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Die vier Mitbewohner in Ihrem Kopf – Neurobiologie ganz praktisch Es ist das Glanzstück der Evolution: das menschliche Gehirn. Fast eineinhalb Kilo schwer, Lenker unseres Lebens und leistungsfähiger als jeder Computerchip. Trotzdem können wir unser Smartphone meist besser bedienen als die Schaltzentrale in unserem Kopf. Schluss damit! Lernen Sie die vier Bewohner Ihres Oberstübchens kennen und gehen Sie mit Menschen- und Unternehmenskenner Jürgen Fuchs auf eine amüsante Entdeckungsreise in Ihre Gehirn-WG. Wer hat hier das Sagen? Wie entstehen Gefühle? In welchem Zimmer wohnt die Intuition und woher nimmt sie eigentlich ihre Kompetenz? Decken Sie die Geheimnisse Ihres täglichen Handelns auf und lassen Sie sich von ungewöhnlichen Sichtweisen überraschen. •Der Sinn der Sache: Warum Bäume kein Hirn brauchen und wir gleich vier davon haben •Unser Gehirn: Aufbau, Funktionen, Mysterien – vom limbischen System bis zum Großhirn •Die Geheimnisse der Gefühle: Das ist "da oben" los, wenn wir grübeln, gestresst sind und uns verlieben •Die Macht der Emotionen: Warum wir keine Entscheidung ohne sie treffen können und weshalb selbst der Kauf von Butter eine emotionale Angelegenheit ist •Neuroleadership: Wie "gehirngerechte" Unternehmen in der künftigen Arbeitswelt Mitarbeitern und Kunden Freude machen Warum wir tun, was wir tun: Selbsterkenntnis mit Schmunzelfaktor Jürgen Fuchs stellt Ihnen die vier Experten vor, die in Ihrem Kopf leben, zeigt ihre perfekte Zusammenarbeit und was passiert, wenn sie nicht an einem Strang ziehen. Verständlich und humorvoll illustriert vermittelt er die neuesten Erkenntnisse aus der Gehirnforschung und gibt Antworten darauf, warum wir tun, was wir tun – von alltäglichen Verhaltensmustern bis zur nonverbalen Kommunikation. Ein Buch für alle, die ihr Handeln und das ihrer Mitmenschen und Kollegen besser verstehen wollen!
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Seitenzahl: 262
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Jürgen Fuchs
Warum wir tun was wir tun –privat und im Beruf
Psychologische Beratung und Illustrationen:Marja C. Hische
„Die Intuition ist ein göttliches Geschenk.Unser denkender Verstand ist ein treuer Diener.Es ist paradox, dass wir heutzutage angefangen haben,den Diener zu verehrenund die göttliche Gabe zu entweihen.“
Albert Einstein (1879–1955)
FürJana und Tabeavon ihrem Opa
Copyright: FAZIT Communication GmbH
Frankfurter Allgemeine Buch, Frankenallee 71 – 81,
60327 Frankfurt am Main
Umschlag: Christiane Hahn, Frankfurt am Main
Coverabbildung: Adobe Stock, ToheyVector
Satz: Uwe Adam, Freigericht, www.adam-grafik.de
Druck: CPI books GmbH, Leck
Printed in Germany
1. Auflage, Frankfurt am Main 2018
ISBN 978-3-96251-001-5
eISBN 978-3-96251-050-3
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, vorbehalten.
Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der DeutschenNationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet überhttp://dnb.d-nb.de abrufbar.
Einführung
Summary: Unser Gehirn – ein Buch mit sieben Siegeln?
Teil 1: Ihre abenteuerliche Reise in Ihr eigenes Gehirn
Sigmund Freud hat nie sein eigenes Gehirn bereist, Sie aber werden es jetzt tun
Ihr Körper ist Ihr Reiseführer – er kennt sich bestens aus. Denn schließlich hat er Ihr Gehirn selbst gebaut. Genauso, wie er es braucht
Jeder Mensch trägt die ganze Evolution in seinem Kopf, wie die „Jahresringe des Lebens“
Sie haben nicht nur ein Gehirn im Kopf, sondern vier. Und jedes ist ein Experte auf seinem Gebiet
Ihre erste Station ist Ihr Reptilien-Gehirn
Jetzt besuchen Sie Ihr Säuger-Gehirn: Ihr „Herz“ im Kopf
Emotio erinnert sich an seine schönsten Lebensjahre: die unbeschwerte Kindheit
Ihr Großhirn empfängt Sie: der „Riesen-Chip“ in Ihrem Kopf
Das Kleinhirn als Bewegungszentrum: Ohne Greifen kann man nichts begreifen
Die ganze Evolution lebt noch heute in unserem Kopf
Das Geheimnis der zwei Zellen. Warum Sie aus zwei unterschiedlichen Zelltypen bestehen: Körperzellen und Nervenzellen
Unsere Chromosomen: Urquelle all unseres Wissens
Das Geheimnis der drei Röhren: Wie Sie vom befruchteten Ei zum Embryo gewachsen sind
Der Abschied vom Paradies
Teil 2: Die Macht unserer Emotionen – warum wir tun, was wir tun
Nach dem Besuch im Gehirn formiert sich ein neues Team: Der Gehirn-Lotse trifft sich mit Adam und Eva
„Wer ist der Herr in meinem Haus?“
Emotionen: das ist „Energy in Motion“ – Energie in Bewegung
Alle Menschen auf dem Globus zeigen die gleichen Emotionen – sogar die meisten Säugetiere
Emotionen sind immer öffentlich
Es gibt keine negativen Emotionen
Ich habe einen „emotionalen Fingerabdruck“
Mein emotionales „Herz“ wohnt im Gehirn
Der „Bauch“ im Hirn – wie wir unsere Bauchentscheidungen treffen
„Wo lebt die Intuition in meinem Kopf?“
„Ich treffe alle Entscheidungen emotional“
„Woher nimmt meine Intuition ihre Kompetenz?“
Die Emotionen sind der Mittelpunkt des „Planeten Mensch“
„Wenn’s gut läuft, dann sind bei mir Herz und Verstand im Dialog“
„Wer programmiert eigentlich meine roten Ampeln?“
Wie wir Entscheidungen für die Zukunft treffen – Einblicke in unser „Kopfkino“
„Wie frei ist mein freier Wille?“
„Wo bitte geht’s zu meiner Persönlichkeit?“
Meine Persönlichkeit als eine Zwiebel?
Der systematische Fehler unserer Personalauswahl
Der Mensch trägt in sich die ganze Intelligenz des Lebens. Das macht ihn beim Kunden unschlagbar
Teil 3: Warum wir uns auf die zukünftige Arbeitswelt freuen können
Unser Gehirn und die Digitalisierung: Konkurrenz oder Symbiose?
In „gehirngerechte“ Unternehmen gehen die Menschen gerne: Mitarbeiter und Kunden
Wofür die Computer noch immer uns Menschen brauchen
Das „gehirnlose“ Unternehmen wird von Computern gefressen
Das neue Organisationsbild. Von der toten Pyramide zum lebendigen Organismus
Zu welchem Unternehmen passt welches Modell?
Das Wunder im „gehirngerechten“ Unternehmen
dm-Drogeriemarkt als positives Beispiel für ein gehirngerechtes Unternehmen
Der Abschied naht: Die Reise kommt zu ihrem Ende
Teil 4: BewusstseinserHeiterungen
Der ganz normale Alltag in meiner Gehirn-WG
Vom Denken, Lernen und Erinnern
Von Wissen, Weisheit und Vorurteilen
Von Liebe, Glück und Autokäufen
Von unseren Emotionen und unseren Gefühlen
Unser aufrechter Gang: „Der Quell vieler Segnungen, aber auch allen Übels?“
Von Kommunikation und Beziehungen
Von Müssen, Wollen und der Freiheit
Von Robotern und Künstlicher Intelligenz
Epilog: Lust auf Zukunft – Visionen und positive Utopien
The Global Brain – Wenn die Menschheit „Ich“ sagt
Die zweite Aufklärung
„Selbstliebe – Rede von Charlie Chaplin am 16. April 1959
Weiterführende Literatur
Der Autor
Psychologische Beratung und Illustrationen
Als Mensch trage ich in meinem Kopf das Glanzstück der Evolution: mein riesiges Großhirn. Es hat dieselbe Struktur wie ein Computer-Chip. Mit Schaltelementen in mehreren Schichten und ganz engmaschig vernetzt. So groß wie zwei Zeitungsseiten. Aus Platzgründen stark zusammengeknüllt. Es arbeitet wie ein Smartphone: Input, Verarbeitung, Output. Mit Arbeitsspeicher und Langzeitspeicher.
Bei meiner Geburt war es praktisch leer. Wie ein nagelneues iPhone. Nur das „Betriebssystem“ lief schon. Der Speicher war noch unbenutzt. Keine Altlasten, keine Vorprogrammierung. Ich war ein unbeschriebenes Blatt. „Wie toll“, dachte ich damals, „viel Platz für meinen eigenen Lebensweg.“ Aber, oh Schreck: „Ich weiß ja noch gar nichts. Ich kenne nichts. Noch nicht einmal die lieben Menschen um mich herum. Und ich kann auch noch nichts.“
Doch glücklicherweise hat die Evolution die wunderbaren „Großhirn-Apps“ erfunden. Vorentwickelte Programme, an denen Generationen von Menschen gearbeitet haben: Fürs Sprechen und Schreiben, Zählen und Rechnen, und besonders für das Wohlverhalten. Das Wissen der Menschheit. Das alles kann ich mir runterladen. Nicht ganz so einfach wie vom AppStore. Leider. Ich selbst muss noch ganz, ganz viel üben und trainieren.
Meinen zweiten Schreck bekam ich bei der Erkenntnis, dass das menschliche Großhirn sich selbst eine gewaltige Konkurrenz geschaffen hat: elektronische Gehirne. Computer und Smartphones, Algorithmen und Roboter. Computer oder Mensch? Wer bestimmt mein tägliches Leben? Wer meine Zukunft?
Diese Fragen bewegen nicht nur Sie oder mich, Google oder Facebook, Unternehmen, Gewerkschaften oder Regierungen. Wir alle suchen nach Antworten. Wird Kollege Roboter mein Freund oder mein Feind? Nehmen uns die Computer die Arbeit weg? Geht uns vielleicht sogar die klassische Erwerbsarbeit aus? Wie verdienen wir unsere Brötchen, wenn Roboter nicht nur Autos bauen, sondern auch im Krankenhaus die Pflege übernehmen?
1997 wurde Schachweltmeister Garri Kasparow erstmals von dem IBM-Computer „Deep Blue“ geschlagen. Seit diesem denkwürdigen Jahr trat kein Weltmeister mehr öffentlich gegen einen Computer an. Im Schachspiel gewinnt die Software immer. Heute sogar schon auf einem Laptop.
Bei all den Diskussionen über die Frage „Mensch oder Computer?“ wird eine Tatsache ganz deutlich: Wir kennen die elektronischen Gehirne viel besser als unser eigenes Gehirn. Wir haben klare Vorstellungen von Hardware und Software, Arbeitsspeicher und Memo-Sticks, Betriebssystemen und Apps, WLAN und WIFI, Internet und Cloud. Wir haben auch ein grobes Bild, wie das alles zusammenspielt.
Aber wie gut kennen wir den Inhalt unseres Schädels? Unser iPhone ist uns viel vertrauter als unser eigenes Gehirn. Obwohl wir es seit Geburt mit uns rumschleppen. Jeder von uns kann heute sein Smartphone ganz gezielt einsetzen: ob wir fotografieren wollen oder telefonieren, googeln oder mailen, whatsappen oder simsen. Wir wissen genau, mit welcher App wir was machen können. Und was wir dann bekommen: das Wetter oder die Börse, das Hotel oder den Weg zum nächsten Treffpunkt. Wir können sogar Funktionen installieren, de-installieren oder updaten.
Bedienen wir unser Gehirn auch so gut? Können wir es genauso gezielt einsetzen? Sie werden bestimmt sagen: „Ja natürlich. Ich bin doch Herr meines Hirns.“ Aber dann reden wir von kopflos oder gedankenlos, hirnlos oder sorglos. Manchmal ist auch richtig was los in unserem Kopf: Wenn die Gedanken kreisen und die Fantasie mit uns durchgeht. Wenn wir nicht mehr wissen, wo uns der Kopf steht. Wenn Stress unser Gehirn blockiert oder wenn wir uns Hals über Kopf verlieben. Was ist da wirklich los, in unserem Hirn?
Die moderne Gehirnforschung ist jetzt dabei, alles zu messen und zu fotografieren. Wir finden sehr viele Details über unser Gehirn in schlauen Büchern und bei Google. Wir wissen genau, wo das Stammhirn und das Zwischenhirn liegen, das Kleinhirn und das Großhirn, das Sehzentrum und das Hörzentrum.
Und dann sagt der Fuchs zum kleinen Prinzen: „Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.“ Intuitiv stimmen wir dieser Aussage zu. Aber wie kann unser Herz etwas sehen? Oder gibt es ein „Herz im Hirn“? Und wie steht es mit unseren Bauchentscheidungen? Haben wir etwa auch noch einen „Bauch im Hirn“?
Dieses Buch möchte für Gehirn-Laien eine verständliche Gesamtschau geben. Es will Zusammenhänge aufzeigen. Wie alles in unserem Kopf zusammenhängt. Und wie das alles so genial zusammenspielt. Hier einige Beispiele:
•Warum wir tatsächlich „mit dem Herzen“ besser sehen – wenn auch nicht so genau.
•Wieso wir alle unsere Entscheidungen emotional treffen – sogar, ob wir die Butter bei ALDI kaufen oder bei REWE.
•Wie frei unser freier Wille wirklich ist – oder vielleicht nur eine Illusion.
•Warum wir beim Golfschlag nicht denken dürfen.
•Weshalb die Computer uns beim Schach überlegen sind – aber nicht in der Liebe.
•Was der Grund dafür war, dass die Evolution schon dem Ur-Ur-Menschen vor 500.000 Jahren ein so riesiges Großhirn gegeben hatte. Obwohl der damals noch nicht denken musste.
•Warum in den letzten 10.000 Jahren unser Gehirn um 10 % kleiner geworden ist – aber wir nicht dümmer.
•Wie Stress in unserem Gehirn entsteht – und wie wir ihn vermeiden können.
•Warum unsere Kinder mit etwa drei Jahren zum ersten Mal „Ich“ sagen, und warum sie später in der Pubertät so viel spinnen.
•Wieso unser Gehirn nur Bilder speichern kann – aber keine Worte. Deshalb nennen wir das Ergebnis von jahrelangem Lernen „Bildung“ und nicht „Wortung“.
•Warum es keine „negativen“ Emotionen gibt – aber die Emotionen unser ganzes Leben bestimmen.
•Weshalb Roboter und Computer niemals unsere Emotionen kopieren können – nur unsere Muskelbewegungen bei Mimik und Gestik.
•Wie wir den Zugang zu unserer Intuition finden – der Intelligenz unserer Gefühle.
Ich lade Sie, liebe Leserinnen und Leser, nun herzlich zu einer Entdeckungsreise in Ihr eigenes Gehirn ein. Viele Geheimnisse Ihres täglichen Handelns werden Ihnen danach hoffentlich offensichtlicher und auch durchsichtiger sein. Sie werden sehen, warum Sie tun, was Sie tun. Und warum wir Menschen so sind wie wir sind. Dabei werden Sie auch einige Überraschungen erleben. Zunächst: was der alleinige Grund dafür ist, dass Tiere ein Gehirn haben: Es ist die Bewegung.
Bäume sind auch Lebewesen. Aber ohne Gehirn. Weil sie sich nicht bewegen müssen. Mit der Bewegung wird das Leben als Tier so richtig kompliziert. Schon der Salamander muss den ganzen Tag Entscheidungen treffen: ob er seinem Gegenüber ausweichen oder es doch lieber fressen soll. Alleine das Laufen auf vier Beinen benötigt schon einen riesigen Koordinierungsaufwand. Und der wird noch viel, viel größer, wenn wir den aufrechten Gang praktizieren. Und genau dafür haben wir unser Gehirn.
Es gibt ein Tier, das ist der lebende Beweis für diesen Gedanken-Gang: die Seescheide. Ein Zwischending von Baum und Tier. Sie lebt im Wasser und ist sesshaft – wie ein Baum. Allerdings erst dann, wenn sie ihren optimalen Platz mit frischem Wasser und guter Nahrung gefunden hat. Genau für diese Bewegungen und die richtige Entscheidung hat sie ein Gehirn. Am richtigen Ort angekommen, schlägt sie Wurzeln, krallt sich fest – und löst ihr Gehirn auf. Sie braucht es jetzt nicht mehr.
Abbildung 1: Die Seescheide
Dieses Buch will Ihnen etwas mehr Klarheit über Ihr eigenes Gehirn vermitteln. Anschaulich und humorvoll, verständlich und einfach. Gleichzeitig möchte es aber auch sachlich richtig bleiben. Es wird nicht alle Ihre Fragen beantworten. Aber es will Appetit machen auf mehr. Mehr Wissen von Ihrem „Oberstübchen“, in dem die Steuerzentrale Ihres Lebens wohnt.
Ich wünsche Ihnen viel Spannung, Freude und Entspannung.
Ihr Jürgen Fuchs
Ist unser Gehirn ein Buch mit sieben Siegeln oder ist es ein Schrank mit sieben versiegelten Schlössern? Die Entwicklung der letzten Jahre zeigt, dass es kein Buch ist, in dem alles geschrieben steht und das man nur lesen muss. Die moderne Hirnforschung wirft mehr Fragen auf, als sie Antworten gibt.
Das menschliche Gehirn gleicht eher einem geheimnisvollen Schrank mit vielen versteckten Schubladen und mit Fächern, deren Inhalt sich dauernd verändert. Es existieren noch unzählige blinde Flecken, die für uns völlig unsichtbar sind. Und es gibt bis heute keinen Menschen auf unserem Planeten, der eine exakte Vorstellung davon hat, wie wir in unserem Gehirn Wissen speichern und (meistens) wiederfinden.
Deshalb sind 2014 zwei große Forschungsprojekte gestartet, die jeweils auf zehn Jahre geplant und mit Milliardenbeträgen finanziert sind:
•Das EU-Projekt „Human Brain“ soll das Arbeiten unseres Großhirns mit Computern simulieren.
•In den USA will man mit „Big Brain Projekt“ die vollständige Kartierung des menschlichen Gehirns erreichen.
Alle suchen nach Klärung und Erklärung für unsere unglaubliche Leistungsfähigkeit, die jeder von uns als Bewusstsein und Gedächtnis, als Emotion und Erkenntnis erlebt, und die wir in Sprache und Bildern ausdrücken können. Beiden Projekten liegt das Verständnis zugrunde, dass unser Großhirn keine vorherrschende Rolle in unserem Kopf hat und dass es nicht alles bestimmt. Die Descartsche Vorstellung von „Cogito ergo sum“–„Ich denke, also bin ich“, gilt als überholt. Vielmehr wird das Großhirn in seiner dienenden Rolle gesehen: Als Informationszentrum und als Integrationsorgan im gelungenen Zusammenspiel mit allen anderen Gehirnen in unserem Kopf.
In diesem Buch finden Sie sieben Schlüssel für den Schrank unter Ihrer Schädeldecke. Endlich können Sie viele Geheimnisse entschlüsseln und Ihr Gehirn besser verstehen. Vielleicht müssen Sie auch einige Vorstellungen revidieren. Besonders über Ihr Großhirn.
Der erste Schlüssel ist die anatomische Tatsache, dass fast alle Nervenbahnen von unseren Sinnesorganen als erstes zu unserem Stammhirn laufen.
Das heißt ganz konkret: Alles, was wir sehen, hören oder fühlen. All diese Eindrücke von außen landen zuerst in unserer ältesten Gehirnregion. Die ist unser „Polizist im Hirn“. Dort wird geprüft, ob große Gefahr droht. Wenn ja, wird sofort mit einem Reflex reagiert. Dieser Wachmann ist immer im Dienst: 24 Stunden an 365 Tagen.
Bis zu diesem Punkt unterscheidet sich der Informationsfluss bei uns nicht von den Reptilien, unseren ältesten Vorfahren. Als nächstes fließen bei uns die Informationen noch weiter – zum limbischen System. Und erst dann geht’s in die zuständigen Areale des Großhirns. Die schauen jetzt genau hin, was oder wer uns da gerade über den Weg läuft.
Der zweite Schlüssel ist das revolutionäre Ergebnis der neuen Gehirnforschung: Wir entscheiden nicht rational, sondern emotional.
Die Erklärung ist ganz einfach. Bevor die Sinnesimpulse unseren Verstand erreichen, haben sie schon im limbischen System eine chemische Reaktion ausgelöst. Die „Emotionen“. Passend zu der jeweiligen Situation. Wir empfinden dann Freude, Angst, Ekel, Wut oder Mitleid. Vielleicht hat uns sogar der Blitz getroffen – und wir sind verliebt. In diesem ersten Augenblick haben wir schon unbewusst eine emotionale Entscheidung getroffen. Und die wird sofort an das Großhirn weitergeleitet: als Wunsch, Befehl oder Herzensanliegen.
Stellen Sie sich bitte vor, Sie gehen durch die Fußgängerzone und der Duft von Kaffee zieht durch Ihre Nase. Ihr limbisches System, das Emotionszentrum, erzeugt blitzschnell die Emotion: „Freude“. Sofort zeigt Ihr Gesicht ein zartes Lächeln. Und gleichzeitig erhält Ihr Großhirn den Befehl: „Los. Bewege die Beine in das Café und hole einen Espresso. Aber schnell.“
Wenn Sie jedoch Ihrem nervigen Nachbarn begegnen, wird eine völlig andere Emotion in Ihrem Hirn erzeugt: „Wut“. Sofort spannen sich Ihre Muskeln an und das Emotionszentrum gibt den Befehl ans Großhirn: „Tritt ihn vors Schienbein. Aber richtig.“ Und jetzt hat unser Verstand die große Aufgabe, diesen Befehl „sozialverträglich“ umzusetzen.
Der amerikanische Hirnforscher Antonio Damasio bringt es auf den Punkt: „Jede Entscheidung braucht eine emotionale Regung. Aus purem Verstand kann der Mensch nicht handeln.“
Abbildung 2: Wie wir entscheiden
Der dritte Schlüssel ist die überraschende Erkenntnis, dass unser Großhirn von der Evolution nicht zum DENKEN gemacht wurde, sondern zum GREIFEN.
Das „Begreifen“ kam viel später und noch viel später die „Begriffe“. Versetzen Sie sich bitte mal in die Situation der ersten Menschen: Die lebten als Jäger in der Savanne Ostafrikas und jagten in kleinen Gruppen. Da gab es für das Gehirn nicht viel zu denken. Die Menschen kannten noch keine Sprache und keine Zahlen, keine Schrift und keine Gesetzbücher. Nur Leben und Überleben. Laufen, Jagen und Kämpfen. Und trotzdem hatten sie schon ein riesiges Großhirn. Das war sogar noch 10 % größer als später bei den sesshaften Bauern und heute bei uns.
Der vierte Schlüssel ist die einleuchtende These, dass bei den FrühMenschen das Großhirn voll damit beschäftigt war, alle Bewegungsvorgänge zu speichern – insbesondere den wackligen aufrechten Gang. Das Großhirn ist uns von der Evolution als persönlicher „Big-Data-Speicher“ gebaut worden.
Das erlaubte uns Menschen sogar, unsere Bewegungen im Raum und in der Zeit bewusst wahrzunehmen – als wahr zu nehmen. So entstanden auch unser „Zeit-Gefühl“ und unser „Ich-Bewusstsein“.
Große Fortschritte machte die Menschheit, als wir diese riesige Daten-Basis für die Simulation von Zukunft benutzten. Zum Beispiel konnten wir die Bewegung der Muskelketten des rechten Daumens und des Zeigefingers in die Zukunft hypothetisch fortsetzen. Und schon hatten wir den Apfel gepflückt.
Wir lernten das Vordenken und bewusst Zugreifen. Das sind die Grundlagen für bessere Zukunftsplanung und Strategieumsetzung. Nicht nur beim Bewegen der Finger, sondern in allen Belangen unseres Lebens.
Unser Großhirn ist auch die Basis für unsere Fantasie. Und die ist bekanntlich wichtiger als unser Wissen. So sieht es Albert Einstein. „Wissen kommt aus der Vergangenheit. Fantasie führt in die Zukunft.“ Erfahrungswissen gibt es auch bei vielen Tieren. Kreativität und Fantasie – genau die sind unsere menschlichen Besonderheiten.
Der fünfte Schlüssel ist die erstaunliche Einsicht, dass der Mensch als einziges Lebewesen auf unserem Planet andere Exemplare derselben Spezies tötet. (Abgesehen von einigen Affenarten. Die sind unsere nahesten Verwandten.)
Üblicherweise lässt der Sieger bei einem Rivalenkampf von dem Gegner ab, wenn der sich ergibt. Und der Verlierer verlässt dann mit hängenden Ohren das Revier – angekratzt, aber lebendig.
Die Ursache für dieses widernatürliche Verhalten der Menschen liegt in seinem sehr großen Großhirn. Das kann ja in die Zukunft denken. Und befürchtet in diesem Moment die Rache des Unterlegenen. Also wird dieser getötet.
Tiere leben im Hier und Jetzt. Wir Menschen aber denken an die Zukunft.
Der sechste Schlüssel ist der glückliche Zufall, dass sich Tiere mit großem Großhirn leicht dressieren lassen.
Diese Erkenntnis machten sich die Früh-Menschen zunutze. Nicht nur, indem sie Tiere zähmten, sondern auch indem sie sich selbst dressierten. Sie begannen, ihr eigenes Racheverhalten in den Griff zu kriegen. Das Prinzip „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ hatte nämlich die Früh-Menschheit mehrfach an den Rand des Aussterbens gebracht.
Der erste und wichtigste Schritt zum Überleben der menschlichen Rasse war die Dressur der Menschen: Das Erzwingen von Gewaltverzicht durch Gesetze, Regeln und Strafen. Der zweite war das Schaffen von größeren Sozialstrukturen wie Stämme, Fürstentümer und Nationalstaaten. In diesen Strukturen treten die Menschen und die Clans ihr Recht auf persönliche Rache an eine Gerichtsbarkeit in der größeren Einheit ab. Die Hierarchie war erfunden. Es sollte nicht mehr das „Recht des Stärkeren“ gelten, sondern das „Recht des Gesetzes“.
So erreichten wir, dass heute die Gewalt unter Menschen nicht mehr als die alleinige Konfliktlösung angesehen wird. Aber es bleibt noch ein langer Weg, bis die Erde als „gewaltfreier Planet“ zertifiziert werden kann.
Der siebte Schlüssel ist der geniale Einfall der Evolution, für die bestehende „Hardware“ im Kopf immer mehr „Software“ zu entwickeln: Spezialisierte Apps, die auf jedem menschlichen „Großhirn-Smartphone“ lauffähig sind.
Unser Großhirn hat die gleiche Grundarchitektur wie ein Computer-Chip: Mehrere Lagen von Gehirnzellen und dazwischen viele Ebenen mit Nerven, die diese Zellen miteinander verbinden.
Bei unserer Geburt ist unsere Großhirnrinde mit 20 Milliarden Gehirnzellen zwar fertig produziert, aber die Zellen sind nur ganz wenig vernetzt. Unsere Rinde ist so groß wie zwei Zeitungsseiten und ca. 2 mm dick. Ein riesiges „Bio-Smartphone“. Und dieses wartet nur darauf, von uns selbst beschrieben zu werden. Ganz individuell. Eine tolle Chance für jeden von uns. Aber auch eine große Aufgabe.
Am Anfang ist das für jedes Baby etwas mühsam. Aber glücklicherweise gibt es ja schon viele vorprogrammierte Gehirn-Apps für das menschliche Großhirn: die Sprach-App, Schrift-App und die Zeichen-App zur besseren Kommunikation. Viele Ordnungs- und Gesetzes-Apps, die das Zusammenleben erleichtern sollen. Rechen- und Zahlen-Apps zum Planen. Kinder lernen blitzschnell, damit umzugehen. Und zum Glück sind diese Bio-Apps lizenzfrei und nicht kopiergeschützt.
Für die Menschheit haben sich all diese Entwicklungs-, Kopier- und Installationsaufwände wirklich gelohnt. Die Anzahl der User wuchs explosionsartig und auch die Anzahl dieser Bio-Apps. Im Rückblick nennen wir das Ganze: Zivilisation.
Leider fehlt noch eine entscheidende Gehirn-App, die auf allen 7,6 Milliarden menschlichen Gehirnen installiert sein sollte: die „Friedens-App“. Nobelpreise für die besten Prototypen werden schon seit Jahren vergeben. Es hapert nur noch an der Installation.
Abbildung 3: Schematischer Aufbau eines Computer-Chips
Quelle: Livescience
Abbildung 4: Der natürliche Aufbau der Großhirnrinde
Quelle: Netdoktor
Abbildung 5: Ihre Gehirn-WG mit den vier Bewohnern
Dieses Buch beschreibt das Gehirn nicht von außen. Sondern es führt Sie, liebe Leserin und lieber Leser, mitten in Ihr Gehirn. Von diesem Standpunkt aus kommt das Buch zu vielen einleuchtenden Erklärungen unseres Tuns. Sigmund Freud hat nie sein eigenes Gehirn bereist. Sie aber werden es jetzt tun.
Das Buch lädt Sie ein zu einer Reise in Ihre „Gehirn-WG“, die Wohngemeinschaft Ihrer vier Gehirne. Sie lernen jeden der Bewohner einzeln kennen und machen sich einen ganz persönlichen Eindruck von ihm: Was er für Sie tut, was ihn bewegt und wovon er träumt. Für diese Reise müssen Sie sich allerdings ganz klein machen. Wie ein Licht-Photon. Dann steigen Sie durch das rechte Auge in den Sehnerv ein. Und der führt Sie direkt mitten in Ihren Hinterkopf. Sie landen in Ihrem Stammhirn.
Vielleicht sind Sie überrascht, dass Sie sich nicht im Sehzentrum des Großhirns befinden. Aber die Evolution hat entschieden, dass alles, was Sie hören, sehen und fühlen zuerst ins Stammhirn muss. Beim Fühlen ist das physikalisch völlig einleuchtend. Alle Berührungsimpulse laufen über die Nervenbahnen zur Wirbelsäule und dann in den Gehirnstamm oben drauf. Dort lösen sie sofort die rettenden Reflexe aus. Ob Ihr Finger auf der heißen Herdplatte liegt oder Sie von hinten geschubst werden. Auch Ihre Seh- und Hörnerven gehen direkt in diesen Gehirnteil. Wie bei allen Wirbeltieren: ob Salamander, Säugetier oder Mensch. Sicherheit geht über alles.
Der Sehnerv verzweigt sich kurz vor dem Stammhirn. Dieser Abzweig führt quer durch den Kopf hinten zur Sehrinde. Die schaut dann noch mal genauer hin. Allerdings einige zehntel Sekunden später als der Reflex.
Hier, tief im Zentrum Ihres Kopfes, treffen Sie jetzt Ihren „Reiseführer“, der sich in Ihrem Gehirn ganz genau auskennt: Es ist Ihr Körper.
Anmerkung
„Die stark gefaltete Großhirnrinde und die dorthin führende Sehbahn ist eine Errungenschaft der Säugetiere. Vögel haben anstelle des Großhirns einen andersartigen Hirnteil ausgebildet, den Wulst. Reptilien, Amphibien und Fische besitzen gar keine Großhirnrinde. Sie haben nur das Stammhirn zum Sehen.
Beim Menschen befindet sich ein Teil des Sehorgans im Stammhirn. Dies ist evolutionsgeschichtlich viel älter als der zweite Teil im Großhirn.“ (Quelle Akademisches Lexikon: www.deacademic.de)
Herzlich willkommen in Ihrem „Oberstübchen“. Ich bin Ihr Körper. Heute werde ich Ihr Lotse sein. Bei Ihrem ersten Besuch in Ihrem eigenen Gehirn. Das alles hier habe ich selbst erschaffen. Aus einer Eizelle und einer Samenzelle. Ich bin richtig stolz darauf.
Wir Körper haben bei allen Tieren immer dieselbe Aufgabe: Der Körper ist der Lebensraum für Organe und Gehirn. Egal ob Fisch oder Reptil, Vogel oder Katze, Löwe oder Mensch. Wir Körper sind die „Vermieter“ für die Organe und auch für das Gehirn. Als Gegenleistung tun die alle ihren ganz spezifischen Job. So wird daraus ein lebendiges Ganzes: ein Organismus.
Aber bitte nehmen Sie erst einmal Platz. Machen Sie es sich bequem. Ich lade Sie als erstes zu einer Zeitreise in die Vergangenheit ein. Danach starten wir mit dem Besuch Ihres Gehirns. Was Sie heute in Ihrem Kopf haben, wurde nicht auf einmal geschaffen. Es ist das vorläufige Ende einer sehr, sehr langen Evolution. Und das Fantastische: Sie können noch heute die gesamte Gehirn-Geschichte in Ihrem Kopf besichtigen. Wie die Jahresringe bei einem Baum. Die zeigen auch das ganze Baumleben. An denen lassen sich alle seine Entwicklungsstufen ablesen. Das gleiche gilt für Ihr Gehirn. Wie bei den Jahresringen finden Sie den ältesten Teil im Zentrum: Ihr Reptilien-Gehirn. Darüber liegen die neueren: Ihr Säuger-Gehirn und dann das Großhirn.
Jeder Körper baut sich sein Gehirn, so wie er es braucht. Die Reptilien kommen mit ganz wenig aus, Säugetiere benötigen schon etwas mehr. Und die Menschen lieben es so richtig groß. Seit über 500 Mio. Jahren leben wir Körper und unsere Gehirne schon zusammen – in einer sehr effektiven Symbiose. Die beruht auf Leistung und Gegenleistung. Das Gehirn zeigt dem Körper, wo es was zu Fressen gibt oder zum Paaren. Es warnt ihn auch vor Gefahren. Und es steuert Angriff oder Flucht. Als Gegenleistung versorgt es der Körper mit Nährstoffen und schleppt es überall mit hin. So bekommt es etwas Abwechslung.
Jedes Gehirn wohnt in einem Körper. Der ist der „Hausherr“, und das Gehirn ist sein „Mieter“. Es darf im Oberstübchen wohnen. Aber es muss für den Körper fleißig arbeiten: als Beobachtungsposten und Gedächtnis, als Facilitymanager und auch als Wachmann.
Wir als Körper vermieten aber nicht nur Lebensraum. Wir schenken sogar Leben: Wir produzieren alle Körperzellen und alle Gehirnzellen. Wir sind also die „Mütter der Gehirne“. Alle Gehirnzellen werden im Rückenmark „geboren“. Von dort aus wandern sie entlang des Neuralrohrs bis an ihren Platz im Gehirn. Eine spannende Reise, deren Geheimnis noch nicht geklärt ist.
Jeder Körper baut sich nur so viel Gehirn (Over-Head), wie er unbedingt braucht. Das geht sogar so weit, dass er wieder Gehirnmasse abbaut, wenn sie nicht mehr benötig wird. „Use it or lose it.“ Dieses eiserne Gesetz der Natur hat schon mehrfach zum Abbau von Gehirnzellen geführt. So tragen unsere Haushunde ein Drittel weniger Gehirn mit sich herum als die Wildhunde. Auch der Mensch benötigte als Jäger viel mehr Gehirnzellen als die sesshaften Bauern, die nicht mehr so viel rennen mussten. Das Ergebnis: Seit 5.000 Jahren haben die Menschen 10 % weniger Gehirn. Und der Abbau setzt sich fort bis zu den modernen „Computer-Spielern“. Allerdings wachsen bei denen die Gehirnregionen, die für die Daumen zuständig sind.
Nach dieser Einführung in die Grundprinzipien des Zusammenlebens von Körper und Gehirn wenden wir uns jetzt den „Jahresringen“ der Evolution zu und beginnen bei den inneren.
Abbildung 6: Die Jahresringe eines Baumes. An ihnen kann man seine ganze Lebensgeschichte noch heute ablesen.
Die Fische und Reptilien kommen mit einem sehr kompakten Stammhirn aus. Dieses sichert den Erhalt aller Körperfunktionen und es erlaubt drei wesentliche Reaktionsmuster: Angriff, Flucht und Totstellen.
Abbildung 7: Die alltäglichen Entscheidungen einer Eidechse
Quelle: Livescience
Auch Sie als Mensch haben noch dieses Gehirn. Sie können es sogar bei sich selbst spüren. Es wird z. B. dann aktiv, wenn Ihnen jemand Fremdes zu nahe kommt. Wenn Ihnen ein fremder Mensch – im wahrsten Sinne des Wortes – körperlich zu nahe kommt. Dann weichen Sie sofort zurück. Weil Ihr persönlicher Sicherheitsraum verletzt wird. Diesen Reflex Ihres Stammhirns können Sie nicht unterdrücken. Dasselbe Verhalten lässt sich sehr schön bei Vögeln beobachten, die auf einer Stromleitung sitzen. Alle halten denselben Sicherheitsabstand. Und der wird vom Reptilien-Gehirn bestimmt.
Ein Reptil hat zusätzlich noch einen kleinen „Speicher-Chip“ für drei rudimentäre Großhirnfunktionen:
1.Das Erkennen seiner Außenwelt.
2.Die Kartierungen der wesentlichen Körperpunkte. Das Reptil muss ja wissen, wo sich gerade seine Beine befinden, sein Kopf und sein Schwanz. Sonst kann es seine Bewegungen nicht koordinieren.
3.Steuerung des Bewegungsapparats. Zur Kartierung der Punkte im Raum benutzt das Gehirn nicht die drei Dimensionen: Länge, Breite, Höhe. Das Gehirn speichert die Spannungen der jeweiligen Muskelketten. Z. B. von der rechten Schulter zum Becken und dann zum Knie und dem rechten Fuß. Das alles braucht zwar viel Speicherplatz. Aber die Daten sind biologisch nachvollziehbar. Auch wenn man nichts von Mathe versteht.
Diese rudimentären Großhirnfunktionen sind in einem winzigen „Vorder-Gehirn“ zusammengefasst, das vor dem Stammhirn sitzt. Vorne, vor dem Körper. Dort, wo die Verheißungen winken. Wo es was zu Fressen gibt und wo man Paarungspartner findet. Aber auch, wo der Feind lauert.
Nur bei Tieren mit aufrechtem Gang sitzt das Gehirn oben – auf dem Körper. Guter Weitblick, aber wenig Bodenhaftung. Wie die Menschen halt so sind.
Nun zurück zu den Fischen und Reptilien. Die bevölkerten über viele Millionen Jahre die gesamte Erde – im Wasser, in der Luft und auf dem Land. Sie alle sorgten und sorgen für ihre Fortpflanzung, indem sie Hunderte, ja Tausende von Eiern legen. Und dann verschwinden die Eltern auf Nimmerwiedersehen. So können wir das auch bei Fröschen oder Schildkröten beobachten. Einigen wenigen Exemplaren gelingt es meistens, selbst wieder Eier zu legen. Somit hat es diese Generation wieder geschafft: Die Art ist erhalten geblieben. Und die restlichen Nachkommen haben als Futter gedient – für die anderen Tiere der Nahrungskette.
Abbildung 8: Fortpflanzung bei den Reptilien – ganz viele Eier
Quelle: euregio-im-bild
Bei den Reptilien begnügen sich die Körper mit ihrem Reptilien-Gehirn und dem kleinen Vordergehirn. Sogar die riesigen Dinosaurier kamen damit aus. All diese Tiere hatten keinen Bedarf für eine Erweiterung der Gehirnfunktionen. Bis die Dinos ausstarben und die Evolution mit den Säugetieren ein großes Experiment wagte: die Lebendgeburt.
Die Fortpflanzung bei den Säugetieren geschieht völlig anders. Nur wenige Eier werden im Mutterleib befruchtet und reifen bis zur Geburt heran. Dann erst treten die Säuglinge in das unfreundliche Leben. Noch sind sie sehr hilflos. Sie brauchen die Milch der Mutter und den Schutz der Herde. Zum ersten Mal in der Geschichte der Evolution ist bei den Tieren ein wirksames Sozialverhalten nötig: in der Familie und auch von der ganzen Herde. Alles und alle dienen nur einem Ziel: das wertvollste Gut zu sichern: die Nachkommen.
Säugetiere brauchen ein viel komplexeres Sozialverhalten. Also musste ihr Körper ein völlig neues Gehirn bauen.
Abbildung 9: Brutpflege bei Säugetieren
Quelle: Livescience
Abbildung 10: Die Familie bei den Säugetieren
Quelle: Livescience
Die Körper der Säugetiere erfanden für diese völlig neue Aufgabe ein ganz neuartiges Gehirn: das „Säuger-Gehirn“. Es erzeugt ein wesentlich vielfältigeres Repertoire von Grundaktionen als die bekannten drei vom ReptilienGehirn: Flucht, Angriff und Totstellen.
Diese Handlungsmuster des Säuger-Gehirns nennt man Emotionen. Energie in Bewegung. Dieses Gehirn arbeitet mit Chemie. Es flutet den Körper mit chemischen Substanzen (z. B. Botenstoffe und Hormone). Deshalb erfassen die Emotionen immer den ganzen Körper. Und erzeugen ganz spezifische Erregungszustände. Der Körper zeigt bei der Emotion Freude völlig andere Gestik, Mimik und Haltung als bei der Emotion Ekel. Und wieder andere bei Wut, Angst oder Verliebtsein. Halten wir fest: Emotionen sind Erregungszustände des Körpers, die chemisch erzeugt werden.
Alle diese Emotionen verändern auch die Energie im Körper: Sie erzeugen Energieschübe oder sie nehmen Energie aus dem Körper. So steuern sie das Verhalten der Säugetiere.
Das neue Gehirn war von der Evolution gewollt und sogar ein Muss. Aber die Gehirn-WGs waren darauf nicht vorbereitet. Von heute auf morgen musste ein neuer Bewohner in den Schädel einziehen. Also quetschte sich das Säuger-Gehirn in die engen Zwischenräume von Reptilien-Gehirn und Vordergehirn. Wo gerade etwas Platz war. Und diese Platzprobleme begleiteten die Tiere über die ganze Evolution.
Als Ergebnis hat das Säuger-Gehirn kein „eigenes Zimmer“ im Kopf. Besonders deutlich ist dies beim menschlichen Säuger-Gehirn zu sehen: Es ist kein kompaktes Gebilde, sondern eine Ansammlung von verschiedenen, wild geformten größeren und kleineren Teilen. Kein Wunder, dass die Mediziner und Hirnforscher erst in den letzten Jahren die wahre Bedeutung dieses Gehirns erkannt haben.