Winterdunkel - Åke Edwardson - E-Book

Winterdunkel E-Book

Åke Edwardson

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Beschreibung

Kommissar Winter trifft an einem Mittsommertag auf einem Klassentreffen alte Freunde wieder. Zwei Wochen später ruft ihn einer der Freunde aufgelöst an, seine Frau Monika sei verschwunden. Winter taucht ein in die Verstrickungen der Vergangenheit. Nicht nur er hatte zu Schulzeiten mit Monika ein Verhältnis. Das Echo eines Eifersuchtsdramas führt ihn schließlich auf die Spur des Täters. Kommissar Winter ist einer der beliebtesten Kommissare der Kriminalliteratur der letzten zwanzig Jahre. In diesem Band erleben wir ihn von der persönlichen Seite. Literarische und psychologisch spannende Erzählungen, die perfekt in die dunkle Jahreszeit passen.

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Das Buch

Kommissar Winter trifft an einem Mittsommertag auf einem Klassentreffen alte Freunde wieder. Zwei Wochen später ruft ihn einer der Freunde aufgelöst an, seine Frau Monika sei verschwunden. Winter taucht ein in die Verstrickungen der Vergangenheit. Nicht nur er hatte zu Schulzeiten mit Monika ein Verhältnis. Das Echo eines Eifersuchtsdramas führt ihn schließlich auf die Spur des Täters.

Kommissar Winter ist einer der beliebtesten Kommissare der Kriminalliteratur der letzten zwanzig Jahre. In diesem Band erleben wir ihn von der persönlichen Seite. Literarische und psychologisch spannende Erzählungen, die perfekt in die dunkle Jahreszeit passen.

Der Autor

Åke Edwardson, geboren 1953, lebt mit seiner Frau in Göteborg. Einige Monate im Jahr verbringt das Ehepaar im Süden Spaniens, in Marbella. Bevor Edwardson mit seiner Serie um Kommissar Erik Winter einer der weltweit erfolgreichsten Krimiautoren wurde, arbeitete er als Journalist u.a. im Auftrag der UNO im Nahen Osten.

Angelika Kutsch wurde in Bremerhaven geboren und lebt heute überwiegend in Schweden. Sie arbeitete als Lektorin in einem Hamburger Kinderbuchverlag, ist Autorin vieler Kinder- und Jugendbücher und hat zahlreiche Romane aus dem Schwedischen, Dänischen und Norwegischen übersetzt, für die sie vielfach ausgezeichnet wurde.

Åke Edwardson

Winterdunkel

Erzählungen

Aus dem Schwedischen von Angelika Kutsch

Ullstein

Die Originalausgabe erschien 2016

unter dem Titel Vintermörker

bei Semic, Sundbyberg.

Die deutsche Ausgabe ist eine um einige Erzählungen gekürzte Fassung.

Besuchen Sie uns im Internet:

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ISBN 978-3-8437-1608-6

© 2016 by Åke Edwardson

© der deutschsprachigen Ausgabe

2017 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin

Umschlaggestaltung: www.buerosued.de

Umschlagabbildung: plainpicture/Magnum, the plainpicture edit/Gueorgui Pinkhassov

Autorenfoto: Anders Deros

E-Book: LVD GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

Inhalt
Über das Buch / Über den Autor
Titel
Impressum
Widmung
Eigentlich ist alles perfekt
Winterdunkelheit
Fast ein Lächeln
Eiszeit
Für alles gibt es ein erstes Mal
Eins-zwei-drei-vier-fünf
Es geht niemals vorbei
Bald würde es dunkel werden
Stille Minute
Größer als das Leben
Niemals in Wirklichkeit
Viareggio
Himmelsleiter
Feedback an den Verlag
Empfehlungen

Für Lilly, meinen Augenstern

Eigentlich ist alles perfekt

Am Lucia-Abend klingelte das Telefon, es war noch nicht spät, aber die Kinder schliefen schon. Er kannte die Nummer nicht, meldete sich jedoch trotzdem.

»Ja? Hier ist Peter.«

»Peter! Christian hier!«

Name und Stimme kamen ihm bekannt vor, aber nur vage, wie eine Erinnerung, die sich fast in Luft aufgelöst hat.

»Christian Becker! Eine Stimme aus der Vergangenheit!«

»Becker!« Er hörte sein eigenes Ausrufezeichen. Die Erinnerungen kehrten zurück, unmittelbar wie ein Windstoß, nicht alle waren angenehm. Aber Becker war ein Freund gewesen.

»Ich hab was über dich gelesen«, sagte Christian.

»Dann hast du mehr gelesen als ich.«

»Haha, du bist berühmt, alter Freund.«

»Vorbei.«

»Wie meinst du das, Peter?«

»Es ist schon lange her, seit ich in den Medien war. Nicht, dass ich gerade darunter leide. Aber es ist lange her, seit ich etwas geschrieben habe, das Aufmerksamkeit erregt hat. Auch darunter leide ich nicht.«

»Unsinn, mein Freund. Du bist einer der größten Schriftsteller des Landes, und alle warten auf dein nächstes Buch.«

»Alle?«

»Haha, ja genau, alle. Wir warten alle! Wird Zeit, dass du’s rausbringst, Junge.«

»Vielleicht in meiner nächsten Inkarnation.«

Sie unterhielten sich noch eine Weile. Christian war enthusiastisch, und Peter versuchte, es auf das zu reduzieren, was es war: Schreibblockade und Schweigen. Vielleicht war es keine richtige Schreibblockade, morgens spürte er jedenfalls keine Sehnsucht nach seinem Schreibtisch. Früher hätte man ihn nicht einmal mit Gewalt davon vertreiben können. Jetzt verließ er den Schreibtisch schon am Vormittag, je eher, desto besser. Er hatte vorgeschlagen, dass die Kinder den ganzen Tag bei ihm zu Hause sein könnten, weil er ja ohnehin nicht schrieb. Das könnten sie sich eine Weile leisten. Irgendwann würde er wieder ein Buch schreiben, das Geld einbrachte. Er hatte keine Eile.

Dennoch war er traurig, als wäre etwas für immer in ihm abgestorben. Als wüsste er, dass es ihm nie mehr gelingen würde, eine Geschichte zu Ende zu erzählen.

»Dann sehen wir uns also Freitag«, hörte er Christian sagen. Sie hatten offenbar verabredet, sich zu treffen. Hier bei ihm zu Hause. Er fragte sich, was Elin dazu sagen würde.

»Muss das wirklich sein?«, sagte sie. »Mitten in den Weihnachtsvorbereitungen.«

»Es wird nicht länger als eine Stunde dauern.«

»Ihr hättet euch in einem Pub treffen können. Das ist eine bessere Idee, finde ich. Ich bin zu müde, um Gastgeberin zu spielen.«

»Das brauchst du nicht. Christian möchte einfach gern sehen, wie wir leben.«

»Und du konntest nicht nein sagen?«

»Nein.« Er lächelte. »Es ist schwer, Christian etwas abzuschlagen.«

»Wann habt ihr euch das letzte Mal gesehen?«

»Das ist … ungefähr fünfundzwanzig Jahre her. Dreißig Jahre.«

»Und du kannst ihm immer noch nichts abschlagen?«

»Ich hab bloß Spaß gemacht.«

»So klang das aber nicht.«

Um sieben klingelte Christian an der Haustür. Die Kinder waren noch auf. Sie rannten um die Wette zur Tür.

»Aber hallo, ihr Kleinen!«, sagte er und lachte.

Er hatte sich nicht verändert, überhaupt nicht. Peter konnte keinen Unterschied sehen zu den dreißig Jahren, aber vielleicht hatte er es vergessen. Christian sagte etwas, das er nicht verstand.

»Entschuldige, was hast du gesagt?«

»Du hast dich überhaupt nicht verändert, Peter.«

»Ach was. Komm rein und mach die Tür zu. Es ist kalt.«

»Ja, es ist sehr kalt für die Jahreszeit«, sagte Christian und schloss die Tür hinter sich.

»Es ist Winter«, sagte Elin. »Da muss es doch kalt sein.«

»Das ist meine Frau«, sagte Peter.

»Angenehm.« Christian streckte die Hand aus. Elin sah sie an und nahm sie, ohne zu lächeln. Peter dachte, sie könnte sich ruhig ein bisschen mehr Mühe geben, aber das tat sie nie. Sie verstellte sich nicht, in dieser Hinsicht war sie wie ein Kind.

»Ich bring jetzt die Kinder ins Bett«, sagte sie.

»Gute Nacht, Kinder«, sagte Christian.

»Ich komm später rauf und sag euch gute Nacht«, sagte Peter.

»Vielleicht komme ich mit.« Christian lächelte.

Sie saßen vorm Kaminfeuer. Der Kamin war eins der schönsten Details des Hauses, Peter konnte stundenlang davorsitzen, in die Flammen und die Glut schauen und von nichts träumen. Wenn er an nichts dachte, ging es ihm am besten. Wenn er schrieb, ging es ihm am schlechtesten, das hatte er begriffen. All diese Reisen zurück im Leben, um Stoff zu finden, ein endloser Highway 61 revisited, das war nicht gut für die Seele. Der Mensch ist nicht dafür geschaffen, zurückzuschauen, es galt, nach vorn zu schauen. Es spielt keine Rolle, woher man kommt, dachte er, sondern wohin man unterwegs ist und so weiter und so weiter. Das konnte er sich einreden und es dann vergessen, aber das große Glück war nicht gekommen, um zu bleiben. Und jetzt war Christian aufgetaucht, der die Vergangenheit überhaupt nicht verlassen zu haben schien. Fast jeden Satz begann er mit: »Erinnerst du dich …«

»Erinnerst du dich, wie der Rektor die Schulzeitung verboten hat?«, sagte er jetzt. »Und du hast sie trotzdem rausgebracht.«

»Ich war nicht allein.«

»Erinnerst du dich, wie der Hausmeister geholfen hat, sie zu drucken?«

»Klar erinnere ich mich.«

»Erinnerst du dich, dass du für jede Ausgabe eine Novelle geschrieben hast?«

»Jetzt hör auf, Christian.«

»Erinnerst du dich nicht?«

»Ich will mich nicht an jeden Scheiß erinnern, den man in der Jugend verzapft hat.«

Christian war plötzlich ernst. Er stellte das Whiskyglas, das er schon halbwegs zum Mund geführt hatte, wieder ab.

»Aber das hat dich doch zum Schriftsteller gemacht. Dass du dich erinnern und es später gestalten kannst. Das ist kein Scheiß, das ist alles andere als Scheiß. Du hast eine einzigartige Begabung, Peter. Nur einer von Millionen besitzt so eine Begabung. Du bist ein richtiger Schriftsteller. Manche nennen sich Schriftsteller, aber sie reichen nicht an deine Klasse heran. Man kann sie nicht einmal zu den Schriftstellern zählen. Sie sind bestenfalls Brotschreiber. Niemand erreicht deine Klasse, Peter.«

»Erzähl das mal den Ausschüssen für Stipendien.« Peter versuchte zu lachen, aber das Lachen blieb ihm im Hals stecken.

»Das werde ich bestimmt tun«, sagte Christian. Er lächelte immer noch nicht, es war, als würde er sein dummes Gerede ernst nehmen. »Gib mir ihre Adressen. Ich kümmre mich darum.«

»Das sollte nur ein Witz sein«, sagte Peter.

»Darüber macht man keine Witze«, sagte Christian. »Wir sprechen über deine Zukunft, Peter. Es geht um deine einzigartige Begabung.«

»Du sprichst darüber.«

»Du weißt, wie ich das meine. Das muss ein Ende haben.«

Christian saß jetzt sehr gerade im Sessel, als wollte er sich erheben und vielleicht gehen. Peter wäre es nur recht gewesen, er hatte keine Lust, das Gespräch fortzusetzen, es war kein Gespräch, sondern ein Monolog, der zu kippen drohte, als geilte Christian sich an dem auf, was er sagte, als glaubte er wirklich daran. In seinen Augen war ein Blitzen, etwas Fremdes.

Christian stand auf, ging zum Fenster und sah in den Winterabend hinaus, der mehr weiß als schwarz war. Der Schnee schien zum Himmel aufzusteigen, um die ganze Welt zu übernehmen. Heute Abend war der Himmel weiß und schwarz, so, wie alles sein sollte, so einfach wie möglich sollte alles sein.

Ihr Haus lag fernab am Ortsrand, alles, was man sehen konnte, gehörte zum Grundstück, und es war weiß und unschuldig wie ihre Kinder, dachte er. Heute hatten sie Engel im Schnee gemacht, wenn man wollte, konnte man ihre Abdrücke immer noch erkennen, die überfrieren würden und den ganzen langen Winter zu sehen wären. Vielleicht wird es sie immer geben, dachte er. Es war ein merkwürdiger Gedanke, als hätte er ihn nicht selbst gedacht.

»Eigentlich ist alles perfekt«, sagte Christian und schaute weiter hinaus in den stillen Abend.

»Wie meinst du das?«

Christian drehte sich um.

»Alles ist perfekt. Hier könntest du die perfektesten Voraussetzungen schaffen, Peter.«

»Voraussetzungen für was?«

»Dein Schreiben natürlich.« Christian machte eine Handbewegung, die das unterstreichen sollte. »Hier kannst du große Kunst schaffen.«

»Zum Teufel, nun hör auf.«

»Du verstehst es nicht, Peter. Du siehst nicht, was du haben könntest.«

Elin betrat das Zimmer.

»Sie möchten dir jetzt gute Nacht sagen«, sagte sie.

Sie sah, dass Christian am Fenster stand. Er hatte sich wieder dem Weißen und Schwarzen zugewandt. Es wirkte fast so, als ob Elin sie stören würde. Als würde sie sich aufdrängen.

»Ich geh zu ihnen«, sagte Peter und verließ das Zimmer.

Als er wieder herunterkam, spürte er immer noch die Wärme der schläfrigen Kinder. Er war selbst fast eingeschlafen, es wäre schön gewesen, einfach einzuschlafen und erst morgen wieder aufzuwachen.

Aber sie hatten einen Gast.

Er hörte Lachen aus dem Wohnzimmer. Es war Elin. Ihr Lachen machte ihn froh, es bedeutete, dass sie beschlossen hatte aufzubleiben, bis ihr Gast ging. Er würde ohnehin bald gehen.

»Christian hat gerade erzählt, wie man einen perfekten Martini macht«, sagte sie, als er das Zimmer betrat. Sie saß Christian gegenüber auf dem Sofa.

»Ich kenne das Rezept«, sagte Peter.

»Kein Wermut, keine Olive, kein Eis«, sagte sie.

»Gin, ein Glas und einen Kühlschrank, das ist alles, was man braucht«, sagte Peter.

»Nicht mal einen Kühlschrank«, sagte Christian. »Nicht in dieser Jahreszeit. Man braucht Glas und Flasche nur in den Schnee zu stellen.«

»Wir haben keinen Gin«, sagte Peter.

»Wir können es morgen machen«, sagte Christian.

»Morgen?«, fragte Elin.

»Klar. Ich bring den Schnaps mit, wenn ich komme.«

»Wir haben … morgen viel vor«, sagte Elin. »Es sind nur noch wenige Tage bis Weihnachten.«

»Umso besser, wenn wir dann zu mehreren sind«, sagte Christian. »Ich kann euch helfen.«

Elin sah Peter an. Was war das in ihren Augen? Panik?

Sie stand auf.

»Ich geh jetzt schlafen«, sagte sie. »Ich muss morgen früh raus.«

»Du hast noch gar nichts von deinem Wein getrunken«, sagte Christian.

Sie antwortete nicht, sah Christian wieder mit diesem merkwürdigen Blick an, vielleicht ein ängstlicher Blick, schweigend ging sie hinaus.

»Nun hat sich die Familie endlich zurückgezogen«, sagte Christian.

»Wie meinst du das?«

»Jetzt hast du endlich etwas Ruhe.«

»Du bist doch noch da.«

»Haha, so hab ich das nicht gemeint.«

»Wie denn?«

»Du brauchst Ruhe, Peter. Das habe ich vorhin gemeint. Hier ist alles perfekt für dich, für dein Schreiben. Die Ruhe. Die Schönheit draußen. Dieses wunderbare Haus. Die Einsamkeit. Das brauchst du am allermeisten. Einsamkeit. Dann kann sich deine einzigartige Begabung wieder entfalten.«

»Was zum Teufel meinst du mit Einsamkeit?«

»Ein Künstler braucht Einsamkeit, um etwas zu erschaffen. Darüber sind wir uns doch einig?«

»Ich bin allein, wenn ich schreibe. Was denkst du denn?«

Christian sah ihn lange an.

»Meinst du, ich sollte allein leben?«

Christian schwieg.

»Das würde nicht das Geringste ändern«, sagte Peter. »Es ist nicht die Art Einsamkeit, die man braucht.«

»Nachdenken«, sagte Christian.

»Was?«

»Man braucht Einsamkeit, um denken zu können. Beim Schreiben geht es nicht nur ums Schreiben, du hast das in einem Interview gesagt, das ich gelesen habe. Die meiste Arbeit besteht im Nachdenken vorher oder auch nachher, bevor man mit dem Niederschreiben beginnt. Das ist die Stille, die ein Schriftsteller braucht. Das ist Einsamkeit.«

»Wenn man dir folgen würde, ist es wohl am besten, man wird Mönch«, sagte Peter.

»Du machst Witze über alles, was ich sage.«

»Machen wir das nicht gerade, Witze?«

»Nein.«

»Was machen wir denn?«

»Wir diskutieren über deine Zukunft, Peter.«

»Ich dachte, wir reden über meine Vergangenheit.«

Christian hatte sich entschuldigt und war zur Toilette gegangen. Peter stand am Fenster. Draußen lag weiße Kälte. Er sah die Tanne, in der er sich Heiligabend, verkleidet als Weihnachtsmann, mit Laterne und dem Sack mit den Paketen versteckte. Elin und die Kinder standen am Fenster und sahen ihn kommen, und er wusste, dass die Kinder schrien vor mit Entzücken gemischtem Schreck, das war genau der richtige Ausdruck in diesem Zusammenhang, mit Schreck gemischtes Entzücken. Etwas, das man wollte und doch nicht wollte, aber dennoch herbeisehnte. Bald würde er wieder Weihnachtsmann spielen. Er hatte Bart und Mütze überprüft, alles war an seinem Platz. Alles ist perfekt für ein weiteres strahlendes Weihnachtsfest, dachte er. Während der Feiertage würde er nicht schreiben, das galt jedoch im Großen und Ganzen auch für alle anderen Tage, es spielte also keine Rolle. Aber er wusste, dass er sich selbst belog. Ein Schriftsteller, der nicht schreibt, ist kein Schriftsteller, er ist nur ein einfacher Alltagsmensch, der sich einmal selbst belogen hatte und schließlich von seinen Lügen eingeholt worden war. Christian hatte einerseits recht, andererseits nicht. Peter machte nicht das Beste aus seiner Begabung, seine Begabung war allerdings auch nicht einzigartig.

Er sah auf die Uhr. Christian war schon eine ganze Weile weg. Vielleicht hatte er Magenprobleme. Peter erinnerte sich dunkel, dass der Mann in seiner Jugend Magenprobleme gehabt hatte. Wenn man einen schwachen Magen hatte, war mit Whisky nicht zu spaßen, aber vielleicht war der verrückte Alkohol auch die beste Kur. Whisky war verrückter Alkohol, ein Gesöff des Teufels, schottisches Heideland, Strände, Torfmoore, Gewässer und Getreide machten das Getränk zu einem Halluzinogen. Alpträume konnten Wirklichkeit werden.

Peter sah wieder auf die Uhr. Unternahm der Kerl eine Hausbesichtigung? Wenn es so war, dann sehr leise, Peter hatte kein einziges Geräusch gehört.

Jetzt war Christian wieder da. Er sah aus, als wäre er draußen gewesen, etwas war mit den Haaren, der Gesichtsfarbe.

»Warst du draußen?«

»Nein, nein.« Er zitterte wie vor Kälte. »Nein, nein«, wiederholte er.

Inzwischen war es sehr spät.

»Möchtest du noch einen kleinen Whisky?«, fragte Christian, als wäre er der Gastgeber.

»Es ist spät.«

»Musst du morgen früh raus, um etwas Besonderes zu erledigen, Peter?«

»Was? Nein, wegen der Kinder … sie sind über die Feiertage zu Hause.«

»Was hättest du sonst getan?«

»Wie meinst du das?«

»Wenn du dich nicht um die Kinder kümmern müsstest, hättest du dann geschrieben?«

»Darum geht es nicht.«

Christian hatte sich einen Whisky eingeschenkt. Seine Hand zitterte sichtbar, als er das Glas hob. Er stellte es wieder ab.

»Genau darum geht es«, sagte er. »Die Familie, die sogenannte Familie. Sie hält dich davon ab, Kunst zu erschaffen.«

»Nein, zum Teufel, jetzt hör endlich damit auf.«

»Aufhören? So wie du aufgehört hast?«

»Ich habe nicht aufgehört!«

»Ach nein? Wann hast du zuletzt ein Buch veröffentlicht?«

»Das geht dich einen Scheißdreck an!«

Christian schwieg. Er hob sein Glas, nahm einen Schluck und setzte es wieder ab. Er sah Peter mit einem bekümmerten Blick an, ja, er war bekümmert. Peter sah Tränen in seinen Augen, es mussten Tränen sein.

»Das geht mich einen Scheißdreck an«, wiederholte Christian langsam.

»Entschuldige. Ich habe mich provoziert gefühlt.«

»Ich verstehe.«

»Was verstehst du?«

»Wie wenig nötig ist, um dich zu provozieren. Das nennt man den wunden Punkt«, sagte Christian.

»Ich fühle mich nicht provoziert.«

Christian lächelte wieder sein seltsames Lächeln. Peter fühlte einen Kälteschauer am ganzen Körper, als hätte er ohne Mantel im Schnee gestanden. Es war ein Lächeln, das ihn bis auf die Knochen frieren ließ.

»Die Welt wartet auf deine Bücher«, sagte Christian. »So einfach ist das. Ich habe mit Tausenden von Menschen gesprochen, die meiner Meinung sind.«

»Wo?«

»Was?«

»Wo hast du mit den Tausenden gesprochen?«

»Hier und da und überall.«

»Wo hast du in den vergangenen Jahren gearbeitet, Christian?«

»Hier und da.«

»Was zum Beispiel?«

»Das spielt jetzt keine Rolle. Es geht darum, dass du wieder schreiben kannst.«

»Hast du denn eine Idee?«

»Ja.«

»Du hast eine Idee, die mir helfen soll, wieder zu schreiben.«

»Wirklich. Eine Idee, die funktioniert.«

»Und wie sieht die aus?«

»Das weißt du schon. Wir haben heute Abend darüber gesprochen.«

»Aha, die Familie. Die also hält mich davon ab, große Kunst zu erschaffen.«

Christian nickte. In seinen Augen blitzte es wieder. Es waren nicht die Flammen vom Kaminfeuer. Das Licht in seinen Augen hatte hier nichts zu suchen. Es gehörte in die Finsternis, in totale Dunkelheit.

»Ich glaube nicht, dass ich mich aus dem Grund scheiden lasse.«

»Es gibt eine schnellere Lösung. Es ist die einzige Lösung. Du wirst schon sehen.«

»Ich … werde es sehen? Was werde ich sehen?«

»Verstehst du nicht? Du musst es verstehen. Du bist nicht dumm. Du bist nur in die Irre geführt.«

»In die Irre geführt? Von wem?«

»Von deiner kleinen Frau, deinen kleinen Kindern.«

»Kein Wort mehr über meine Familie!«

»Es ist auch keins mehr nötig.«

»Nicht … nötig? Wie ist das gemeint?«

Christian schwieg. Er lächelte nur sein unheimliches Lächeln.

Gerade eben – Christian war weggegangen. Er war ungewöhnlich lange weggeblieben. Er war verändert zurückgekommen. Er hatte ein bisschen gezittert. Er war lange weggeblieben. Er schien vor Kälte zu zittern, als er zurückkam. Das war keine Kälte. Er hatte …

Schreckliche Übelkeit überkam Peter. Himmel! Lass es nicht wahr sein. Er versuchte aufzustehen, sank aber zurück in den Sessel. Christian sagte etwas, doch Peter konnte es nicht hören. In seinem Kopf tobte ein Sturm. Er sah Bilder, die kein Lebender sehen sollte.

Jetzt stand er, seine Füße funktionierten, er lief durchs Zimmer, sprang die Treppen hinauf, stolpernd, rutschte ein paar Stufen abwärts, schlug etwas mit dem Ellenbogen kaputt, spürte keinen Schmerz, flog über die Schwelle oben, knallte mit der Stirn gegen die Kinderzimmertür, als er sie öffnen wollte, kriegte sie schließlich auf, stürzte ins Zimmer, eine Lampe brannte, er sah …

Zwei schlafende Kinder. Zwei friedlich schlafende Kinder. Schluchzend sank er auf die Knie neben dem Kopfende des Bettes, weinte im Schock, weinte vor Freude, vor Erleichterung.

Er richtete sich auf, verließ das Zimmer, öffnete die Tür zum großen Schlafzimmer, master bedroom, wie der Makler gesagt hatte, betrat es leise, sah Elins schlafende Gestalt, die Atemzüge waren regelmäßig, sie hatte nichts gehört, sie musste eine Schlaftablette genommen haben, um schnell einschlafen zu können, ihre Rettung an diesem Abend. Ihn selbst hätte fast der Schlag getroffen. Sollte er Elin wecken? Nein. Nichts war passiert. Es war seine lebhafte Phantasie. Vielleicht war sie endlich zurückgekehrt. Jetzt konnte er wieder anfangen zu schreiben. Das hatte er Christian zu verdanken. Vielleicht hatte der Mann es so geplant. Meine Phantasie anzustacheln und zu sehen, was passiert. Makaber, aber effektiv.

Als er wieder ins Wohnzimmer kam, war Christian verschwunden. Er ging in die Küche, aber die war leer, genau wie die Diele, das Gästezimmer und die Toilette.

»Christian? Hallo, Christian?« Er bekam keine Antwort. Die Haustür war von innen abgeschlossen, er war also nicht nach draußen gegangen. Peter war seinem alten Freund nicht auf der Treppe begegnet. Sein alter Freund. Was zum Teufel suchte der Kerl hier? Warum hatte er ihn überhaupt reingelassen? Ich bin einfach zu nett. Vielleicht war ich auch ein bisschen neugierig. Das gehört zum Job. Sollte es noch mein Job sein. Aber wo ist er?

»Christian!? Christian?«

Die Kellertür war von außen abgeschlossen. Kein Christian da unten.

Das Festnetztelefon klingelte. Sie hatten den Vertrag nicht gekündigt, weil die Handyverbindung hier draußen unzureichend war, sie kam und ging. Das Klingeln hallte wie ein greller Ruf durch die Diele.

»Hallo? Ja?«

»Ist da Familie Edwards?«

»Ja? Wer ist da?«

»Mit wem spreche ich?«

»Mit wem spreche ich?!«, sagte Peter. »Hier ist Peter Edwards.«

»Danke. Hier ist Kriminalkommissar Bengt Emilsson. Ich komme gleich zur Sache. Heute Morgen ist jemand aus der Rechtspsychiatrie geflohen. Ein gefährlicher Mörder und Psychopath, auf den Punkt gebracht. Ein lebensgefährlicher Kerl, um es klar auszudrücken. Wir haben Grund zu glauben, dass er versucht haben könnte, Kontakt zu Ihnen aufzunehmen. Sie vielleicht zu besuchen.«

»Mich zu besuchen?«, echote Peter.

Das Echo wiederholte sich in der Leitung, das Geräusch kam und ging. Es klang, als würde der Kriminalkommissar draußen im Wald telefonieren.

»Ein Mitinsasse hat gerade erzählt, dass er oft von Ihnen gesprochen hat«, fuhr der Kommissar fort. »Sie kannten einander offenbar. Er schien von Ihnen besessen zu sein, sagte der Mitinsasse.«

»Wie heißt der Psychopath?«

»Christian Becker.«

»Was hat er getan?«

»Unter anderem seine Familie umgebracht.«

»Er ist hier im Haus«, sagte Peter. »Irgendwo.«

Er rief nicht mehr Christians Namen. Er konnte dankbar sein, wenn er das Obergeschoss lebendig erreichte. Der Kerl hielt sich hier unten irgendwo versteckt, vielleicht mit einer Waffe, einem Messer oder sogar einer Feuerwaffe. Jetzt denk nach, Peter, denk nach. Er hat es nicht auf dich abgesehen. Dir darf nichts passieren. Er will mein Manager werden, ha.

Peter lief wieder die Treppe hinauf. Die Polizei war unterwegs, aber alles konnte innerhalb von Sekunden geschehen.

Elin saß aufrecht im Bett.

»Was ist los? Ich habe das Telefon gehört.«

»Warte«, sagte er und ging zu den Kindern. Er brachte das Mädchen zu Elin und ging zurück, um den Sohn zu holen. Sie wogen so gut wie nichts. Ein Leben wiegt nichts, dachte er, vielleicht werde ich diese Formulierung in einem Roman benutzen, wenn wir lebend aus dem hier rauskommen.

Sie warteten, bis die Kinder wieder zur Ruhe kamen.

Leise erzählte er Elin von dem Vorgefallenen.

»Was sollen wir tun?«

»Nichts. Die Polizei ist schon unterwegs.«

»Aber wenn er versucht, hier einzudringen? Ist die Tür abgeschlossen?«

»Ja. Aber wahrscheinlich ist er aus dem Fenster gesprungen.«

»Hast du ein offenes Fenster gesehen?«

»Ich hatte keine Zeit, das zu kontrollieren.«

Elin stand auf und ging zum Schlafzimmerfenster.

»Ich seh nichts da draußen, nur Schnee.«

»Gut. Es ist leicht, jemanden im Schnee zu erkennen.«

»Er ist wie ein weißes Feld. Seltsam, dass man so viel Weiß sehen kann, wenn es schwarze Nacht ist.« Sie drehte sich um. »Dann bewegt er sich also ungehindert in unserem Haus? Hier will ich nicht mehr wohnen, wenn alles vorbei ist.«

»Es ist bald vorbei.«

»Himmel«, sagte sie, »dass uns so was passiert.«

»Es ist bald vorbei«, wiederholte er.

»Jetzt sehe ich was!«

Er ging zum Fenster. Blaulicht rotierte am Himmel. Die Rettung nahte. Blau war die Farbe der Hoffnung. Das Licht erreichte sie vor der Rettung.

»Wo ist das Auto?«, fragte Elin.

»Scheint hinter der Hecke zu sein.«

»Ich dachte, sie würden einen Hubschrauber schicken.«

»Der ist wahrscheinlich auch unterwegs.«

»Da ist das Auto!«, sagte sie.

»Ja.«

»Es hält.«

»Wahrscheinlich wollen sie erst das Grundstück überprüfen.«

»Bestimmt.«

»Ich kann nicht das ganze Auto sehen.«

»Es wird von der Hecke verdeckt.«

»Beeilt euch!«, sagte sie.

Das Blaulicht zerschnitt den Nachthimmel. Jetzt war es Nacht. Durch Peters Körper ging ein Zittern. Immer noch stand das Auto hinter der Hecke. Sicher koordinierten sie den Einsatz über Funk. Garantiert waren noch mehr Streifenwagen zu ihnen unterwegs.

Der Streifenwagen fuhr an, er war schwarz und weiß in der Nacht, aber er war blau und weiß, das Auto war nun ganz zu sehen, bog langsam in die Hauszufahrt ein, die Kommune hatte gestern geräumt, es war nicht mehr Schnee gefallen, es war genügend Schnee für ein ganzes Jahr gefallen, das Polizeiauto fuhr langsam, als würde es das ganze Umfeld absuchen. Das war natürlich nötig, ein psychotischer Mörder oder wie man das nannte, auf jeden Fall lebensgefährlich.

Das Auto hielt. Der Fahrer stieg aus, er trug eine Art Helm, sie waren auf alles vorbereitet, gut, Peter sah die Waffe des Polizisten an einem Gurt über der Brust, die Uniform sah aus wie bei einem Soldaten auf dem Weg in den Kampf. Im Innern des Autos waren Gestalten zu erkennen, aber sie blieben sitzen, kontrollierten wohl das Umfeld.

Der Polizist ging auf das Haus zu und verschwand unter dem Verandadach.

Sie hörten die Türklingel. Ein ersehntes Geräusch.

»Ich öffne«, sagte Peter.

Er ging mit leichten Schritten nach unten, schloss die Tür auf und öffnete sie. Der Helm des Polizisten glitzerte unter der Haustürbeleuchtung. Sein Gesicht lag im Schatten. Das Licht glitzerte auf der Maschinenpistole in den Händen des Polizisten.

»Willkommen«, sagte Peter. Das klang idiotisch, aber etwas anderes fiel ihm nicht ein. »Danke, dass Sie kommen. Wir brauchen alle Hilfe der Welt.« Er merkte, dass er zu schnell und zu viel redete. Es war die Anspannung, die nachließ.

Der Polizist machte einen Schritt nach vorn. Peter sah ein Lächeln. Das Lächeln kannte er.

»Ich bin da, um dir zu helfen«, sagte Christian.

Winterdunkelheit

Als er vom Flugplatz auf dem Weg nach Hause war, fing es an zu schneien. Die Autobahn wie leergefegt. Der Taxifahrer stellte die Scheibenwischer an, und alles wurde schwarz und weiß. Im Radio sang ein Kinderchor, und der Weihnachtsmann, der am Rückspiegel hing, schien sich im Takt der Scheibenwischer und zur Musik zu wiegen. »So machen wir das, so machen wir unsere Hände nass, so macht Händewaschen Spaß«, sangen die Kinder.

Er schaute auf seine Hände, die schwarz und weiß leuchteten, hob eine Hand. Er wusste, dass sie eher braun als weiß war. Er sah den Blick des Taxifahrers im Rückspiegel.

»Es waren siebenundzwanzig Grad, als wir gestartet sind«, sagte er.

»Donnerwetter«, sagte der Taxifahrer.

»Siebenundzwanzig«, wiederholte er und sah die schwarzweiße Landschaft schattengleich vorbeiziehen.

»Wo sind Sie gewesen?«, fragte der Fahrer.

»Kanarische Inseln.«

»Oh!«

»Eine Woche bombiges Wetter, nicht eine einzige Wolke.«

»Oh!«

»Die richtige Jahreszeit, um in den Süden zu fliegen«, sagte er und machte eine Handbewegung in Dunkelheit und Kälte hinaus.

»Ja, das stimmt«, sagte der Fahrer.

Der Mann auf dem Rücksitz holte wieder sein Handy hervor, wählte die Nummer und wartete auf eine Antwort, die nicht kam. Kaum hatte er sich ins Taxi gesetzt, hatte er sofort angerufen und zu sich gesagt, aber laut genug, dass es der Taxifahrer hören konnte: »Warum meldet sie sich nicht?«

Das Auto hielt in der zweiten Reihe vor der Haustür. Der Schnee fiel immer noch dicht. Er reichte dem Fahrer seine Mastercard und unterschrieb die Quittung.

»Frohe Weihnachten«, sagte der Fahrer, nachdem er den Koffer aus dem Kofferraum gehoben und die Klappe geschlossen hatte.

»Müssen Sie die ganze Nacht arbeiten?«, fragte er.

»Ja, leider«, antwortete der Fahrer.

»Na, dann frohe Weihnachten.«

»Danke«, sagte der Taxifahrer und fuhr davon.

Frohe Weihnachten, dachte der Mann. Es ist noch eine Woche bis Weihnachten, um diese Jahreszeit gibt es nur brave Kinder.

Er warf einen Blick auf die Uhr, es war halb neun, und schaute an der sechsstöckigen Hausfassade empor. In allen Fenstern schien Licht zu brennen, feuergelbes Licht, das zur Weihnachtszeit gehörte. Er sah die Straße entlang. Das Taxi war verschwunden, jetzt bewegte sich nichts mehr. Kein Mensch unterwegs. Alle waren hinter den erleuchteten Fenstern.

Er dachte wieder an sie, aber diesmal ohne sie vom Handy aus anzurufen.

Er klingelte und öffnete die Tür gleichzeitig mit dem Schlüssel. Er rief:

»Susanne! Ich bin zu Hause. Hallo! Hallo?«

Seine Stimme hallte im Treppenhaus wider. Er sah sich um, ehe er die Tür hinter sich schloss.

Er stand im Vorraum. Stellte den Koffer ab, schaltete die Deckenbeleuchtung ein und blinzelte im Licht. Er zog den Mantel aus und hängte ihn auf einen Bügel. Er schleuderte sich die Schuhe von den Füßen, ohne vorher die Schnürsenkel zu lösen, ging in die Küche. Auf dem Tisch standen ein Teller und ein Glas, beide leer, sauber. Kein Besteck. Die Spüle war auch leer und sauber. Auf der Anrichte, im Winkel zur Spüle gebaut, lag eine volle Tüte Kartoffeln, daneben auf dem Schneidebrett ein Kartoffelschäler.

Es war sehr still, so still, dass er das Summen des Kühlschrankkompressors wie dumpfe Atemzüge hörte. Er rief laut:

»Susanne? SUSANNE?«

Er kehrte zurück in den Vorraum, und jetzt sah er den Anrufbeantworter, der rot blinkte. Er ging zu dem Tischchen, drückte auf die Taste und lauschte seiner eigenen Stimme:

»Hallo, ich bin’s nur. Jetzt ist es so weit, ich komme nach Hause. Hier scheint die Sonne nie unterzugehen. Aber jetzt ist sie gerade rot. Wünschte, du wärst hier. Ähhh … ruf mich an, falls es nicht zu spät wird.«

Zweiter Anruf:

»Noch mal hallo … Ja, nun ist es also so weit. Es ist … halb neun und ich bin auf dem Weg zum Flugplatz … Ruf mich an, falls du kannst. Vermute, du musstest letzte Nacht eine Extraschicht einlegen. Ich sag dir Bescheid, wenn ich weiß, wann der Flieger abhebt. Falls es eine Verspätung gibt.«

Dritter Anruf:

»Noch mal hallo, jetzt fängt das Boarding an. Scheint keine Verspätung zu geben. Ich ruf an, wenn wir gelandet sind.«

Vierter Anruf:

»Warum meldet sie sich nicht?«

Seine kaum eine Stunde alte Stimme vom Taxirücksitz. Er schaltete den Anrufbeantworter ab und näherte sich dem Schlafzimmer.

Sie lag unter der Decke.

Er ging um das Bett herum, und es war unmöglich, ihren Augen auszuweichen, die geradewegs in die Ewigkeit starrten.

Kriminalkommissar Erik Winter folgte ihrem Blick ins Nirgendwo und Nichts. Er hatte sich hingehockt, nah an dem Gesicht der Frau, das eine furchtbare Maske geworden war, als die Hauteinblutungen eingesetzt hatten. Nachdem der Blutdruck gestiegen war und die »großen Adern« vom Kopf abgeschnürt hatte, war das Zungenbein gebrochen, und sie war erstickt.

Er hatte schon viele erdrosselte Menschen gesehen, er erkannte es, wenn er sie sah.

Er wusste, dass Pia Fröberg, die Gerichtsmedizinerin, die Todesursache später bestätigen würde, nach einer Untersuchung in einem Raum, in dem es heller war als in diesem Schlafzimmer. Noch war es fast friedlich, bevor die Leute von der Spurensicherung, Ärzte und Fahnder hereinkommen würden. Aber im Augenblick war er allein, das war sein ausdrücklicher Befehl. Es war noch vor Mitternacht. Nur wenige Minuten nach dem Alarm war er durch sachten Schneefall hierhergefahren. Angela hatte nichts dazu gesagt, dass er in die Nacht hinausfuhr. Sie war Ärztin, sie wusste, was Dienst bedeutet, Bereitschaftsdienst. Menschen konnten auch in der fröhlichen Vorweihnachtszeit ernsthaft krank werden.

Sie können sogar ermordet werden, dachte er, während er das Gesicht der Frau und ihre Gestalt unter der Decke betrachtete. Wenn es denn … heute passiert war. Es könnte auch gestern gewesen sein. Das herauszufinden war Pias Job.

Hinter ihm bewegte sich etwas, und er drehte sich um. Kommissar Bertil Ringmar stand in der Tür.

»Wollen wir ihren Mann in die Skånegatan bringen oder möchtest du ihn sofort verhören?«, fragte Ringmar.

»In meinem Büro«, sagte Winter.

Sein Büro: Schreibtischstuhl, Besucherstuhl, Schreibtisch, Archivschrank, Waschbecken, CD-Spieler auf dem Fußboden unterm Fenster, still, kein Glockenklang, kein »Oh, du fröhliche«, kein »Stille Nacht«.

Winter strich sich übers Gesicht und sah den Mann an, der ihm gegenübersaß. Er hieß Anders Balker. Er war blass unter der Sonnenbräune, was sein Gesicht seltsam durchsichtig wirken ließ. Seine Frau hieß Susanne Balker.

»Herr im Himmel«, sagte Anders Balker zum dritten oder vierten Mal.

»Wann haben Sie das letzte Mal mit ihr gesprochen?«, fragte Winter.

»Ähhh … ja, das war wohl … Donnerstag …«, sagte Balker.

Winter warf einen Blick auf den Kalender, der aufgeschlagen vor ihm lag.

»Zwei Tage bevor Sie nach Hause gefahren sind?«

»Ähhh … ja …«

»Zwei Tage vorher«, wiederholte Winter.

»Ja … ich hab auch danach versucht, sie anzurufen«, sagte Balker, »ähhh … danach also.« Er bewegte sich auf dem Stuhl. »Ich habe ihr Nachrichten hinterlassen.«

»Wir haben das Band abgehört«, sagte Winter.

»Ja …«, sagte Balker.

»Haben Sie sich Sorgen gemacht, als sie sich nicht meldete?«

»Ähhh … klar. Ich … hab doch immer wieder versucht, sie zu erreichen.«

»Gab es niemand sonst, den Sie hätten anrufen können?«

Der Mann antwortete nicht. Er starrte auf den Schreibtisch, als studierte er Winters Kalender.

»Konnten Sie niemand anderen anrufen?«, wiederholte Winter.

»Nein.« Balker schaute auf. »Ich hatte … niemand.«

»War es früher auch so?«, fragte Winter.

»Wie?«

»Dass Ihre Frau … Susanne … sich nicht gemeldet hat, wenn Sie sie angerufen haben.«

»Nein«, antwortete Balker, »so … war es nie.«

»Was?«

»Dass … ich allein verreist bin. So … so lange.«

»Warum jetzt?«, fragte Winter.

Balker antwortete nicht. Winter war nicht sicher, ob der Mann ihn verstand. Vielleicht würde er sich nicht mehr lange mit diesem Ehemann unterhalten können, der seine Frau in der eigenen Wohnung tot aufgefunden hatte. Vielleicht würde er in wenigen Minuten zusammenbrechen, sich über den Schreibtisch werfen, auf Winter, über diesen verdammten Kalender, der für Susanne Balker nicht mehr sinnvoll war.

Ich würde das tun, dachte Winter. Wenn es mir passierte. Mich vollkommen verlieren. Ich würde ein lebendiger Toter werden, wenn es mir passierte. Daran muss ich denken, während ich hier sitze und meine Fragen stelle. Aber sie mussten ja gestellt werden.

»Warum sind Sie in der Woche vor Weihnachten allein in Urlaub gefahren?«, fragte er wieder.

»Es war kein Urlaub«, antwortete Balker.

»Was war es dann?«

Balker antwortete nicht.

»Was war das für eine Reise?«, wiederholte Winter.

»Ich … bin Alkoholiker«, sagte Balker. Jetzt sah er Winter an. »Ich bin … wie man das nennt, Quartalssäufer.« Er schaute auf seine Hände.

Winter sah, dass sie zitterten.

»Manchmal … muss ich wegfahren.« Er blickte auf. »So war es … diesmal.«

»Sie mussten eine Woche verreisen, um zu trinken«, sagte Winter. »Habe ich das richtig verstanden?«

»Ja.«

»Wann haben Sie das beschlossen?«

»Das … das ist kein Beschluss«, antwortete Balker. »Es … kommt einfach so … Plötzlich … muss man weg.«

»Aber Sie spüren doch bestimmt, wenn so ein Schub kommt«, fuhr Winter fort. »Sie müssen das doch … irgendwie planen können?«

»Jaaa«, sagte Balker, »manchmal.«

»Warum sind Sie also ausgerechnet eine Woche vor Weihnachten weggefahren?«

Balker antwortete nicht.

»Weil das Reisen dann am billigsten ist?«, fragte Winter.

Er wusste es. Wie oft hatte seine Mutter, die an der Costa del Sol wohnte, erzählt, wann das Reisen am günstigsten ist. Als ob sie es nötig hätte, sich darüber Gedanken zu machen.

»Ach, ist das so?«, sagte Balker.

Winter saß im Dunkeln in seinem Zimmer. Vom Panasonic blies John Coltrane »Like someone in love« hinaus in die Nacht.

Er hatte Angela angerufen und eine gute Nacht gewünscht, eine stille Nacht.

»Wir trinken den Branntweinpunsch zum Frühstück«, hatte er gesagt. Den wollten sie gerade warm machen, als das Telefon nachts geklingelt hatte, das Diensttelefon.

»Frühstück?«, hatte Angela gesagt. »Für dich ist es wahrscheinlich Mittagszeit, wenn du kommst.«

Mittag. Würde er dann zu Hause sein? Balker war nicht in seiner Wohnung. Sie hatten ihm ein Zimmer im Savoy gebucht, da sie ihn nicht in Untersuchungshaft nehmen konnten – Skånegatan Hilton. Es gab nichts, weshalb man ihn festhalten konnte. Er war nicht im Land gewesen, als seine Frau dem Tod begegnet war.

Pia Fröberg hatte Winter angerufen, kurz nachdem Balker hinaus in die Einsamkeit gewandert war.

»Gestern«, hatte Pia gesagt. »Sie wurde erdrosselt, Donnerstagabend, spät oder in der Nacht zu Freitag, der Nacht zu dem Freitag, an dem Balker nach Hause kam. Aber alles ist Donnerstagabend nach sechs Uhr passiert.«

So viel wusste er selbst. Susanne hatte ihre Arbeitsstelle als Krankenschwester im Sahlgrenschen Krankenhaus am Donnerstag um halb sechs verlassen und war ganz offenbar zu Hause angekommen.

Nach Aussage ihres Mannes hatte er sie um sechs Uhr von seinem Handy aus Puerto Rico auf Gran Canaria angerufen.

Sie hatte sich nicht gemeldet, nicht beim ersten und nicht beim zweiten Anruf. Sie würden die Zeiten überprüfen, die Balker angegeben hatte. Sie würden überprüfen, ob er wirklich in Puerto Rico gewesen war. Aber Winter glaubte nicht, dass er an diesem stillen Abend einen offenherzigen Lügner vor sich gehabt hatte. Dann wäre der Mann verrückt.

Winter wusste, die Mehrzahl aller Gewaltverbrechen wurde von Familienmitgliedern begangen, den nahen Liebsten. Manchmal dachte er, die einzige Möglichkeit, sein Leben zu schützen, wäre, als Eremit in einer Höhle an geheimem Ort zu leben. So weit wie möglich von den Angehörigen entfernt. Das war keine angenehme Vorstellung.

»Wie ist er reingekommen?«, sagte Kriminalinspektor Fredrik Halders. »Der Mörder. Der Erwürger. Er ist jedenfalls nicht eingebrochen, das ist mal sicher.«

Es war Morgen.

Im Konferenzraum roch es nach Kaffee. Winter wusste, dass er nach Alkohol roch, aber nicht mehr lange. Er hatte sein Versprechen gehalten und den Punsch zum Frühstück getrunken, aber nur zwei Zehntelliter. Angela hatte keinen getrunken, sie schlief noch fest, und Elsa auch nicht, die ebenfalls noch schlief, und selbst wenn sie wach gewesen wäre, hätte er seiner Vierjährigen nicht erlaubt, Branntweinpunsch zu trinken. Ja auch keinen Punsch mit Cognac oder Bier.

»Er hatte einen Schlüssel«, sagte Winter. »Oder sie hat ihn reingelassen.«

»Woher wissen wir, dass es ein Er ist?«, fragte Kriminalinspektorin Aneta Djanali und sah sich um.

»Du treibst die Frage der Gleichberechtigung in neue Höhen«, sagte Halders.

»Es gibt tatsächlich auch Mörderinnen«, sagte Aneta.

»Nichts dürfen wir für uns allein behalten«, sagte Halders.

»Was sagt Pia über die Verletzungen?«, fragte Aneta Djanali und sah Winter an.

»Sie wurde mit großer Kraft erdrosselt«, antwortete Winter.

»Also von einem Mann«, sagte Aneta Djanali.

»Davon gehen wir aus«, sagte Winter.

»Das ist doch selbstverständlich«, sagte Halders.

»Hier gibt es nichts, was selbstverständlich ist«, sagte Winter.

»Du riechst nach Schnaps«, sagte Halders.

»Du riechst nach Schweiß«, sagte Winter.

»Mangels Schnaps«, sagte Halders.

»Punsch«, sagte Winter, »es war Punsch.«

»Kann ich das Rezept haben?«, fragte Halders.

»Wenn du dir ein Deodorant zulegst.«

»Wie hieß sie, hast du gesagt?« Bertil Ringmar, der vor der Schreibtafel stand, räusperte sich. Halders und Winter drehten sich zu ihm um.

»Wir müssen also das Privatleben von … Susanne Balker … überprüfen«, sagte Ringmar.

»Nicht nur das Privatleben«, sagte Aneta Djanali. »Der Mord kann auch mit etwas an ihrem Arbeitsplatz zusammenhängen. Mit jemandem.«

Ringmar nickte.

»Es kann auch mit ihm zusammenhängen«, sagte Halders, »Anders Balker.«

»Wie meinst du das?«, fragte Winter.

»Tja … vielleicht hat er was damit zu tun … so in der Art, dass jemand hinter ihm her war und auftauchte, er war nicht zu Hause, und es hat die Frau erwischt.«

Alle schwiegen.

»Es ist nur so ein Gedanke«, sagte Halders.

»Der erste des Tages?«, fragte Aneta Djanali.

»Aber nicht der letzte.« Halders lächelte.

»Oh«, sagte Aneta Djanali, »das wird ein neuer Halders-Rekord.«

Ringmar räusperte sich wieder.

»Ihr habt gehört, was Bertil vorhin gesagt hat«, sagte Winter. »Wir müssen ihr … Leben untersuchen. Sein Leben und das seiner Frau. Arbeitskollegen. Freunde. Bekannte. Die Bekannten von Bekannten.«

»Die Bekannten von den Bekannten der Bekannten«, sagte Halders.

Es zeigte sich bald, dass Halders recht gehabt hatte. Sie mussten lange nach Leuten suchen, zu denen Anders und Susanne Balker Kontakt gehabt hatten. Sie fanden keine Freunde, jedenfalls nicht zu Anfang. Und der Begriff Freunde war eine Frage der Definition. Susanne und Anders Balker waren ein einsames Paar gewesen, einsame Menschen.

Man würde eine Befragung an den Wohnungstüren starten und mit allen reden, die in dem großen Gebäude wohnten, aber niemand würde die beiden kennen, und wenn, dann nur von fern.

Wie nah waren sie einander überhaupt gewesen, würde Winter zwei Tage später denken, und mit der Zeit würde er noch mehr Entdeckungen über das dunkle Verhältnis der Menschen zueinander machen.

Am frühen Nachmittag betrat Aneta Djanali Winters Zimmer. Er stand vorm Waschbecken und wusch sich die Hände mit heißem Wasser.

»Mir war kalt«, sagte er.

»Ich habe mit der Hotelchefin vom Spies in Puerto Rico gesprochen«, sagte Aneta Djanali.

»Da ist es ja bestimmt warm?«, fragte Winter.

»Siebenundzwanzig Grad«, antwortete Aneta Djanali.

»Was hat sie gesagt?«

»Ich habe nach Balker gefragt … wie betrunken er gewesen ist … Ob er die ganze Zeit in seinem Zimmer gesessen und gesoffen hat oder unten am Swimmingpool herumgetorkelt ist.«

»Und?«

»Nichts«, sagte Aneta Djanali.

»Wie bitte?«

»Sie hat noch nie einen Touristen gesehen, der so nüchtern war wie er.«

Erik Winter und Aneta Djanali beendeten den Arbeitstag mit einer Tasse Kaffee in seinem Zimmer. Sie saßen einander am Schreibtisch gegenüber. Zwischen ihnen waren die Untersuchungsunterlagen ausgebreitet.

Plötzlich zuckte sie zusammen, so dass der Kaffee fast überschwappte. Winter sah, wie sie eins der Fotos von der toten Susanne Balker zu sich heranzog. Es war ein friedliches Gesicht.

Während der Besprechung hatten sie die Tatsache diskutiert, dass Aneta im selben Häuserblock wohnte wie Familie Balker, nur zwei Eingänge entfernt. Weniger als fünfzig Meter.

Jetzt hielt sie das Foto in der Hand, als sähe sie es zum ersten Mal.

»Ich erkenne sie tatsächlich.« Aneta schaute Winter an. »Ich habe sie mit einem Mann zusammen gesehen.«

Dann musterte sie wieder das Gesicht der bleichen Frau.

»Aber es war nicht ihr Ehemann.«

Als Aneta Djanali an diesem Abend nach Hause kam, bemerkte sie, dass sie am Morgen vergessen hatte, das Licht im Badezimmer auszuschalten. Im Vorraum lag ein Lichtstreifen, da es draußen schon dunkel war.

So ein Lichtstrahl ist behaglich, wenn man nach Hause kommt, dachte sie. Nächstes Mal muss ich wieder vergessen, das Licht auszuschalten. Falls ich mich daran erinnere.

Sie ging in die Küche und ließ Wasser in den Wasserkocher laufen, stellte ihn an, legte ein Tee-Ei in eine Tasse und goss dann Milch und das kochende Wasser darüber. Sie ging mit der Tasse in das größere Zimmer auf der anderen Seite des Flurs, setzte sich in den Sessel, legte die Füße auf einen Schemel und sagte »Aahhhh«, nahm vorsichtig einen Schluck und versuchte einige Minuten lang nichts zu denken, aber das gelang ihr nicht.

Soll ich Weihnachten mit Fredrik und seinen Kindern feiern?, dachte sie. Soll ich allein hier rumhocken?

Oder soll ich einen Flug nach Afrika buchen und in Papas Haus sitzen und ihm Sachen erzählen, die er am liebsten vergessen möchte, um es in dem Sturm und der ewigen Hitze auszuhalten?

Aneta Djanali war im Östra-Krankenhaus in Göteborg geboren worden, ihre Eltern kamen aus Burkina Faso, das damals Obervolta hieß. Als sie erwachsen war, beschlossen ihre Eltern, in die Hauptstadt Ouagadougou zurückzukehren, aber für Aneta war es selbstverständlich gewesen, in dem Land zu bleiben, in dem sie geboren war. Sie verstand, warum ihre Eltern in das Land, in dem sie geboren waren, zurückkehren wollten, ehe es zu spät war.

Ihre Mutter war gerade rechtzeitig zurückgekehrt, aber höchstens für zwei Monate. Sie wurde in der harten ausgebrannten Erde am Nordrand der Stadt begraben.

Ihr Vater zerbrach sich lange den Kopf darüber, ob die Rückkehr den Tod verursacht hatte, zumindest indirekt.

Aneta blieb bei ihm in der Hauptstadt, solange er es wünschte.

Mit großen Augen ging sie durch Straßen, in denen sie ihr ganzes Leben hätte verbringen können, statt als Fremde zurückzukehren. Hier sah sie wie alle anderen aus, sie hätte sich mit ihnen auf Französisch unterhalten können, wenn sie es gewollt hätte – jedenfalls mit denen, die zur Schule gegangen waren. Und manchmal tat sie es. Ohne Aufmerksamkeit zu erregen, konnte sie weiter bis zur Stadtgrenze und hinaus in die Wüste gehen, die unmittelbar dahinter begann, ja die sogar in die Stadt eindrang, sie manchmal mit ihrem scharfen Wind überfiel. Sie hatte den Wind gespürt, als sie im Haus ihres Vaters saß, in der weißen Hütte.

Jetzt hörte sie den schwedischen Wind. Er war runder und weicher – und kälter.

Aneta Djanali erhob sich und trug die Tasse in die Küche. Sie dachte wieder an Fredrik Halders.

Vor einem Jahr hatte er seine Exfrau verloren, sie war von einem Betrunkenen überfahren worden und daraufhin gestorben.

Sie hatten angefangen, sich zu treffen, sie und Fredrik. Sie lernte seine Kinder kennen, Hannes und Magda. Die beiden akzeptierten ihre Anwesenheit in ihrem Zuhause, akzeptierten sie wirklich.

Sie mochte Fredrik, seine Person. Ihr Jargon hatte sich in eine andere Richtung entwickelt.

Das Telefon klingelte.

»Ja?«

Es war Fredrik.

»Was machst du?«

»Nichts«, antwortete sie.

Was hätte sie sagen sollen? Ich denke an dich, Fredrik.

Vielleicht hätte sie genau das sagen sollen.

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