Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
William wusste schon immer, dass er anders war als die anderen Kinder seines Alters. Wie anders, erfährt er, als sich ihm die kleine Drachendame Nildani offenbart, die viele Jahre in einem Kettenanhänger um seinen Hals schlief. Sie führt ihn in eine Welt voller Magie und hochmoderner Technologie. Als William von ihr erfährt, dass er ein Druide ist und auf eine magische Schule gehen muss, beginnt für die beiden ein Abenteuer, von dem William nie zu träumen gewagt hätte. Zusammen mit Nildani findet er endlich seine Familie, bestreitet sein zusätzliches Dasein als Werwolf und schafft es, sich als zukünftiger Graf von Saargnagel zu etablieren. Doch auch das Dunkle aus Williams Vergangenheit greift um sich. Wieso ist sein Vater tot? Wo und warum versteckt sich seine Mutter vor ihm? Wer spielt auf der Schule ständig Streiche, für die William die Schuld bekommt? Und was ist eigentlich der purpurne Traum, auf den er immer wieder stößt? Zum Glück findet er in der neuen Schule schnell Freunde, die ihm hilfreich zur Seite stehen. Wird William seine vielen kleinen und großen Abenteuer bestehen? Welche Gefahren und unbekannte Wesen erwarten ihn?
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 590
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Vorwort
Prolog – Kumuluswolken
Episode 1 Eine besondere Begegnung
Mit der Polizei nach Hause
Eine kleine Drachendame
Der magische Bremer Schnoor
Nächtlicher Ausflug
Eine blutige Nase
Episode 2 Vom Waisenkind zum Grafen
Gestatten, von Saargnagel
Nildanis erster Flug
Vollmondgeflüster
Ein Werwolf mit Engelsflügeln
Die Verbannung
Spaziergang mit Großvater
Kräuter über Kräuter
Probleme
Drachenball-Spielregeln
Die Flöhe des Vaters
Nildanis Auftrag
Das geheime Waldstück der Venegyer
Drachenshampoo
Des Fischers Glück
Episode 3 Der Schulanfang
Das große Fest der Einschulung
Erster Schultag
Die Schachtel
Ein gemeiner Streich
Treibjagd
Erneute Strafarbeiten
Man wird nur einmal zehn
Ein besonderes Geschenk
Lagebesprechung
Unerwartete Hilfe
Samhain
Bittere Enttäuschung
Die uralte Silbermine
Das Duell
Der wahre Prinz der Streiche
Training im Mondschein
Autorenbiografie
Liebe Leserinnen und Leser,
Der Roman »William von Saargnagel und der purpurne Traum« erschien 2010 das erste Mal im Engelsdorfer Verlag. Wir möchten Sie als Erstes darauf aufmerksam machen, dass die Neuauflage nicht identisch mit der damaligen Publikation ist.
Der Autor, Alfons Th. Seeboth, hat den damalig erschienen Roman noch einmal gründlich überarbeitet. Hierbei war es leider notwendig, diesen zu teilen, damit er ihn ausführlicher gestalten konnte. Dies tat er in enger Zusammenarbeit mit ein paar Lesern und seiner neuen Lektorin Cathrin Kühl.
Wir hoffen, dass Ihnen die Überarbeitung genauso gut gefallen wird wie der damalig erschienene Roman. Eventuell gefällt er Ihnen sogar noch besser, dann würden wir und der Autor uns freuen, wenn Sie eine Rezension schreiben würden.
Wir wünschen Ihnen nun viel Spaß beim Lesen.
In Durham war es früh am Abend und wie in vielen anderen großen Städten auf der Welt zogen unerwartet schwere Gewitter auf. Wer den Himmel betrachtete, bemerkte sofort, dass sich eigenartige Kumuluswolken bildeten. Ihre Form ähnelte gewaltigen, Furcht einflößenden Drachen, die Feuer spien. Die Blitze, die vom Himmel herabzuckten, waren feuerrot. Für die Mehrzahl der Menschen braute sich ein normales Gewitter zusammen. Sie schlenderten wie gewohnt umher oder machten sich auf den Weg zur Arbeit. Jedoch entging ihnen das Ungewöhnliche um ihnen herum. Der Himmel verdunkelte sich zunehmend. Einige wenige Menschen, die mit ihren Hunden spazieren gingen, blieben stehen und bestaunten gemeinsam mit ihren tierischen Begleitern das eigenartige Gewitter. Ihre Hunde verhielten sich äußerst merkwürdig. Aufgeregt hoben sie ihre Pfoten zum Himmel. Dabei stellten sie sich auf die Hinterläufe und jaulten laut. Es hatte den Anschein, als würden sie tanzen.
Dass es in Wirklichkeit keine Hunde waren, sahen nur diejenigen, in deren Herz die Magie lebte. Bloß wenige Menschen waren dadurch in der Lage, diese Wesen zu erkennen. Sie sahen statt der verschiedensten Hunderassen die unterschiedlichsten Fabelwesen. Zum Beispiel Einhörner. Sie gelten als die reinsten der magischen Geschöpfe dieser Welt. Oder aber einen Wolpertinger, der, wie kein vergleichbares fantastisches Wesen, immer anders aussieht. Das sind jedoch bei Weitem nicht alle Fabelwesen, die man mit den richtigen Augen sehen kann.
Während dieses schweren Gewitters gingen in Durham ein Mann und eine Frau mit ihren Fabelwesen am Fluss Wear spazieren. Neben dem Mann lief ein wunderschöner Greif. Dieser war groß, sein Kopf und die Vorderklauen waren die eines Adlers und sein Hinterteil glich dem eines Löwen. Der Frau folgte ein Mantikor, der den Körperbau eines Löwen besaß, den Schwanz eines Drachen und die Flügel einer Fledermaus. Sein Löwenkopf war mit den Hörnern eines Stiers ausgestattet. Gemeinsam bestaunten sie das schwere Gewitter am Abendhimmel.
»In diesem Land scheint auch niemals die Sonne, wenn ich zu Besuch komme. Ich erwische immer das typisch englische Wetter«, lachte der Mann und zupfte nachdenklich an seinem Zwirbelbart.
Die Frau ignorierte seinen Kommentar und schaute ihn ernst an. »Kann man den Zeichen Glauben schenken?«
»Ich fürchte ja, Manigunde! Sie sind eindeutig. Wir können nur hoffen und beten, dass er das Kind nicht findet, bevor wir es gefunden haben.«
»Aber warum gerade jetzt? Viktor, ich verstehe es einfach nicht. Die Gefahr für das Kind war noch nie so groß wie zu dieser Zeit. Die Macht des dunklen Fürsten steigt erschreckend von Jahr zu Jahr.« Schulleiterin Manigunde Greenbeery schüttelte verständnislos den Kopf.
»Warum es ausgerechnet jetzt passiert, solltest du in ein paar Jahren den Drachen fragen. Wobei ich glaube, dass dir die Antwort nicht gefallen wird. Du kannst dir jedoch sicher sein, dass der Drache weiß, was für ein Kind er auserkoren hat. Nicht umsonst hat es so lange gedauert, bis ein Großdrache sich ein Kind erwählt! Ich glaube, dass uns noch die eine oder andere Überraschung erwartet«, erklärte Schulleiter Viktor von Mühlenstein. »Aber als es begann, habe ich die Gefahren für das Kind und den Drachen erkannt. Ich habe die Großinquisitoren angewiesen, die Verstecke des dunklen Fürsten umgehend aufzusuchen. In diesem Moment sollten die Rapahner und Vampirjäger seinen Unterschlupf stürmen. Wobei ich vermute, dass der dunkle Fürst wieder mal entkommen wird. Jedoch werden heute Nacht eine große Anzahl seiner Anhänger gefangen genommen. Das wird ihn für eine Weile schwächen, hoffe ich.«
»Das war eine äußerst kluge Entscheidung. Aber dein Entschluss, das Amt des Schulleiters der Schule Festung Rosenblut zu übernehmen, halte ich nicht für besonders überdacht. Nicht dass du keinen guten Schuldirektor abgeben würdest – nein, in so schweren Zeiten wärst du als Oberster Magistrat eine ausgezeichnete Wahl.«
Beide blieben stehen. Schulleiter Mühlenstein lächelte und zupfte wieder an seinem Zwirbelbart herum. »Das mag alles richtig sein. Ich glaube jedoch, dass ich unserer Welt mehr von Nutzen bin, wenn ich das Kind und den Drachen im Auge behalten kann, ihnen das nötige Wissen vermittle. Sofern die beiden überhaupt in diese Schule kommen. Es ist noch völlig unklar, in welchem Land das Kind geboren wurde. Es gibt einfach keine Informationen, wo es sich derzeit befindet.«
»Das ist äußerst beunruhigend! Es könnte bedeuten, dass das Kind in Gefangenschaft der Schwarzmagier geboren wurde«, entgegnete Schulleiterin Greenbeery.
»Nein, nein! Der Drache hätte sich dann niemals das Kind als Begleiter ausgewählt, mag sein Herz noch so rein sein. Ich habe da eine ganz andere Befürchtung. Wenn ich mit meiner Vermutung richtigliege, wären das Kind und der Drache erst einmal in Sicherheit«, erwiderte Schulleiter Mühlenstein.
Schweigend gingen sie mit ihren Fabelwesen weiter am Fluss Wear spazieren und beobachteten das Gewitter.
Eine junge Frau Anfang zwanzig lief mit einem kleinen Bündel im Arm eine schwach beleuchtete Gasse im Bremer Norden entlang. Sie befand sich auf dem Weg zu einem stark heruntergekommenen Gebäude am Ende der Gasse, einem Waisenhaus. Dort warteten in einem Gebüsch ein grauer und ein brauner Wolf auf sie. Als sie an den beiden Wölfen vorbeilief, sprangen sie aus ihrem Versteck.
Die junge Frau erschrak fürchterlich. Beinahe wäre ihr das kleine Bündel aus den Armen gefallen. Sie pustete eine ihrer braunen Haarsträhnen aus dem Gesicht und sah die zwei Wölfe erleichtert an. »Mutter, Vater! Gut, dass ihr gekommen seid! Ich hatte schon befürchtet, dass ihr meine Nachricht nicht erhalten habt.«
Die beiden Wölfe verwandelten sich augenblicklich in Menschen. Ihr Fell verschwand und stattdessen trugen sie sonderbare Kleider, die reich verziert mit Symbolen, Pflanzen und Tieren waren.
»Als deine Nachricht bei uns eintraf, befanden wir uns in London, wo das Magistrat eine Sondersitzung einberufen hatte«, erklärte ihr Vater. »Es ist in den letzten zwei Tagen viel geschehen.«
Beide bestaunten das kleine Bündel in den Armen ihrer Tochter. Sie waren über den Umstand, dass ihre Tochter einen Säugling bei sich trug, irritiert.
»Du hast ein Kind? Warum hast du uns das nicht geschrieben? Und wo ist dein Verlobter?«, erkundigte sich ihre Mutter.
Die junge Frau fing an zu schluchzen. Während sie erzählte, rollten Tränen ihre Wangen herunter. »Die Anhänger von Fürst Gweadneal haben uns aufgespürt. Von irgendwoher wussten sie, wo wir uns befinden. Es war ihnen egal, dass er nicht reinblütig war. Sie haben ihn getötet. Ohne ihn wäre ich jedoch nicht entkommen. Er hat mich mit letzter Kraft von dort wegteleportiert! Zusammen mit dem Hüter der Grafschaft habe ich ihn unterhalb von der Burg Drachenfels in einer Gruft beerdigt.«
Ihr Vater unterbrach sie und schaute sie eindringlich an. »Wann wurde der Kleine geboren? Vor zwei Tagen oder in der letzten Nacht? Und ist es …«
»Vor zwei Tagen, aber das ist nicht alles! Schau dir dieses Familienmal an! Die Farbe ist eindeutig. Wir können ihn nicht beschützen. Deshalb habe ich euch den Brief geschickt! Das Drachenmal allein ist schon eine Gefahr. Aber das vollkommene weiße Familienmal birgt in sich eine viel größere«, erklärte sie unter Tränen.
Ihre Eltern nickten und ihr Vater erwiderte: »Du hast recht. Unter diesen Umständen sehe ich auch keine andere Möglichkeit. Zumal du noch nicht weißt, dass dein Sohn nicht das einzige Kind mit einem Drachenmal ist, das geboren wurde.« Ihr Vater hielt für einen kurzen Moment inne. »Wir konnten in England keine 50 000 Mark auftreiben. Daher haben wir die Summe in englischen Pfund mitgebracht. Hoffen wir, dass die heiligen Schwestern in diesem Waisenhaus das Richtige tun, den Jungen anständig behandeln und ihn für die nächsten neun Jahre an eine gute Pflegefamilie vermitteln.«
»Ich habe in dem Brief an die heiligen Schwestern geschrieben, dass der Junge acht Wochen vor seinem zehnten Geburtstag abgeholt wird. Dass man die Pflegeeltern vorher darüber informieren muss. Bewusst habe ich nur seinen Vornamen William in den Brief geschrieben. Der Nachname wäre zu gefährlich. Einer aus unserer Welt könnte zufällig über ihn stolpern. Ich bitte euch, sollte mir irgendetwas zustoßen, so holt ihn ab und besorgt für William und den Drachen alles für die Schule. Erzählt ihm von mir und seinem Vater.«
Ihre Eltern nickten. »Du tust das einzig Richtige. Auch wenn es schwerfällt, daran zu glauben.«
Die junge Frau küsste ihr Baby, das sanft schlummerte, auf die Stirn. Danach nahm sie das winzige Drachenei, das ihrem kleinen Sohn an einem Kettchen um den Hals hing, und küsste es ebenfalls. Leise hauchte sie ihnen zu: »Passt auf euch auf und beschützt euch gegenseitig. Ich liebe dich, mein Sohn, und es wird kein Tag vergehen, an dem ich nicht an dich denken werde.«
Gemeinsam mit ihren Eltern trat sie an die Stufen zum Eingang des Waisenhauses. Zögerlich kniete sie sich nieder und legte ihr Baby vor der schweren Eichentür ab. Ihr Gesicht war von Tränen durchnässt, sie zitterte am ganzen Leib. Sie konnte es nicht! Als sie den Versuch unternahm, ihr Kind wieder aufzunehmen, hielt ihr Vater sie davon ab. Er zog kräftig an einer Kordel und ein lautes Glockenspiel ertönte. Danach teleportierte er sich, seine Frau und seine Tochter in den magischen Bremer Schnoor.
Auf dem Rücksitz eines Polizeiwagens saß ein großer, schwarzhaariger Junge. Seine Haut war braun gebrannt, er hatte Sommersprossen und trug ein Clownskostüm. Er sah viel älter aus, als er eigentlich war. Jeder, der ihn bemerkte, dachte, er sei bereits sechzehn Jahre alt. Jedoch würde er erst im Oktober sein zehntes Lebensjahr erreichen.
William, so hieß der Junge, ärgerte sich darüber, dass die Polizei ihn bei einer Kontrolle im Zirkus erwischt hatte. Am meisten erzürnte es ihn jedoch, dass ihn eine innere Stimme davor gewarnt hatte, den Zirkuswagen zu verlassen. Dennoch war er hinausgelaufen und somit einem Polizisten direkt in die Arme.
Dabei hätte er es fast geschafft, Deutschland mit dem Zirkus den Rücken zu kehren. Weg aus diesem kalten Land, das Kinder hasste und ihnen keinen Freiraum gab. Denn eines wusste er genau: Hier würde er, bis er erwachsen war, in der Bäckerei seiner Pflegeeltern schuften. Wenn sein Pflegevater nicht trank, war er noch zu ertragen. Aber das war eher selten. Sobald er Alkohol intus hatte, schlug er ihn regelmäßig und warf heiße Brotformen nach ihm.
Für seine Pflegefamilie war er nur eine billige Arbeitskraft. Die Beamtin des Jungendamts ignorierte seine Klagen und ließ ihn bei ihnen. An wen sollte er sich schon wenden? Die Erwachsenen steckten alle unter einer Decke und einem Kind glaubte man nicht. Oft genug hatte er versucht, Hilfe bei Lehrern zu finden. Vergebens, nie war etwas passiert. Zu genau erinnerte er sich daran, wie er seinem Klassenlehrer erzählte, woher seine blauen Flecke stammten. Anfangs schien es, als würde dieser ihm glauben. Jedoch, nachdem sein Pflegevater behauptet hatte, William wäre ungeschickt und stolperte dauernd über seine eigenen Füße, distanzierte sich sein Klassenlehrer von ihm.
Egal wo er sich Hilfe suchte, am Ende hieß es immer, das Kind hätte eine blühende Fantasie. In diesem Land glaubte keiner einem Kind!
William blickte aus dem Seitenfenster des Polizeiwagens, während es über die Autobahn Richtung Bremen fuhr. Es regnete stark und der Fahrer fuhr deswegen besonders langsam. Die Tropfen fielen so dicht, dass man keine zehn Meter weit sehen konnte, und die Autobahn wirkte wie ein breiter Fluss.
Der Polizist, der mit ihm auf der Rückbank saß, sprach ihn an: »Freust du dich schon darauf, wieder nach Hause zu kommen?«
William schaute den Polizisten an, als würde er ihn auf den Arm nehmen, und antwortete trocken: »Nein! Würden Sie sich auf Ihren Henker freuen?«
Der Polizist blickte den Jungen neben sich entsetzt an und schwieg.
William war das klar. Bloß nicht nachfragen, der Junge könnte ja etwas berichten, was Arbeit verursachte. Wie er die Erwachsenen dafür hasste, dass sie ihn nie ernst nahmen. Er schaute erneut aus dem Fenster und fing an, in Erinnerungen zu schwelgen. Er dachte an seine Auftritte im Zirkus, wie er als Clown die Besucher begeisterte. Er mochte es, geschminkt in der Manege zu stehen und gemeinsam neben den anderen Clowns Späße mit den Zuschauern zu treiben. Später kam er durch Zufall in die Tanzgruppe, aber auch wenn diese erkannte, dass er ihre Tänze ohne große Fehler nachmachen konnte, reichte William das alles nicht. Irgendwann fingen die Zirkusmädchen an, ihm das Reiten beizubringen. Schon nach wenigen Wochen war er auch als Dressurreiter in der Show dabei.
In seinem ganzen bisherigen Leben war er noch nie so glücklich wie in den vergangenen Monaten. Daher stand sein Entschluss jetzt schon fest: Sobald sich eine Gelegenheit bot, würde er wieder weglaufen und dem Zirkus nachreisen.
William schreckte aus seinem Tagtraum auf. Er hatte wieder diese innere Stimme gehört, die ihm etwas zuflüsterte. Dass er nicht noch mal weglaufen dürfe. Er hörte sie öfter in seinem Kopf, konnte sich aber nie erklären, was sie bedeutete. Er empfand sie sogar als sehr beruhigend. Sie war so real wie die Geräusche um ihn herum. Dennoch musste die Stimme eine Einbildung sein, eine Täuschung, die ihn verwirrte.
An einem Schild las William, dass sie Bremen in zehn Kilometern erreichten, und dachte: Noch zehn Kilometer bis zur Hölle!
Geistesabwesend träumte er weiter vor sich hin, als ihn plötzlich der Polizist neben ihm auf der Rückbank anstupste. »Wir sind da!«
William spähte aus dem Seitenfenster. Auf der anderen Straßenseite war die Bäckerei seiner Pflegeeltern. Die rostbraune Schrift an der Wand schaute drohend auf ihn herab. Ein Schaudern lief seinen Rücken herunter. Zögernd stieg er mit den Polizisten aus und schlurfte hinüber in die Bäckerei. Dabei konnte er seinen Blick nicht von der Schrift abwenden, die ihm zu sagen schien: Willkommen zurück in der Hölle!
Sein Pflegevater empfing sie besonders freundlich. »Wir sind ja so froh darüber, dass Sie ihn gesund gefunden haben. Vor Sorge sind wir fast wahnsinnig geworden.«
So ein Heuchler, dachte William und hätte fast gekotzt, so angewidert war er von dem Geschleime seiner Pflegeeltern. Er wusste genau, dass ihn sein Pflegevater heute Nacht wieder verprügeln würde.
Nachdem die Polizisten gegangen waren, packte sein Pflegevater ihn grob am Arm und schüttelte ihn kräftig. »Wo hast du dich die letzten Monate herumgetrieben? Wir hätten deine Hilfe in der Backstube gebraucht! Leg dich ein paar Stunden schlafen, heute Nacht wartet viel Arbeit auf dich!«
Leise murrend ging William hinauf in sein Zimmer. Es lag auf dem Dachboden und war relativ groß, jedoch äußerst spärlich eingerichtet. Unter der Dachschräge stand sein Bett, sofern man es überhaupt als Bett bezeichnen konnte. Es ähnelte mehr einer riesigen Kartoffelkiste mit einer Matratze und Bettzeug. Einen richtigen Kleiderschrank besaß er nicht. Seine Kleidung lag in einer Kommode, die neben dem Bett stand. Seine Jacken und Hemden hingen an Haken an der Wand. Gegenüber vom Bett, auf der anderen Seite des Zimmers, befand sich sein Schreibtisch mit einer Musikanlage vom Sperrmüll. Über dem Tisch hing ein aus alten Latten zusammengenageltes Holzregal. Auf diesem befanden sich Williams Bücher und CDs.
Er stellte seine Tasche auf das Bett und packte sie aus. Es war nicht viel darin – etwas zum Anziehen, sein Taschenmesser und das schönste Geschenk, das er jemals bekommen hatte. Wobei er zugeben musste, dass ihm zuvor nie wirklich etwas geschenkt worden war. Es war ein riesiger weißer Plüschwolf, den ihm die Wahrsagerin Lanjeta überreicht hatte. Bei ihr hatte er die letzten Monate im Wohnwagen gelebt.
Hundemüde legte er sich ins Bett und war recht schnell eingeschlafen. Unruhig wälzte er sich hin und her, träumte von seinen Freunden im Zirkus und von zwei älteren Menschen, die sich aufgeregt mit Lanjeta unterhielten. Die Gesichter der zwei konnte er nicht erkennen. Eigenartige Träume verfolgten ihn. Immer wieder hörte er diese Stimme, die ihm etwas vorsummte.
Plötzlich gab es einen lauten Knall und William saß aufrecht im Bett. Sein Pflegevater hatte seine Zimmertür aufgetreten und brüllte: »Los, aufstehen und runter mit dir! Du machst heute die krossen Brötchen. Und trödle ja nicht herum, sonst setzt es was!«
William roch seine Alkoholfahne bis ans Bett und ihm war klar, dass er in dieser Nacht mehr als nur Schläge zu erwarten hatte.
Unten in der Backstube angekommen, setzte sein Pflegevater gerade die Schnapsflasche an den Mund und nahm einen kräftigen Schluck. »Steh da nicht so blöd herum, sondern arbeite endlich!«
Er tat, was sein Pflegevater ihm befahl, und kümmerte sich um den Brötchenteig. Während er sich damit beschäftigte, nahm er einen verbrannten Geruch wahr und schaute sich um. Aus dem hinteren Ofen kam schwarzer Qualm.
Sollen doch die Graubrote verbrennen, es ist ja nicht meine Aufgabe, auch noch seine Arbeit zu beaufsichtigen, dachte William und ignorierte es einfach.
Ein paar Minuten später brüllte sein Pflegevater wie ein Wahnsinniger, während er sich Schutzhandschuhe gegen die Hitze anzog, um die Bleche aus dem Ofen zu holen. »William, du Vollidiot!« Stinksauer und mit einer Gesichtsfarbe, die einer Tomate starke Konkurrenz machte, stolperte er auf William zu. Er war mittlerweile so betrunken, dass er sich kaum auf den Beinen halten konnte.
William wich aus Angst ein paar Schritte zurück. Ihm war klar, was jetzt passieren würde.
Schnell erreichte er ihn und hielt dabei das glühend heiße Blech in der Hand. Während sein Pflegevater hysterisch herumbrüllte, schlug er es William auf den Arm. »Bist du völlig bescheuert? Weißt du, was das für Kosten sind? Dafür kriegst du heute nichts zu essen!«
Ein höllischer Schmerz durchfuhr William. Leise stöhnend hielt er seine Hand auf den verbrannten Oberarm.
Sein Pflegevater holte erneut aus.
»Nein, nicht! Lass mich in Ruhe!« Verzweifelt und mit aller Kraft stieß William ihn von sich weg.
Sein Pflegevater stolperte, verlor das Gleichgewicht und schlug hart mit dem Hinterkopf auf dem Boden auf, wo er bewusstlos liegen blieb. Das heiße Blech flog im hohen Bogen durch die Backstube und schepperte gegen einen der Öfen.
William fühlte Zorn, eine Wut und Gedanken, die nicht seine waren. Jedoch nahm er sie durch die Schmerzen nicht wirklich wahr, die Brandverletzung stach zu sehr. Er ließ seinen Pflegevater einfach in der Backstube liegen und lief in den Verkaufsraum. Dort schnappte er sich eine Einkaufstüte und stopfte zwei Flaschen Wasser und ein paar mit Leberkäse belegte Semmelbrötchen hinein.
Die Schmerzen im Arm trieben ihm Tränen in die Augen. Taumelnd verließ er das Geschäft, ohne sich noch einmal umzudrehen. Mehrere Male stolperte er über seine eigenen Füße, während er die dunklen Straßen entlangrannte. Nicht eine Laterne brannte. Nur der fast volle Mond und die Sterne am Himmel erleuchteten seinen Weg.
Eine Stunde später hörte er die Sirenen eines Streifenwagens. Rasch schlüpfte William in die Dunkelheit eines Hauseingangs. Gerade noch rechtzeitig, denn schon kurz darauf raste der Wagen mit Blaulicht an ihm vorbei. Endlich weg von dort, dachte er. Ihm kamen jedoch Zweifel, ob er das Richtige tat. Wo soll ich nur hin? Zurück ins Waisenhaus? Nee, die glauben mir sowieso nicht und die Frau vom Jugendamt bringt mich wieder zu meiner Pflegefamilie.
Früher oder später würde die Polizei ihn erneut aufgreifen, das war ihm jetzt schon klar. In der Schule konnte er sich auch keine Hilfe suchen. Er hasste sie mit ihren ungerechten Lehrern. Die behandelten ihn meist von oben herab und kaltherzig, weil er oft Dinge wusste, die die Lehrer nicht kannten. William hatte keine Ahnung, warum in seinem Kopf so viele merkwürdige Sachen ihren Platz gefunden hatten, die er selbst nicht einmal richtig benennen konnte. Er war schon vor der Einschulung imstande gewesen zu lesen, zu schreiben und zu rechnen. Auch beherrschte er etliche Fremdsprachen, wie Englisch und Französisch. Er hatte zuvor niemals Unterricht bekommen. Er konnte es einfach. Seine Mitschüler hänselten ihn deswegen und beschimpften ihn als Streber. Sie gingen mit ihm um, als wäre er nicht ganz richtig im Kopf. Die einzigen Freunde, die er besaß, waren Bücher. Sie taten ihm niemals weh oder behandelten ihn schlecht. Im Gegenteil, aus Büchern lernte er, dass, wenn er immer fleißig war und sich anstrengte, er auch etwas Besonderes werden und aus seinem jetzigen Leben fliehen könnte. Genau darum wollte er wieder zurück zum Zirkus und dort sein Glück finden.
Nach einer Weile kam William ein junger Mann entgegen. Ihm folgte ein eigenartiges Kaninchen. Es hatte scharfe Zähne, ein kleines Geweih auf dem Kopf, kleine Flügel eines Falken auf dem Rücken und einen Schwanz wie eine Katze. William sah öfter solch merkwürdige Tiere. Im Zirkus hatten fast alle so ein skurriles Wesen. Jedoch sprach er niemanden darauf an. Früher erzählte er anderen von den Tieren, die er sah, und bekam riesigen Ärger. Er musste oft zu Ärzten, die ihn untersuchten und Tests mit ihm veranstalteten. Seitdem er aber nicht mehr darüber redete, ließen ihn die Erwachsenen in Ruhe.
William hatte Bremen schon lange hinter sich gelassen und schlenderte müde in ein Wäldchen hinein. Dort entdeckte er eine unverschlossene Waldhütte und betrat sie. Das nenn ich Glück. Ein paar Stunden Schlaf werden mir guttun.
William schlief äußerst unruhig, die Brandwunde schmerzte stark und irgendjemand schien dauernd mit ihm sprechen zu wollen.
»Hey, William, wach auf, hörst du mich? Hast du was zu essen in deiner Tasche? Hallo, ich rede mit dir!«
Schlaftrunken schlug William die Augen auf und erhob sich langsam. Es war niemand zu sehen oder zu hören. Er schaute sich genauer um und ging in dem Raum umher. Die Hütte war klein und dreckig. Überall lagen Dinge herum, wie alte Holzeimer und Leinensäcke. Durch das vollständig verschmutzte Fenster kam nur spärlich Licht, sodass er nicht viel erkennen konnte. Und erneut hörte er jemanden sprechen. Ein Mädchen! Aber was ihn völlig verwirrte: Die Stimme befand sich in seinem Kopf.
»Ich habe so einen großen Hunger! Hast du etwas zu essen für mich übrig?«
»Wer ist da?«, fragte William ängstlich. Immer noch konnte er niemanden in der kleinen dreckigen Hütte entdecken.
»Hier unten neben deinen Füßen sitze ich.«
William schaute runter. Vor ihm auf dem staubigen Boden saß ein eigenartiges Tier. Es war himmelblau mit kleinen weißen Flecken. Es hatte vier kräftige Beine und einen langen Hals mit relativ großem Kopf und scharfen Zähnen. Ein Schwanz mit Dornen am Ende zitterte hin und her, und zwei zierlich wirkende Flügel spannten sich auf dem Rücken. Der ganze Körper war mit Schuppen und kleinen, flaumartigen Federn bedeckt. William machte mehrere Schritte zurück und wäre fast über ein paar Holzeimer gefallen.
»Ich werde dich nicht beißen! Du musst doch keine Angst vor mir haben. Ich tu dir wirklich nichts.«
»Ich weiß nicht so recht, du siehst sehr gefährlich aus«, erwiderte William und wollte noch etwas Abstand zwischen sich und dem komischen Tier bringen. Jedoch befand sich hinter ihm schon die Hüttenwand. Sein Herz raste vor Angst. So ein Wesen hatte er noch nie gesehen und ihm waren schon etliche im Zirkus begegnet. Aber niemals zuvor hatte eines mit ihm gesprochen.
»Auch wenn ich großen Hunger habe, so verspreche ich dir, dass ich dich nicht fressen werde! Hast du nicht irgendetwas zu essen bei dir?«
Das kleine Wesen setzte einen bettelnden Blick auf, dem William nicht widerstehen konnte. Auch er verspürte nun großen Hunger und kramte aus der Einkaufstüte die belegten Semmelbrötchen. Er nahm den Leberkäse runter und legte die Scheiben vor das eigenartige Tier auf den Boden. Langsam verlor William die Angst und setzte sich zu dem kleinen Wesen. Vorsichtshalber behielt er jedoch einen Meter Abstand.
Während William beobachtete, wie das himmelblaue Geschöpf hastig den Leberkäse verschlang, aß er die trockenen Semmeln.
Nachdem es alles verputzt hatte, rülpste es laut auf. »Entschuldige, es war einfach zu lecker.« Fragend schaute es zu ihm auf. »Du, William? Hast du denn einen schönen Namen für mich?«
»Einen Namen? Ich weiß ja nicht einmal, wer oder was du bist. Ich habe ja schon viele eigenartige Tiere gesehen, aber so etwas wie dich noch nie«, entgegnete William. Plötzlich überkam ihn das Gefühl, das Wesen vor sich beleidigt zu haben, was sich an der Reaktion des Tieres recht schnell bestätigte.
Wütend und mit einer bedrohlich klingenden Stimme erwiderte es: »Eines solltest du dir merken: Ich bin kein Tier! Ich bin eine Drachendame. Für normale Menschen bin ich ein Fabelwesen, sie sehen mich nur als Hund oder Katze. Du jedoch bist ein Magier und kannst alle Fabelwesen als das erkennen, was sie sind.« Nachdem sie einmal tief Luft geholt hatte, beruhigte sie sich wieder und schaute ihn erneut fragend an. »Also, hast du nun einen Namen für mich? Du kannst mich ja schlecht einfach Drache nennen. Denn wenn wir zwei schon ein Leben lang zusammenbleiben, dann möchte ich zumindest einen schönen Namen von dir haben.«
William fing fürchterlich zu stottern an. »Ei-ein Leben lang zusammen? Wir bei-beide? Das geht doch überhaupt nicht! Wie soll ich für uns was zu essen besorgen? Und was heißt hier, ich sei ein Magier?«
»Naja, du bist wohl eher ein Druide, wenn ich so deine magische Aura betrachte. Ja, das mit dem Essen wird schwierig, da du ja keine Eltern mehr hast. Aber bald bist du ja zehn Jahre alt. In einem Monat, oder?«
William nickte und fragte: »Woher weißt du das alles?«
»Du hast mich seit dem Tag deiner Geburt an deinem Herzen getragen. Ich war dein Leben lang immer bei dir.« Die kleine Drachendame sah, wie sich William an die Halskette griff und den Anhänger suchte. »Ja, ich steckte in dem kleinen Ei an deiner Halskette. Also, was ist nun? Hast du einen Namen für mich?«
William überlegte eine ganze Weile, aber ihm fiel erst nichts ein. Nach ein paar Minuten hatte er einen passenden Namen für sie. »Ich weiß nicht, ob er dir gefallen wird. Wenn du ihn nicht haben möchtest, sage es bitte. Weil du so hellblau wie der Himmel bist und wegen deiner weißen Flecken am Bauch und deinen Flügeln, ähm … dachte ich an Nildani, die Himmelsblume.«
»Der ist toll!« Sie wackelte kokett mit ihrem Hinterteil und summte: »Nildani Himmelsblume.«
»Aber warum ist das so wichtig, dass ich bald zehn Jahre alt werde?«, wollte William jetzt unbedingt von ihr wissen.
»Früher, so vor ungefähr vierhundert Jahren, bevor ein böser Magier anfing, Drachen zu jagen und zu töten, da war es so, dass die Kinder mit ihren Fabelwesen in eine spezielle Schule mussten. Und zwar ab dem Jahr, in dem sie zehn Jahre alt wurden. Es gibt elf magische Schulen im alten Reich. Ich glaube, ihr nennt das heute Europa. Vier dieser Schulen sind für Magier und Druiden, die ein Fabeltier als Begleiter haben. Die übrigen Schulen sind für Zauberer und Hexen. Demnach müsstest du schon lange deine Schuleinladung von einer der vier magischen Schulen bekommen haben. Das heißt, mit dem Erhalt der Einladung wären wir zwei vor den normalen Menschen, aber auch vor einigen bösen Magiern in Sicherheit, die uns bestimmt fangen wollen.«
William warf ihr einen missmutigen Blick zu, als wollte sie ihn auf den Arm nehmen. »Ich war zwar in vielen verschiedenen Schulen, sogar in einer für begabte Kinder, aber von einer magischen Schule habe ich noch nie etwas gehört! Wieso wollen dich denn andere Magier fangen?«
»Das ist wirklich merkwürdig, wir haben jetzt Mitte September, oder?«
William nickte und wollte noch was fragen, schwieg jedoch.
»Wenn du noch keinen Brief bekommen hast, könnte es sein, dass es die Schulen nicht mehr gibt. Das ist alles seltsam. Du musst wissen, nicht jedwede Magier, Druiden, Hexen und Zauberer sind gut. Es gab vor vierhundert Jahren einen, der die magische Welt fast zerstörte. Aber genug davon, das muss dir ein anderer erklären, ich habe schon zu viel erzählt.«
»Aber wenn du mir nichts erzählst, wie soll ich dich dann beschützen?«, erkundigte sich William. Ihn ärgerte es, dass sie ihn im Unklaren ließ und nichts über die dunklen Magier berichtete.
»Du musst noch sehr viel lernen, bevor du mich beschützen kannst. Jetzt liegt es erst einmal an mir, dafür zu sorgen, dass wir zwei nicht verhungern.« Sie überlegte einen Moment, bevor sie fortfuhr. »Weißt du, wir Drachen haben einen verdammt guten Geruchssinn. Darum gehen wir jetzt Pilze sammeln! Nimm dir welche von den alten Leinensäcken und einen Eimer aus der Ecke mit.«
William war verunsichert und zögerte. »Verstehe ich nicht. Wie sollen uns Pilze vor dem Verhungern bewahren? Außerdem mag ich keine Pilze!«
Nildani kicherte leise. »Du sollst die auch nicht essen! Wir werden die im magischen Bremer Schnoor verkaufen. Die Pilze sind etwas ganz Besonderes und wachsen in der Erde. Du hast bestimmt schon mal etwas vom weißen Trüffel gehört. Die werden wir jetzt sammeln. Aber auch andere Pilze und Kräuter, die du später für den Alchemieunterricht in der Schule benötigst. Umso mehr selbst gesammelte Kräuter und Pilze du verwendest, desto besser werden deine Zaubertränke und Elixiere«, erklärte Nildani äußerst ausführlich.
William fand es ausgesprochen interessant und hätte ihr über Alchemie am liebsten Löcher in den Bauch gefragt. Jedoch bemerkte er, dass sie nicht länger an diesem Ort bleiben wollte. Aber etwas bedrückte ihn noch. »Was machen wir, wenn es die magischen Schulen, von denen du gesprochen hast, nicht mehr gibt? Vor allem: Wie sollen wir nach Bremen kommen? Alles, was ich besitze, liegt noch bei meiner Pflegefamilie. Auch wenn es nicht wirklich viel ist.« William fiel ein, dass er etwas für ihn sehr Wichtiges zurückgelassen hatte: den weißen Plüschwolf, den er von Lanjeta geschenkt bekommen hatte. Bedrückt ließ er den Kopf hängen und schaute Nildani betrübt an, brachte aber keinen Ton mehr heraus.
»Sei nicht traurig, du wirst deine Sachen sicherlich irgendwann wiederbekommen. Außerdem wirst du bald in Geld schwimmen. Denn der weiße Trüffel ist in der magischen Welt ungemein wertvoll. Wir müssen nur den richtigen Händler finden, der uns einen fairen Preis bezahlt. Im magischen Bremer Schnoor erfahren wir bestimmt auch, ob es die Schulen noch gibt. Aber eines musst du ganz schnell lernen: Deine Antworten und Fragen musst du denken, nicht sprechen. Du kannst mich nicht nur in deinem Kopf hören, sondern ebenfalls meine Gedanken lesen. Und wenn du es übst, kannst du auch durch meine Augen sehen.«
William war nicht so ganz von dem überzeugt, was Nildani ihm erzählte. Daher versuchte er erst vorsichtig, sich mit ihr im Geiste zu unterhalten. »Kannst du wirklich hören, was ich denke? Hm, mal schauen, ob du das hörst. Du hast eine süße kleine Nase!«
Nildani rollte sich vor Lachen auf dem staubigen Boden und erwiderte: »Wenn die süß ist, dann ist Zucker aber sauer. Wir sollten nun wirklich losgehen und die Trüffel und Kräuter für dich sammeln.«
Sie wollten gerade die Hütte verlassen, als William stehen blieb. »Du, sag mal, soll ich den Bollerwagen da aus der Ecke mitnehmen? Wir könnten die gesammelten Kräuter und Pilze darin besser transportieren.«
»Geniale Idee«, erwiderte Nildani. »Vor allem kann ich mich später darin unter einem Leinensack verstecken, damit mich nicht zufällig ein anderer Magier sieht.«
Mit dem Bollerwagen im Schlepptau verließen sie die kleine Waldhütte und betraten den Wald. Die Bäume standen kreuz und quer, und die Laubbäume fingen schon an, die ersten Blätter abzuwerfen. Nebel lag in der Luft und legte sich sanft auf Moose und Waldfarne. Die Luft war kühl und frisch, roch aber überaus angenehm.
Nildani lief schnuppernd am Waldboden voran. Immer wieder hielt sie dabei an und buddelte mit ihren kleinen Klauen vorsichtig die Trüffel aus. William nahm sie achtsam auf und legte sie in einen der Leinensäcke. Ab und zu musste Nildani kleinere Bäume umschubsen. William fragte sich, wo ein kleines Wesen wie sie so viel Kraft hernahm. Tief zwischen den Baumwurzeln lagen die besten Trüffel im Boden versteckt. Aber sie buddelte nicht nur Trüffel aus. Nebenbei zeigte Nildani ihm auch andere Pilze und Kräuter, die er vorsichtig pflücken und in den Holzeimer legen sollte. Die Leinensäcke wurden immer schwerer. Keine Frage, er war für sein Alter sehr groß und kräftig, aber so langsam bereitete ihm seine Verbrennung am Arm Probleme.
»Du, Nildani, ich glaube wir haben jetzt wirklich genug Trüffel. Vier der Leinensäcke sind zu je einem Viertel gefüllt. Außerdem schmerzt meine Brandwunde von dem Gewicht.«
»Warum trägst du die Säcke? Pack sie doch in den Wagen, so musst du das Gewicht nur ziehen.«
Mit einem erleichterten Seufzer stellte William die Leinensäcke und den Holzeimer in den Bollerwagen. Danach zeigte er ihr seine Verbrennung. Der linke Oberarm war mit Brandblasen übersät. Einige von ihnen waren schon aufgeplatzt und verkrustet.
Nildani betrachtete seinen Oberarm und war völlig entsetzt. »Bitte verzeih mir. Ich habe nicht gewusst, dass es so schlimm ist. Leg dich hin, ich werde es heilen. Es wird sehr schmerzhaft sein, jedoch kannst du deinen Arm danach wieder voll belasten.« Nildani konzentrierte sich und hielt ihren Kopf über seine Wunde. Sie holte einmal kräftig Luft, schloss ihre Augen und stieß ihren heißen Atem auf Williams Brandverletzung. Dies machte sie zwei-, dreimal, bis sie vollkommen verheilt war.
William verzog jedes Mal das Gesicht und biss die Zähne zusammen, dass es laut knirschte. Danach begutachtete er seinen Oberarm und konnte nicht einmal eine Narbe entdecken. »Vielen lieben Dank! Es tat zwar weh, aber Schmerzen bin ich ja durch die Prügel meines Pflegevaters gewohnt.«
William wollte Nildani aus Dankbarkeit vorsichtig am Kopf kraulen. Aber kaum dass er sie berührte, gab es ein ohrenbetäubendes Donnern und ein feuerroter Blitz zuckte vorüber. Am klaren blauen Himmel über ihnen bildete sich eine gewaltige Kumuluswolke in der Form eines Feuer speienden Drachen.
»Oh, verdammt noch mal, das habe ich ganz vergessen. Wir müssen hier verschwinden! Jeder in der magischen Welt, der nicht taub und blind ist, weiß nun, dass ich geschlüpft bin. Das Schlimme ist, durch die Wolke über uns finden sie uns sofort. Wir müssen weg. Es wäre zu gefährlich, sich hier weiterhin aufzuhalten.«
William schnappte sich Nildani und setzte sie rasch in den Bollerwagen. Zügig griff er nach der Lenkstange und rannte panisch mit dem Wagen im Schlepptau durch den Wald, als wäre der Leibhaftige hinter ihnen her.
Mit dem Bollerwagen lief William querfeldein. Erst als sie ein kleines Dorf namens Ristedt hinter sich gelassen hatten, gönnten sie sich eine Pause. William war völlig außer Atem und schnaufte wie ein altes Walross. »Ich kann nicht mehr!« Erschöpft ließ er sich auf eine Wiese am Wegesrand fallen.
Nervös schaute Nildani unterdessen zurück und betrachtete die Kumuluswolke, die immer noch über dem Wäldchen am Himmel stand. Nach einer Weile drängelte sie erneut: »Bitte, William, wir müssen weiter!«
»Wenn es unbedingt sein muss, aber rennen werde ich nicht mehr!«, erwiderte er mürrisch und rappelte sich wieder auf.
Er nahm den Bollerwagen und schlenderte gemütlich den Feldweg entlang, bis die ersten Häuser in Sicht kamen. An einem Schild blieb er stehen. »Wir haben Glück, in dem Ort Barrien gibt es einen kleinen Bahnhof.«
»Toll, dann sehe ich mal ein Dampfross; habe schon viel von der Magie über diese Feuermaschinen gehört«, erklärte Nildani ihm.
William lachte und erwiderte: »Dampfross? So etwas gibt es nicht mehr. Die Züge fahren heutzutage mit Strom.«
An Nildanis Gedanken bemerkte er ihre Enttäuschung, wusste aber auch nicht, wie er sie aufmuntern sollte. Daher schwieg er und sie erreichten schon nach wenigen Minuten den kleinen Bahnhof.
Dieser war stark verdreckt und die Wartehäuschen waren mit Kritzeleien beschmiert. Kein Ort, an dem man länger verweilen mochte. Mehr als einen Unterstand und einen Fahrkartenautomaten gab es nicht. Um auf die andere Seite zu gelangen, wo die Züge Richtung Bremen hielten, musste William den Bollerwagen mühselig eine Brücke hinauf und herunter tragen. Durch Nildanis Gewicht, die vielen Trüffel und anderen Pilze war er regelrecht aus der Puste, als er endlich wieder unten ankam. Viel Zeit, um sich von den Strapazen zu erholen, blieb ihm nicht. Aus den Lautsprechern dröhnte schon eine Stimme: »Achtung auf Gleis 2, ein Zug fährt ein.«
Mit quietschenden Bremsen hielt er neben ihnen und William beobachtete die aussteigenden Menschen eingehend. Ihm entging nichts und seine Beobachtung wurde belohnt. Einer der Passagiere warf seinen Fahrschein weg und William hob ihn rasch auf. Damit dies nicht auffiel und der Zugbegleiter es nicht sah, tat er so, als würde er seine Schnürsenkel binden.
»Was machst du da am Boden?«
»Einen weggeworfenen Fahrschein aufheben. Ich will nicht beim Schwarzfahren erwischt werden. Man würde mich der Polizei übergeben und zu meinen Pflegeeltern zurückbringen«, antwortete William ihr und stand wieder auf. Beim Versuch, den Bollerwagen in den Waggon zu verfrachten, half ihm der Schaffner. Nach seinem Ticket fragte er jedoch nicht.
Knapp dreißig Minuten waren sie mit dem Zug unterwegs und stiegen letztendlich am Bremer Hauptbahnhof aus. Gemütlich bummelten sie in die Innenstadt. William musste regelmäßig an den großen Schaufenstern stehen bleiben, damit Nildani die vielen tollen Sachen bestaunen konnte. Vorsichtig hob sie immer ihren Kopf, um unter dem Leinensack herauszuschauen. Zum Glück liefen die normalen Menschen fast blind an ihnen vorbei und kümmerten sich nicht um sie. Keiner wunderte sich darüber, dass in dem Bollerwagen ein Hund unter Leinensäcken steckte. So kamen sie nach einer Weile des Herumbummelns unbehelligt am Ziel an.
»Und was jetzt? Wir sind hier im Bremer Schnoor«, bemerkte William.
»Da vorne am Katzencafé vorbei, dort erkennst du einen eigenartig aussehenden Stein am Boden. Auf den stellst du einen Fuß und sprichst: ›Schnoor, oh schöner Schnoor, zeige mir dein wahres Gesicht!‹ Dann sind wir im magischen Bremer Schnoor«, erklärte Nildani ihm.
»Woher weißt du, wie man dorthin gelangt?«
»Na, weil ich ein Drache bin! Mein lieber William, du musst noch sehr viel lernen. Aber es ist ja noch kein Meister vom Himmel gefallen.«
William kratzte sich nachdenklich am Kopf. »Muss ich das jetzt denken oder sprechen?«
Nildani kicherte leise und amüsierte sich köstlich über ihn. »Du kannst Fragen stellen! Du musst es natürlich sprechen. Aber flüstere es, damit kein Fremder es hört. Pass auf jeden Fall auf, dass keiner sieht, wie du verschwindest.«
Vorsichtig schaute William sich um; als er niemandem sah, flüsterte er: »Schnoor, oh schöner Schnoor, zeige mir dein wahres Gesicht.«
Überwältigt blickte William sich um! Eben standen sie noch in einer leeren kleinen Gasse und nun war sie voller Leben. Überall rannten spielende Kinder umher, seltsam gekleidete Erwachsene standen in Gruppen herum und unterhielten sich. William gefielen diese Arten von Trachten, die sie alle trugen. Sie erinnerten ihn an Theaterkostüme, wobei diese schon etwas edler wirkten.
Wie eine Kette reihten sich die einzelnen Geschäfte auf beiden Seiten der Gasse aneinander. Es gab hier alles, vom Zauberstabladen bis zum Zoofachgeschäft für kuriose Tierarten. Die Buchhandlung jedoch erregte Williams Aufmerksamkeit am meisten. Das Gebäude hatte von außen eine ganz normale Größe. Doch wenn man hineinschaute, wirkte die Ladenfläche fünfmal so groß. William liebte Bücher und dort gab es sie in Hülle und Fülle. Sie warteten nur darauf, von ihm gelesen zu werden und seine Fragen zu beantworten. Am liebsten wäre er jetzt in den Laden hineingestürmt, um alle zu lesen.
Nildani lachte leise, als sie seine Gedanken las. Sie musste sich wirklich beherrschen, um nicht loszuprusten. »Wir können von mir aus gleich den ganzen Buchladen kaufen. Jedoch sollten wir erst einmal einen Teil unserer weißen Trüffel verkaufen. Aber warte immer, bis ich mein Okay gebe. Der Händler wird bestimmt versuchen, den Preis zu drücken. Verkaufe ihm nur drei Säcke. Du wirst auch weißen Trüffel für den Alchemieunterricht in der Schule benötigen.«
Während William ihr zuhörte, schaute er irritiert zum Himmel. »Wo sind wir hier eigentlich? Der Himmel sieht ganz normal aus. Wir sind doch noch in Bremen, oder?«
»Wir sind hier unter dem Bremer Schnoor. Der magische Bremer Schnoor ist sehr viel größer als der an der Oberfläche. Es ist eine eigene Stadt unter der eigentlichen Stadt Bremen. Der Himmel hier ist echt, auch wenn wir unter der Erde sind. Regnet es an der Oberfläche, dann regnet es auch hier unten«, erklärte ihm Nildani. »Hast du das mit dem Händler verstanden?«
»Aber ja. Ich verkaufe nur, wenn du dein Okay gibst.«
Sie spazierten gemütlich die Gasse entlang. An jedem Geschäft blieb William kurz stehen und schaute sich die Auslagen an. Er verschlang regelrecht alles, was seine Augen erblickten.
Vor einem eigenartigen Laden blieb William stehen. Sämtliche Fenster waren verdunkelt. Über dem Eingang hing ein großes Schild:
William drückte die Türklinke herunter. Als die Tür aufschwang, erklang ein Glöckchen, das über ihr hing. Zielstrebig betrat er den kleinen Verkaufsraum, dessen Regale hinter dem Tresen bis obenhin vollgestopft waren. Der Bollerwagen passte dabei gerade so durch die Tür. Vor ihm warteten noch zwei Kunden. Nachdem diese den Laden verlassen hatten, trat William an den Verkaufstresen. »Kaufen Sie auch an? Ich hätte weiße Trüffel anzubieten.«
Der alte Mann hinter dem Tresen schaute William skeptisch von oben herab an, als ob er ihn belügen würde. »Na, dann zeigen Sie mir mal Ihre weißen Trüffel. Sie sind der erste Sammler in dieser Saison, der mir welche anbietet.«
Vorsichtig hob William drei der Leinensäcke aus dem Bollerwagen. Dabei achtete er penibel darauf, dass der leere Leinensack Nildani weiterhin bedeckte. Er stellte die gefüllten Säcke auf dem Tisch ab.
Der alte Mann hinter dem Tresen schaute ihn mit offenem Mund an. Schweigend nahm er die drei Leinensäcke und wog deren Inhalt. Der Alte war überaus erstaunt. »Ich habe noch nie in meinem Leben so exzellenten weißen Trüffel angeboten bekommen. Sie werden mir bestimmt nicht verraten, wo Sie den gefunden haben. Die Qualität ist so ausgezeichnet, dass ich Ihnen den wahren Wert nicht bezahlen kann. Dazu müssen Sie ins magische Viertel nach London reisen. Wollen Sie die ganzen siebenundachtzig Kilo verkaufen?«
»Und was jetzt, Kleines? Was ist der weiße Trüffel denn nun wert?«
»In der Qualität ist er unbezahlbar. Sage ihm, du willst siebenunddreißig Goldstücke und fünfzig Silberlinge pro Gramm, der Preis wäre nicht verhandelbar. Das ist jetzt wichtig, mach dabei ein ganz ernstes Gesicht. Das untermauert, dass du nicht mit dir handeln lässt.«
William schaute den Händler mit einem sehr ernsten Gesicht an und erklärte ihm: »Wir möchten siebenunddreißig Goldstücke und fünfzig Silberlinge pro Gramm haben.«
Der Alte grinste William an. »Soso, das sind also Ihre Preisvorstellungen. Ein sehr fairer Preis, den Sie verlangen. Ich bin einverstanden. Jedoch habe ich eine so große Summe nicht im Laden. Darf ich Ihnen einen Nafitze ausstellen? Diesen können Sie bei Blairwings um die Ecke einlösen.«
»Ja, mach das, William. Du benötigst sowieso eine Schatzkammer. Also lassen wir dir eine bei Blairwings einrichten.«
»Eine Schatzkammer? Und was ist bitte Blairwings? Wie viel Goldstücke sind das überhaupt?«
»Mann, hast du viele Fragen. Blairwings ist die sicherste Bank der magischen Welt. Dort kannst du eine Schatzkammer für dein Gold mieten. Grob geraten, bekommst du von dem Händler über drei Millionen Goldstücke«, antwortete Nildani.
»Was? So viel Gold für uns zwei? Wann sollen wir das denn ausgeben?«, erwiderte William und wandte sich dem Händler zu: »Ja, das geht in Ordnung, wir müssen sowieso noch zu Blairwings.«
»Gut, gut! Dann sind das 3 262 500 Goldstücke. Hier ist der Nafitze. Verlieren Sie ihn nicht; jeder, der ihn findet, kann ihn einlösen.« Der Alte reichte ihm den ausgefüllten Nafitze. Im selben Moment, in dem William ihn entgegennahm, packte der Alte den rechten Arm von ihm und krempelte seinen Pulloverärmel hoch.
Nildani reagierte sofort. Blitzschnell sprang sie aus dem Bollerwagen heraus und auf den Tresen. Wütend entblößte sie ihre kleinen messerscharfen Zähne und bedrohte den Händler. Dabei breitete sie ihre kurzen Flügel aus, um größer und gefährlicher zu wirken.
Der Alte lachte laut. »Ich wusste es! Nur Drachen und Werwölfe können so feine Nasen haben, um solche Trüffel aus dem Boden zu holen. Machen Sie sich keine Sorgen. Ich werde Sie bestimmt nicht verraten! Ihr Drache ist übrigens sehr weise, sich nicht offen zu zeigen. Seit dem Donnern und den roten Blitzen überall am Himmel steht die ganze magische Welt auf dem Kopf. Es wird erzählt, dass das Donnern die vier alten Großdrachen aus ihrem Tiefschlaf gerissen hat. Auch wird immer öfter von Übergriffen der Schwarzmagier berichtet. Haben Sie zwei überhaupt schon Ihre Schulsachen gekauft?«
Nildani hüpfte zurück in den Bollerwagen und versteckte sich wieder unter dem leeren Leinensack.
William erwiderte: »Ich habe keine Ahnung, was wir benötigen. Eine Schuleinladung haben wir nicht bekommen.«
Der Alte starrte William entsetzt an und begann sich aufzuregen. »Ja, spinnen die denn? Haben die mit zu vielen Wolpertingern gekuschelt? Hier, junger Mann, nehmen Sie diese Liste und besorgen Sie alles, was draufsteht. Wenn Sie alles haben, müssen Sie in den Schwarzwald reisen. Dort benutzen Sie eines der Portale, die in die Grafschaft von Saargnagel führen. Ihr Drache erkennt die geheimen Portale, auch wird er in der Grafschaft den alten Großdrachen spüren. Dieser wird Sie in die Schule lassen, da bin ich mir sicher.« Der Alte reichte ihm die Liste und gab ihnen zusätzlich zwei sehr große gefüllte Beutel. »Die eingemachten Kräuter und Pilze schenke ich Ihnen. Sie haben mir die Trüffel zu einem fairen Preis verkauft. Außerdem hätten Sie in London bestimmt das Doppelte bekommen. Passen Sie gut auf sich auf und denken Sie daran: Am ersten Oktober beginnt die Schule.«
Zum Abschied reichte William dem Alten die Hand. »Vielen Dank für die Liste und die Kräuter.«
Vor dem Kräuterladen schaute William sich erst einmal um. »Was erzählte der Alte? Blairwings befindet sich um die Ecke?«
»Das sagte er.«
Sie folgten der Gasse und schon nach der ersten Biegung kam die Bank in Sicht. Es war ein eigenartiges Gebäude. Überall ratterten kleine Zahnräder und Dampf quoll aus allen Ecken und Kanten. Die Bank war aus großen Metallplatten zusammengezimmert. Über dem Eingang hing ein riesiges Schild:
William ging acht Stufen hinauf. Der Bollerwagen hinter ihm schaukelte, und drohte ein paarmal umzukippen. Oben angekommen, betrat er eine riesige Halle. Vor Staunen blieb ihm der Mund offen stehen. Die gewaltige Decke wurde von großen Marmorsäulen getragen. Auch der Fußboden und die vielen Pulte und Tresen bestanden aus Marmor.
Er ging zu einem Schalter für Neukunden und erkundigte sich bei dem kleinen Mann dahinter: »Ich würde gerne eine Schatzkammer einrichten, bin ich da bei Ihnen richtig?«
Der Bankangestellte schaute ihn zweifelnd an, was man ihm auch nicht verübeln konnte. Williams Kleidung sah schrecklich zerrissen und dreckig aus. Wer traute schon den Worten eines Lumpenjungen?
William kramte noch rasch den Nafitze aus der Tasche und reichte ihn über den Tresen.
Der Angestellte warf einen Blick auf den Nafitze und hob erstaunt eine Augenbraue an. »Ah, ich verstehe. Auf welchen Namen soll die Schatzkammer eingetragen werden?«
William druckste herum: »William, einfach nur William. Ich habe keinen Nachnamen.«
Der Banker war etwas irritiert. »Mmh, wie heißt denn Ihr Fabelwesen und was haben Sie für eines?«
»Du musst mich ihm zeigen. Aber pass auf, dass nur er mich sieht!«
William blickte sich erst verstohlen um und hob dann ganz vorsichtig den Leinensack an, unter dem Nildani lag. Der Mann hinter dem Schalter schluckte und schien seinen Augen nicht trauen zu wollen. Er starrte auf Nildani, als würde er nicht glauben können, was er da sah. Sprachlos nickend notierte er etwas auf einem Formblatt, welches er danach in einem Ordner abheftete.
Nachdem William sie wieder zugedeckt hatte, wandte er sich dem Mann am Tresen zu. »Sie heißt Nildani, die Himmelsblume! Und bitte zahlen Sie uns 2 500 Goldstücke aus«, erklärte ihm William. »Das ist doch ausreichend, oder?«, wandte er sich gedanklich an seine Begleiterin.
»Denke schon. Es sei denn, du willst nachher den ganzen Buchladen kaufen.« Nildani kicherte wieder leise.
Der kleine Mann notierte alles und verschwand kurz darauf mit dem Nafitze, um die Geschäfte für William und Nildani zu erledigen.
»Was sind das für komische Typen? So kleine Menschen habe ich noch nie gesehen.«
»Das sind keine Menschen, sondern Gnome! Sehr intelligente Wesen und vor allem erfinderisch. Wenn du mal zu deiner Schatzkammer hinabfährst, wirst du sehen, was die so erfunden haben, um die Schätze hier zu beschützen. Das Tolle ist, egal in welche Bank du reingehst, du landest immer in deiner Schatzkammer«, erklärte ihm Nildani.
»Das will ich mir anschauen! Ob die uns hinunterführen?«
»Ich kann deine Neugier verstehen. Ich würde mir das auch gerne anschauen. Wir sollten uns aber beeilen und uns nicht zu lange im magischen Bremer Schnoor aufhalten.«
»Ich glaube, du hast recht. Wir sollten keine Zeit vertrödeln.«
Nach einer Weile tauchte der Gnom wieder auf und legte fünf Säckchen auf den Tisch. Dazu gab er ihnen einen kleinen kupfernen Sicherheitsschlüssel, auf dem die Zahl 663 eingraviert war. »Ihre 2 500 Goldstücke zum Mitnehmen und Ihr Schlüssel zur Schatzkammer. Der restliche Betrag wird in Ihrer Kammer eingelagert.«
»Vielen Dank, muss ich irgendetwas für das Einrichten bezahlen?«, wollte William von dem Gnom wissen.
Der Angestellte lächelte nur. »Aber nein. Einmal im Jahr werden die Schatzkammern überprüft. Dafür verlangen wir einmalig eine kleine Gebühr.«
»Vielen Dank für die Auskünfte und die freundliche Behandlung«, bedankte sich William bei dem Angestellten.
Der Gnom grinste über so viel Lob. »Jederzeit wieder. Ich freue mich schon auf Ihren nächsten Besuch.«
William verließ Blairwings und öffnete einen der Goldbeutel. »Cool, die Goldstücke sind ja unterschiedlich groß.«
»Ja, was dachtest du denn? Dass du 2 500 einzelne Goldstücke bekommst? Das wäre ja ein Gewicht, das keiner tragen kann!«
Nach genauerem Begutachten des Geldes stellte William fest, das es sieben verschiedene Goldstücke gab. »Hier muss aber alles ganz schön teuer sein, wenn man in Gold bezahlen muss.«
»Gold ist die höchste Währung. Es gibt noch Kupfer- und Silberlinge«, erklärte ihm Nildani.
Nach einer Weile überlegte William, wohin sie als Nächstes gehen sollten.
Neugierig fragte Nildani: »Was steht denn auf der Einkaufsliste?«
William kramte die Liste hervor und Nildani las durch seine Augen mit. »Den Kräuterbeutel B1K-7 haben wir schon bekommen.« Unbedacht kratzte William sich am Kopf. »Die Namen der Autoren von den Schulbüchern sind wirklich lustig. Cornelius Hahnenzähe und Sabrina Dottersack … oder der hier: Graf Christian William von Saargnagel.« Er konnte sich kaum noch vor Lachen beruhigen. »Ich bin der goldene Nagel an deinem Sarg.«
»Man macht sich nicht über die Namen anderer lustig!«, schimpfte Nildani und fuhr fort: »Die Liste ist ja riesig … Wir brauchen sicher ein paar Tage, um alles zu besorgen.«
»Hast ja recht, so was macht man nicht. Wir sollten uns nach einem Hotel umsehen.« William stutzte auf einmal, als er den letzten Abschnitt las: Ebenfalls wird ein formeller Anzug oder Ballkleid für den Weihnachts-, Frühlings- und Sommerballabend benötigt. Es wird ebenso ein formeller Anzug oder Ballkleid für das Fabelwesen benötigt.
Verwirrt kratzte William sich am Kopf. »Ähm, wie soll das gehen? Ein Drache in einem Anzug? Gibt es spezielle Kleidungen für Drachen?«
Nildani musste sich zusammenreißen, um nicht laut loszulachen. »Nein, nein! An diesen drei besonderen Tagen werden wir Fabelwesen für vierundzwanzig Stunden zu Menschen. Wir verwandeln uns um sechs Uhr morgens und am nächsten Tag um sechs Uhr wieder zurück in ein Fabelwesen.«
»Aha! Also ich kann ja meinen Anzug anprobieren. Aber wie willst du eine Anprobe machen?«
»Ich trage doch keinen Anzug, sondern ein Ballkleid! Du musst vorher für mich die Ballkleider anprobieren!«
»Was!«, brüllte William so laut, dass es jeder hören konnte und sich nach ihm umdrehte.
»Pst, nicht so laut! Ja, wie soll ich sagen? Also normalerweise bekommt ein Junge immer ein männliches Fabelwesen und ein Mädchen halt ein weibliches Fabelwesen. Außer bei uns Drachen! Wir suchen uns das Herz des Kindes aus, mit dem wir unser Leben teilen wollen. Damit so etwas Schreckliches wie vor vierhundert Jahren nicht wieder passiert. Darum gab es auch so lang keine Drachen mehr unter den Schülern«, erklärte ihm Nildani ausführlich.
»Aber … aber … Muss ich so einen Mädchenfummel anziehen? Warum muss ich eine Anprobe machen? Ich bin doch viel zu groß!« William sträubte sich innerlich und wollte auf keinen Fall ein Kleid anprobieren.
»Du musst wissen, wenn wir Fabelwesen an diesen Tagen zu einem Menschen werden, sind wir genauso groß wie unsere Begleiter. Du bist halt kein Mädchen. Daher kann ich mir auch keine Kleider von dir ausborgen. Du wirst nicht nur die Ballkleider anprobieren müssen, sondern auch all die anderen Sachen, die ich so benötige.«
William stöhnte leise über die Tatsache, all die Dinge anzuprobieren, die sonst nur Mädchen trugen. Auf einmal wurde ihm schlagartig bewusst, dass er das in Zukunft jedes Jahr würde machen müssen. Gemeinsam machten sie sich auf den Weg, um ein Geschäft zu suchen, das Ballkleider und Schuluniformen führte.
Auf dem Weg entdeckte William einen Laden, in dem man Lederkoffer kaufen konnte, und ihn durchfuhr ein Geistesblitz. »Wir sollten uns zwei Koffer für die Kleider kaufen. Außerdem gaffen uns die Leute blöde an, da ich diesen Holzeimer und Leinensack im Bollerwagen herumfahre.«
»Das ist eine gute Idee! Wir kaufen aber drei Koffer: einen für deine Schulsachen, einen für die Kräuter und Pilze und den letzten für die Kleider und anderen Sachen zum Anziehen.«
Über dem Geschäft hing ein großes Schild:
Sie betraten den Laden und in der Tür hing ein weiteres Schild:
Im Verkaufsraum roch es stark nach Leder und Ölen. Ein Kunde war noch vor ihnen und sie schauten sich unterdessen die vielen verschiedenen Koffer an. Die Auswahl war riesig. Es gab sie in allen Größen und Formen. Sogar eine Weltneuheit: einen schwebenden Koffer.
Aber einer gefiel ihnen besonders. Er war mit Silberbeschlägen verziert, die kleine fliegende Drachen darstellten.
»Die gefallen mir. Kosten aber fünfundzwanzig Goldstücke. Das ist teuer, oder?«
»Ach was, wir kaufen uns drei Stück. Außerdem sind das hier gewichtsreduzierte Koffer. Gefüllt wiegen sie fast nichts. Und das Beste ist, in diese Koffer passt zwanzigmal so viel rein wie in einen gewöhnlichen«, erklärte Nildani ihm. »Du, William, die stellen hier Sättel für fliegende Fabelwesen her. Könntest du den Händler bitte gleich fragen, ob er auch andere Sättel herstellt als die, die auf dem Schild genannt werden? Aber nur, wenn wir alleine im Laden sind.«
»Klar, mach ich«, erwiderte William, hoffte aber insgeheim, dass der Händler keine Sättel für Drachen führte.
Sie warteten eine Weile, und nachdem der letzte Kunde endlich gegangen war, kam der Ladenbesitzer zu ihnen. »Womit kann ich Ihnen behilflich sein?«
»Wir hätten gerne drei von diesen Koffern dort oben!« William zeigte auf die schön verarbeiteten Lederkoffer mit den fein verzierten silbernen Beschlägen.
Der Ladenbesitzer holte drei von den Koffern aus seinem Lager und stellte sie auf dem Boden ab. »Benötigen Sie sonst noch etwas aus meinem Sortiment?«
William schaute sich nervös um. »Stellen Sie auch andere Sättel her als die, die an der Tür aufgeführt werden?«
Verwirrt strich der Verkäufer durch sein krauses Haar. »Was für einen Sattel brauchen Sie denn? Wollen Sie einem Mantikor einen anlegen?«
»Nee, sie sagte nur, dass ich nach anderen Sätteln fragen sollte. Schade, dann müssen wir woanders schauen«, erwiderte William und war heilfroh, dass der Händler anscheinend keine anderen Sättel im Sortiment hatte.
Der Ladenbesitzer betrachtete ihn nachdenklich. Langsam dämmerte ihm, was für einen Sattel der Junge vor ihm suchte. »Sie und Ihr Drache müssen mir in den Keller folgen. Dort habe ich die Drachensättel eingelagert.«
Verdutzt schaute William dem Händler nach. »Woher wusste der, dass du hier bist?«
»Das war kein Kunststück. Er hat wahrscheinlich die Ereignisse des Tages und deine doch recht dumme Frage zusammengezählt.«
Nildani kletterte aus dem Bollerwagen und gemeinsam folgten sie dem Händler eine lange Treppe hinunter in ein Kellergewölbe. Hier roch es noch viel stärker nach Leder und Pflegemitteln als oben im Laden.
Der Mann zeigte auf ein großes Regal. Dort lagen unzählige Drachensättel in den verschiedensten Farben. »Wenn Ihr Drache sich einen Sattel ausgesucht hat, muss er auf den Tisch springen, damit ich ihn besser vermessen kann. Dies ist nötig, da ich seine spätere Größe errechnen muss, um den Sattel speziell für ihn anzupassen.«
Der Ladenbesitzer holte einen Sattel nach dem anderen aus dem Regal und zeigte sie Nildani. Jedoch konnte sie ihren Blick von einem ganz bestimmten Drachensattel nicht abwenden. William bemerkte, wie sie immer verstohlen auf einen schaute, der abseits auf einen Bock geschnallt war. Wahrscheinlich war sie zu bescheiden, etwas zu sagen, denn dieser Sattel war mit Unmengen Gold, Silber und Diamanten verziert.
William grinste Nildani an und wandte sich dem Händler zu: »Wir nehmen den dort drüben, der auf den Bock geschnallt ist.«
Der Ladenbesitzer glaubte, nicht richtig zu hören, und schaute die zwei an, als hätten sie etwas Unmögliches von ihm verlangt. »Können Sie sich den überhaupt leisten? Ich meine, wenn ja, bekommen Sie die drei Koffer kostenlos obendrauf.«
»Ich denke schon, dass wir den bezahlen können. Was ist denn an dem Drachensattel so besonders?«, erkundigte sich William und schaute den Verkäufer neugierig an.
Der Händler lachte. »Das kann ich Ihnen erzählen. Diese Sättel hier im Regal sind alle ausgesprochen alt. Sie wurden hergestellt, als es noch eine Menge Drachen gab. Jedoch ist der Drachensattel, den Sie sich ausgesucht haben, viel älter. Keiner wollte ihn kaufen, weil er so teuer ist.«
»Meine Begleiterin möchte diesen Sattel gerne haben, also bekommt sie ihn auch! Der Preis ist mir dabei egal. Sie ist mir sehr wichtig, und wenn sie glücklich ist, dann bin ich es auch«, erklärte William dem Ladenbesitzer.
»Du bist so lieb zu mir! Ich mochte nichts sagen, weil der Sattel bestimmt sehr teuer ist. Aber er zog mich irgendwie magisch an, als würde er bereits lange auf mich warten.«
William strich ihr zärtlich über den Kopf. »Ist schon okay. Du hast doch für unser Gold gebuddelt, also sollst du auch nur das Beste bekommen.«
Der Ladenbesitzer vermaß Nildani ganz genau. Es schien, als wäre er stolz darauf, den ersten Drachensattel nach vierhundert Jahren zu verkaufen.
Nachdenklich betrachtete William den Sattel. »Du, Kleines, wir haben aber ein Problem. Wie kriegen wir den mit? Für die Koffer ist er zu groß!«
»Oh, du hast recht, das ist wirklich ein Problem!«
Der Händler vermaß Nildani auf das Gründlichste. Immer wieder brummte er etwas in seinen nicht vorhandenen Bart, wenn er sich Notizen auf einem Schreibblock machte. Sein Maßband verhielt sich sehr widerspenstig und verknotete sich mehrmals um Nildani. Als es sich um ihren Hals verhedderte, knurrte sie leicht angesäuert. Fast eine halbe Stunde benötige der Ladenbesitzer, um sie zu vermessen. Nachdem alles notiert und auf ihre spätere Größe umgerechnet war, gingen sie gemeinsam die lange Treppe in den Verkaufsraum hinauf. Oben angekommen, versteckte sich Nildani wieder im Bollerwagen unter dem alten Leinensack.