Willkommen und Lebewohl - Beatrice von Moreau - E-Book

Willkommen und Lebewohl E-Book

Beatrice von Moreau

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  • Herausgeber: tredition
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2024
Beschreibung

»Nichts konfrontiert uns so sehr mit dem Leben wie der Tod.« Mit erstaunlicher Leichtigkeit erzählt die Schauspielerin und Autorin Beatrice v. Moreau von der tiefen Verbindung mit ihrem Kind. Ihr Weg durch die Schwangerschaft ist von starker Liebe getragen, die auch nicht abreißt als sie erfährt, dass ihr Kind nach der Geburt nicht lebensfähig sein wird. Sie entscheidet sich fürs Weitertragen und wird in der noch verbleibenden Zeit reich beschenkt. Die tiefe Verbindung von Mutter und Kind bleibt über den Tod hinaus bestehen und trägt sie selbst durch die schwersten Stunden. Offen, herznah und mit großer Ehrlichkeit beschreibt die Autorin wie ein sogenannter Schicksalsschlag ihr Herz geweitet und ihr Leben bereichert hat. Offen herznah und mit großer Ehrlichkeit beschreibt die Autorin wie ein sogenannter Schicksalsschlag ihr Herz geweitet und ihr Leben bereichert hat.

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Seitenzahl: 319

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Beatrice von Moreau wurde 1974 in München geboren. Sie studierte Schauspiel am Max-Reinhardt-Seminar in Wien sowie am Conservatoire in Paris.

Ihre Theaterstücke für Kinder werden vom Kaiserverlag in Wien vertreten und wurden u.a. mit dem Bayerischen Theaterpreis prämiert.

Zusammen mit ihrem Mann George Inci produziert sie Hörspiele und Kinofilme. Der Film BERÜHRT beschäftigt sich aus der Sicht des Vaters mit der Zeit um Schwangerschaft und Tod des gemeinsamen Sohnes.

Covergestaltung: Susanne Kessler

Coverabbildung: Beatrice von Moreau

Foto der Autorin: George Inci

»Es ist die Liebe. Die Liebe. Und immer wieder die Liebe, die mich durch diese Ausnahmezeit meines Lebens getragen hat. Die mich bleiben ließ, als ich weglaufen wollte, die mich durchleben ließ, als ich nichts mehr fühlen wollte, die mich lieben ließ, als ich nur noch verzweifelt war. Und auch heute ist es die Liebe, die mich trägt. Die unauslöschliche, bedingungslose Liebe zu meinem Kind, das ich nur in meinem Bauch tragen durfte und dann wieder gehen lassen musste. Wir haben es willkommen geheißen und gleichzeitig verabschiedet. Aber wir lieben es bis heute aus tiefstem Herzen und sehen die vielen Geschenke, die es uns mitgebracht hat.«

1. Auflage der eBook-Ausgabe Copyright © 2021 Beatrice v. Moreau, Berlin Alle Rechte vorbehalten.

Ohne schriftliche Genehmigung der Urheberin darf das Werk – auch teilweise – weder reproduziert, kopiert noch in irgendeiner anderen mechanischen, elektronischen, digitalen oder sonstigen Art wiedergegeben werden.

Verlag: Hörchen – edition Seelennahrung, Berlin Covergestaltung: Susanne Kessler unter Verwendung einer Malerei von Beatrice v. Moreau Typographie und Satz: Susanne Kessler Zeichnungen und Bilder: Beatrice v. Moreau Lektorat: Elmar Klupsch, Bookabook

ISBN: 978-3-9814696-3-9

www.hoerchen.de

www.willkommen-und-lebewohl.de

für Timon

Inhaltsverzeichnis

Cover

Urheberrechte

Widmung

So fing alles an

Bardo

Clownsnasenherz

Mit den Delphinen schwimmen

Ein kleines und ein großes Wunder

Ein Mädchen

Herr der Lage

Schmerz und Entwicklung

Die Schwere loslassen

Die andere Klinik

Liebevolle Begleitung

Das Grab meines Vaters

Abgrenzung und Sauerklee

Standesämter und Geburtsurkunden

Geburtsvorbereitung und Rosenblüten

Angst und Starre

Eine wehende Reise

Akupunktur und Trapezkunst

Verunsicherung

Purzelbäume und Strampler

Aggression und Wohnungen

Zeit, willkommen zu heißen

Wieder allein

Die Göttin Isis

Die gedehnte Zeit

Die weisen Frauen

Der dritte Tag

Ein Engel namens Angela

Vorbereitung auf den Abschied

Die Zeremonie

Wieder zu Hause

Der richtige Ort

Formalitäten und Organisation

Briefe und Abschied

Willkommen und Lebewohl

Euphorie und Ernüchterung

Liebe

Nachwort

Danksagung

Herzensbuchtipps

Willkommen und Lebewohl

Cover

Urheberrechte

Widmung

So fing alles an

Herzensbuchtipps

Willkommen und Lebewohl

Cover

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Back Cover

oh Himmel

oh Sein

oh Sterne

weit seid ihr

so weit

lasst mich teilhaben

an Eurer Weite

in meinem Sein

lasst mein Herz

weit bleiben

und meine Gedanken

oh Himmel

oh Sterne

oh Sein

oh Sonne

oh Flüsse

oh Bäume

ihr alle könnt

mich lehren

wozu ich selbst nicht

in der Lage bin

oh großes Herz

oh drei mal großes Herz

So fing alles an

Als ich ca. acht Jahre alt war, bewunderte ich ein Armband meiner Mutter. Es hatte drei Herzen eingearbeitet. Eines für jedes ihrer Kinder, wie sie mir verriet. Das türkise Herz stand für mich. Es gefiel mir auch von allen am Besten. Was mir aber gar nicht behagte war, dass ich plötzlich einen zweiten Bruder haben sollte, von dem ich bisher nichts wusste. Es sei ihr erstes Kind gewesen und habe nur einen Tag gelebt, erklärte mir meine Mutter. Danach sei es verstorben.

Als ich 17 Jahre alt war, fuhr ich zusammen mit einer französischen Freundin nach Rom. Mein vorhandener, nicht vorhandener Bruder war in Rom während eines Besuches überraschend und viel zu früh zur Welt gekommen und verstorben. Er wurde dort im Grab meines Großonkels bestattet. Natürlich wollte ich dieses Grab besuchen. Ich fand es aufregend, einen in Rom begrabenen Bruder zu haben, den ich gar nicht kannte und nun auf diese Weise kennenlernen sollte. Das schien mir irgendwie bedeutsam.

So stand ich schließlich vor einem Grab, über welchem eine schwere Steinplatte lag. Drei Namen waren darin eingelassen. Einer davon war der Name meines Bruders, was mich plötzlich ganz seltsam berührte. Maurice. Es hatte ihn also wirklich gegeben. Hier in der Fremde, so weit weg von uns, unter einer schweren Steinplatte, lag mein großer Bruder, der immer ein ganz kleiner Bruder geblieben war. Zusammen mit seinem Urgroßonkel und seiner Urgroßtante, die selbst keine eigenen Kinder hatten bekommen können.

Ich saß an diesem seltsamen Grab und war mit einem Mal sehr traurig. Eigentlich hatte ich gar keinen richtigen Bezug zu meinem Bruder, aber es erschien mir furchtbar ungerecht, dass er so klein schon hatte sterben müssen.

Vor ungefähr vier Jahren tauchte Maurice ganz überraschend und unerwartet erneut in meinem Leben auf. Ich lernte eine Frau kennen, die hellsichtig ist. Wir hatten in ihrem Kino unseren Film »Hirschen« gezeigt. Danach waren wir mit ihr und ihrem Mann noch essen gegangen.

Als wir uns verabschieden wollten, sagte sie plötzlich zu mir: »Ich habe das Gefühl, ich muss noch kurz mit dir arbeiten.« Dann schaute sie zu meinem Liebsten: »Darf ich Beatrice für einen Augenblick mitnehmen?«

Ein wenig verdutzt willigten wir beide ein. Sie ging mit mir ins Nebenzimmer.

»Leg dich mal auf diese Liege.«

Mit ihren Händen umfasste sie meinen Kopf. Aus Untiefen arbeitete sich ein lange beiseite geschobener Wunsch nach oben: mein Kinderwunsch. Diese Frau holte meinen Herzenswunsch wieder hervor, stellte ihn vor mich hin und ermutigte mich, ihm zu folgen. Dafür bin ich ihr bis heute dankbar. Solange ich mich erinnern kann, war dieser Wunsch schon vorhanden. Nur der richtige Mann, mit dem ich diesen Wunsch hätte umsetzen können, hatte lange auf sich warten lassen. Inzwischen war er da. Wir kannten uns schon einige Jahre und hatten seit unserem Kennenlernen viel zusammen gearbeitet. Gemeinsam waren wir unserer Passion gefolgt, hatten zwei Filme und zwei Hörspiele realisiert und vermarktet.

Vor kurzem war ich 40 geworden. Und während die biologische Uhr immer lauter tickte, hatte ich scheinbar schon begonnen, mich innerlich von einem der wichtigsten Wünsche meines Lebens zu verabschieden. Vielleicht geht es nur um die künstlerischen Kinder, die wir zusammen hervorbringen, hatte mein Kopf mir erklärt und mir weismachen wollen, ich sei damit zufrieden.

»Zwei Seelen warten darauf zu euch kommen zu dürfen.« sagte die hellsichtige Kinobesitzerin zu mir, während ich immer noch auf ihrer Liege lag.

Auf einmal sah sie sehr nachdenklich aus und fragte mich nach meinen Geschwistern. Ich erzählte ihr, was ich wusste.

Sie schaute nach oben und sagte: »Ich weiß nicht, ob ich das sagen darf?« Sie wartete ein wenig: »Doch. Ich darf es sagen: Dein Bruder muss noch einmal in die Familie hineinkommen.«

Das klang seltsam in meinen Ohren. Warum sollte mein Bruder über mich noch einmal in die Familie kommen? Aber in bestimmter Weise fand ich die Vorstellung sehr schön. Scheinbar bekam er eine zweite Chance und wenn ich ihm dazu verhelfen konnte, umso besser. Eine Weile klangen die Worte dieser wunderlichen aber gleichzeitig sehr bodenständigen Frau noch in mir nach. Dann vergaß ich sie wieder.

Herzenswünsche sind dazu da, umgesetzt zu werden. Ich lag also meinem Liebsten so lange in den Ohren und neben ihm, auf ihm und unter ihm, dass das bald auch schon keine Freude mehr war. Die Frauenärztin, bei der ich Anfang des Jahres gewesen war, hatte mir verkündet, dass ich mir keine großen Hoffnungen zu machen bräuchte.

»Die Chancen, in Ihrem Alter noch schwanger zu werden, liegen bei höchstens fünf Prozent«, teilte sie mir mit. »Warum haben Sie auch so lange gewartet? Man ist nicht ewig fruchtbar. In Ihrem Alter ist es in Deutschland nicht mehr möglich, eine künstliche Befruchtung machen zu lassen. Es gibt Möglichkeiten im Ausland. Aber das ist teuer. Wie alt ist eigentlich ihr Partner?«

Nach meiner Antwort runzelte sie die Stirn.

»Die Kraft und Anzahl der Spermien ist in diesem Alter bereits nachlassend. Das kommt noch erschwerend hinzu. Am besten Sie besorgen sich einen Eisprungtest. Damit können Sie feststellen, wann Ihr Körper empfänglich ist. In Ihrem Alter ist die Wahrscheinlichkeit, dass Sie überhaupt noch schwanger werden können nur gegeben, wenn Sie am Tag des Eisprungs Geschlechtsverkehr haben. Ihrem Mann sollten Sie nichts davon sagen. Männer reagieren auf verordneten Sex nicht besonders erfreut. Viel Glück.«

Völlig aufgelöst verließ ich die Praxis. Es ist alles meine Schuld. Ich habe nicht für mich und meinen Wunsch eingestanden. Jetzt ist es zu spät, dachte ich.

Ich ging erst einmal einen Kaffee trinken, wollte mich beruhigen bevor ich nach Hause gehe. Schließlich sollte ich meinem Liebsten nichts sagen. Ein schwieriges Unterfangen. Er sieht mir an der Nasenspitze an, wenn etwas nicht stimmt.

Auf dem Weg nach Hause kaufte ich mir natürlich sofort einen Eisprungtest. Das ist meine letzte Rettung, dachte ich. Doch wo sollte ich diese Riesenpackung verstauen, ohne dass mein Liebster es mitbekommt?

»Was ist los?«, fragte George sofort, als ich nach Hause kam.

Ich erzählte ihm alles. Sämtliche schlechte Nachrichten der Gynäkologin. Davon, dass es unwahrscheinlich ist, dass ich überhaupt noch schwanger werde. Vom Eisprungtest und dass wir jetzt immer sofort Sex haben müssen, wenn ich meinen Eisprung habe, damit noch Hoffnung besteht.

George sah mich ungläubig an, grinste und sagte: »Entspann dich. Das wird alles. Du wirst sehen. Du bist kerngesund. Natürlich bekommen wir noch Kinder. Und nicht nur eins. Entspann dich!«

Ein einziges Mal probierte ich diesen Eisprungtest aus.

Alles was passierte war, dass ich mich nicht mehr auf meinen Körper, sondern nur noch auf diesen Test verließ. Der musste es doch wissen. Dafür hatte ich ihn doch bezahlt. Das Ergebnis war nie eindeutig. Mein Liebster, der sowieso nichts davon hielt, grinste, wenn er mich wieder damit herumhantieren sah. Das machte mich ungeheuer wütend. Schließlich lag es nicht nur an mir, dass wir so spät dran waren. Zornig warf ich den Rest der Packung ungenutzt in den Müll.

Kurz später hatten wir die beste Idee unseres Lebens: Wir fuhren einfach mal in Urlaub. Raus aus dem Druck der Stadt. In die Natur. Ans Meer. Es war eine wunderschöne, entspannte Zeit. Das tantrische Jahrestraining, an welchem wir im gleichen Jahr teilnahmen, zeigte Wirkung. Der innere Druck ließ nach. Anspannung, die seit Jahren in meinem Körper festsaß, löste sich. Dadurch erfuhren wir die Nähe zueinander in noch einmal ganz neuer Weise. Meine Antennen wurden feinfühliger. Ein untrügliches Gespür für meinen Körper, wie ich es bis dahin nicht gekannt hatte, entfaltete sich.

Eines Tages saßen wir beim Mittagessen und waren unsicher, ob wir an diesem Ort bleiben oder weiterfahren sollten. George geriet gerade über seine Spaghetti mit Meeresfrüchten ins Schwärmen, als ich auf einmal wusste: »Wir brauchen ein Hotel. Jetzt sofort.«

Und siehe da: Kurze Zeit später hatte ich das Gefühl, ein Otto ist unterwegs zu uns. Ja, so fing alles an.

Am Strand fand ich einen schönen Stein, der aussah wie ein kleines Füßchen bzw. ein Fußabdruck. Für mich war das ein Zeichen. Ich nahm ihn mit. Mich beunruhigte aber, dass es nur ein Fußabdruck war und nicht zwei. Als würden an allen Stränden dieser Welt massenweise Steine herumliegen, die aussehen wie Fußabdrücke. Ich begann mir hypochondrische Sorgen zu machen, ob alles in Ordnung ist mit Otto, dem kleinen Otto, der jetzt vielleicht da war. Der Name stieß bei George nicht auf Gegenliebe, aber in meinem Kopf hieß unser Kind bereits Otto.

Auf der Rückfahrt war ich ständig müde, was auf großes Unverständnis stieß und fast zu einem Eklat zwischen George und mir geführt hätte. Denn wie kann jemand so müde sein, der gerade vier Wochen herrlichen Urlaub hinter sich hat. Ich!, dachte ich mir im Stillen. Ich kann so müde sein. Denn ich bin höchstwahrscheinlich schwanger. Aber das sagte ich nur ganz leise zu mir selbst. Zu oft schon hatte ich gemutmaßt, dass ich schwanger sein könnte. Damit soll man die Männer nicht quälen. Schließlich freuen sie sich mit und sind genauso enttäuscht, wenn es dann doch wieder anders ist. Also presste ich meine Lippen fest aufeinander, damit mir auch kein Wörtchen entschlüpfte.

Zu Hause wartete ich noch brav bis zum nächsten Zyklus. Aber er setzte nicht ein. Nach ungefähr einer weiteren Woche dachte ich: »Jetzt kann ich mir doch mal heimlich einen Schwangerschaftstest besorgen.«

Ich machte den Test, und dieser Balken, der da kommen sollte, kam so unfassbar schnell, dass es für mich keinen Zweifel mehr gab. George blieb vorsichtig abwartend, so, als könne er es noch nicht fassen. Erst mal schauen, ob das dann auch wirklich so ist. Ich war aufgeregt und durcheinander und alles gleichzeitig.

»Entspann dich.« sagte George.

Zur »Ovulationstest-Fünf-Prozent-Chance-Gynäkologin« wollte ich auf keinen Fall noch einmal. Ich suchte also nach einer neuen Frauenärztin, was nicht so einfach war. Viele Arztpraxen waren so überlaufen, dass sie keine neuen Patientinnen mehr annahmen. Mir wurde eine Ärztin empfohlen, die auf dem Bild, das ich im Netz von ihr fand, sehr sympathisch und fröhlich aussah. Sie hatte eine zusätzliche Ausbildung in Homöopathie, was mir wichtig war, um nicht ausschließlich auf die Schulmedizin angewiesen zu sein.

Ich bekam schnell einen Termin und ging mit meinem Liebsten dorthin. Die Ärztin bestätigte das Ergebnis des Schwangerschaftstests: »Sie sind jetzt eine schwangere Frau.«

Wie das klang! Das klang so wunderschön und seltsam zugleich. Sie machte einen Ultraschall. Man konnte das Herz schon schlagen sehen. Der Rest sah noch aus wie ein Zellhaufen. Auf dem Bildschirm färbte sie das Herz rot ein, um es besser erkennen zu können. So sah es auf dem Foto, das wir zum Schluss der Untersuchung bekamen, aus wie eine Clownsnase. Was für ein schönes, großes, rotes Herz.

Alle Werte waren gut. Trotzdem riet mir die Ärztin, von meiner Schwangerschaft noch möglichst niemandem zu erzählen. Das fiel mir unheimlich schwer, weil ich es am Liebsten sofort jedem, der mir begegnete, erzählt hätte. Ob er es hören wollte oder nicht. Aber auch hier presste ich meine Lippen wieder fest aufeinander und sagte nichts. Rein gar nichts.

Bardo

Die ersten, die von meiner Schwangerschaft erfuhren, waren die Mitteilnehmer unserer Tantra-Jahresgruppe. Ich habe früh in meinem Leben angefangen, mich mit psychologischen Themen auseinanderzusetzen. Meine Schauspielausbildung erlaubte mir, tiefer in Körper- und Gefühlsarbeit einzusteigen. Dazu kam eine intensive Beschäftigung mit Bewusstseinsarbeit und Spiritualität.

George und ich teilen diese Interessen. So ist es nicht verwunderlich, dass wir zusammen in einer Tantra-Jahresgruppe landeten. In den Seminaren wurde intensive, therapeutische Körperarbeit mit tantrischen Ritualen verknüpft.

Als ich dieses Jahrestraining im Internet entdeckt hatte, faszinierte mich vor allem die Beschreibung des letzten Moduls, welches mit dem Titel »Die Extase des Geistes« überschrieben war. Darin ging es um die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergänglichkeit, dem Tod. Das war für mich ausschlaggebend gewesen, mich für das Jahrestraining zu entscheiden. Und genau diese Seminareinheit stand nun noch an. Plötzlich haderte ich mit mir, ob ich diesen Kurs überhaupt machen sollte, schwanger wie ich war.

Am letzten Urlaubstag war ich gestürzt und hatte mein rechtes Knie leicht verletzt. War das ein Zeichen, dass ich an dem letzten Modul nicht teilnehmen sollte?

»Du kannst die Arbeit jederzeit unterbrechen, wenn dir nicht wohl dabei ist«, sagte unsere Seminarleiterin.

Aber ich wollte keine Sonderregeln, sondern entweder voll dabei sein oder gar nicht. Ich überlegte hin und her. Schließlich entschieden wir uns, trotz Schwangerschaft, teilzunehmen. Doch auch als wir schon dort waren, beschäftigte mich immer wieder, ob es wohl richtig war, was ich hier machte. Die ersten drei Monate einer Schwangerschaft sind heikel, das Risiko einer Fehlgeburt noch sehr hoch. Sollte meine Teilnahme das Risiko erhöhen?

Das Seminar war eine enorme Herausforderung für mich. Ich konnte mir die Heftigkeit meiner Reaktionen auf alle Übungen, die wir machten, selbst nicht erklären. Ich war teilweise so aufgewühlt, dass ich kaum sprechen konnte. Das Thema Loslassen war noch nie mein Lieblingsthema. Abschied nehmen auch nicht. In dieser Einheit ging es um beides. Das wühlte mich sehr um. Natürlich war ich aufgrund der Schwangerschaft in einem emotionalen Ausnahmezustand. Ich hatte aber das Gefühl, dass meine Emotionalität nicht alleine darauf zurückzuführen war. Meine Angst, mich falsch entschieden zu haben, quälte mich. Dabei konnte ich jederzeit aussteigen. Aber als ob es nicht allein meine Entscheidung war, machte ich immer weiter. Es war mir nicht möglich, einfach abzubrechen.

Vor dem Abschlussritual bekamen wir die Aufgabe, einen Abschiedsbrief zu schreiben. Eine Botschaft, die wir für jemanden hinterlassen würden, der sie nach unserem »Tod« finden würde. Ich setzte mich und schrieb einfach ohne nachzudenken los. Die Worte flogen mir förmlich zu. Danach klappte ich mein Notizbuch zu, ohne das Geschriebene noch einmal durchzulesen.

An die Nachwelt

Ode an das Menschsein

Wenn du irrst

wenn du wirrst

wenn du wanderst

wenn du suchst

ob du singst

oder ob du fluchst

du bist immer du

und das ist gut so

wenn du dich weigerst

dich verschließt

wenn du heiratest

oder dich erschießt

du bist immer du

und das ist gut so

ob du lachst oder weinst

ob du tötest oder greinst

du bist immer du

und das ist gut so

du bist ein Held

oder ein Versager

einer der Antworten gibt

oder ein Frager

wer immer du bist

was immer du tust

du bist du

und das ist gut so

es ist gut

weil du perfekt bist

es ist gut

weil du der Zweck bist

hier zu sein

du bist dein

auf immer

und du bist ewig du

und das ist gut so

du kannst dich erfinden

wieder und wieder

du darfst dich versündigen

wieder und wieder

denn es ist dein Leben

nur deines ganz allein

leb es ganz

und nicht zum Schein

bring zum Ausdruck

was du bist

denn alles was du bist

darf sein

alles was du bist

macht anderen Mut

jeder Fehler

jede Träne

auch alles

was dir wehe tut

ist Teil von dir

und damit Teil

von Allem

was dich umgibt

was mit dir ist

und jeder

der mit dir sein darf

ist reich beschenkt

und jeder

der dich jemals traf

ist reicher als zuvor

denn das

was du zu geben hast

ist wahr

wahrhaftig

wenn du du bist

und du bist immer du

allein schon

weil das gut ist

allein schon

weil es niemand könnte

außer dir

wer sollte du sein

wenn du selbst nicht magst

drum sei gewiss

und bleib dabei

wenn du du bist

bist du ewig frei

wenn Freiheit das ist

was du brauchst

du bist Liebe

wenn du Liebe sein willst

oder Hass

wenn du es wählst

am Ende zählt nicht das

was du erzählst

nur was du bist

hat dann Gewicht

nur was du tust

zeigt wer du bist

drum lass das

Zögern

Hadern

Zaudern

vergiss das

Jammern

Heulen

Jaulen

wo ist der Grund

dich zu beklagen

du bist ein Schatz

Zeit ist es jetzt

dir das zu sagen

ein Schatz für jeden

für die Welt

ein Stern

ein Lichtblick

der gefällt

du Schönheit du

du wunderbares Licht

zeig dich ganz

halb

nehmen wir dich nicht

dein Ganzsein

bringt dich voll zur Blüte

wir freuen uns

hast du die Güte

dich ganz zu zeigen

und dich hinzugeben

für diese Welt

und

für dein eigenes

Leben

Das große Abschlussritual begann mit einer Art Reinigung. Wir sollten dem Feuer alles übergeben, wovon wir uns verabschieden wollten. Ich kannte diese Zeremonie schon aus einem anderen Kurs. Damals hatte ich mich für folgenden Satz entschieden: »Ich übergebe dem Feuer alles, was mich daran hindert loszulassen.« Ewig hatte ich gebraucht, um eine Quintessenz dessen zu finden, was ich loswerden wollte. So vieles schien ich nicht mehr haben zu wollen. Aber dann einigte ich mich mit mir selbst auf diese Aussage. Doch kaum hatte ich mich dafür entschieden, wurde mir den ganzen Tag über immer schwindeliger. Alles drehte sich. Stück für Stück schien ich die Kontrolle zu verlieren. Tatsächlich. Physisch.

Das Ritual begann. Mir wurde so schwindelig, dass ich meinte, gleich in Ohnmacht zu fallen. Während die anderen der Reihe nach zum Feuer gingen, um ihre Sätze loszuwerden, saß ich da und hatte das Gefühl zu sterben. Wenn ich all das loslasse, was mich daran hindert loszulassen, ist es in diesem Moment mit mir vorbei, so dachte ich. Denn wenn ich alles loslasse, dann lasse ich auch das Leben los. Diese Vorstellung machte mir Angst.

Auf einmal stieg ein anderer Satz ganz von alleine in mir auf: Ich übergebe dem Feuer alles, was mich daran hindert, meine weibliche Intuition zu leben. Das fühlte sich richtiger an.

Die Nacht nach dem Ritual zitterte mein ganzer Körper sehr heftig. So stark, dass sogar meine Zähne anfingen zu klappern. Außer mir schliefen alle. Ich stand leise auf und stellte mich unter die Dusche. Erst nachdem ich lange heiß geduscht hatte, hörte mein Körper auf zu zittern.

Beim jetzigen Kurs hatte ich nicht so lange gebraucht, um einen Satz zu finden: Ich übergebe dem Feuer meine Angst, Fehler zu machen. Diese Angst begleitete mich schon sehr lange und hinderte mich daran, mich dem Leben voll auszusetzen. Erfahrungen zu machen ohne angezogene Handbremse. Kontrolle aufzugeben. Einfach freudig und angstfrei ins Leben zu springen. Mich hinzugeben. Das ganze Seminar über war diese Angst so präsent, weil ich immer noch am hadern war, mit meiner Entscheidung dabei zu sein. Als ich den Satz ins Feuer geworfen hatte, wurde ich ruhiger.

Dann folgte das sogenannte Bardo. Wir verbrachten 30 Stunden in völliger Dunkelheit, abgeschottet von der Welt. Mit verschlossenen Augen und verschlossenen Ohren. Am Anfang machte mich diese Stille panisch. Ich empfand Todesangst. Still sang ich das Mantra gegen die Todesangst, das wir in den Tagen zuvor gelernt hatten, vor mich hin. Gleichzeitig hielt ich meinen Bauch und sagte meinem Kind immer wieder, dass es keine Angst zu haben braucht, dass ich für es da bin und es immer beschützen werde, egal was passiert. Dass es tief geliebt wird und bei mir in Sicherheit ist. Dass es sich vor nichts zu fürchten braucht. Gemeinsam gingen wir durch diesen Zustand hindurch, bis ich ruhiger wurde und schließlich einschlief, wieder aufwachte, meinen Gedanken nachhing, wieder einschlief, wieder aufwachte, meditierte, wieder einschlief.

Die Wiedergeburt nach 30 Stunden Bardo war sehr bewegend. Eine Erfahrung, die man mit Worten nur schwer ausdrücken kann. Das Gefühl, eine zweite Chance zu bekommen, berührte mich tief. Wenn man eine zweite Chance bekommt, dann ist nichts falsch, dann kann nichts falsch sein. Denn dann ist alles einfach nur eine Erfahrung.

Zu Beginn des Seminars hatte jeder eine Tarotkarte gezogen. Wir sollten sie die ganze Zeit bei uns haben und uns mit ihr auseinandersetzen. In der Abschlussrunde erfuhren wir die Bedeutung.

»Deine Karte steht für Mutterschaft. Für die Urmutter. Das Mütterliche. Die bedingungslose Liebe«, sagte unsere Seminarleiterin zu mir und lächelte mich wissend an.

So kam es, dass ich unseren Mitteilnehmern erzählte, dass ich schwanger war, obwohl ich laut meiner Frauenärztin noch nicht darüber sprechen sollte. Ich hätte mich verschließen müssen, um es zu verschweigen und das wollte ich nicht. Für George war es in Ordnung, also erzählte ich es. Alle freuten sich mit uns.

Eine Mitteilnehmerin sagte zu mir: »Ich habe es sofort in alle Welt hinausposaunt als ich schwanger war, weil ich mich so gefreut habe. Wie du. Und auch wenn man es so früh noch nicht erzählen soll, mach dir darum keine Sorgen. Es geht bestimmt auch bei dir alles gut.«

Clownsnasenherz

So begann ich, es immer mehr Menschen zu erzählen. Bei der Frauenärztin konnten wir im Ultraschall unseren kleinen Zellhaufen mit dem Clownsnasenherz jedes Mal mehr zu menschlicher Gestalt heranwachsen sehen. Und plötzlich war da ein kleines Menschlein, das sich streckte und strampelte, agil und lebendig war. Es war eine Freude, dem zuzusehen. Wir waren beide völlig aus dem Häuschen von diesem Anblick. Ein Mensch war da plötzlich ganz deutlich zu erkennen. Ein sich bewegender, vollständiger Mensch, der, wenn auch erst ungefähr zwei Zentimeter groß, so lebendig und vital war, dass es uns den Atem verschlug.

Unser kleines Wunder entwickelte sich prächtig. Alle Werte waren vorbildlich. Um den dritten Monat herum kam dann die Frage auf: Sollen wir zur Feindiagnose gehen oder nicht? Und falls dabei etwas Auffälliges entdeckt werden sollte, was um Himmels willen machen wir denn dann?

Ich habe viel darüber gelesen und kam für mich zu der Entscheidung, keine Feindiagnose zu wollen, weil es für mich nichts ändern würde. Ich bin nicht angetreten, um immer wieder neue Kinder zu machen, so lange, bis eines dabei herauskommt, das mir passt. Nein, das wollte ich nicht. Ich hatte unser kleines Wunder strampeln sehen. Ein, wie mir schien, kleines, glückliches Menschlein. Was sollte eine Feindiagnostik mich verunsichern mit einer eventuellen Diagnose, die man gar nicht zu 100 Prozent stellen kann? George und ich waren uns einig: keine Feindiagnose. Jedes Kind ist willkommen, so, wie es ist.

Unsere Frauenärztin schaute daher selbst bei jedem Ultraschall sehr genau. Ich schreibe »unsere«, weil George mich immer begleitet hat, immer an meiner Seite war und am gesamten Prozess teilhatte. Insofern war es nicht nur meine, sondern unsere Frauenärztin. Sie konnte nichts Besorgniserregendes feststellen.

»Die Werte sind wie aus dem Bilderbuch«, sagte sie. »Eine Bilderbuchschwangerschaft.«

Umso schöner für mich, die ich so gehadert hatte mit meinem Alter und ob auch alles gut gehen möge.

Beim nächsten Mal war wieder alles in Ordnung. Wir vereinbarten einen neuen Termin. Etwas später, als von der Frauenärztin angedacht, weil ich in der Woche, in der wir zu ihr hätten kommen sollen, viel arbeiten musste.

Diese ganze Woche hindurch war ich plötzlich unruhig. Dabei war es einer meiner Lieblingsjobs, den ich zu tun hatte. Ich arbeite seit vielen Jahren bei der Berlinale als Einsprecherin für die Kinderfilmsektion. Die Filme laufen in der Originalsprache. Als Einsprecherin spreche ich den deutschen Text darüber, damit die Kinder, die noch keine englischen Untertitel lesen können, den Film verstehen.

Ich hatte den Film »Piata Lod‘«* zugeteilt bekommen. Darin ging es ausgerechnet um Zwillingsbabys, die von einer 12-Jährigen entführt werden. Ich hatte der Leitung unserer Sektion nichts von meiner Schwangerschaft erzählt, sonst hätte ich vielleicht einen anderen Film bekommen.

In einer spärlich eingerichteten Gartenlaube versorgt das Mädchen die Babys zusammen mit ihrem besten Freund, einem etwa zehn Jahre alten Jungen. Den in wunderschönen Bildern erzählten Film über hatte ich Angst um diese beiden Babys. Sie wurden von den zwei Kindern zwar liebevoll, aber auch sehr unkonventionell betreut. Bei jedem Mal, in dem eines der Babys in seinem Kinderwagen aufstand und darin balancierte, sah ich es schon herausplumpsen und sich das Genick brechen. Aber nein, im Film geht alles gut. Selbst als eines der beiden Babys sich heftig erkältet, finden die Kinder eine Lösung. Zum Schluss hat der wunderbare Film auch noch gewonnen. Die Kinderjury zeichnete das Werk mit dem Gläsernen Bären aus, und ich sprach auch bei der Preisverleihung noch einmal ein.

Am Sonntag endete die Berlinale. Aufgrund meiner Unruhe gingen wir gleich am Montag früh in die Frauenarztpraxis. Wir freuten uns darauf, an diesem Tag zu erfahren, ob es wohl ein Junge oder ein Mädchen werden würde. Seit dem letzten Arztbesuch hatten wir zahllose Geburts- und Krankenhäuser aufgesucht. Ich hatte mit unzähligen Beleg- und Nachsorgehebammen telefoniert. Es war gar nicht so leicht, in Berlin einen angenehmen Ort zu finden, wo ich unser Kind auf die Welt bringen konnte, geschweige denn eine Wochenbetthebamme. Alle von uns besuchten Informationsabende in den Geburtshäusern und Kliniken waren brechend voll.

Zurzeit steigen in Deutschland die Geburtenzahlen, wohingegen die Zahl der freiberuflichen Hebammen zurückgeht. Der Beruf ist mit einer eigenen Familie nur schwer unter einen Hut zu bekommen. Die Arbeitszeiten sind unberechenbar, die Verdienstmöglichkeiten mager, und die Beiträge zur Berufshaftpflicht erschreckend hoch.

In den Krankenhäusern wiederum steigt die Arbeit bei gleichbleibender Bezahlung immer mehr. Je weniger Personal bei einer Geburt bezahlt werden muss, desto rentabler ist sie für die Klinik. Der vom Deutschen Hebammenverband geforderten Eins-zu-Eins-Betreuung für eine Frau während der Geburt steht eine Realität gegenüber, in der eine Hebamme oft drei oder mehr Geburten gleichzeitig zu betreuen hat. Ca. zwei Drittel der festangestellten Hebammen müssen regelmäßig Vertretungen übernehmen. Pausen können nicht eingehalten werden, und immer mehr Überstunden sammeln sich an, weshalb viele Hebammen ausgebrannt sind. Sie reduzieren ihre Arbeit auf Teilzeit oder hören ganz auf. Seit Jahren schließen immer mehr Geburtshäuser und Kreißsäle ihre Pforten, und die verbliebenen Einrichtungen müssen sehen, wie sie mit dem Geburtenanstieg zurechtkommen.

Wir saßen also bei unserer Frauenärztin mit der Sorge, keinen Platz für die Geburt und keine Wochenbetthebamme zu finden. Der Geburtstermin war für Anfang Juli berechnet, und ich hatte im Januar angefangen zu suchen. Verzweifelt hatte ich mich schon ans Gesundheitsministerium gewendet. Dort wurde mir gesagt, dass ich schon sehr spät dran sei mit meiner Suche und sie doch alles täten, um die Situation zu verbessern. Übersetzt: Selber Schuld. Dabei hatte ich Anfang des vierten Monats begonnen zu suchen.

In den ersten drei Monaten der Schwangerschaft ist die Gefahr einer Fehlgeburt noch zu hoch, um sich auf die Suche nach Wochenbetthebamme und Geburtsort zu machen. Offenbar muss man inzwischen schon direkt nach der Befruchtung einen Geburtsort haben und das Kind am Besten zum gleichen Zeitpunkt für Kita, Kindergarten und Schule anmelden. Natürlich übertreibe ich. Aber die Ignoranz des Gesundheitsministeriums hat mich wirklich auf die Palme gebracht, zumal das Problem seit langem bekannt ist.

Am Ende hatte ich Glück und bekam den einzig freien Platz in einem Geburtshaus am anderen Ende der Stadt. Das nächstliegende Krankenhaus war ein gutes Stück weit von dort entfernt, was mich verunsicherte. Dabei wollte ich doch so gern in einem Geburtshaus gebären. Aber ob dieses nun das richtige war? Irgendetwas fühlte sich für mich falsch daran an, doch ich konnte es nicht erklären.

Unsere Frauenärztin hörte sich meine Sorgen an und sprach mir Mut zu, obwohl sie um die prekäre Lage wusste.

»Nur für den Fall, dass Sie keinen für Sie passenden Ort finden: Kein Krankenhaus in Deutschland darf eine Schwangere mit Geburtswehen abweisen«, erklärte sie uns.

Das war einerseits beruhigend, andererseits wollte ich es ungern darauf ankommen lassen. Unter »selbstbestimmter Geburt« hatte ich mir wahrlich etwas anderes vorgestellt.

* »PIATA LOĎ«, dt. Titel »Das fünfte Schiff«, Kinofilm von Iveta Grófová, nach dem gleichnamigen Roman von Monika Kompaníková.

Mit den Delphinen schwimmen

An diesem Tag stand ein sogenannter großer Ultraschall an. Wir hätten dafür in eine Praxis für Pränataldiagnostik gehen können, aber wir hatten uns entschieden, den Ultraschall von unserer Frauenärztin machen zu lassen. Wir fühlten uns bei ihr geborgen, und sie sah auch keinen Anlass, uns zu einem Spezialisten überweisen zu müssen.

Fröhlich gingen wir zum Ultraschallgerät. Ich bekam die übliche Schmiere auf den Bauch. Meine Frauenärztin begann mit dem Ultraschall, und ihr entgleisten die Gesichtszüge. Es war plötzlich kein Fruchtwasser mehr da. Unser Kind schien völlig auf dem Trockenen zu sitzen. Ich sah der Ärztin an, dass man das nicht auf die leichte Schulter nehmen durfte. Sie war sehr beunruhigt und sorgte sofort dafür, dass wir zur genaueren Untersuchung einen Termin in einer spezialisierten Feindiagnosepraxis bekamen. Der Zustand schien auch nicht völlig neu zu sein, sondern schon einige Tage anzuhalten.

Es war später Vormittag. Der nächste freie Termin in der Feindiagnosepraxis war erst um sechs Uhr abends.

»Es scheint etwas mit den Nieren nicht in Ordnung zu sein«, versuchte die Gynäkologin uns den Zustand zu erklären. »Am Anfang ist die Mutter für die Bildung des Fruchtwassers zuständig. In der zweiten Schwangerschaftshälfte übernimmt das Kind selbst dessen Produktion. Es scheidet über die Blase Flüssigkeit aus, die zuvor durch die kindlichen Nieren gereinigt wurde. Dadurch ist im Normalfall ein ständiger Austausch des Fruchtwassers sichergestellt. Wenn kein Fruchtwasser mehr da ist, dann wird wahrscheinlich mit den Nieren des Kindes etwas nicht stimmen.« Sie blickte uns besorgt an. »Außerdem kann die Lunge nur wachsen, wenn das Kind Fruchtwasser einatmet. Ohne Fruchtwasser kann die Lunge sich bis zum Ende der Schwangerschaft nicht weit genug entwickeln. Das Baby kann in so einem Fall nach der Geburt nicht selbstständig atmen. Das heißt: Nach der Abnabelung wird es nicht mehr mit Sauerstoff versorgt.«

Auf dem Ultraschallbild konnte man bereits sehen, dass die Lunge sehr klein geblieben war. Das Herz jedoch, das Clownsnasenherz, war plötzlich sehr groß im Brustkorb.

»Wenn die Lunge nicht wächst, hat das Herz Platz, sich auszudehnen und größer zu werden, als es zu diesem Zeitpunkt sein sollte. Durch die Lunge wird das Herz normalerweise in seiner richtigen Größe gehalten«, erklärte die Ärztin weiter.

Die Tränen schossen mir in die Augen. Solche Angst hatte ich um unser kleines Wunder.

»Hängt das alles mit meinem Alter zusammen?«, fragte ich.

»Nein, es hat mit dem Alter nichts zu tun. Ich habe so einen Fall selbst noch nie gesehen. Man kann nicht sagen, warum so etwas passiert.«

Es gab noch die geringe Chance, dass der Fruchtwassermangel durch einen Blasensprung ausgelöst worden war.

Auch das sollte bei der Feindiagnose noch einmal geprüft werden. Es schien aber eher unwahrscheinlich zu sein. Im Falle eines vorübergehenden Fruchtwassermangels bestand die Möglichkeit, kurzzeitig mit künstlichem Fruchtwasser zu überbrücken. Im Prinzip ist Fruchtwasser aber so besonders in Zusammensetzung und Eigenschaft, dass es nicht künstlich ersetzt werden kann. Schon gar nicht über längere Zeit.

Kaum hatten wir die Praxis verlassen, sagte ich zu George: »Egal, was ist, egal, was kommt, du musst mich schützen. Ich möchte auf gar keinen Fall, dass diese Schwangerschaft abgebrochen wird. Du musst mir beistehen. Ich möchte dieses Kind auf jeden Fall behalten.«

Wir gingen nach Hause. Ich legte mich aufs Bett und atmete tief in meinen Bauch hinein. Das komische war, dass ich das Gefühl hatte, es sei alles in Ordnung.

George legte gemeinsam mit mir die Hände auf meinen Bauch, und wir schickten unserem kleinen Wunder viel Kraft, Liebe und Energie. Wir sagten ihm, dass es Fruchtwasser produzieren müsse, um überleben zu können. Dann gingen wir in ein Restaurant um die Ecke. Ich hatte das Gefühl, dass ich Kraft in Form von Fleisch brauchte, um mich zu stärken.

Danach legte ich mich zu Hause wieder aufs Bett, und wir gaben über unsere Hände weiter viel Energie in den Bauch. Was mich in letzter Zeit beunruhigt hatte, war, dass ich das Kind noch nicht spüren konnte, keine Kindsbewegung wahrnahm. Eigentlich hätte man zu diesem Zeitpunkt schon die ersten Bewegungen fühlen müssen. Unsere Frauenärztin meinte, das könne am mangelnden Bewegungsspielraum liegen.

»Ohne Fruchtwasser steht dem Kind nur begrenzt Platz zur Verfügung.« hatte sie gesagt.

Ich hatte seit einer Weile keine Lust mehr gehabt, Hosen anzuziehen. Mir war so, als würde ich mein Kind sogar mit den Schwangerschaftshosen zu sehr eindrücken. Jetzt wusste ich warum.

Wir konnten uns den ganzen Tag über auf nichts konzentrieren, nichts machen. Wir warteten auf den Termin am frühen Abend. Wir gaben unserem kleinen Wunder Energie und hofften, dass sich alles als Fehldiagnose herausstellte. Auf dem Ultraschallgerät der Frauenärztin war, aufgrund des mangelnden Fruchtwassers, fast nichts zu sehen gewesen. Für unsere laienhaften Augen nur Schneeregen mit ein bisschen Bewegung.