecht. Statt sich auf angeblich rein geistige Wirkungen der politischen Meinungsäußerung und damit auf den bloß subjektiven Geist zu versteifen, wäre dieser Geist objektiv zu erweitern. Auf diesem Wege könnte sich die Theorie des Protests das Terrain der kollektiven Gewohnheiten und schließlich der Institutionen erschließen.

Doch auch das genügt noch nicht. Um die Rolle einer protestativen Gewalt in der Verfassung vollständig zu ermessen, gilt es, die Institutionenordnung hin zum absoluten Geist zu überschreiten. Es wird sich dann im Ansatz zeigen, dass just dieser Übergang vom Objektiven zum Absoluten den Abschluss der demokratischen Verfassungsordnung bildet. Absolut ist dieser Geist nicht nur in der individuellen Pflege des Nichtidentischen in der (Protest-)Kunst, sondern auch im säkularisierten Erlebnis kollektiver Rituale des protestierenden Teilvolkes sowie in der Verpflichtung des Gemeinwesens auf transzendent bleibende Wahrheitsmomente des demokratischen Staates, die in der Philosophie der gleichen Freiheit, den nie überholten Schlachtrufen der politischen Moderne von Paris, Philadelphia und Port-au-Prince zu sich selbst kommen.

Wenn das Recht auf Protest umrissen wird, das die Demokratie zur wilden und im Zusammenspiel mit der institutionellen zur wahren erweitert, ist dieses Recht nicht allein das wechselhafte positive Recht irgendeiner beliebigen Demokratie, etwa der deutschen oder französischen. Es ist auch nicht ein ideal vorgestelltes Recht, wie es wünschbar wäre oder in der Phantasie aussähe. Vielmehr sind Prinzipien der Rechtfertigung des geltenden Rechts in demokratischen Staaten gemeint. Das sind Staaten, in denen Grundrechte repressives Recht aufheben können14 und in denen eine frei gewählte Legislative durch Ansätze einer protestativen Gewalt herausgefordert wird. Insgesamt wirken funktionierende Demokratien langfristig auf die Vertiefung gleicher Freiheit hin. Auf dieser Grundlage bilden sich zugleich die immanenten Maßstäbe einer Kritik der demokratischen Rechtssysteme.

Die protestative Gewalt ist abzuheben von utopistischen Strömungen, die sich außerhalb der Institutionenordnung verorten. Protest negiert stets konkret, nicht abstrakt. Abstrakte Negation ist per se alles andere als illegitim, kann sich aber nicht auf die rechtlichen Privilegien berufen, die der hinreichend konkrete Widerspruch, das hinreichend konkrete Sich-Widersetzen und das hinreichend konkrete Neu-Verfassen in der wahrhaft demokratischen Verfassungsordnung genießen. Beim Entwerfen utopischer Bilder wäre nicht mehr von Protest zu sprechen, sondern von revolutionärer Phantasie. Das Sich-Entwerfen in eine bessere Zukunft des »aufrechten Gangs«15 sollte sich kein Mensch versagen müssen; er wird allerdings unter demokratischen Voraussetzungen beim Werben für diese neuen Welten erfüllter Augenblicke der situativen Flüchtigkeit seiner Träume gewahr werden. In der Folge wird er umso mehr für die Konvergenz – bis hin zur Kongruenz – gewaltloser Ziele und Methoden eintreten wollen, um sich nicht von Anbeginn selbst zu widersprechen. Mit der Entscheidung für gewaltlose Ziele und Mittel ist bereits der große Schritt zur Konkretion getan.

Die Protestative ist zugleich nur dann (Staats-)Gewalt, wenn sie konstituierende Macht ausübt – jenseits der revolutionären Neugründung, in permanenter, wenn auch nicht bloß latenter Form. Sie steht in einem kontinuierlichen Spannungsverhältnis zur konstituierten Macht der Institutionen, geht nie in ihnen auf, hat sie aber auch nicht aufgegeben, sondern versucht deren innere Kräfteverhältnisse zu verändern. Sie weiß, dass der geistige Stoff der Kommunikation nicht ohne die Imposanz der großen Zahl und/oder andere Bestimmungsfaktoren der souveränen Macht politische Wirkung erzielen wird. Körperlich-geistige Präsenz und die Involvierung des Affekts sind der protestativen Gewalt selbstverständliche Kampfmittel.

Diese Demokratie in Präsenz gelingt meist nur in großen und/ oder starken Mengen – die verfassungsrechtliche Struktur solcher zutiefst weltlicher »Gemeinden«, gleichsam Kapellen des Protests, wird ebenso zu klären sein wie die in ihnen verkörperte Macht der unbestimmten Zahl, wie sie bei Autor:innen wie Rousseau, Luxemburg oder Canetti ausgedeutet ist. Beide sind elementar, um das Kontinuum vom Widersprechen über das Sich-Widersetzen bis zum Neu-Verfassen zu erhellen, welches dieses Buch linear strukturiert. Die Methode des Buchs beruht auf dialektischer Welterzeugung, prozessierender Urteilskraft und einem Interesse an antipositiver Totalität, das sich weigert, zu einem definierten Ziel zu gelangen.

WIDERSPRECHEN

Die Schwierigkeit, Nein zu sagen,16 beginnt schon beim Reden. Protest meldet sich zuerst im Widerspruch, in der Widerrede an. Diese Rede antwortet konkret oder spricht abstrakt vor sich hin. Sie kann sich in einer bestimmten Relation ausdrücken oder sie bleibt eigenwillige Behauptung. Die widersprechende Person kann die Erwartung hegen, Teil eines wechselseitigen Lernprozesses zu werden – oder sie spricht entweder »polemisch« mit dem Willen zur Macht oder in einer rein affirmativen solipsistischen Selbstbehauptung.

Das inhaltliche oder formale Niveau des Widerspruchs steht indes nicht in direktem Verhältnis zu seiner Wirkung. Die tiefe argumentative Bereicherung einer Debatte kann politisch völlig folgenlos bleiben. Der beste inhaltliche Beitrag, das Höchstmaß an Differenzierung verschwinden leicht im Tumult simpler Parolen. Gedankliche Preziosen finden sich begraben unter einem gewaltigen Diskurs-Schrotthaufen.

Vor allem wer seinem Publikum abverlangt, einen Teil seiner selbst aufs Spiel zu setzen, wird selten gehört. Ernste, zumal identitätssensible Zumutungen wehrt die Hörerschaft in der Regel ab. Wahr nimmt sie solche Zumutungen nur dann, wenn eine Vertrauensgrundlage besteht. In der opak gewordenen, zumal vermachteten Medienöffentlichkeit besteht ein solches Vertrauen unter Fremden nur (noch) sehr selten.

Meinungsfreiheit wird angesichts ihrer Abhängigkeit von dem, was wir auch jenseits der Medien Öffentlichkeit nennen, just dann politisch, wenn sie von den Hörer:innen her gedacht wird. Das Politische beginnt dann bei der Frage, wie Reden Macht verschiebt, indem es auf Rezipient:innen wirkt. Meinungsfreiheit muss sich jenseits des Speakers’ Corner bewähren – also anders als im Londoner Hyde Park, wo sich jede Passantin folgenlos zu Wort melden kann. Doch Machtverschiebungen treten in verschiedenen Gestalten und auf differenzierten Wegen auf.

Auf einer ersten Stufe werden Äußerungen regelmäßig schon aufgrund ihrer Form wirksam. Zu nennen wären zunächst etwa Befehle oder Gerichtsentscheide, die in eine hergebrachte institutionelle Struktur eingebettet sind. Doch gilt diese unmittelbare Wirkung generell für Sprechakte, weil diese gerade nicht auf ihre Inhalte reduzierbar sind. Die typische Wirkung besteht im Gehorsam oder zumindest der Provokation eines vorausgehenden Zuhöraktes.

Auf einer zweiten Stufe wirkt dann auch der Inhalt der Äußerungen. Dieser kann an Affekte, den Verstand oder die Vernunft appellieren und so als kommunikativer Akt mindestens mittelbar Folgen zeitigen. Die Wirkungsmacht derart mittelbar geistiger Art verkörpert sich nicht zuletzt in der rhetorischen Seite der Äußerungen, sofern es um Politik als Vorbereitung von Entscheidungen geht. Diese rhetorischen Aspekte der Rede, die Einheit von Ethos, Pathos und Logos, sind nie auf einen bloß emotionalen Appell zu reduzieren. Rhetorisch ist nicht die Form, sondern es sind die Inhalte des Gesagten: die Sachen selbst. Diese politischen, also rhetorisch vermittelten Sachen, der Logos, sind mit der ethischen und der affektiven Dimension untrennbar verknüpft. Mithin muss jede politische, stets rhetorische Widerrede in Aporien münden. Denn weder geht politische Kritik in ihrem Aussagegehalt auf, noch lässt sie sich von diesem abtrennen. Der Inhalt politischer Rede kann nicht von dem Versuch abstrahieren, neben der logischen Überzeugung auch zu überwältigen, also Machtpotentiale auszuspielen. Umgekehrt wäre es verfehlt, nur noch über Machtverschiebungen durch die Rede zu sprechen, zumindest sobald diese politischen Charakter annimmt. Schwächen im aufrechten Gang werden ausgenutzt, aber fast jede Sprecherin setzt auch auf den Glauben an die Legitimität des Gesagten, also das Überzeugen.17

Politische Rede ist von einer nicht austilgbaren Dialektik von Liebe und Hass geprägt, in der Sprechende auf Vertrauen ebenso wie auf zu beschwörenden oder zu brechenden Widerstand setzen müssen. Man richtet sich liebend an die Stärken des Publikums und zugleich, insgeheim hassend, an seine Schwächen; gleichzeitig baut man Gegner:innen auf, die man heimlich so sehr für ihre Stärken bewundert, wie man den Hass auf sie zum Ausdruck bringt.

Mit politischer Kritik allein am Ethos anzusetzen kann man sich kaum erlauben; die Beschwörung der schönen Seele, die nur auf das sich selbst erhaltende Gute im Menschen abzielt, wäre eine ganz unpolitische Handlung. Daher kann eine moralische Kritik politischer Hassrede nicht funktionieren. Mindestens hätte sie die Entstehungs- und Geltungsbedingungen politischer, auf kollektive Entscheidung und deren Kritik zielender Kommunikation zu bedenken. Sonst bleibt Hassrede als individueller Gefühlsausdruck unverständlich.

Kehrseitig kann niemand eine Wahrheitsverpflichtung politischer Rede durchsetzen, sofern mit solcher Wahrheit bloß die Orientierung an positivistisch feststell- und widerlegbaren Fakten gemeint ist. Im Gegensatz zum Phänomen der Hassrede gebricht es Falschbehauptungen nicht an Ethos oder gar an dem rechten Pathos, sondern schlicht am Logos-Gehalt. Ebenso falsch wäre es aber, durch Widerlegung (»Faktencheck«) nur noch über diesen Logos sprechen zu wollen. Die rhetorische Kraft derartiger politischer Kommunikation bliebe so nämlich unthematisiert. Hadert die Gesetzesform des Nomos im Fall der politischen Hassrede mit dem Verbot eines bestimmten unethischen Pathos, sperrt sie sich bei den Fake News gegen die kehrseitige Reduzierung der Kommunikation auf den Logos. Das Manipulative bestimmter politisch-rhetorischer Strategien, etwa das Äußern von Halbwahrheiten, das Weglassen oder eine »Bullshit«-Sprache, macht »Fiction-Checking« nötig.18 Auch die ubiquitäre Motivation zur Problemverdrängung etwa der ökologischen Katastrophe, umgesetzt durch eine Zerstörung jedes Objektivitätsglaubens,19 verlangt nach umfassender Aufklärung, die die rhetorischen Inhalte und ihre davon untrennbaren Bewirkungsmachtfragen zugleich reflektiert. Gefühle sind dabei ebenso wenig wie Machteinsatz per se ein Problem; vielmehr sind sie für das vernünftige Urteilen als den bloßen Verstand transzendierende politische Praxis auch jener, die (momentan) nicht selbst entscheiden, schlechthin unabdingbar, wenngleich nicht hinreichend. Für nicht nur in digitalen Netzwerken manipulativ-stimulativ abgetrotzte Affekte, die an sich urteilsfern sind, mag indes anderes gelten.

Die dritte Stufe politischer Rede, ob wert- oder tatsachenzentriert,20 bildet nach Form und Inhalt nun deren Aufhebung in der Position des Sprechenden. In ihr kommt zum Tragen, dass zwar bestimmte Äußerungen kraft ihrer Form, andere vermöge ihrer rhetorischen Inhalte Wirkmacht entfalten, aber beide an die gesellschaftliche Machtposition des Kommunizierenden im Verhältnis zu seinem Publikum anknüpfen müssen. Dabei lässt sich diese zunächst so diffus erscheinende Machtverteilung mithilfe komplexer soziologischer Befunde diskurs- oder sozialstrukturanalytisch recht genau bestimmen.21 Keineswegs ist sie auf gängige antidiskriminierungsrechtliche oder intersektionale Schemata einfach herunterzubrechen.22 Andererseits kann sich keine juridisch-politische Machtanalyse, die sich vorzugsweise auf die Herrschaftsmacht von Institutionen konzentriert, heute noch erlauben, die Trias Hegemonie – Ideologie – Diskurs in ihrer Verknüpfung mit den etablierten Achsen der Ungleichheit (class, race, gender) zu vernachlässigen. Die Position Spinozas, die die Politik konsequent auf Machtverhältnisse reduziert, kann gerade aufgrund ihres scheinbaren Anachronismus dank ihrer besonderen begrifflichen Klarheit an dieser Stelle herangezogen werden.23 Macht folgt demzufolge nicht allein aus systemischen sozialen Ungleichheiten oder gezielten Diskriminierungen (Antisemitismus etc.), sondern auch aus anderen Rollen, aus individueller Glaubwürdigkeit oder Charisma. All dies vermag Affekte zu verschieben und damit Handlungen anzuregen.

Während die dargestellten drei Stufen der Meinungsmacht sich auf die Wirkungsseite politisch urteilender Rede konzentrieren, darf die ebenso bedeutsame Kehrseite der Urteilsrichtigkeit nicht außer Acht gelassen werden. Wiederum ist diese Richtigkeit nicht individualistisch-ideell oder objektivistisch-positiv zu bestimmen, sondern als Frage des Gemeinsinns beim Urteilen. Es geht hier also weder darum, was Sprecher:innen für richtig halten, noch um falsifizierbare positive Faktenlagen, sondern vielmehr um subjektive Allgemeinheit: was Personen in einer bestimmten Position für gesamtgesellschaftlich richtig halten. Das kann man in Anlehnung an Kants Konzept der ästhetischen Urteilskraft formulieren, das auch im juridischen Urteil zur Geltung kommt.24