Wintersturm - John Vercher - E-Book

Wintersturm E-Book

John Vercher

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  • Herausgeber: Polar Verlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

Pittsburgh, 1995. Der zweiundzwanzigjährige Bobby Saraceno ist ein Schwarzer, der sich als Weißer ausgibt. Bobby hat seine Identität vor allen verborgen, auch vor seinem besten Freund Aaron, der gerade als radikalisierter weißer Rassist aus dem Gefängnis zurückgekehrt. In der Nacht ihres Wiedersehens wird Bobby Zeuge, wie Aaron einen jungen Schwarzen mit einem Ziegelstein tötet. Nach dieser entsetzlichen Gewalttat muss Bobby seine Beteiligung an dem Verbrechen vor der Polizei verheimlichen und mit seinen eigenen persönlichen Dämonen kämpfen. Eine erschütternde Geschichte über Rassismus und Brutalität. 2020 nominiert für den Edgar Award for Best First Novel.

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Seitenzahl: 326

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John Vercher

Wintersturm

Aus dem Amerikanischen von Sven Koch

Herausgegeben von Wolfgang Franßen

Polar Verlag

Originaltitel: Three-Fifths

Copyright: © 2019 by John Vercher

Erste Ausgabe 2019 bei Agora Books, ein Imprint von Polis Books, LLC

Deutsche Erstausgabe, 1. Auflage 2022

Aus dem Amerikanischen von Sven Koch

Mit einem Nachwort von William Boyle (© 2022), übersetzt von Sven Koch

© 2022 Polar Verlag e. K., Stuttgart

www.polar-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) oder unter Verwendung elektronischer Systeme ohne schriftliche Genehmigung des Verlags verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Redaktion: Andrea Stumpf, Gabriele Werbeck

Umschlaggestaltung: Robert Neth, Britta Kuhlmann

Coverfoto: © misu/Adobe stock

Autorenfoto: © Rachel Kathryn

Satz/Layout: Martina Stolzmann

Gesetzt aus Adobe Garamond PostScript, InDesign

Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck, Deutschland

ISBN: 978-3-948392-62-8

eISBN: 978-3-948392-63-5

Für Michelle, JJ und MilesIhr seid mein Ein und Alles

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Danksagung

»Was hat dich hierhergebracht?«: Über John Verchers Wintersturm

Kapitel 1

März 1995

Von den Mülltonnen her stank es nach Essensresten und abgestandenem Bier. Im Lichtkegel der Straßenlaternen wirkten die still wirbelnden Schneeflocken wie gefangene Glühwürmchen. Die kalte Luft schnitt in Bobbys Lunge, und er unterdrückte ein Keuchen. Er klemmte sich die Zigarette hinters Ohr und nahm einen Zug aus seinem Inhalator, dann steckte er sich die Zigarette in den Mund und zündete sie an. Der Schwefelgeruch des Streichholzes stach ihm in der Nase und ließ seine Augen tränen. Er wischte sich darüber und sah, dass hinter dem Zaun um die Ladezone jemand war.

»Wer zum Teufel ist das?«, fragte Bobby Luis.

Luis zuckte die Achseln. Bobby trat an den Zaun und schob die Finger durch den Maschendraht. Ein großer Weißer saß an der Ladekante eines roten Pick-ups im Schatten zwischen den Straßenlaternen. Er hatte die Knie an die Brust gezogen und seine kräftigen Arme darum geschlungen.

Bobby und Luis tauschten beunruhigt einen Blick. Bobby spürte die Geldrolle in seiner Hosentasche. Kurz musterte er Luis. Der dürre Aushilfskoch war einen Kopf kleiner und gut zehn Kilo leichter als er selbst. Wenn dieser Riese auf sie losging, war von ihm nicht viel Hilfe zu erwarten.

»Willst du wieder rein und vorne raus?«, fragte Bobby Luis.

»Nee, mein Auto steht hier hinten. Außerdem, Mann, sei keine Memme.«

Bobby zeigte ihm den Mittelfinger. Scheiß drauf, wenn dieserKnilch schon keine Angst hat … Er drückte gegen das Tor, das quietschend aufging. Ruckartig hob der Mann den Kopf und sprang von der Ladefläche.

Bobby und Luis blieben kurz stehen, dann gingen sie weiter. Sie versuchten, möglichst unauffällig einen Bogen um den Mann zu schlagen. Lass dir nichts anmerken, aber schau auch nicht hin. Er nickte dem Fremden zu und sah aus dem Augenwinkel, dass er mit konsterniertem Blick die Hände ausstreckte.

Luis und Bobby beschleunigten ihren Schritt.

»Yo, Bobby«, sagte er. »Wo willst du denn hin?«

Bobby blieb wie angewurzelt stehen. Er drehte sich um, sein Mund klappte auf. Die Zigarette blieb an seiner Unterlippe kleben. Aaron hatte sich den Schädel rasiert. Seine blassen Arme waren mit Tätowierungen übersät, die im Dunkeln nicht genau zu erkennen waren. Als er ein Feuerzeug anschnippte und die Flamme sein Gesicht beleuchtete, wurden Spuren von Gewalt erkennbar. Eine wulstige Narbe verlief schräg unter dem Auge, eine zweite zog einen Bogen vom Mundwinkel bis zur Nase. Entgegen seinem ersten Impuls sah er nicht weg, sondern kniff die Augen zusammen, um besser zu sehen. Aaron ließ das Feuerzeug zuschnappen, und sein Gesicht verschwand wieder im Dunkeln.

»Heilige Scheiße«, sagte Bobby. »Jetzt schau dir diesen aufgepumpten Hulk an.«

Aarons Lächeln offenbarte große, strahlend weiße Zähne. Überrascht schnellte Bobbys Kopf nach hinten. Aarons Grinsen wurde schmaler.

»Jetzt schwing endlich deinen kleinen Arsch rüber«, sagte Aaron und breitete die Arme aus. Bobby trat näher und ließ sich von Aaron drücken. Bobby schlug ihm ein paarmal fest auf den Rücken, damit Aaron losließ, aber der drückte nur noch fester. Er stank nach Bier und Schweiß. Dann küsste er Bobby auf den Kopf. Bobby legte den Kopf in den Nacken, und Aaron sah ihm in die Augen.

»Ich hab dich echt vermisst, Mann«, sagte er.

»Schon gut, schon gut«, sagte Bobby. Mit einem Lachen schob er Aaron von sich weg. »Lass mich endlich los, du Schwuppe.«

»Hör mir bloß mit dem Scheiß auf«, sagte Aaron und versetzte Bobby einen spielerischen Stoß. Trotz Aarons halbherzigem Lächeln sah Bobby in dessen Augen etwas aufblitzen, und er erinnerte sich an den ersten Tag im Besucherzentrum. Dämlich. Er hatte schon den Mund geöffnet, um sich zu entschuldigen, als Luis von der offenen Fahrertür seines Wagens rief.

»Bobby! Bis morgen, oder?«

Lässig winkte ihm Bobby zu. Luis atmete scharf ein und stieg ein. Leicht schwankend ging Aaron zu seinem Pick-up, auf dessen Ladefläche ein leeres und ein halb volles Sixpack standen. Aaron setzte sich auf den Rand und malte mit der Stiefelspitze in den Schnee. Als Luis wegfuhr, setzte sich Bobby neben ihn.

»Hast du’s jetzt mit den Bohnenfressern?«, fragte Aaron.

»Luis? Der ist okay«, sagte Bobby. Mit dem Ellbogen stieß er gegen Aarons Arm. »Einer von den Guten, Mann.«

»Aha.«

Bobbys Lächeln erlosch. Aaron zwinkerte und gab ihm den Ellbogenstoß zurück.

»Drei Jahre!«, rief Bobby und schlug ihm auf die Schulter. »Mein Gott, es ist echt gut, dich zu sehen.«

Mit einem Lachen griff Aaron hinter sich, um Bobby ein Bier zu geben. Der lehnte ab. »Wie, immer noch?« Bobby nickte. »Du bist doch volljährig geworden, Mann, und wir konnten’s gar nicht feiern.«

»Ist besser für mich, Mann. Das weißt du doch.«

»Komm schon, eins bringt dich nicht um. Drei Jahre, du hast es selbst gesagt. Wie oft komm ich denn aus dem Knast?«

»Hoffentlich nur dieses eine Mal.«

»Genau. Also, lass uns anstoßen. Außerdem ist Alkoholsucht doch nicht erblich.«

»Bist du bekloppt? Natürlich ist sie das.«

»Echt? Wie das denn?«

Aaron trank sein Bier aus und warf die Flasche ans andere Ende des Parkplatzes, wo sie klirrend zerplatzte. Im Schein der Straßenlaterne konnte Bobby Aarons Gesicht genauer betrachten. Seine Nase sah aus, als wäre sie nicht nur einmal gebrochen gewesen, und die Narbe unter dem Auge war so dick und wulstig, als wäre sie mit Stacheldraht genäht worden. In seinem Gesicht spiegelten sich aber nicht nur körperliche Wunden. Ein Schleier der Traurigkeit lag darüber, ein Überzug aus vielen schmerzlichen und erzwungenen Lächeln. Er knibbelte am Etikett einer neuen Flasche. Bobby drückte seine Schulter und schüttelte sie.

»Hey, Junge, alles in Ordnung mit dir?«

»Sieht man doch, oder?« Ein weiteres schmales Lächeln.

Bobby zuckte die Achseln. »Na ja, schon irgendwie.« Er klopfte auf den Pick-up. »Tolle Karre übrigens.«

»Mein Alter hat sie mir verehrt. Ein Willkommensgeschenk.«

»Ziemlich geiles Geschenk.«

»Er meinte, ich hätte es verdient.«

Sie lachten. Solange sie sich kannten, hatte Aaron sich kaum was verdient. Sein Vater war Investmentbanker, der viel Geld für den Wahlkampf von lokalen Regierungsvertretern spendete. Dafür kamen Vater und Sohn in den Genuss erheblicher Vergünstigungen. Strafzettel für zu schnelles Fahren verschwanden. Das Klauen von Comics hatte keine juristischen Konsequenzen.

Doch bei Drogenbesitz in einer Menge, die Handel nahelegte, ließ sich kein Auge mehr zudrücken. Und dazu pöbelte Aaron den Richter an. Eine lange harte Zeit stand ihm bevor.

Doch wurden es nur drei Jahre. Dazuzugehören hatte auch da noch seine Vorteile.

»Hey, ich freu mich echt, dich zu sehen, aber es ist scheißkalt hier. Lass uns irgendwohin fahren. Aber gib mir lieber die Schlüssel, du hast ja schon ordentlich getankt.«

»Nur noch eine Minute, okay?«, bat Aaron. »Ich war jetzt über tausend Tage drinnen. Die Luft tut so gut, Mann. Selbst wenn wir Hofgang hatten, fühlte sich die Luft da anders an. Als würde sie dreckig, sobald sie durch den Zaun kommt.« Er strich den Schnee vom Rand der Ladefläche. »Auf dem Weg hierher kam mir diese Kiste vor wie ein Sarg. Verdammt, willst du sie? Ich schenk sie dir.«

Ein paar vom Küchenpersonal waren im offenen Vollzug oder auf Bewährung draußen. Russell, der Geschäftsführer, war als junger Mann selbst im Gefängnis gewesen. Er erzählte oft, wie er die Kurve gekriegt hatte, nachdem er wieder rausgekommen war, und dass sie nicht denselben Fehler zweimal machen durften. »Ihr müsst kapieren, dass dieses System euch Jungs gar nicht mehr rauslassen will. Wer mal den Stempel Knacki auf der Stirn hat, kriegt ihn kaum wieder weg. Vor allem, wenn er so aussieht wie wir. Da suchen die nur nach einem Grund, um einen wieder einzubuchten. Ihr könnt die Gerichtskosten nicht berappen, weil’s für euren Putzjob nur Mindestlohn gibt? Zurück ins Loch. Ihr werdet mit einem Kumpel erwischt, der wegen irgendwas verknackt wurde? Zurück ins Loch. Und junge Schwarze haben nicht mal ’ne halbe Chance. Die Leute quatschen was von Verantwortung und wollen euch weismachen, dass ihr keine übernehmt. Dass ihr euch so ein Leben selbst ausgesucht habt. Und wenn ihr öfter in den Bau wandert, kann das auch passieren. Denn wenn ihr lang genug sitzt und richtige Scheiße erlebt, könnt ihr draußen nichts mehr mit euch anfangen, selbst wenn ihr euch was anderes einredet und meint, dass ihr auf gar keinen Fall mehr zurückwollt. Denn dann ist der Knast das einzige Zuhause, das euch bleibt.«

Bobby hatte ihm nie ganz geglaubt, wenn er sagte, das System wolle sie fressen. Aber immer wieder kamen die Cops und holten einen von Russells Zöglingen ab, und er blieb kopfschüttelnd in der Tür stehend zurück. Und jetzt, als Bobby auf der Ladekante des Pick-ups saß und Aaron beim Nägelkauen zusah, fielen ihm Russells Worte wieder ein. Aaron hatte keine lange Strafe erhalten, aber sein Leben vor dem Gefängnis war sehr bequem gewesen. Ein Telefonat seines Vaters hatte alle Schwierigkeiten beseitigt, die Aaron sich eingebrockt hatte. Vielleicht begriff Aaron jetzt bei seiner Rückkehr in die Welt, wie sehr er sich an die faulige Luft im Gefängnis gewöhnt hatte. Vielleicht bot es ihm sogar mehr Geborgenheit als das Draußen. Die Vorstellung war verrückt, aber dennoch war sie da.

Bobby schüttelte den Gedanken ab und streckte die Hand nach dem Schlüssel aus. Sie stiegen ein. Als Bobby unter den Sitz griff, um ihn zu verstellen, streifte seine Hand etwas Raues. Er zog einen schartigen Ziegelstein hervor.

»Hast du im Knast etwa Maurer gelernt?« Bobby stieß ein gezwungenes Lachen aus, aber Aaron verzog keine Miene. Er nahm Bobby den Stein aus der Hand und legte ihn neben die Biere in den Fußraum. »Ernsthaft, was willst du damit?«

»Weißt du noch, dass ich für den Fall der Fälle immer einen kleinen Schlagstock unterm Sitz hatte?« Bobby nickte. »Als ich aus dem Gefängnis kam, lag neben einer Mülltonne ein Haufen Ziegelsteine, und da hab ich einen mitgenommen. Wahrscheinlich freuen sich nicht alle so wie du, wenn sie mich sehen.«

»Okay, ich glaub, ich kapier’s. Aber warum einen Ziegelstein?«

»Na ja, nur bis ich ’ne Pistole kriege.«

»Ach so, klar, du bist ja jetzt ein krasser Macker«, sagte Bobby. Er lachte, aber Aaron schwieg. Sie machten die Türen zu, und Bobby ließ den Motor an. Aaron zog die Knie an die Brust. In der engen Kabine vergrub er sich in sich selbst. Trotz der neuen Muskeln und seiner vielen Tattoos und Narben war er verunsichert und durcheinander. Er hatte Angst.

»Hey, das vorhin war nicht bloß so dahingesagt, oder? Dir geht’s wirklich gut?«

Aaron streckte die Hand aus, um das Radio anzustellen. Bobby legte die Ohren an, um sich gegen das schwere Basswummern von Hip-Hop, mit dem Aaron ihn auf der Fahrt zur Schule gern gequält hatte, zu wappnen.

Doch stattdessen kam klassische Musik aus den Lautsprechern. Aaron ließ seine Knie los, hörte auf, an den Nägeln zu kauen, und sank in seinen Sitz. Bobby warf einen Blick hinüber. Aaron lachte.

»Okay, okay«, sagte er.

»Hör mal, wenn du mir was erzählen willst …«, sagte Bobby.

»Bleib cool. Es gibt schon einen Grund, das schwör ich.«

»Ich bin ganz Ohr.«

Kopfschüttelnd fädelte Bobby in den Verkehr auf der McKnight Road ein. Im Heckwind der Autos vor ihnen huschte die leichte Schneeschicht auf der Straße wie eine Geisterschlange hin und her. Das heiße Gebläse ließ die Scheibenwischer allmählich ruhiger über die Windschutzscheibe schaben. Als sie an einer Ampel hielten, endete das Musikstück. Der Sender brachte Nachrichten.

»Dieser Prozess geht mir so was von auf die Nerven«, sagte Bobby. »Ich hab nicht mal einen Fernseher, und trotzdem weiß ich alles darüber.« Aaron lachte kurz auf, starrte aber weiter aus dem Fenster. »Du solltest mal die anderen in der Küche hören, für die ist ganz klar, dass er unschuldig ist. Als ob sie einen Preis bekämen, wenn er freigesprochen wird. Das ist echt der Wahnsinn.« In Erwartung einer Antwort sah Bobby zu Aaron, aber der zeigte keine Reaktion. »Aha, jetzt sagst du nichts mehr? Das wär aber ganz gut, weil im Moment hab ich das Gefühl, als würdest du gleich ausflippen und mich umbringen, so Cluedo-mäßig – der Oberst mit einem Ziegelstein in dem roten Pick-up.«

Aaron wandte sich zu ihm und kniff die Augen zusammen. »Glaubst du etwa, ich könnte dir was antun?«

»Nein, nein, war nur ein Witz. Oder so. Du bist nur schon prall, was völlig okay ist, absolut verständlich, aber jetzt geigt hier diese traurige alte Kackmusik, deine Arme sind so dick wie meine Oberschenkel, und du redest auch noch komplett anders als früher. Mann, hey, woher soll ich da wissen, was als Nächstes kommt?«

»Wie hab ich denn früher geredet?«

»Komm schon, das weißt du doch. Diese Möchtegernnummer. Yo hier, yo da. Du warst doch der Wigger in Person.«

»Ja, weiß schon«, sagte Aaron. Er holte tief Luft und presste sie zwischen geschlossenen Lippen heraus. »Okay, also die Musik. Als ich eingefahren bin, hab ich einen kleinen Job in der Bibliothek bekommen. Du weißt ja, wie dünn ich war. Nachdem –«

Er brach ab. Bobby wandte den Blick von der Straße, um Aaron anzusehen. Die Scheinwerfer eines entgegenkommenden Autos beleuchteten sein Gesicht. Aarons Augen schimmerten feucht.

»Nachdem das passiert war, dachte man, dass es für mich sicherer wäre, wenn ich dort arbeite. Da gab’s eine Abteilung, in der man sogar CDs hören konnte. Allerdings nur Klassik. Nichts Aggressives. Kein Metal. Absolut keinen Rap. Aber dann hab ich eins der Bücher da gelesen –«

»Der Knast hat dich zum Lesen gebracht? Dann war das Ganze vielleicht doch nicht so schlecht für dich«, sagte Bobby und gab ihm einen Klaps auf die Schulter. Aaron erwiderte das Lächeln nicht. Bobby räusperte sich.

»Ich hab rausgefunden, dass ein Teil von diesem Zeug echte Aufstände ausgelöst hat, als es zum ersten Mal gespielt wurde. Das ist doch der Hammer, oder?«

Seine Stimme hatte sich verändert, eine kaum wahrnehmbare Brüchigkeit, ein winziges Zittern hatte sich eingeschlichen. Bobby beschlich Furcht vor dem, worauf Aarons Geschichte hinauslaufen würde. Er beantwortete die Frage mit einem Nicken und hoffte auf das Schweigen, über das er sich eben noch beklagt hatte.

»Was hätt ich denn tun sollen?«, fragte Aaron. »Ich war doch komplett ahnungslos und hatte total Schiss. Ich hab überhaupt nicht mehr geschlafen, und wenn ich mal vor Erschöpfung eingepennt bin, bin ich beim kleinsten Geräusch hochgefahren. Deshalb hab ich mir zwischen den Bibliotheksregalen ein Eckchen gesucht und alles immer wieder angehört, bis ich zurück in die Zelle musste. Und ich hab aufs Wochenende gewartet, bis du zu Besuch kommen würdest.« Er wurde wieder zappelig und öffnete ein Bier, das er in fünf schnellen Schlucken austrank.

»Es hat nicht lang gedauert, bis ich jedes Stück in- und auswendig kannte. Bis es so weit ist, wie oft muss man das hören, zehntausend Mal? Bei mir war’s garantiert doppelt so oft. Ich hab mir das Zeug vorgesummt, damit ich einschlief. Als es zum ersten Mal geklappt hat, hab ich endlich wieder durchgeschlafen. Das war in der Nacht vor deinem Besuch«, sagte er.

Er hielt inne. Seine Hände wrangen den Flaschenhals wie einen nassen Putzlappen. »Beim ersten Mal gab’s nur Schläge. Deswegen bekam ich den Bibliotheksdienst. Eine Nacht vor deinem Besuch, Bobby, wollte ich mich wehren. Ich hab’s versucht, ehrlich, aber er war einfach zu stark. Er drosch meinen Kopf gegen die Zellenwand, und danach gehorchte mein Körper nicht mehr, jedenfalls mir nicht mehr. Mir blieb nur noch, die Musik in meinem Kopf so laut zu machen, dass sie alle anderen Geräusche übertönt. Hat aber nicht funktioniert.

Das hab ich erst später in der Krankenstation geschafft. Als sie mich zusammenflickten, kamen mir ständig die Bilder in den Kopf, was er mir angetan hatte, und das, was er zu mir gesagt hatte – dass das erst der Anfang war, dass andere folgen würden, nachdem er mich zugeritten hatte. Deswegen hab ich die ganze Zeit gesummt, als die Ärztin mich genäht hat. Ich weiß noch, wie komisch sie mich angesehen hat, so als dürfte ich nach alldem nicht summen. Aber es war das Einzige, was mich abhielt, mir mit meinen letzten Zähnen die Pulsadern aufzubeißen.«

Bobby hielt das Lenkrad mit beiden Händen umklammert und blinzelte, damit das Brennen aus seinen Augen verschwand. Aber er sah Aarons Vergewaltigung zu lebhaft vor sich, als dass sich das Bild vertreiben ließ. Er erinnerte sich, wie Aaron nur wenige Stunden nach dem Vorfall auf der anderen Seite der Trennscheibe gesessen hatte, und jetzt wurde ihm klar, warum Aaron nicht gewollt hatte, dass er wiederkam. Ihm war nicht nur das Gesicht zerschlagen, die Nase gebrochen worden.

»Aaron«, sagte Bobby, »das tut mir so leid.«

»Hast du mich in die Zelle gebracht?« Bobby verneinte. »Dann braucht’s dir auch nicht leidtun.« Aaron drehte sich weg und sah aus dem Fenster. Bobby streckte die Hand aus und wollte ihn an der Schulter berühren, zog sie aber gleich wieder zurück. Weder für das eine noch für das andere fand er einen Grund.

Aaron schüttelte den Kopf und schlug sich auf die Wangen. »Scheiße war nur, dass es in der Bibliothek keine Comics gab«, sagte er und rülpste. »Da hast du ziemlich was zu tun, mich auf den aktuellen Stand zu bringen. Aber immerhin durfte ich in der Bibliothek bleiben und hab viel gelesen. Anfangs vor allem Romane und so. Damit ich auf andere Gedanken kam, verstehst du? Aber dann bekam ich ein paar Aufträge. Ich musste mich mit Sprache, Geschichte und allem möglichen Zeug beschäftigten.«

»Aufträge?«, fragte Bobby. »Was für Aufträge?«

»Wusstest du, dass dein Nachname auf Sizilianisch ›dunkelhäutig‹ heißt?«, sagte Aaron.

Was zum Teufel meinte Aaron? Wer gab ihm Aufträge?

Aaron öffnete das letzte Bier. Bobby gab Gas.

Auf der Höhe der Duquesne Incline warf Bobby einen Blick über den Fluss auf die Standseilbahn. Ihre Gleise wurden links und rechts von einer Reihe weißer Strahler beleuchtet. Es war seltsam. Unzählige Male hatte Bobby sich den Tag von Aarons Entlassung vorgestellt, dabei aber immer eine andere Szene im Kopf gehabt. Vor allem hätten sie einfach an ihr vorheriges Leben angeknüpft. Bobby hätte sich über DC Comics lustig gemacht, Aaron über Marvel. Und sie hätten sich gegenseitig in ihrer Abneigung gegen Image Comics bestärkt. Bobby hätte Aaron wegen seines miesen Musikgeschmacks aufgezogen. Aaron hätte Bobby wegen seiner miesen Klamotten verarscht. Und sie hätten ihre miesen Familien verglichen. Mit einem Fingerschnippen wären drei Jahre verflogen, alles wieder beim Alten.

Sie machten Witze und lachten, aber es klang hohl, falsch. Aaron war ein anderer geworden, und das betraf nicht nur die körperlichen Veränderungen, die neuen Muskeln. So viel war klar. Auch jenseits der Musik, der Tätowierungen und der anderen Sprechweise hatte sich etwas verändert, das sein früheres Strahlen umschattete. Nur ein schmales Lächeln. Als dürfte er nicht.

Bobby musste etwas dagegen tun. Egal, was Aaron passiert war, sein bester Freund war zurück. Er brauchte weiter Bobbys Hilfe, aber nicht mehr so wie damals, als sie Kinder waren. Jetzt war es anders. Bobby wusste nicht, ob er das hinbekam. Sie erreichten die Forbes Avenue. Etwas entfernt ragte die Cathedral of Learning der University of Pittsburgh auf.

»Wo fahren wir überhaupt hin?«, fragte Bobby.

»Scheiße, stimmt ja. Ich muss nach North Oakland«, sagte Aaron. »Ich muss da heute noch jemand treffen.«

»Du bist grad erst raus und machst gleich wieder weiter?«

»Nein, nein, nicht, was du meinst. Ich hab nur versprochen, mich um jemanden zu kümmern. Ein paar Nächte bei ihm bleiben.«

»Versteh schon, ist auch uncool, wenn du bei mir und meiner Mom in Homewood rumhängst. Wobei ich dir recht geben muss, eine Zelle ist im Vergleich ein Hotelzimmer.« Aaron lachte. »Also, was willst du machen, Mann? Wir müssen ja nicht sofort hin, oder? Du bist wieder draußen!«

»Ich bin am Verhungern«, sagte Aaron. »Ach scheiß drauf, gehen wir ins Dirty O.«

Bobby stöhnte auf. Aaron wusste, dass er den Original Hot Dog Shop nicht ausstehen konnte. Aber es war das einzige Lokal, das noch offen hatte, wenn die Bars schlossen. Betrunkene Studenten und Kleinkriminelle aus den umliegenden Vierteln strömten dorthin, um sich noch eine Flasche Schnaps, wagenradgroße Pizzas oder Riesentüten fettige Pommes zu holen. Aber jetzt waren die Straßen in Oakland beinahe leer. Die Studenten waren zum Semesterende nach Hause gefahren. Es war der letzte Ort, an den Bobby wollte, aber Aaron war ganz aus dem Häuschen. Vor allem wenn er betrunken war, hatte er das Essen dort geliebt, und Bobby konnte sich vorstellen, dass er heute Abend besonders scharf darauf war.

»Scheiße. Aber okay.«

»Echt?«, fragte Aaron.

»Ich weiß, dass es mir hinterher leidtut, aber meinetwegen, fahren wir. Du hast doch selbst gesagt: Wie oft kommt mein bester Freund aus dem Gefängnis? Die Pommes werden dir aber deine Modelfigur versauen.«

»Dummer Arsch«, sagte Aaron. Jetzt grinste er breit, die Augen leuchteten.

Bobby parkte an der Bouquet Street, keinen halben Block vom Dirty O entfernt. Das Licht der Leuchtwerbung an der Lokalfront fiel in die Pick-up-Kabine und badete sie beide in Rot. Aaron öffnete die Tür, aber Bobby rührte sich nicht.

»Was ist los?«, fragte Aaron.

»Es ist arschkalt«, sagte Bobby. »Hol, was du willst, ich lass derweil die Karre laufen.«

»Alles klar. Aber wenn ich schon mal drin bin, schau ich auch nach, ob sie auf dem Klo Polster für deine Muschi haben.«

»Ach fick dich doch.« Bobby zwang sich zu einem weiteren Lachen und stellte den Motor ab.

»Du schaffst das, Mann.«

Die Luft im Lokal roch so, wie für Bobby die Toiletten aussahen. Sosehr er Aaron diesen Gefallen tun wollte, so sehr sträubten sich seine Nackenhaare, und am liebsten wäre er sofort zum Auto zurückgegangen. Dann sah er den Grund.

Zwei junge Schwarze saßen an einem Tisch in der Nähe des Tresens. Einer hatte den Kopf auf die Tischplatte gelegt und wirkte bewusstlos. Neben seinem Ellbogen stand eine fast leere Schnapsflasche. Er trug eine blaue Strickmütze und eine blau-schwarz karierte Jacke, ein Outfit, das Bobby nur zu gut aus Homewood kannte. Der zweite schaufelte Pommes in seinen Mund und gluckerte einen Maxibecher Cola. Keine Gangfarben, nur ein braunes Sweatshirt mit gefütterter Kapuze und dunkelblaue Jeans. Er sah jünger aus als Bobby und Aaron. Schon beim Eintreten ernteten sie von ihm einen finsteren Blick. Im Neonlicht des Lokals sah Bobby zum ersten Mal genau, was der Junge zweifellos auch bemerkt hatte.

Aarons Tätowierungen.

Doppelblitze auf den Schultern. Zwischen den Schlüsselbeinen ein Reichsadler.

Auf jedem Ellbogen ein Spinnennetz.

»Oh Gott«, flüsterte Bobby vor sich hin.

Er stand hinter Aaron, als der an der Kasse die Bestellung aufgab. Dabei hörte er den Jungen am Tisch verächtlich zischen.

»Was kommen denn heut für Nullnummern hier rein«, sagte er. Bobby tat so, als hätte er nichts gehört, warf aber einen, wie er glaubte, verstohlenen Blick über die Schulter. Der Junge sah ihm direkt in die Augen, ehe Bobby den Kopf wieder nach vorne drehen konnte. »Yeah, hast mich schon verstanden.«

Bobby starrte auf Aarons breiten Rücken. Entweder hatte Aaron nichts gehört oder es war ihm egal. Er gab weiter die Bestellung auf.

»Hey, wo hast du die Spinnennetze her?«, wandte sich der Junge direkt an Aaron. »Knast, oder? Du bist ’n beinharter Boss, was?«

Aaron drehte sich zu Bobby um und lächelte.

Nicht lächeln, bitte nicht lächeln. Warum zum Teufel lächelst du?

Mit dem Handrücken gab er Bobby einen Klaps auf den Bauch.

»Ich muss mal pissen«, sagte er. »Bin gleich wieder da.«

»Was? Nein«, sagte Bobby. »Bleib hier, Mann, bleib hier.« Aber Aaron verschwand einfach. Der alte Mann hinter dem Tresen stopfte matschige Pommes in eine weiße Tüte, bis sie davon überquoll und das Papier vom Fett fast transparent wurde. Bobby warf wieder einen Blick über die Schulter, um zu prüfen, ob der Junge noch herübersah.

Er tat es. Der neben ihm lag immer noch auf der Tischplatte, begann sich aber zu regen. Als Aaron vom Klo zurückkam, schob der alte Mann die Pizza und die Pommes über den Tresen.

»Alles erledigt? Dann können wir ja gehen«, sagte Bobby.

»Wie, essen wir denn nicht hier?«

»Was?«

»Bleib locker«, sagte Aaron. »Zahl einfach, und wir verschwinden.«

»Sehr witzig«, sagte Bobby, während er das Geld über den Tresen schob.

»Was für ’n Schwanzlutscher«, sagte der Junge in Aarons Richtung.

Aaron lachte kurz auf. Stuhlbeine kratzten über den Boden. Der Junge stand direkt hinter ihnen. Er war größer als Aaron, aber dünn. Sein Gesicht war schmal, die Haut spannte über den Knochen.

Mit rasendem Puls spürte Bobby, wie sich der Druck eines Asthmaanfalls aufbaute und ihm die Brust zuschnürte.

»Hab ich ’n Witz gemacht?«, fragte der Junge Aarons Hinterkopf. Mit dem Essen in der Hand drehte sich Aaron um und sah den Teenager an. »Was ist?«, sagte der. »Ich weiß genau, was die Tätowierungen bedeuten, aber nope, ich hab keine Angst vor euch. Glück für euch, dass mein Kumpel pennt.« Er ließ kurz die Schultern kreisen.

Ohne mit der Wimper zu zucken, lächelte Aaron weiter.

»Entschuldige uns bitte«, sagte Aaron, als er zur Seite trat und an ihm vorbeiging. Bobby folgte ihm. Gott sei Dank. Sie steuerten auf die Tür zu.

»War ja nicht anders zu erwarten«, sagte der Junge. »Verpisst euch nur.«

Beinahe. Sie waren fast draußen.

Aaron legte die Hand auf den Türgriff. Ließ ihn los und wandte sich wieder um. Er schob die Zunge unter die Oberlippe und machte Affengeräusche, dazu zeigte er dem Jungen den Stinkefinger. Bobby schob ihn hinaus, aber er hörte schon Schritte hinter sich.

Aaron ging gemächlich weiter, bis Bobby ihn erneut schubste. Darauf trabte Aaron los, blieb aber gleich wieder stehen, um sich eine Handvoll Pommes in den Mund zu schieben. Die Tür des Dirty O wurde aufgestoßen und schlug gegen die Wand.

»Hey, ihr Witzbolde«, rief der Junge und rannte ihnen nach. Bobby wollte loslaufen, aber der Gehweg war glatt, und er wäre beinahe gestürzt. Der Junge erreichte ihn und packte ihn am Jackenkragen. Bobby schrie nach Aaron, der auf einmal zum Pick-up rannte. Aarons plötzliche Feigheit ließ Bobby panisch werden, er fürchtete, zurückgelassen und verprügelt zu werden. Oder Schlimmeres. Mit einem Ruck riss er sich los und sprintete zur Fahrerseite des Pick-ups. Sprang hinein, schlug die Tür zu. Der Junge trommelte gegen das Seitenfenster. Bobby ließ den Motor an und wollte aufs Gas treten, als er merkte, dass Aaron nicht neben ihm war. Auf dem Sitz lagen nur der Pizzakarton und die aus der Tüte gefallenen Pommes. Beim Blick nach vorne sah er Aaron im Scheinwerferlicht zu dem jungen Schwarzen laufen. Der trat von der Fahrerseite zurück und winkte Aaron provozierend zu sich. Bobby schrie, Aaron solle aufhören. Umdrehen und in den Wagen steigen. Dann bemerkte er den Ziegelstein in Aarons Hand.

Der Stein krachte auf Knochen, und der Junge sank wie eine Marionette mit gekappten Schnüren zusammen. Bobby hörte seinen Kopf auf den Gehweg schlagen. Er packte den Türgriff, sein Atem beschlug das Seitenfenster. Er lehnte sich zurück, um den Dunstfilm abzuwischen.

Das Gesicht des Jungen klaffte an mehreren Stellen tief auf. Kein Blut, bis sich der Mund öffnete, still und weit. Wie auf Befehl begann gleich darauf jede Wunde gleichzeitig zu bluten. Schuhe scharrten im Schneematsch. Er wand sich und stöhnte, anfangs leise, dann immer lauter, wie eine näher kommende Sirene. Mit zitternden Armen versuchte er verzweifelt, sich vom Boden hochzustemmen. Bobby wollte die Tür öffnen, aber in seiner Panik hatte er sie verriegelt. Als er den Hebel fand und am Griff zog, riss Aaron die Beifahrertür auf. Bobby schrak zusammen. Aaron ließ den Ziegelstein in den Fußraum vor seinem Sitz fallen.

»Los, los, los«, sagte er.

Aaron atmete schwer, aber seine Stimme war gefasst. Sein Atem roch nach Bier. Bobby hatte vergessen, dass er den Motor bereits angelassen hatte, und als er den Schlüssel noch einmal drehte, knirschte der Anlasser.

Mit quietschenden Reifen bog er in die Forbes Avenue. Aaron drückte Bobbys Knie. »Fahr langsamer.«

Aaron wandte sich um und blickte durchs Heckfenster nach hinten, Bobby sah in den Rückspiegel. Die Polizeistation auf der anderen Straßenseite hatte zur Abschreckung oft einen Streifenwagen ohne Besatzung stehen. Als sie vorbeifuhren, blieb der Wagen ruhig. Kein Licht. Keine Sirenen. Bobby blickte noch einmal nach hinten und sah, wie die Tür des Dirty O aufging, dann war auch die Leuchtreklame nicht mehr zu sehen.

»Mein Gott, Aaron, was für eine Scheiße war das denn?«, sagte Bobby. Er rang immer mehr nach Luft, seine Brust rasselte, das Asthma drückte ihm die Luftröhre zu wie ein Schraubstock. Mit pfeifendem Atem griff er in die Innentasche seiner Jacke und zog den Inhalator heraus. Er fiel ihm aus der Hand. Aaron hob das Spray aus dem Fußraum auf und hielt es ihm hin. Das Blut von seinen Fingern klebte auf dem Plastik. Bobby fragte sich, ob es von Aaron oder dem Jungen stammte, und starrte auf den Inhalator in Aarons ausgestreckter Hand. Aaron bemerkte das Blut und wischte es mit dem Saum seines weißen Tanktops ab.

»Scheiße«, sagte er. »Sorry, verdammt, ich hab auch was auf deine Hose geschmiert.«

Als er Bobby den Inhalator erneut hinhielt, sah Bobby schon leicht verschwommen. Schnell griff er den Inhalator und nahm einen tiefen Atemzug. Aaron klappte das Handschuhfach auf und holte eine Schachtel Zigaretten heraus. Er hielt Bobby eine hin und drückte den Anzünder rein. Bobby nahm die Zigarette und steckte sie zwischen seine trockenen Lippen.

»Fuck«, sagte Bobby. »Was hast du getan, Mann? Was hast du nur getan?«

»Du musst hier abbiegen. Gleich da vorn.«

Der Zigarettenanzünder sprang heraus. Aaron und Bobby griffen gleichzeitig danach. Aaron ließ Bobby den Vortritt. Wenn er Aaron den Anzünder in die Wange oder noch besser, weil weicher und verletzlicher, ins Auge stieß, konnte er vielleicht aus dem Auto springen, es gegen einen Laternenpfahl rollen lassen und in der Nacht verschwinden. Er könnte sich in der St. Paul’s Cathedral verstecken und die Polizei rufen.

Um was zu sagen?

Dass er abgehauen war und einen Sterbenden liegen gelassen hatte? Ach übrigens, weil der Irre, der ihn umgebracht hatte, zu betrunken zum Fahren gewesen war, hatte er ihn noch schnell vom Tatort weggeschafft. Damit brächte er sich auch selbst schnurstracks in den Knast, und dann sähe er aus wie Aaron an jenem Tag, als er ihn besucht hatte. Oder noch schlimmer, wenn ihm der Schädel eingeschlagen wurde wie dem sich auf dem Gehweg windenden Jungen, den er einfach hatte liegen lassen.

Dieser Junge. Mein Gott, er hatte auch Eltern. Er war achtzehn, höchstens neunzehn. Den nächsten Geburtstag würde er wohl kaum erleben. Vielleicht nicht mal den nächsten Tag.

Bobby stellte sich die Mutter vor. Wie die Polizei an ihrer Tür klopfte und ihr mitteilte, dass man ihrem Sohn mit einem Ziegelstein den Schädel eingeschlagen hatte und ihn sterbend auf dem Pflaster liegen ließ. Er dachte an seine Mutter Isabel und stellte sie sich gramerfüllt schluchzend vor. Doch dabei hörte er immer das Stöhnen des Jungen. In seinem Kopf klangen ihr vorgestelltes Schluchzen und das erinnerte Stöhnen des Jungen wie ein »Warum«.

»Du hättest hier abbiegen müssen«, sagte Aaron. Bobby blinzelte eine Träne weg. »Nimm die nächste links.«

Der Anzünder zitterte, als Bobby ihn an die Spitze seiner Zigarette hielt. Aaron legte seine Finger um Bobbys Hand, um sie zu beruhigen. Bobby spürte die Hitze der Glühschleife vor seinen Lippen, und als der Tabak zu knistern begann, sog er den heißen Rauch ein. Seine Lunge war von dem Asthmaanfall noch eng, aber er zog so stark an der Zigarette, dass er beinahe erstickte. Er war fast froh darüber, erklärte das doch die Tränen, die über seine Wangen liefen. Eine davon wischte Aaron mit einem schwieligen Daumen weg. Bobby schlug ihm auf die Hand.

»Lass deine Pfoten bei dir«, sagte er.

Aaron hob beide Hände in die Höhe, dann nahm er vorsichtig den Anzünder aus Bobbys Hand. Er zündete seine Zigarette an und ließ das Fenster einen Spalt runter, damit der Rauch abziehen konnte. Kalte Luft strömte in die Kabine. Aaron ließ sich tiefer in den Sitz rutschen und stemmte einen Stiefel gegen das Armaturenbrett. Auch wenn er möglicherweise gerade einen Teenager umgebracht hatte, räkelte er sich geradezu lustvoll, wie nach dem Sex. Der Aaron, den Bobby gekannt hatte oder gekannt zu haben meinte, hätte nicht mal für Geld eine flachlegen können. Der stieläugige Aaron, der selbst im Vergleich zu Bobby nur ein Hemd gewesen war. Aaron, Bobbys Kollege im Club der Comic-Nerds. Sein bester Freund, Aaron Möchtegern. Der Wigger.

Etwas war an seine Stelle getreten. Hatte seinen Namen angenommen. Einen schwachen Abklatsch seines Charakters behalten. Aber er war das nicht. Rasierter Schädel und Springerstiefel mit roten Schnürsenkeln statt Baggy Jeans und Adidas-Tennisschuhen mit Gummikappe. Der früher so dürre Hals war in einem Schultergebirge verschwunden. Bei jedem Blick auf Aaron wollte Bobby den Jungen sehen, der sein Freund gewesen war, ehe er ins Gefängnis kam. Er hoffte, bei dem nächsten Blinzeln aus einem Fiebertraum zu erwachen, schwitzend unter einer dicken Decke, aber alles, war er sah, war das blutende Gesicht des schwarzen Jungen, und ihm wurde übel.

»Bieg rechts ab«, sagte Aaron.

»Warum?«, fragte Bobby.

Verwirrt sah Aaron Bobby an. »Weil’s der Weg in die Wohnung ist?«

»Das ist jetzt ein Witz, oder? Du weißt genau, was ich meine. Warum hast du das mit dem Jungen gemacht?«

»Warum? Der Typ ging dir an den Kragen, und du fragst mich, warum? Wie oft, Bobby?«, fragte er. Er zog die Oberlippe von den Zähnen. »Wie oft hast du mir in der Schule wegen der verdammten Affen den Arsch gerettet? Auf dem Klo? Dem Parkplatz? Weißt du das nicht mehr? Glaubst du, ich schau einfach zu, wenn so was mit dir passiert? Weil genau das wär passiert.«

»Ich weiß, aber –«

»Nichts aber. Mein Gott, Kumpel, du selbst hast es mir immer wieder gepredigt. Weißt du das nicht mehr? Ich hab’s damals nicht geglaubt, aber ich hab meine Lektion gelernt.« Er stieß eine Rauchwolke aus und lehnte sich über die Konsole zu Bobby, als wollte er ihn zwingen, ihm in die Augen zu sehen, drehte aber den Kopf zum Heck des Pick-ups und deutete nach hinten, wo sie den Jungen liegen gelassen hatten. »Das sind Tiere, Bobby. Und manche Tiere muss man von ihrem Leid erlösen.«

Bobbys Gesicht wurde heiß. Als er zum Abbiegen das Lenkrad drehte, dachte er an eine andere Straße.

Eine schmale Gasse hinter dem Haus seines Großvaters.

Seine erste Prügelei. Nie hatte er sie vergessen, und nie hatte er die Geschichte einem anderen erzählt, weder Aaron noch sonst jemandem. Sein Gesicht erinnerte sich an die glühenden Wangen, den metallischen Geschmack seines eigenen Bluts im Mund.

Er war elf gewesen.

Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er »Nigger« gesagt.

Am selben Tag hatte ihm seine Mutter eröffnet, dass er selbst einer war.

Kapitel 2

Aaron dirigierte ihn zu einem heruntergekommenen Wohnblock in North Oakland. Als er die Tür öffnete, um auszusteigen, blieb Bobby sitzen. Er hielt das Lenkrad umklammert und schlug die Stirn dagegen. Der Geruch von fetttriefenden Pommes und Pizza in der Kabine verstärkte seine Übelkeit. Sobald Aaron draußen war, würde er aufs Gas steigen, zur nächsten Polizei fahren und sich und Aaron anzeigen.

Doch der Pick-up gehörte Aaron, und er war damit von einem Tatort weggefahren.

Ich hab den Jungen sterben lassen.

Eine Träne fiel auf sein Bein, genau auf die Stelle, wo Aaron sein Knie gedrückt und einen blutigen Fingerabdruck hinterlassen hatte.

»Hey, hör mal«, sagte Aaron. »Tut mir leid, ich hab das nicht geplant.«

»Du hast ihn umgebracht, Aaron. Verdammte Scheiße, du hast ihn umgebracht.«

»Was hätt ich denn tun sollen? Er ging auf dich los.«

»Aber nur wegen dir.«

»Ach komm schon, Mann. Das war doch nichts. Deswegen hätte er nicht gleich auf uns losgehen müssen.«

Bobby nahm den Kopf vom Lenkrad und blinzelte Aaron mit glasigen Augen an. »Was ist los mit dir?«, fragte er.

»Was, wenn er eine Pistole gehabt hätte, Bobby? Hast du dir das überlegt?«

»Das war ein dummer Junge, Aaron. Nur ein nerviger Wicht, der sich aufgeblasen hat.«

»Für den sich kein Schwein interessieren wird. Weißt du, Mann, das ist genau dieselbe Scheiße wie auf der Highschool. Du kapierst es nicht, und das nervt mich schön langsam. Gehen wir. Nimm das Essen mit. Ich bin am Verhungern.«

Aaron sprang aus dem Auto und schlug die Tür zu. Bobby schrak zusammen und richtete sich auf. Tief ein- und ausatmend dachte er nach. Wie konnte er den Cops seine Rolle in der Sache erklären? Es war nicht sein Wagen, aber Aaron war betrunken. Aaron hatte ihn dazu gezwungen. Allerdings hatte er keine Waffe, nicht mal ein Messer, das plausibel gemacht hätte, dass er Bobby keine Wahl gelassen hatte. Aaron klopfte gegen die Scheibe, und Bobby hörte ein gedämpftes »Komm schon«. Er war sicher, dass es einen Ausweg gab, aber das war nicht der richtige Moment. Er hatte Aaron jetzt schon genervt, und wenn er dazu noch Verdacht schöpfte, dass Bobby zur Polizei wollte – wer konnte sagen, dass es ihm nicht genauso erging wie dem Jungen?

Moment mal. Das ist doch derselbe Aaron, der selbst mit tropfnassen Klamotten keine fünfundsechzig Kilo auf die Waage brachte. Hab ich etwa vor dem Angst?

Ja, das hatte er. Er war schockstarr. Er nahm die Pommes und die Pizza und folgte ihm.

Der ganze Gang im zweiten Stock roch nach Gras. Zwischen den rissigen Wänden hallte der schwere Bass eines Rap-Tracks. Musik und Grasgeruch drangen durch die Tür am Ende des Gangs. Erstaunt über ihr Ziel, neigte Bobby den Kopf zur Seite und sah Aaron an. Der schlug mit der flachen Hand gegen die Tür. Nichts. Er stieß einen unterdrückten Fluch aus und schlug mit der Faust dagegen. Die Musik wurde leiser. Das Licht hinter dem Türspion verschwand. Eine Sperrkette wurde abgenommen. Das Schloss klickte.

Ein teiggesichtiger Weißer mit kurz geschorenen blonden Haaren öffnete die Tür. Er war höchstens so alt wie der Junge, den sie auf dem Gehweg hatten liegen lassen. Er klatschte mit Aaron ab, dann zog er ihn zu einer halben Umarmung an sich. Dazu musste sich der Junge auf die Zehen stellen. Er trug ein langes Basketball-Sweatshirt und eine Tarnhose, die er unten in Dr.-Martens-Stiefel gestopft hatte. Wie bei Aaron rote Schnürsenkel. Als er Aaron auf den Rücken klopfte, sah Bobby das Hakenkreuz auf seinem Handrücken, und wieder spürte er den unguten Kloß im Hals. Der junge Skinhead glotzte Bobby an, der mit Pizza und Pommes in der Hand wie ein verirrter Lieferant dastand.

»Wer ist dieser Itaker da?«, fragte er Aaron.

»Cool bleiben, Cort«, erwiderte Aaron. »Cort stimmt doch, oder?« Der Junge nickte. »Der ist okay.«