WintersSchlaf - Catrine Bauer - E-Book
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WintersSchlaf E-Book

Catrine Bauer

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Beschreibung

WENN DIE STIMMEN DER SCHIENEN VOM EWIGEN SCHLAF SINGEN ...

Christians Reise nimmt eine dramatische Wendung, als im Zug ein Mord geschieht und er als Verdächtiger inhaftiert wird. Eigentlich wollte er nur seine Frau in Wien besuchen, um ihr beim Umzug zu helfen. Fassungslos beteuert er seine Unschuld, während er abgeführt wird. Auch Kommissarin Henrietta Winter, genannt Henry, glaubt nicht daran, dass er der Täter ist. Sie will seine Unschuld beweisen und begibt sich auf eine gefährliche Spurensuche. Dabei stößt sie auf ein dichtes Netz aus Intrigen und Geheimnissen, das bis in ihre Heimatstadt Tübingen reicht. Zur selben Zeit wird in Tübingen die Leiche eines Arztes gefunden. Gibt es eine Verbindung zwischen dem toten Mediziner und dem Ermordeten aus dem Zug? Hinweise führen Henry und ihre Kollegen Daniel Faber und Jim Schätzle zu einer dubiosen Klinik, in der sich bereits mehrere rätselhafte Todesfälle ereignet haben. Die Zeit drängt, denn es könnte weitere Opfer geben. Gelingt es den Ermittlern, das Rätsel zu lösen und den wahren Täter zu finden?

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Seitenzahl: 405

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Dieses Buch widme ich zwei Menschen:Micha, weil du das beste Marketing machst, mir beim Abendessen Fragen zur Polizeiarbeit beantwortest und weil du mir jeden Morgen Cappuccino ans Bett bringst,undChristian, weil niemand so viel Zeit und Energie in die Entstehung meiner Bücher steckt wie du und weil du die Brücken über die Abgründe baust, die sich manchmal beim Schreiben auftun.DANKE!

Der Roman spielt hauptsächlich in bekannten Regionen, doch bleiben die Geschehnisse reine Fiktion. Sämtliche Handlungen und Charaktere sind frei erfunden.

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über https://www.dnb.de© 2025 Niemeyer Buchverlage GmbH, Osterstraße 19, 31785 [email protected] Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: C. RiethmüllerDer Umschlag verwendet Motiv(e) von 123rf.comEPub-Produktion durch CW Niemeyer Buchverlage GmbHeISBN 978-3-8271-8717-8

Catrine BauerWINTERSSCHLAFHenry Winters dritter Fall

12. Oktober

Natalia betrachtete ihr Spiegelbild auf der Bahnhofstoilette. Ihr Körper wurde von einem eng anliegenden Kleid umhüllt, das ihre schlanke Figur betonte. Es war elegant und schlicht, mit einem hohen Kragen und langen Ärmeln, die ihre Arme umschmeichelten. Es endete knapp über den Knien und ließ ihre sportlichen Beine zur Geltung kommen. Ihre Haare fielen in glänzenden Wellen über ihre Schultern und rahmten ihr ebenmäßiges Gesicht ein. Sie sah sich in die Augen. Manchmal vermisste sie die Arbeit im Krankenhaus, doch ihr jetziger Beruf brachte eine andere Art von Erfüllung. Der Job, den sie seit einigen Jahren ausübte, machte ihr auf seine eigene Weise Spaß. Sie verdiente damit nicht nur viel Geld, sondern konnte auch die ganze Welt bereisen. Normalerweise bevorzugte sie das Flugzeug, aber da ihre Zielperson den Nachtzug nahm, hatte sich ihr Auftraggeber dazu entschieden, Natalia ebenfalls damit fahren zu lassen.

In ihrer Handtasche befanden sich ein Taser und ein Kubotan – mehr brauchte sie nicht. Sie sah auf die Uhr. Der Nachtzug nach Wien würde in nicht einmal zwei Stunden abfahren. Mit einem letzten prüfenden Blick holte sie einen roten Lippenstift aus ihrer Tasche und zog ihn über ihre vollen Lippen. Sie war bereit für die bevorstehende Aufgabe – bereit, jemandem das Leben zu nehmen.

***

Der Herbst hatte Tübingen fest im Griff. Die Blätter wirbelten im eisigen Wind von den Bäumen, und die Straßen waren menschenleer, nur ab und zu huschte eine Gestalt gehetzt von einem Gebäude zum anderen, versucht, der rauen Kälte zu entkommen. Vor wenigen Stunden hatte es noch geschüttet wie aus Eimern. Allerdings war es nicht möglich gewesen, einen Regenschirm aufzuspannen, ohne dass dessen Metallstreben vom Wind verbogen worden wären. Die Menschen hielten sich lieber in den warmen Gebäuden auf, als freiwillig spazieren zu gehen. Die Tage wurden kürzer, die Nächte länger, und die Bewohner der Universitätsstadt sehnten sich nach Wärme, die sie bei einem heißen Tee in den gemütlichen Cafés fanden, während der Herbst sich kühl über der Stadt ausbreitete.

Fabian Weber packte seine letzten Sachen zusammen, um am Abend nach Wien zu reisen. Er hatte viel vor. Seiner Frau hatte er gesagt, es handle sich um eine Dienstreise. Sie glaubte ihm ohnehin jedes Wort. Wenn er mit dieser Sache durch war, würde sie ihn verstehen. Die Dokumente, die alles beweisen würden, waren das Wichtigste. Er kontrollierte, ob er alles eingepackt hatte.

Fabian sah in den Spiegel, der sich am Wandschrank in seinem Schlafzimmer befand. Zwischen den braunen Haaren waren mittlerweile viele weiße gewachsen. Es wunderte ihn nicht, bei all dem, was passiert war. Fabian würde nicht lange in der österreichischen Hauptstadt bleiben, weshalb er nur das Nötigste einpackte. Eigentlich verwunderte es ihn, dass man heutzutage noch so weit verreisen musste, um Unterlagen zu übergeben, und sie nicht einfach per Mail schicken konnte. Aber Ella Berger wollte sie im Original haben. Aus irgendeinem Grund war das von besonderer Wichtigkeit. Und nur er durfte sie ihr bringen und mit niemandem darüber sprechen. Fabian kannte sich damit nicht aus, und er vertraute ihr. Es war schließlich ihr Job, immerhin war sie eine angesehene Journalistin, während er es nie zu etwas gebracht hatte. Das Abitur hatte er noch geschafft, hatte eigentlich studieren wollen, aber dann war alles anders gekommen. Der plötzliche Tod seines Vaters hatte ihn gezwungen, schnell Geld nach Hause zu bringen. Er hatte sich immer wieder gesagt, dass er später studieren könnte, dass es nur eine vorübergehende Verantwortung war. Doch die Jahre vergingen, und aus der Überbrückung wurde eine dauerhafte Realität. Trotzdem war sein Leben irgendwie in Ordnung gewesen, bis er diesen Auftrag angenommen hatte. Dieser Auftrag, der schuld daran war, dass er letztlich nach Tübingen ziehen musste. Genau hier war seine Welt dann zusammengebrochen.

Er betrachtete das Bild auf dem Nachttisch, auf dem er, seine Tochter und seine Frau zu sehen waren. Es waren glückliche Zeiten gewesen, letztes Jahr im Frankreich-Urlaub. Der Wind am Atlantik hatte ihre Haare zerzaust, und es war nicht so einfach gewesen, ein Selfie von allen dreien zu machen. Dennoch liebte er dieses Foto, weil es einen der letzten glücklichen Momente ihres gemeinsamen Familienlebens zeigte. In den vergangenen Monaten war alles in die Brüche gegangen. Er und seine Frau lebten nur noch nebeneinanderher. Das alles war seine Schuld. Aber nun konnte er vieles wiedergutmachen. Vielleicht würde es ihn und Caroline wieder näher zusammenbringen.

Fabian Weber schloss den Aktenkoffer mit einem lauten Klicken, zog ein graues Sakko über sein weißes T-Shirt und schnürte sich geduldig die Schuhe zu. Die Stille in diesem Haus, das ihm von Tag zu Tag dunkler erschien, war fast nicht mehr zu ertragen. Vielleicht würde es ihm sogar guttun, wenn er ein wenig rauskam. Wenn er Abstand zu seiner Frau hatte und jeder für sich selbst ein bisschen nachdenken konnte. Er sah auf die Wanduhr, die das einzige Geräusch im Raum machte. Es war Nachmittag. Er würde zu Fuß nach Lustnau gehen und die Herbstluft genießen. Von dort aus würde er den Bus zum Bahnhof nehmen. Nichts brauchte er mehr als frische Luft, Luft zum Atmen. In diesem Haus erdrückte ihn mittlerweile alles. Jedes Möbelstück, jedes Bild, jedes Staubkorn presste eine schmerzhafte Erinnerung in seinen Kopf. Er musste nur einmal umsteigen. In Stuttgart würde er den Nachtzug nach Wien nehmen.

Fabian Weber verließ sein Haus, in der Hand den schwarzen Aktenkoffer, bereit, alles zu riskieren. Er war sich durchaus darüber im Klaren, dass er sein Leben aufs Spiel setzte. Aber nichts war ihm gleichgültiger als das. Er hatte nichts mehr zu verlieren, und es konnte nur besser werden.

Während er die Straße hinunterging, überkam ihn ein Gefühl der Wehmut. Er erinnerte sich an die Tage, als er gemeinsam mit seinem Mädchen durch die Parks spazieren gegangen war. Diese Erinnerungen waren Licht und Schatten in einem.

Die Straßen waren ruhig, und auch die Laternen waren bereits angegangen und warfen einen gedämpften Schein auf den Gehweg. Nur das leise Knistern von Blättern in der Dämmerung durchbrach die Stille. Fabian genoss die Kühle des Herbstes, während er langsam voranschritt. Die Gedanken an die Vergangenheit und die Ungewissheit der Zukunft vermischten sich in seinem Kopf. Doch er zwang sich, nicht darüber nachzudenken. Er konzentrierte sich nur auf den Moment, auf den Klang seiner Schritte auf dem Pflaster und das Rascheln der vertrockneten braunen Blätter unter seinen Schuhen.

Die Herbstluft füllte seine Lungen und brachte ihm Ruhe, die er seit Monaten nicht gespürt hatte. Trotz der Anspannung, die in ihm war, fühlte er eine gewisse Gelassenheit, weil er wusste, dass er das Richtige tat. Es war, als ob der Herbst ihm Mut machte, Trost spendete, eine Erinnerung daran war, dass auch nach dunklen Zeiten wieder bessere Tage kommen würden. Als er die Haltestelle erreichte, sah er schon die Lichter des Stadtbusses.

Er setzte sich in die erste Reihe, direkt hinter den Busfahrer. Die Scheiben waren beschlagen, die Luft im Bus war stickig und feucht. Mit der Hand wischte er das Kondenswasser von der Scheibe und sah nach draußen, wo die Stadt an ihm vorbeizog. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Er war bereit, alles zu tun, um die Wahrheit ans Licht zu bringen.

***

Kriminalkommissarin Henrietta Winter saß an ihrem Schreibtisch im Kommissariat und starrte auf den Bildschirm ihres Computers. Eine Unruhe lag in der Luft, die sie nicht zuordnen konnte. Vielleicht lag es daran, dass Christian heute noch die Stadt verlassen würde. Oder es war diese kalte Herbststimmung, die erdrückend über allem lag.

Ihr gegenüber saß Kriminalhauptkommissar Daniel Faber. Obwohl es im Büro warm war, zog er immer wieder die Schultern hoch und wickelte seine Lederjacke fest um seinen Oberkörper. Sie saß eng, was daran lag, dass Faber in den letzten Monaten viel trainiert hatte.

Henry lächelte und schüttelte den Kopf.

„Was?“, fragte Daniel. „Ich weiß, dass euch Schweden das nichts ausmacht, aber ich bin ein ...“, er überlegte kurz, „... thermischer Eskapist. Oder so.“

„Ja ja.“ Henry warf ihr kastanienbraunes Haar nach hinten. Die braunen Locken waren lang geworden. „Wir Schweden.“ Sie malte mit den Fingern Gänsefüßchen in die Luft. „Schon klar. Wir sind alle blond und blauäugig, lieben Schnee und Eis, ernähren uns von Zimtschnecken und Köttbullar und haben alle einen Elch im Garten.“

Daniels Bürostuhl knarrte bedrohlich, als er sich darin zurücklehnte. „Also zumindest das mit den Zimtschnecken stimmt ja bei dir, oder? Außerdem hast du vergessen, dass ihr alle super schwimmen könnt, wegen der vielen Seen.“

Henry schnaubte gespielt. „Jetzt fang nicht wieder damit an.“

Seit der Neckar-Mordserie im Sommer zog Faber sie auf, weil sie nur das Rettungsschwimmabzeichen Bronze hatte. Und selbst das hatte sie nur mit Ach und Krach erlangt, was nicht nur an ihrer panischen Angst vor Wasser gelegen hatte, sondern auch an den stechenden Schmerzen in den Ohren, die sie ab einer Tiefe von zwei Metern verspürte. Henry war stolz, dass sie ihre Aquaphobie weitgehend überwunden hatte, und erinnerte sich nur zu gut daran, wie schlimm es damals auf der Polizeischule gewesen war, das bronzene Abzeichen zu erlangen. Faber prahlte immer mit seinem goldenen Rettungsabzeichen, dabei war Henry sich eigentlich sicher, dass er es sich irgendwo auf dem Schwarzmarkt erkauft hatte. Bei seiner Kondition.

„Okay, weißt du was?“, sagte sie bestimmt. „Wir schließen eine Wette ab: Wenn ich das silberne Abzeichen bekomme, backst du mir ein paar Zimtschnecken und übernimmst eine Woche lang die lästigsten Aufgaben im Büro. Und wenn ich es nicht schaffe, mache ich das Gleiche für dich.“

Daniel lachte. „Super, die Wette gilt! Dann kannst du dich schon mal darauf freuen, die Druckerpatronen zu wechseln und Protokolle zu schreiben, während ich die Zimtschnecken genieße.“

Irgendwie musste sie das mit dem Tauchen hinbekommen, vielleicht gab es irgendeinen Trick, den sie nicht kannte. Schon im Teenageralter war sie bei einem Arzt gewesen, der ihr Tipps gegeben hatte, wie sie das mit dem Druckausgleich hinbekommen würde, aber wirklich angegangen war sie es nie. Nun wurde sie bald sechsunddreißig und hatte es immer noch nicht geschafft. Wenn sie freiwillig das silberne Abzeichen machte, war das der letzte Schritt weg von der Aquaphobie und hin zur Normalität. Dann würde sie Doktor Frobenius, ihren alten Psychiater in Stockholm, anrufen und ihm erzählen, dass sie vollständig geheilt war.

Daniel, der gerade an ihr vorbeiging, um einen Ordner ins Regal zurückzustellen, knuffte sie in die Seite. „Ist doch prima, dann kannst du daheim die betrunkenen Elche ganz professionell mit einem Fesselschleppgriff aus dem See ziehen.“

Henry verdrehte grinsend die Augen. Ein Blick auf die Wanduhr verriet ihr, dass es vier Minuten nach fünf war. „Wo bleibt eigentlich Christian? Wir wollten doch in aller Ruhe zum Bahnhof gehen.“

„Jetzt schon? Musst du ihm noch ein Billyregal aufbauen?“

„Nee, ich muss ein Rentier aus dem Motor seines Volvos ziehen. Mit teuren Autos kennst du dich ja sicher aus. Das heilige Blechle ist doch das Einzige, wofür ihr Schwaben Geld ausgebt. Apropos: Hast du eigentlich deine Kehrwoche schon erledigt?“

Noch bevor Daniel Luft holen und den Ball zurückschießen konnte, öffnete sich die Tür.

„Servus, ihr zwei!“ Christian trug einen warmen Tweedmantel, dessen Knopf auf Bauchhöhe bedrohlich spannte, und schüttelte sich die Kälte von den Schultern. Hinter sich her zog er einen kleinen Rollkoffer.

„Jetzt kommt auch noch ein Ösi ins Spiel.“ Daniel seufzte gespielt. „Heute ohne Lederhose unterwegs?“

„Entschuldigung? Ich wollte dich durch meine alpenländliche Eleganz nicht in Verlegenheit bringen.“ Christian grinste und kratzte sich am ergrauten Haar, das er immer noch zu einem Zopf gebunden trug, wobei sich so langsam lichte Stellen am Oberkopf zeigten.

„Vergiss ihn“, winkte Henry ab. „Er hat mal wieder den internationalen Tag der Vorurteile ausgerufen.“

Christian stand immer noch verloren im Raum. „Wie siehst du eigentlich aus?“ Er sah Henry an. „Hast du schon wieder ned geschlafen?“

Die Kommissarin winkte ab. „Mein Leben ist halt zu aufregend für Schlaf. Bist du bereit für die große Reise?“

„Ah geh.“ Er setzte sich auf den Stuhl, auf dem sonst nur Zeugen saßen. Oder Kollegen. Manchmal auch Klaus Pankow, ihr Vorgesetzter, wenn der mal wieder von einem Wutanfall ergriffen wurde. Ansonsten zitierte er Henry und Daniel lieber in sein eigenes Büro, wo er dann auf seinem Stuhl saß wie auf einem Thron, mit seinem Kugelschreiber in der Hand in der Luft herumfuchtelte und irgendeinen Vortrag über dienstliche Verpflichtungen hielt.

„Habt’s no an Kaffee?“, fragte Christian in vertrautem Wienerisch.

Henry ging zur Kaffeemaschine und ließ eine Tasse für ihren alten Freund ein.

„Na, da kann sich die Schwedin ja mit dem Ösi zusammentun, wenn’s um Kaffeepausen geht“, trällerte Daniel. „Wie heißt das Kaffeekränzchen noch mal auf Schwedisch? Fika?“

„Genau das“, sagte Henry monoton. „Und nein, das ist nicht lustig.“

„Och“, sagte jetzt Christian. „A bisserl lustig is es ja scho.“ Er grinste Faber an. „Hat sie dir scho verraten, was Taschenlampe auf Schwedisch heißt?“

„Untersteh dich!“, fauchte Henry und knallte Christian die Tasse mit dem Kaffee auf den Tisch. Das Getränk schwappte über. „Das hör ich mir dann fünf Jahre an!“

„Sag’s mir.“ Daniel Faber klang interessiert. „Ich würde es jetzt sowieso im Internet suchen, dann kannst du es mir auch direkt verraten.“

Christian beugte sich zu Faber vor und machte eine bedeutungsschwere Pause. Dann grinste er breit. „Ficklampa!“

Daniel prustete. „Sorry, Henry, aber das ist wirklich lustig!“

„Wenn man in der siebten Klasse ist, vielleicht.“ Sie schüttelte den Kopf. „Ihr seid so richtig doof!“

Grinsend drehte Faber seinen Monitor wieder zu sich und tat geschäftig.

Henry setzte sich auf ihren Stuhl. „Beate wartet bestimmt schon sehnsüchtig auf dich und deine blöden Sprüche.“

Christian öffnete jetzt die Knöpfe seines Mantels. „Die is doch selber schuld, wollt ja ned mit mir hierbleiben, sondern lieber nach Wien zurück.“

Er hatte erst vor vier Wochen eine Stelle an der Universität angenommen und arbeitete jetzt als Dozent für Rechtsgeschichte, spezialisiert auf altes römisches und deutsches Recht. Seine Frau Beate hatte die Chance genutzt, um in das seit Jahren leer stehende Haus in Wien zurückzukehren. Beide waren froh, dass sie Schweden hinter sich gelassen hatten. Seit Henry von dort weggegangen war, war es ihnen noch langweiliger erschienen als zuvor schon. Er war nicht der Typ für ausgedehnte Wanderungen durch die Natur und Baden in glitzernden Seen. Dass Christian jetzt eine Stelle in Tübingen bekommen hatte, war für ihn wie ein Sechser im Lotto. Es war nicht nur, dass er bei seiner guten Freundin Henry war, die maßgeblich dazu beigetragen hatte, dass er diese Stelle überhaupt bekommen hatte. Endlich konnte er das tun, was er schon immer geliebt hatte: den lieben langen Tag über Rechtsgeschichte philosophieren, was er in jungen Jahren in Wien als Assistent an der Uni gemacht und seither immer ein wenig vermisst hatte. Auch Henry war froh, dass er ein Ventil für seine Vorträge hatte, die er ansonsten ja gerne ihr hielt, ob sie wollte oder nicht. Sie fand, dass Christian aussah wie ein typischer verrückter Professor, mit dem langen grauen Zopf und den paar Kilo zu viel auf den Rippen.

Nachdem Christian den Bürokaffee, den er abwertend als „Gschloder“ bezeichnete, getrunken hatte, begleitete ihn Henry zum Bahnhof. Die Kälte wehte ihnen ins Gesicht, als sie durch die windigen Straßen Tübingens gingen. Die kahl werdenden Bäume und der graue Himmel verstärkten das unangenehme Gefühl.

Die Stadt, normalerweise lebendig und bunt, wirkte heute trostlos und verlassen. Da sie noch Zeit hatten, hatten sie sich dazu entschlossen, einen Umweg durch den Anlagenpark zu gehen. Auf dem See drehten ein paar Stockenten ihre Runden, aber selbst ihnen schien das Wetter trotz des dichten Gefieders nicht zu gefallen. Henry zog ihren Mantel enger um sich und sah zu Christian hinüber. Sein Tweedmantel bot ihm zwar Schutz vor der Kälte, aber der Wind schien durch jede noch so kleine Lücke zu pfeifen. Die wenigen Passanten, die ihnen begegneten, waren in Schals und Mützen gehüllt und hasteten mit gesenkten Köpfen vorbei.

Sie erreichten den Bahnhof, wo die hektische Betriebsamkeit der Reisenden sie umfing. Ein paar Menschen eilten von einem Gleis zum anderen, schwere Koffer hinter sich herziehend. Es war laut und ungemütlich. Die Lautsprecheransagen hallten durch die kalte Luft.

„Ich kann dich ja dann in fünf Tagen hier wieder abholen, wenn du magst?“ Henry kickte einen kleinen Stein auf die Gleise, der klappernd davonsprang. Der Hall verschwand schnell im Lärm des Bahnhofs.

„Des musst ned. Kannst aber gern machen, wennst magst.“ Christian zog Henry zu sich und umarmte sie so fest, dass sie beinahe keine Luft mehr bekam. Die Wärme seines Körpers tat bei diesen Temperaturen gut, und für einen Moment vergaß sie die Kälte um sich herum. „Aber dann bringst bitte Juno mit, ja?“

Henry nickte. Der weiße Schäferhund war noch bei ihrem Vater, der, wenn er nicht gerade für Lesungen unterwegs war, nach dem Tier sah. „Die wäre sicher in den See gehüpft“, sagte sie grinsend.

„Eh klar. Mach’s gut, Henry. Und wenn i zurück bin, reden wir noch mal darüber, ob des mit dem Rettungsabzeichen so eine gute Idee ist. Dafür gibt’s doch Profis, um jemanden von so einer Phobie zu heilen. Kann man da ned a Verhaltenstherapie oder so was machen?“

Henry lächelte. „Ich war Jahrzehnte beim besten Psychiater Stockholms. Den Rest mache ich jetzt alleine.“

Christian schüttelte den Kopf, dann fuhr er ihr übers Haar. „Meine Henry halt.“ Er zog sie noch einmal fest an sich, und sie konnte spüren, wie sich sein Brustkorb mit jedem schweren Atemzug hob und senkte. Es war wunderbar, dass er jetzt mit ihr in Tübingen war. Was gab es Schöneres, als einen Freund in der Nähe zu wissen.

Als die letzte Durchsage ertönte, stieg er in den Zug und winkte ihr noch einmal durch das erste Fenster, an dem er vorbeikam.

Henry starrte lange den immer kleiner werdenden Rücklichtern des Zugs nach, nicht ahnend, dass dieser Abschied der Beginn einer unerwarteten Herausforderung sein würde.

***

Vorsichtig betrat Fabian in Stuttgart den Nachtzug. Immer wieder schweifte sein Blick herum, aber da war niemand. Niemand schien ihm zu folgen. In ein paar Stunden würde alles vorbei sein, dann würde die Gefahr, entdeckt zu werden, keine Rolle mehr spielen. Lange hatte er auf diesen Moment hingearbeitet und alles andere seinem Ziel untergeordnet. Jetzt war es so weit, es musste geschehen.

Fabian Weber ließ sich in seinem Abteil nieder und lehnte sich entspannt in den Sitz zurück. Sein Herz schlug schneller als gewöhnlich, aber es war kein Gefühl von Angst, das ihn erfüllte, sondern eine Mischung aus Aufregung und dem festen Willen, alles auffliegen zu lassen. Er hatte lange genug gewartet und geplant, und jetzt war der Moment gekommen, in dem er die Früchte seiner Mühen ernten würde.

Während der Zug langsam anfuhr und die Landschaft draußen vorbeizog, nahm er seinen Aktenkoffer heraus und öffnete ihn. Das Klacken der Verschlüsse hallte leise durch das Zugabteil. Ein Stapel Dokumente lag ordentlich sortiert darin, jede Seite ein Puzzleteil in seinem großen Plan. Diese Dokumente waren weit mehr als nur Papiere. Sie waren der Schlüssel zu allem, was er vorhatte. Sie waren der Beweis für das Unrecht, das geschehen war, und die Grundlage für das, was er nun tun würde. Er überflog die Seiten noch einmal, obwohl er sie bereits auswendig kannte. Jedes Wort, jede Unterschrift und jeder Stempel waren ihm vertraut. Trotzdem stieg bei jedem Lesen immer noch Wut in ihm hoch, doch jetzt fühlte er eine tiefe Genugtuung darüber, dass er endlich die Chance hatte, die Wahrheit ans Licht zu bringen. Er wusste, dass diese Dokumente nicht nur sein eigenes Schicksal, sondern das vieler anderer Menschen beeinflussen würden. Er war bereit, alles zu tun, um sicherzustellen, dass die Wahrheit ans Licht kam und Gerechtigkeit walten konnte.

Die Stunden vergingen, und der Zug fuhr unaufhaltsam Richtung Wien. Fabian saß ruhig da, seine Gedanken waren bei seiner Frau, die er zurückgelassen hatte, und bei all den Menschen, die von seinem Schachzug betroffen sein würden. Es gab keine Umkehr mehr, keinen Weg zurück. Er hatte sich für diesen Weg entschieden, und er würde ihn bis zum Ende gehen, koste es, was es wolle. Als wolle er sich selbst bestätigen, nickte er seinem Spiegelbild in der Fensterscheibe zu.

Bevor er sich schlafen legte, wollte er sich noch eine Kleinigkeit im Bordrestaurant holen. Es war die Einsamkeit, die ihn immer wieder unter die Menschen trieb. Seit er seine Frau geheiratet hatte, hatte er nie wieder engeren Kontakt zu anderen Frauen gehabt, obwohl er gerne einmal aus seiner eintönigen Routine ausgebrochen wäre. Irgendwie vermisste er das Abenteuer. Früher hatte er jede Menge Spaß gehabt, aber jetzt schien seine innere Traurigkeit die Frauen zu vertreiben, noch bevor sie ein Gespräch beginnen konnten. Die Erinnerung an vergangene Begegnungen, an verpasste Chancen, drängte sich ihm auf, während er langsam durch den Gang des Zuges schlenderte. Er fragte sich, wie es wäre, wenn er den Mut hätte, sein Leben vollständig zu ändern, wenn er sich öffnen könnte für ganz neue Möglichkeiten.

Diese Frau, die jetzt neben ihm im Bordbistro auf ihr Getränk wartete, war anders. Er hatte ihr einfach einen Drink spendiert, so wie früher. Sie war attraktiv und durchtrainiert, trug ein schwarzes Strickkleid, das ihre Figur betonte, und einen auffälligen roten Lippenstift. Caroline, seine Frau, hatte sich lange nicht mehr so hübsch für ihn gemacht. Die meiste Zeit vergrub sie sich zu Hause in ihren Büchern. Das selbstbewusste Auftreten der Frau und ihr charmantes Lächeln faszinierten ihn. Sie schien interessiert an ihm und seiner Arbeit, und sie kamen schnell ins Gespräch. Er war es gar nicht mehr gewohnt zu flirten, aber es fühlte sich großartig an. Sie sprach nur Englisch, was ihn nicht störte. Er hatte lange in einer Spedition gearbeitet, weshalb sein Englisch sehr gut war. Er war nicht nur in den skandinavischen Ländern gewesen, sondern auch in Italien oder Spanien. Eigentlich war die Zeit nicht schlecht gewesen, zumindest anfangs. Er erzählte nicht von seiner Frau, nicht von seiner Tochter, aber von seiner Arbeit und vom Klettern, seinem großen Hobby. Früher war er regelmäßig im niedersächsischen Wesergebirge geklettert. Manchmal war er sogar mit Freunden ins österreichische Zillertal gefahren. Heute fuhr er nur noch einmal im Monat ins Boulderzentrum.

Er genoss die kurze Ablenkung, die das Gespräch ihm bot, obwohl sie nicht viel von sich erzählen wollte. Die Zeit verging schnell, und als die Frau sich schließlich verabschiedete, umarmte er sie mit einem knappen Lächeln. Was hatte er schon zu verlieren? Auf einen Korb mehr kam es auch nicht an, doch die Frau erwiderte seine Umarmung und ging dann in ihr Abteil. Es war selten geworden, dass er sich so leicht von seiner Schwermut ablenken ließ, aber es tat gut, für einen Moment vergessen zu können, was auf ihn zukommen würde. Mit einem Seufzen lehnte er sich zurück und schloss die Augen, während der Zug weiter durch die Nacht fuhr.

***

Der Zug von Stuttgart nach Wien war voller als erwartet. Christian war froh, dass er ein eigenes Abteil im Schlafwagen reserviert hatte.

Nachdem er seinen Koffer behutsam auf der Gepäckablage platziert hatte, gestaltete er sich seinen Platz mit einer geradezu liebevollen Hingabe. Jeder Handgriff schien wohlüberlegt, als er alles, was er während der Fahrt benötigte, akribisch auf dem Tisch arrangierte: seine Lesebrille, ein fesselndes Buch von Lee Child und seine Thermosflasche, gefüllt mit duftendem Kräutertee. Die sanfte Gleitbewegung des Zuges und das gedämpfte Licht der Abteilkabine schufen eine Atmosphäre der Ruhe und Entspannung. Für Christian war die Wahl des Nachtzugs nicht nur eine pragmatische Entscheidung, sondern auch eine Möglichkeit, die Zeit effektiv zu nutzen. Zwar benötigte der Nachtzug zehn Stunden statt sieben, aber er empfand es als zeitökonomischer, während der Fahrt zu schlafen. Als erfahrener Weltenbummler hatte er schon viele Stunden in Flugzeugen und Zügen verbracht und sich daran gewöhnt, unterwegs zu schlafen oder zu arbeiten. Sein finanzielles Polster erlaubte es ihm, ein eigenes Abteil zu buchen, was ihm die nötige Privatsphäre für seine Gedanken und Vorbereitungen gab. Er konnte einfach ein wenig lesen oder den Nachthimmel durch das Fenster beobachten. Christian erinnerte sich an die klaren Nächte in Schweden, als er mit seinem großen Teleskop die Sterne beobachtet hatte. Dort, weit weg von den Lichtern der Stadt, war der Himmel ein unendliches Universum voller Geheimnisse und Wunder. In Tübingen war die Situation anders. Die Lichter der Stadt drangen von allen Seiten in die Dunkelheit und störten die klare Sicht auf den Nachthimmel. Dennoch hatte er die örtliche Sternwarte besucht, deren fünf Meter langes Teleskop eine beeindruckende Sicht auf die Sterne bot, selbst wenn die Stadt um sie herum langsam wuchs und sie umgab.

Er legte sich mit seinem Buch auf das Bett und ließ den Tag mit ein wenig Literatur ausklingen. Seine Augen waren schwer, aber zumindest das Kapitel wollte er fertig lesen.

Gerade als er gemeinsam mit Jack Reacher, dem Helden seines aktuellen Buches, einem bewaffneten Auftragskiller gegenüberstand, wachte Christian auf, weil er auf die Toilette musste. Sein Buch lag am Boden, daneben die brennende Leselampe. Er war wohl beim Lesen sofort eingeschlafen. Er stand langsam auf, noch immer etwas benommen, schüttelte den Kopf, um sich zu orientieren, und hob sein Buch vom Boden auf. Die ebenfalls abgestürzte Leselampe flackerte kurz und erlosch dann, was ihn dazu veranlasste, sie brummend zu schütteln, bis sie wieder leuchtete, und sie zurück auf den Tisch zu stellen. Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass er nicht allzu lange geschlafen hatte.

Mit einem Seufzen nahm Christian sein Portemonnaie, das er nie allein zurückließ, verließ sein Abteil und begab sich auf den Weg zur Toilette. Die Flure des Zuges wirkten gespenstisch still und verlassen. Das monotone Rattern der Räder begleitete ihn auf seinem Weg. Der Schaffner ging an ihm vorbei und grüßte ihn höflich, bevor er in einem der benachbarten Abteile verschwand.

Christian ging weiter und beobachtete im Vorbeigehen die schlafenden oder gedankenverlorenen Passagiere hinter den Fenstern der Abteile. Die gleichmäßigen Bewegungen des Zuges schienen eine beruhigende Wirkung auf die Reisenden zu haben. Er erreichte die Toilette und betrat den engen Raum. Das kalte, sterile Licht ließ sein Spiegelbild blass und müde erscheinen. Seine Haare waren wild zerzaust. Er sollte dringend zum Friseur, dachte er, während er sich die Hände und das Gesicht wusch und versuchte, sein Haar notdürftig zu glätten. Tief durchatmend trocknete er sich das Gesicht mit einem Papiertuch ab.

Christian trat wieder in den Flur hinaus. Ein kurzes Zögern überkam ihn, als er den stillen, fast unheimlichen Gang hinuntersah. Mit einem letzten Blick in den Spiegel stellte er sicher, dass er einigermaßen präsentabel aussah, und machte sich dann auf den Weg zurück zu seinem Abteil. Er öffnete die Tür und trat ein, bereit, wieder ins Bett zu sinken und die restliche Reise so angenehm wie möglich zu gestalten. Sein Abteil war stockdunkel. Ein Fluch entwich leise seinen Lippen, als er versuchte, den Lichtschalter zu finden. War diese blöde Leselampe schon wieder kaputt? Hatte er sie nicht angelassen? Seine Hände tasteten sich vorsichtig die Wand entlang, während er sich bemühte, nicht über die Gegenstände zu stolpern, die im Weg lagen. Doch etwas war anders. Seine Augen hatten sich langsam an die Dunkelheit gewöhnt, und er konnte schemenhaft sehen. War das sein Koffer, der am Boden lag? Irgendetwas stimmte hier nicht. Schlagartig war er hellwach. Der Lichtstrahl aus dem Gang offenbarte ihm, dass es nicht sein eigener Koffer war. „Bist deppert“, sagte er zu sich selbst und ging rückwärts aus dem Abteil heraus. Ein Blick auf die Nummer neben der Tür bestätigte seine Vermutung: Christian hatte sich im Abteil geirrt. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, als er sich über seinen Irrtum amüsierte. Vielleicht sollte er doch nicht im Halbschlaf so verantwortungsvolle Tätigkeiten ausüben, nicht, dass noch etwas danebengeht. Grinsend ob dieser Zweideutigkeit beschloss er, einen Abstecher ins Bordrestaurant zu machen. Jetzt war er ohnehin schon wach.

Im Speisewagen war nicht mehr viel los, weshalb ihm die wenigen Gäste besonders auffielen. Beispielsweise die Frau, die an einem Tisch stand, als ein Mann ihr einen Drink hinstellte. Zunächst schien sie sich etwas zu zieren, aber irgendwann unterhielt sie sich dann doch mit ihm. Sie war schätzungsweise Ende zwanzig oder Anfang dreißig, trug ein knielanges schwarzes Strickkleid und kniehohe Stiefel. Durch den kleinen Spalt zwischen Kleid und Stiefel blitzte ein braun gebranntes, muskulöses Bein hervor. Der Mann musste fünfzehn oder zwanzig Jahre älter sein als seine Gesprächspartnerin, obwohl er mit seinem dunklen Sakko und dem weißen T-Shirt darunter jünger wirkte. Christian erinnerte sich, dass der Mann schon gemeinsam mit ihm im Zug von Tübingen nach Stuttgart gesessen hatte. Obwohl das Kleid einen dicken Wollstoff hatte, konnte man auch an ihrem Rücken und ihren Oberarmen erkennen, dass die Frau sportlich war. Vielleicht eine Spitzensportlerin, dachte Christian. Jedenfalls hätte er sich anstelle des Mannes das Gespräch mit dieser Frau auch nicht entgehen lassen.

An einem anderen Tisch stand ein weiteres Paar. Die Frau, mit langem, ungekämmtem blondem Haar, sah aus, als wäre sie, ebenso wie Christian, gerade aus dem Bett gestiegen. Ihr zerwühltes Haar bildete einen merkwürdigen Kontrast zu ihrem Kleid. Auch sie wirkte durchtrainiert und sportlich. Er hatte dunkles, dichtes Haar und einen Dreitagebart, der ihm ein leicht verwegenes Aussehen verlieh. Der Bart war keineswegs das Ergebnis einer durchzechten Nacht, sondern sorgfältig gepflegt und bewusst so gestylt. Beide sahen nur in ihre Mobiltelefone und hatten kein Auge füreinander. Die Szene wirkte wie ein Abbild der modernen Gesellschaft, in der Technologie oft zwischenmenschliche Beziehungen zu überlagern schien. Die Frau tippte eifrig auf ihrem Smartphone herum, ihre Finger flogen regelrecht über das Display. Hin und wieder machte sie ein leises, kaum hörbares Geräusch, als ob sie sich über eine Nachricht ärgerte oder freute, aber keine dieser Emotionen wurde laut ausgesprochen.

Der Mann war so in sein Smartphone vertieft, dass er mechanisch nach seinem Glas griff und versuchte, daraus zu trinken, obwohl es längst leer war. Erst jetzt sah er kurz zu dem Paar am Nebentisch hoch und beobachtete sie eine Weile. Es war eine absurde und zugleich traurige Darstellung davon, wie sehr die digitale Welt die Aufmerksamkeit der Menschen verschlungen hatte.

Christian schüttelte über diese Szene nur den Kopf, beeindruckt von der skurrilen Atmosphäre des Speisewagens. Er entschied sich, das Erlebte noch ein wenig länger zu genießen, und bestellte sich ein Bier. Die Mitarbeiterin war gerade dabei, mit einem Tuch den Tresen zu putzen.

„Schade, dass wir nicht vor hundertzwanzig Jahren gereist sind.“

Die durchaus attraktive Dame schaute überrascht auf.

„Ja,“ fuhr Christian fort, „da wären wir jetzt mit dem berühmten Orient-Express unterwegs. Das hier wäre ein Speisewagen mit vielen Kellnern, und Sie müssten nicht so alleine hier die Stellung halten.“

Sie grinste. „Ach, ich bekomme immer wieder nette Gesellschaft hier.“

„Das kann ich mir vorstellen.“ Christian lächelte. „Aber das kann auch böse enden.“ Er hob den Zeigefinger. „Bei Agatha Christie wurde sogar jemand im Schlafwagenabteil des Orient-Express ermordet.“

Die Service-Mitarbeiterin kicherte, als Christian weiterredete. „Da fuhr man noch mit Dampfloks, der arme Heizer vorne, der musste Tonnen von Kohle in den Kessel schaufeln und hatte sicher kräftige Muskeln, die ich nie haben werde.“

„Ich mag ja lieber intelligente Männer, aber die fahren leider nicht mit dem Zug, sondern fliegen eher.“ Sie zwinkerte ihm zu.

Eine unangenehme Stille entstand, während Christian sie innerlich lächelnd fixierte.

„Ach herrje“, sagte sie jetzt. „Ich meinte natürlich ... Sie sind ja sicherlich normal, also jemand, der sonst immer fliegt und bei dem heute nur der Flug ausgefallen ist und ...“ Sie lief rot an.

Christian lachte. „Ich wusst jetzt ned, dass man intelligent ist, wenn man mit dem Flugzeug fliegt. Also doch ned in Zeiten des Klimawandels, oder? Ist es da ned intelligenter, mit dem Zug zu fahren?“, fragte er augenzwinkernd und leerte sein Bier. Dann zog er eine Visitenkarte aus dem Portemonnaie. „Ich bin der Christian, da hast meine Karte, wennst in Wien oder Tübingen etwas brauchst, meld dich doch bei mir.“ Er hoffte, dass es nicht wie eine billige Anmache rüberkam. Tatsächlich knüpfte er einfach gerne neue Kontakte.

Die Dame sah sich die Karte genauer an. „Doktor Singer. Jurist also?“ Sie hielt die Karte zwischen Zeige- und Mittelfinger. „Danke. Es schadet sicherlich nicht, einen Juristen zu kennen.“

Es war schon spät, als Christian beschloss, in sein Abteil zurückzukehren. Er war der letzte Gast im Speisewagen gewesen, und die nette Bahnangestellte hatte ihm noch ein kleines Schokoladentäfelchen geschenkt. Er steckte sich das Betthupferl in die Tasche und machte sich auf den Weg zu seinem Abteil.

Der warme Ton des Innenlichts und das sanfte Ruckeln des Zuges hatten eine beruhigende Wirkung auf ihn, und er spürte, wie sich langsam eine angenehme Müdigkeit in ihm breitmachte. Trotzdem wollte er unbedingt noch einmal versuchen, das eine Kapitel in seinem Buch zu Ende zu lesen, bevor er sich endgültig zur Ruhe legte. Am nächsten Morgen musste er fit sein, immerhin hatte er sich vorgenommen, Beate beim Ausräumen der Kartons zu helfen. Es waren ja nicht nur ihre Habseligkeiten darin. Christian hatte in Tübingen nur eine kleine möblierte Wohnung gemietet, und so hatten sie gemeinsam beschlossen, den Großteil aus ihrem Haus in Schweden nach Wien zu überführen. Den Rest hatten sie an Nachbarn und an Christians Kollegen Håkan verschenkt, der seit dem Auszug bei seinen Eltern, der immerhin schon zwölf Jahre her war, nur mit den zusammengewürfelten Möbeln seiner verstorbenen Großtante und seiner Großeltern lebte. Håkan, der Computernerd der Firma ‚One Earth‘, legte nur wert auf topmoderne Elektronik. Die Einrichtung seiner Wohnung spielte für ihn keine Rolle, und da er ohnehin mit seinem Computer verheiratet war, interessierte das auch keinen. Die alten Möbel von Christian und Beate waren eindeutig eine Aufwertung gewesen.

Beate hatte vorgeschlagen, dass Christian einen seiner Oldtimer verkaufen sollte, damit sie die Möbel in der Garage lagern konnten. Das war für ihn zu keiner Sekunde infrage gekommen. Die Möbel waren bei Håkan viel besser aufgehoben, fand er. Die eine oder andere Kiste musste jedenfalls ausgeräumt werden. Es graute Christian jetzt schon davor, denn eigentlich war das Haus voll. Sie hatten es damals, als sie nach Schweden gezogen waren, einfach so gelassen, wie es war. Deckenhohe Bücherregale standen im Wohnzimmer. Regale voller Bücher, die er nicht einmal alle gelesen hatte, da sein Vater sie ihm vererbt hatte. Dem hatte er versprochen, kein einziges davon jemals wegzuwerfen, und so blieb wenig Platz für neue Dinge. Er mochte die Bücher trotzdem, weil sie das Wohnzimmer zu einem gemütlichen Ort machten.

Er konnte die Bilder ihres alten Hauses förmlich vor sich sehen: die heimeligen Räume, der verwinkelte Keller und die behagliche Atmosphäre, die es ausstrahlte. Sie hatten so viele schöne Erinnerungen dort geschaffen. Aber dann war die Gelegenheit gekommen, nach Stockholm zu ziehen, und sie hatten sich entschieden, dem Ruf des Abenteuers zu folgen. So jung waren sie ja nicht mehr, und da musste man die Chancen nutzen, etwas von der Welt zu sehen.

Die kleine Wohnung in Tübingen, die er jetzt sein Zuhause nannte, war zwar nicht so geräumig wie ihr Haus in Wien, aber sie hatte ihren eigenen Charme. Sie lag in einem ruhigen Viertel nahe dem historischen Stadtkern, umgeben von alten Fachwerkhäusern und kleinen Gassen. Christian mochte Tübingen. Diese Stadt, die ihm ein Gefühl von Geborgenheit und Heimat verlieh.

Dass Beate zurück nach Wien gezogen war und er nach Tübingen, war eine Entscheidung, die sie gemeinsam getroffen hatten. Sie würden sich regelmäßig besuchen und die Zeit miteinander genießen, während sie gleichzeitig ihre eigenen Wege gingen.

Christian war dankbar für die Flexibilität, die sie beide zeigten. Auch wenn sie jetzt auf verschiedene Städte verteilt waren, fühlte er sich Beate auf eine ganz besondere Weise verbunden, und er wusste, dass sie auch diese Herausforderung gemeinsam bewältigen würden.

***

Fabian Weber schlief sofort ein. Seine Erschöpfung übermannte ihn nach einem langen Tag voller Anspannung und Vorbereitungen. Es war nicht viel Zeit vergangen, in der der Zug durch die dunkle Nacht gefahren war, bevor er schließlich aufwachte, weil er eine Berührung an seinem Gesicht spürte. Ein kalter Schauer durchfuhr ihn, nachdem er bemerkt hatte, dass er nicht allein in seinem Abteil war. Sein Herz begann zu rasen, als er die Dunkelheit um sich herum realisierte, und seine Hand suchte panisch nach dem Lichtschalter oder irgendeinem Hinweis auf seine Umgebung. Wer war das? Warum war jemand in seinem Abteil?

Doch bevor er etwas tun konnte, drückte plötzlich etwas Schweres und Unbekanntes auf sein Gesicht, und er spürte, wie ihm die Luft abgeschnitten wurde. Sein Verstand schrie vor Panik, als er versuchte zu atmen, zu schreien, doch seine Stimme wurde durch den Druck des warmen Polsters erstickt. Er kämpfte verzweifelt gegen seinen Angreifer an, doch es war ihm unmöglich, sich zu verteidigen. Gedanken schossen durch seinen Kopf. Er war seinem Ziel so nah, es durfte nicht hier und jetzt enden. Niemand wusste von seinem Vorhaben, und niemand würde die Wahrheit an seiner statt ans Licht bringen. Er sammelte seine letzten Kraftreserven und versuchte, sich aufzubäumen, er schlug um sich und strampelte mit den Beinen. Seine Gedanken rasten, verzweifelt suchte er nach einer Lösung, nach einem letzten Funken Hoffnung. Die Dunkelheit um ihn herum schien ihn zu verschlingen, doch sein Wille, die Wahrheit zu enthüllen, hielt ihn am Leben. Er spürte, wie seine Kräfte langsam nachließen, aber in seinem Herzen brannte noch immer das unbändige Verlangen, sein Ziel zu erreichen. Er hing weniger an seinem Leben, als an der Wahrheit, aber er hatte keine Chance. Das Letzte, was er hörte, war das gleichmäßige Klappern der Räder auf den Schienen, ein monotones Geräusch, das ihm in diesem Moment wie der Takt seines eigenen Todes vorkam. Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken, als er sich bewusst wurde, dass er in einen tödlichen Hinterhalt geraten war. In seinem Kopf lief sein Leben ab wie in einem Zeitrafferfilm, während sein Körper ums Überleben kämpfte. Er sah seine Frau, wie sie ihn beim Ja-Wort anstrahlte, voller Glück, sah Amelia, die auf dem Spielplatz auf der Schaukel saß und nach ihm rief, er solle sie anschubsen. Sein Verstand tobte vor Panik und Entsetzen, während er noch ein letztes Mal hoffnungslos nach einem Ausweg suchte, doch sein Schicksal schien längst besiegelt zu sein. Er spürte, wie er müde wurde und die Kräfte ihn verließen. Es war, als drehte jemand den Ton eines Radios immer leiser. In einem letzten Akt der Verzweiflung versuchte er, sich gegen den unsichtbaren Angreifer zu wehren, aber die Dunkelheit umhüllte ihn gnadenlos und verschluckte ihn in einem tiefen, schwarzen Loch, aus dem er nie wieder auftauchen sollte.

***

Henry nahm den Bus ins Französische Viertel, wo sie in der Tiefgarage in ihren alten VW Käfer stieg. Sie hatte noch ein Alltagsfahrzeug, aber jetzt entschied sie sich für den Oldtimer. Der Geruch nach Kunstleder und Benzin weckte Erinnerungen an vergangene Tage in Schweden. Der Käfer war mehr als nur ein Auto für sie – er war ein treuer Begleiter durch viele Jahre gewesen. Sie hatte ihn gekauft, als sie achtzehn geworden war. Der alte, seeblaue Käfer, den sie liebevoll Balduin nannte, hatte schon einiges mit ihr erlebt. Die rostigen Stellen an den Radkästen und der ausgebleichte Lack erzählten Geschichten von schwedischen Wintern und langen Fahrten durch verschneite Landschaften. Sie erinnerte sich an die Zeiten, als sie in den frühen Morgenstunden durch die schmalen Straßen Sigtunas gefahren war, in der Handtasche immer einen Unterbrecherkontakt als Ersatz. Ein Tipp von Christian, nachdem sie zweimal mitten im Wald auf den Abschleppdienst gewartet hatte. Jetzt konnte sie das Teil im Notfall selbst wechseln.

Als sie den Motor startete, klingelten die Ventile verlässlich, wenn auch etwas rauer als früher. Eine Sitzheizung hatte er natürlich nicht, aber dafür war er ein Stück Heimat, ein vertrauter Ort inmitten all der Veränderungen.

Es war bereits dunkel, als sie am Haus ihres Vaters ankam. Henry musste nicht klingeln, weil Jakob schon an der Tür stand, Juno zwischen seinen Beinen. Vermutlich hatte er das Auto gehört. Der Hund sprang Henry aufgeregt entgegen.

„Komm rein“, sagte Jakob. „Es ist echt kalt geworden.“

„Nur kurz.“ Henry zog ihren Mantel aus.

„Wie läuft es bei der Arbeit?“ Er stellte eine zweite Tasse Tee auf den Tisch, auf dem bereits eine große Kanne stand, aus der es heiß herausdampfte.

„Prima! Leider im Moment wenig los. Aber das kann sich schlagartig ändern, wie du weißt.“ Sie goss sich den Tee in die Tasse und umschlang sie mit beiden Händen. Auf dem Sofa lagen die Katzen. Zusammengerollt wie zwei Kissen, eines schwarz und eines getigert. Es erstaunte Henry immer noch, wie gut Fiete, der Kater ihrer Mutter, den Umzug von Schweden nach Deutschland verkraftet hatte, wo man doch immer sagte, Katzen seien territorial. Es schien, als sei er jetzt, im Haus ihres Vaters, erst so richtig angekommen.

„Und wie fühlst du dich hier mittlerweile?“, fragte Jakob, als hätte er Henrys Gedanken gelesen.

Sie seufzte leicht. „Es ist schön hier, wirklich. Aber manchmal vermisse ich Schweden. Es ist halt sehr anders.“

Eigentlich hatte sie keine Lust auf die Art von Gespräch. Sie wollte ihm nicht erzählen, dass sie nicht so richtig Anschluss fand. Der einzige Kontakt, den sie pflegte, war der zu Daniel und jetzt auch wieder zu Christian, seit der in Tübingen wohnte. In Deutschland fühlte sie sich wie eine Schwedin und in Schweden wie eine Deutsche, so richtig ankommen wollte sie nirgends. Direkt nach ihrer Ankunft hatte sie den ersten Mordfall zu lösen gehabt, was ihr ein Privatleben unmöglich gemacht hatte, aber diese Ausrede galt längst nicht mehr. Auf der Arbeit war es ruhig geworden, und Henry saß mit dem Hund zu Hause oder ging mit ihm spazieren. In die Gesellschaft wagte sie sich nicht.

Auch jetzt wollte sie sich lieber mit einem Buch auf ihre Couch werfen und ihre Ruhe haben.

Jakob legte ihr die Hand auf die Schulter. „Das wird noch. Du bist ja gerade erst angekommen. Was sind schon ein paar Monate in einem anderen Land? Was ist eigentlich mit deinem Bruder? Kann der dir nicht ein paar Sozialkontakte vermitteln?“

„Sebastian? Der arbeitet doch selbst Tag und Nacht.“ Sie nahm einen Schluck des viel zu heißen Tees. „Vielleicht sollte ich mir mal ein Hobby suchen. Schwimmen oder so.“

Jakob lachte. „Sehr witzig. Genau das Richtige für jemanden mit Angst vor Wasser.“

Henry setzte sich aufrecht und sah ihn ernst an. „Ja, so ist es. Genau das Richtige für jemanden mit Angst vor Wasser.“

Es frustrierte sie zutiefst, dass niemand ihr auch nur im Geringsten zutraute, etwas zu bewältigen, das mit Wasser zu tun hatte. Denen würde sie es zeigen. Jakob, Daniel, Christian, einfach allen.

13. Oktober

Henrys Augenlider waren schwer. Der Schlaf, den sie nachts nicht fand, versuchte, sie tagsüber einzuholen. Um nicht einzuschlafen, stand sie immer wieder auf und sortierte Aktenordner im Regal hinter ihrem Schreibtisch. „Wäre irgendwie schön, wenn wir nicht nur Sexualstraftaten und Rauschgiftdelikte hätten, sondern auch mal wieder einen Mord.“ Henry setzte sich wieder und umklammerte mit beiden Händen eine Kakaotasse.

Daniel Faber lehnte sich zurück, die Arme vor der Brust verschränkt, und betrachtete seine Kollegin mit einem ironischen Lächeln. „Na hör mal“, begann er, sein Ton leicht spöttisch. „Sei doch froh, wenn keiner umgebracht wird. Was bist du denn für eine Polizistin? Solltest du nicht Anhängerin einer friedlichen Welt sein?“

„Aber dann würde Jim wiederkommen“, antwortete sie trotzig.

Joachim Schätzle, den alle nur Jim nannten und der im Sommer aus Esslingen zu ihnen geschickt worden war, war in der kurzen Zeit, die er mit ihnen zusammengearbeitet hatte, Teil des Teams geworden. Henry vermisste seine unkonventionelle Persönlichkeit, seinen Sinn für modische Kleidung und die Art, wie er seine langen schwarzen Haare leger in den Nacken warf. Er war als Baby, das in Kolumbien geboren wurde, von einem schwäbischen Ehepaar adoptiert worden. Seine Herkunft sah man ihm an, was nicht das Schlechteste war, wie er selbst sagte, denn zumindest konnte ihm nie jemand unterstellen, er sei ein alter, weißer Mann. Er war anders, und genau das mochte Henry an ihm. Jim arbeitete in der Kriminalinspektion eins und wurde nur dann nach Tübingen bestellt, wenn es einen Mord gab. Da dies in der Universitätsstadt nur selten vorkam, war Henry klar, dass die Zusammenarbeit mit Jim keine regelmäßige Angelegenheit sein würde.

Juno lag unter ihrem Schreibtisch auf ihren Schuhen und wärmte Henrys Füße. Der pensionierte Diensthund lebte jetzt seit zwei Monaten bei ihr, und sie hatten sich aneinander gewöhnt. Nur die Haare, die vielen weißen Haare in Henrys Wohnung, nervten ziemlich. Obwohl die Schussverletzung am Bein gut verheilt war, humpelte Juno immer noch ein klein wenig. Der Tierarzt sagte, das würde so bleiben, aber man merkte es nur, wenn sie langsam ging. Wenn sie rannte, wirkte sie glücklich und unbeschwert. Und Juno rannte oft und viel. Hin und wieder kam in Henry das schlechte Gewissen hoch, weil der Hund bei ihrem ersten Einsatz verletzt worden war. Das war vielleicht auch der Grund, warum sie ihn manchmal zu sehr verwöhnte.

„Schreibst du den Bericht zu der Körperverletzung in der Innenstadt?“, fragte Daniel Faber.

Henry stützte ihren Kopf nachdenklich auf der Hand ab, während sie Faber mit einem leicht herausfordernden Blick ansah. „Wieso muss ich eigentlich immer die Berichte schreiben? Ist es, weil ich nur Kriminalkommissarin bin? Oder gibt es einen anderen Grund?“ Ihre Stimme klang sowohl fragend als auch leicht resigniert.

Faber lächelte amüsiert und zog eine Augenbraue hoch. „Weil du weniger Fehler machst und besser schreiben kannst, ganz einfach“, erklärte er mit einem selbstzufriedenen Unterton, während er die Akte auf ihren Tisch warf. „Außerdem lenkt dich das von deinem offensichtlichen Herbstblues ab. Was ist überhaupt los mit dir? Reiche ich dir nicht mehr?“

Henry schüttelte lächelnd den Kopf und richtete sich auf, um die Akte näher zu betrachten. „Doch, schon“, antwortete sie sanft, bevor ein Hauch von Wehmut in ihrer Stimme mitschwang. „Aber mit Jim war’s halt trotzdem schön.“

„Wir können ihn ja einfach so mal einladen. Was meinst du? Vielleicht zur chocolArt im Dezember?“ Er lächelte sie aufmunternd an.

„Was ist denn das?“ Henry wurde hellhörig.

„Das Tübinger Schokoladenfest. Wird dir gefallen“, versicherte er ihr und bemerkte dabei, wie der Hund am Boden beim Wort ‚Schokolade‘ kurz den Kopf hob.

Henrys Augen leuchteten. „Ein Schokoladenfest? Warum hat mir davon noch keiner was erzählt? Da müssen wir unbedingt hin!“

„Und jetzt an die Arbeit, Frau Kollegin.“ Faber klopfte mit dem Finger auf die Akte, die vor ihr lag und pure Langeweile ausstrahlte. „Es wird schon wieder mehr Action geben, warte nur ab. Das ist eben so bei uns“, fügte er hinzu. „Wie in einer Achterbahn. Kaum siehst du dich um, geht’s schon wieder turbulent zu, weil irgendjemand ins Jenseits befördert wurde. Du wirst dich noch nach den ruhigen Tagen zurücksehnen.“

***

Beate hatte Christian vom Bahnhof abgeholt. Als er zu Hause aus dem Auto stieg, genoss er die warmen Sonnenstrahlen in seinem Gesicht. In Wien war das Wetter etwas freundlicher als in Tübingen. Wegen des gigantischen Lavendelstrauchs, dessen Blüten längst verblüht waren, konnte er seinen Koffer nicht am Auto vorbeiziehen, also hob er ihn darüber und setzte ihn dann vorsichtig auf das Pflaster in der Einfahrt.

„Ja, den sollt i dringend schneiden.“ Beate deutete entschuldigend auf den Strauch. „So wie alles andere im Garten auch. Aber i hab ja jetzt Zeit.“ Sie lächelte.

Christian war sich bewusst, dass ihr die Pflanzen im Garten immer heilig gewesen waren, und er konnte nur erahnen, welche Emotionen in ihr hochgekommen waren, als sie all diese wild wachsenden Blumen und Sträucher bei ihrer Ankunft vor vier Wochen gesehen hatte.

Im Haus selbst hatte sich nicht viel verändert. Obwohl sie etwas über zwei Jahre in Schweden gewesen waren, hatten sie Wien regelmäßig besucht und ihr Haus als eine Art Ferienwohnung genutzt. Nur das Gefühl war jetzt ein anderes, wenn man es betrat. Es fühlte sich nicht mehr nach Urlaub an, sondern nach Heimkommen. Auch wenn nur Beate hier einzog.