Wir für immer - Whisper von Soul - E-Book

Wir für immer E-Book

Whisper von Soul

4,9

Beschreibung

Und für immer fehlt ein Teil des eigenen Lebens. Einen Bruder, eine Schwester oder mehrere Geschwister durch den Tod zu verlieren und die Endgültigkeit des Verlusts zu begreifen ist unsagbar schwer und kaum in Worte zu fassen. Dennoch erzählen in diesem Buch betroffene Geschwister von ihren Schicksalsschlägen, wie sie die Situation wahrgenommen und durchlebt haben. Die Trauer ist ein langer Prozess, den jeder anders empfindet. Dieses Buch zeigt aber auch, wie die Autorinnen trotz dieser Erfahrung ihr Leben weiter leben. Dieses Buch soll andere Betroffene stärken und unterstützen. Der gesamte Erlös aus den Buchverkäufen wird gemeinnützig gespendet. Informationen hierzu siehe whispervonsoul.blogspot.de

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Wir widmen dieses Buch

unseren wunderbaren einzigartigen verstorbenen Geschwistern

Alexander

Andi

Daniel

Finia

Inga

Jens

Joshua

Julian

Julienne

Liam

Lukas

Maly

Marcel

Michael

Mike

Oliver

Sascha

Thomas

Tobias

Ute

Yannick

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Alexander G. Lukas G. Julian G.

Andi B.

Finia H.

Inga P.

Jens V.

Joshua W.

Julienne H.

Liam Sebastian Frank C.

Malya Yara K.

Marcel R.

Michael S.

Daniel D. Mike D.

Oliver K.

Sascha M.

Thomas W.

Tobias H.

Ute B.

Yannick W.

Danksagung

Einleitung

Dieses Buch ist ein Zeichen für unsere verstorbenen Geschwister, für uns und unsere Familien. Wir wünschen uns aber auch, dass dieses Buch hilfreich für alle ist, die dieses Schicksal gemeinsam teilen.

Wir alle haben Geschwister im Kindes- oder Erwachsenenalter verloren oder lernten sie nur durch Erzählungen und Bilder kennen.

Auf so unterschiedliche Art sind sie auf jeden Fall ein Teil unseres bisherigen Lebens.

Egal welchen Alters, unsere Geschwister waren oft unsere ersten tröstenden Schultern, unsere Beschützer oder Motivatoren. Sie lehnten sich zum Trost an unsere Schulter oder wir suchten Rat bei ihnen. Ein Team, welches zusammenhält.

Der Tod unserer Schwestern und Brüder ist vergleichbar mit dem Verlust eines Teils unserer Persönlichkeit - eine grausame Erfahrung, welche uns sehr prägt. Wo sind unsere Spielkameraden, Vorbilder oder Konkurrenten nun hin?

Die Liebe zueinander ist eine andere als zu Eltern. Aber genau diese besondere Art der Liebe macht uns als Geschwister aus. Besondere und individuelle Beziehungen zu unseren Geschwistern haben aus uns die Menschen gemacht, die wir heute sind. Und auch der Tod unserer Lieben, kann uns nicht voneinander trennen. Ihr Einfluss lebt in uns weiter. Sie stehen uns noch immer zur Seite, sei es im Herzen oder unseren Gedanken.

Aber was sind wir nun ohne unsere Geschwister? Was hat der Tod mit uns gemacht? Was verändert sich? Was wird schwierig? Wie fällt es leichter zu trauern? Und aus genau solchen Fragen, Gedanken und Erinnerungen heraus ist dieses Buch entstanden.

Eines ist klar:

Wir bleiben verbunden und sind für immer Geschwister!

WIR für immer!

Geschwistertrauer

Was hab ich mich in deine Scherze vergraben.

Wir machten das Dunkle der Nächte zu Tagen.

Wir haben das Leben mit Liebe begossen,

sind gemeinsam mit unseren Tränen geflossen.

Hab mich wohlig in Dein Lächeln geschmiegt,

mich geborgen in deinen Augen gewiegt.

All mein Sein sehnt nach Dir.

Ja, Du fehlst mir

Wir waren uns Helden und Perlentaucher,

Weltenforscher und Armnehmbraucher,

Himmelsstürmer und Steineabtrager,

sicherer Boden und Brückenschlager.

Wir haben an Unversehrtheit geglaubt,

uns´re Heimat auf Vertrauen gebaut.

Jetzt fehlst Du mir.

Ich sehn´ mich nach Dir

Doch ich trotze dem Schwarz und der Schwere vom Tod,

jedem Lebensprinzip und Wahrheitsgebot.

Meine Liebe zu Dir kann lachen und trauern.

Wir werden die weltliche Zeit überdauern.

Ich trage Dich mit durch mein neues Leben,

unerschüttbar will ich uns´re Spuren weben.

Wir bleiben untrennbare Weltenerbauer!

Meine Sehnsucht nach Dir heißt Geschwistertrauer.

© Alexandra Wirth

Alexander G.

*25.01.2006 +18.01.2012

Lukas G.

*03.09.2007 +18.01.2012

Julian G.

*16.03.2009 +18.01.2012

Ich heiße Sophie, bin 13 Jahre alt und schreibe über meine drei Brüder <3 Alexander <3 Lukas <3 Julian <3

Ich war damals 9 Jahre alt, als sie verstarben; meine Brüder waren 5, 4 und 2,5 Jahre alt.

Es passierte vor knapp viereinhalb Jahren am 18.01.2012 durch unseren Hausbrand. Ich vermisse sie jeden Tag und denke an sie. Täglich frage ich mich, was tun sie gerade da oben.

In der Schule sitz ich einfach so da und denke nochmal über diesen Vorfall nach und frage mich, wieso musste uns das passieren, wieso ausgerechnet uns???

Ich liebe sie und werde es immer tun! Egal wie alt oder wie erwachsen ich werde, NIE im Leben werde ich sie vergessen!!

Ihr Tod hat mich zu einem komplett anderen Menschen gemacht. Früher war ich offen und habe nicht viel über die Sachen nachgedacht, die ich gemacht habe. Aber im Gegensatz zu damals denke ich heute über jeden einzelnen Schritt nach: Ist das gut oder falsch, was ich tue usw.

Ich vermisse sie wirklich sehr und ich kann mit Freunden, der Familie und mit Bekannten darüber reden, egal wann und egal wo.

So etwas wünsche ich niemandem, weil das, was ich da mitgemacht habe, keinem anderen Menschen widerfahren sollte. Ich habe drei meiner wichtigsten Menschen in meinem Leben verloren, sie waren Teil meiner Familie, meine Brüder. So etwas wünsche ich keinem!

Ich hoffe und wünsche mir einfach, dass es ihnen da oben sehr, sehr gut geht und es würde mich sehr interessieren was sie dort in ihrer Welt machen.

Jungs, ich vermisse und liebe euch sehr!

Für immer werde ich eure Schwester bleiben und ich frage mich sehr oft, was ihr heute so tun und wie ihr aussehen würdet - nur leider werde ich es wohl nie herausfinden.

Ich vermisse euch so sehr!

In Liebe eure Schwester

Sophie G. <3

Andi B.

*14.02.2007 +26.08.2013

„Andis Reise über den Regenbogen“

Alexandra Bett, 12 Jahre, das Bild entstand kurz nach dem Tod von Andi

Finia H.

*07.01.2005 +23.04.2012

„Sehnsucht nach Finia“

Juna (7 Jahre)

Inga P.

*11.06.1986 +23.07.2010

„Es ist etwas Schreckliches passiert.“ Dieser Satz meiner Mutter stand am Anfang einer Zäsur in meinem Leben, teilte es in ein Davor und ein Danach. „Inga ist tot. Ihr Ehemann hat sie umgebracht.“ Ich brauchte einige Sekunden, um zu begreifen, was meine Mutter gesagt hatte. Dann brach ich zusammen. Gerade noch saß unsere Familie friedlich im Wohnzimmer, unsere drei Jungs spielten und mein Mann gab unserer Tochter einen Brei, nun war diese Friedlichkeit vorbei. Zerstört durch den Ehemann meiner kleinen Schwester. Ein Teil von mir wurde grausam herausgerissen, diesen Schmerz werde ich nie vergessen. Eine unbeschreibliche Leere überfiel meinen ganzen Körper. Am Tag zuvor hatte ich das letzte Mal mit meiner Schwester telefoniert, hatte ihr das erste Zeugnis meines Ältesten, dessen Patentante sie war, vorgelesen. Wir hatten viel Spaß und stritten uns zum ersten Mal seit langer Zeit nicht. Ihr letzter Satz, an den ich mich erinnern kann, war „Schönschrift wird eh überbewertet!“

Inga war acht Jahre jünger als ich und ist das vierte Kind meiner Eltern. Ich bin die Älteste. Sehr genau sind meine Erinnerungen an ihre Geburt, als mein Vater uns von der Schule abholte und ins Krankenhaus fuhr. Ich freute mich wahnsinnig auf meine kleine Schwester und war ziemlich enttäuscht, als ich dieses gräulich-blaue, verschrumpelte Wesen sah. Am nächsten Tag war ich sehr erleichtert, dass sie inzwischen eine rosige Haut hatte und sehr süß aussah – in diesem Zustand konnte ich sie dann auch das erste Mal auf den Arm nehmen.

Unsere Bindung war sehr eng, ich konnte an ihr sämtliche „große-Schwestern-Fähigkeiten“ ausleben. Klar, manchmal war ich auch sehr genervt, weil ich Inga meistens im Schlepptau hatte und auf sie aufpassen sollte. Auf der anderen Seite hätte ich platzen können vor Stolz, wenn sie „Mama“ zu mir sagte.

Dieses besondere Verhältnis blieb. Ich fühlte mich immer verantwortlich für sie, besprach aber auch für mich wichtige Dinge mit ihr. Ihr erzählte ich als Erste, dass ich mich in meinen jetzigen Mann verliebt hatte und selbstverständlich wurde sie die Patentante meines ersten Sohnes. Während des Studiums wohnten Inga und einer meiner Brüder mit meinem Mann und mir in einem Haus in einer Art Familien-WG.

In dieser Zeit lernte sie ihren zukünftigen Ehemann kennen, zog mit ihm zusammen, heiratete und bekam einen Sohn. Die Beziehung der Beiden war von Anfang an voller Probleme, aber Inga war fest entschlossen, diese zu bewältigen. Wir stritten häufig, weil ich ihre Einstellung nicht nachvollziehen konnte. Zudem hatte ich Angst um sie und um ihr Kind. Inga musste ihren Weg gehen, auch wenn ich damit nicht einverstanden war. Im Nachhinein ist dies das Schlimmste für mich, dass wir die Zeit, die wir noch hatten, nicht genießen konnten, sondern ständig aneinander hochgingen.

In der Nacht nach unserem letzten Telefongespräch brachte ihr Ehemann Inga um. Direkt nach der Tat ging er zur Polizei und stellte sich. Der Notarzt konnte nur noch ihren Tod feststellen, ihr gemeinsamer Sohn, der zu dem Zeitpunkt 16 Monate alt war, wurde in Obhut genommen und später meiner Mutter übergeben. Für meine Mutter war sofort klar, dass Ingas Sohn bei ihr aufwachsen sollte.

Die Woche zwischen der Nachricht über Ingas Tod bis zur Beerdigung verbrachte ich wie in Trance. Auf der einen Seite war ich nur müde, konnte mich kaum bewegen und war für meine Familie ein Komplettausfall. Eine gute Freundin sprang ein und organisierte den Kindergeburtstag meines Ältesten, für den wir die Einladungen am Tag vor Ingas Tod verteilt hatten. Ich bin meiner Freundin bis heute noch dankbar für diese Hilfe. Auch meine andere Freundin war immer für mich da, sowohl an Ingas Todestag – sie kam sofort, nachdem ich sie angerufen hatte und blieb bis spät in die Nacht - als auch an allen anderen Tagen. Auf der anderen Seite entwickelte ich wahnsinnige Kräfte, um die Beerdigung zu organisieren. Ich telefonierte mit so vielen Menschen, um sie von Ingas Tod in Kenntnis zu setzen und sie zur Beerdigung einzuladen, Freunde, MitschülerInnen, ehemalige LehrerInnen, Kommilitoninnen ... Ich regelte die Kündigung aller Verträge, traf mich mit meiner Mutter beim Bestatter und schrieb eine Rede. Wir suchten die Anziehsachen aus, die Inga „mitnehmen“ sollte, ich schenkte ihr eine Bluse von mir und meine Lieblingsbettwäsche. Der Bestatter war unglaublich einfühlsam, zeigte uns unkonventionelle Möglichkeiten auf und bestärkte uns in unserem Bauchgefühl. Wir bekamen ein paar Tage Zeit, um von Inga Abschied nehmen zu können. Sie lag in einem Abschiedsraum, zu dem wir einen Schlüssel bekamen und jederzeit Zutritt hatten. Ich war einmal bei ihr. Es war sehr emotional, aber auf der anderen Seite habe ich gemerkt, dass dies nur noch Ingas Körper war. Inga war längst nicht mehr in dieser Hülle, sondern ganz nah bei uns.

Die Beerdigung war sehr schön. So viele Menschen waren gekommen, um von Inga Abschied zu nehmen. Viele Bekannte sprachen mich auf meine Mutter an, empfahlen mir, gut auf sie aufzupassen, oder fragten mich, ob sie schon etwas gegessen habe. Das fand ich äußerst befremdlich, da niemand von ihnen nach meinen Geschwistern oder mir fragte. Erst später las ich in vielen Foren, dass die Trauer der Geschwister häufig vergessen wird und die Trauer der Eltern einen besonderen Stellenwert hat. Zum Glück waren an diesem Tag aber auch viele meiner Freunde da, so dass ich den Tag gut gemeistert habe.

Die Zeit nach der Beerdigung wird von vielen als Beginn der eigentlichen Trauer empfunden, da nun wirklich das Leben weitergeht. Bei mir fiel diese Zeit mit dem Beginn der Sommerferien zusammen, was Glück im Unglück war. So konnte ich mich noch etwas dem planlosen Leben hingeben. Wir verbrachten einen Teil der Ferien in unserer Heimatstadt in Nordrhein-Westfalen, wo auch noch ein Teil unserer Familie lebt. Einerseits tat diese Nähe wahnsinnig gut, wir redeten viel über früher, und auch meine Cousinen hatten einige Anekdoten von Inga auf Lager. Andererseits war dieser Urlaub der erste ohne Inga. Heimat ohne Inga, Currywurst ohne Inga, Schloss Burg ohne Inga. Diese Woche wurde ein Vorgeschmack auf viele weitere Erlebnisse ohne meine Schwester. Zu diesem Zeitpunkt konnte ich mir nicht vorstellen, jemals wieder ein „normales“ Leben zu führen. Ich fühlte mich schon rein körperlich dazu nicht in der Lage. Das ganze Leben war anstrengend. Familienfeste, Geburtstage, Adventszeit, Weihnachten wurden sehr emotional. Ingas Kerze, die ich zu ihrer Beerdigung gestaltet hatte, brannte an diesen Tagen und wurde zum festen Ritual.

Meine Mutter und ich trauerten ähnlich, dachte ich zumindest. Wir redeten viel über Inga, während meine anderen drei Geschwister eher schwiegen. Meine Mutter sah allerdings Ingas Leben durch eine rosarote Brille und versuchte, friedlich mit ihrem Tod klarzukommen. Ich jedoch war unglaublich wütend. Wütend auf meine Schwester, weil sie nicht auf mich gehört hatte. Wütend auf meine Mutter und Ingas Freundinnen, die die Gefahr und meine Befürchtungen nie ernst genommen hatten. Wütend auf mich, weil ich sie nicht hatte schützen können, weil ich mich so häufig mit ihr gestritten hatte, weil ich vielleicht doch nicht alles ausprobiert hatte, sie zu überzeugen. Und nochmal wütend auf meine Mutter, die mir jetzt immer sagte: „Es bringt nichts, sich Vorwürfe zu machen oder immer zu überlegen, welche Alternativen es gegeben hätte. Das macht Inga nicht mehr lebendig und für dich ist es nur belastend.“

Natürlich war ich auch traurig. Alle Emotionen empfand ich sehr intensiv. Mit Inga hatte ich meine Gesprächspartnerin innerhalb der Familie verloren. Als Älteste hatte ich immer eine besondere Rolle, trug schon früh Verantwortung für meine vier jüngeren Geschwister. Nach mir kamen zwei Brüder, die ein sehr inniges Verhältnis zueinander haben, danach Inga und meine jüngste Schwester. Ich war als Kind immer ein wenig außen vor, was ich aber auch genoss. Erst als wir älter wurden, studierten und zusammen wohnten, kamen Inga und ich uns auf Augenhöhe sehr nahe. Diese Gespräche vermisse ich. Ihre Nähe vermisse ich. Ihr muffeliges Gesicht nach dem Aufstehen vermisse ich. Ihre Begeisterungsfähigkeit vermisse ich. Ihre Naivität vermisse ich. Ihr Vertrauen vermisse ich. Ihre Liebe zu meinen Kindern vermisse ich. An diesem Schmerz, der meinen ganzen Körper durchfährt, wenn ich an Inga denke, hat sich bis heute nichts geändert. Ich denke nicht mehr minütlich an sie, aber doch sehr häufig über den Tag verteilt. Sie ist immer anwesend, manchmal in einem Nebensatz, manchmal in meinen Gedanken.

Bereits sieben Monate nach ihrem Tod fand der Prozess statt, den meine Mutter und ich als Nebenklägerinnen gemeinsam durchstanden.

Nach dem Prozess bin ich in ein tiefes Loch gefallen. Ich habe meine ganze Lebensplanung infrage gestellt. Mein bisheriges Studium wurde mir zu unsicher. Ich brauchte klare Strukturen, die mir Halt geben konnten. Außerdem hatte ich große Verlustängste. An einem Abend wollte mein Mann noch kurz etwas einkaufen. Plötzlich hörte ich einen Krankenwagen, der in Richtung Lebensmittelmarkt fuhr. Panisch versuchte ich, meinen Mann auf dem Handy zu erreichen, vergeblich. Während ich immer wieder die Nummer wählte, behielt ich die Haustür im Blick, da ich jeden Moment mit den beiden Polizisten rechnete, die mir mitteilen würden, dass mein Mann ums Leben gekommen sei. Völlig aufgelöst rief ich meine Mutter an, die zunächst gar nicht verstand, was ich sagte, weil ich nur noch schluchzen konnte. Mein Mann kam kurze Zeit später wohlbehalten zu Hause an und brauchte lange, um mich zu beruhigen. Heute erzähle ich meist lachend von dieser Situation, damals wurde mir jedoch klar, dass ich mein Leben ändern musste, um mit meinen Ängsten klar zu kommen. Ich änderte meinen Studiengang in ein Lehramtsstudium. Viele Scheine konnte ich mir anrechnen lassen, viele Dozentinnen und Dozenten kannten meine Situation, hatten Verständnis und unterstützten mich. Ein Praktikum an einer Schule hat mir sehr gut gefallen, die Arbeit mit den Jugendlichen machte mir großen Spaß. Diese Rahmenbedingungen halfen mir, mein Leben wieder in den Griff zu bekommen.

Zusätzlich nahm ich Termine einer psychologischen Beratung wahr. Diese Gespräche waren für mich wenig hilfreich. Mein Gesprächspartner konnte mir nichts sagen, was ich nicht schon wusste, es kamen keine neuen Anstöße in Bezug auf meine Trauer.

Ich recherchierte viel im Internet, suchte Literatur, die sich mit Geschwistertrauer auseinandersetzt und erfuhr, dass dieses Thema sehr stiefmütterlich behandelt wird. Aber wie ich auch an meiner Mutter und mir sah, ist es ein gewaltiger Unterschied, ob man ein Kind oder ein Geschwister verliert. Zusätzlich macht es einen Unterschied, ob der geliebte Mensch durch eine Krankheit oder plötzlich stirbt. Keiner von beiden Fällen ist „besser“ oder „schlechter“. Ingas Tod traf mich so unvorbereitet. Ich hatte keine Zeit mich zu verabschieden. Ich weiß aber nicht, ob es für mich mit einem Abschied leichter geworden wäre. Unser Abschied war das letzte Telefonat ohne Streit.

Nichts mehr ist, wie es war.

Zwei Jahre nach ihrem Tod wurde ich ungeplant schwanger. Ich hätte nicht gedacht, wie sehr mich diese Nachricht aus der Bahn schmeißen würde. Natürlich freuten wir uns auf unseren Fünften, aber er war das erste Kind, das Inga nicht kennenlernen würde. Ich habe mich immer gefragt, wie ich ohne Inga ein Kind bekommen soll. Natürlich völlig irrational, aber was ist schon rational nach dem Tod einer Schwester?

Wie hat sich mein Leben verändert? Was hat mir geholfen oder hilft heute noch?

Ich habe gelernt, dass ich nicht alles kontrollieren kann. Trauer ist unberechenbar, sie schlägt zu, wenn du nicht mit ihr rechnest, wenn du völlig unvorbereitet bist. Manchmal fange ich aus dem Nichts heraus an zu weinen. Manchmal kündigt sich ein Stimmungswandel an. Ich bin dann zuerst sehr unruhig, plane mehrere Dinge auf einmal, gerne auch in Extremen, wie zum Beispiel eine Auswanderung vorzubereiten, die zwei Stunden später Umbauplänen weichen muss, die wiederum in einen Spontanurlaub münden. Wenn diese unruhige Phase vorbei ist, werde ich müde und schlapp, kann mich teilweise nicht mehr bewegen. Dann merke ich meistens, dass ich mich auf eine traurige Phase einstellen kann. Die einzelnen Phasen können Tage, aber auch nur einzelne Stunden dauern. Sie können in dieser Reihenfolge passieren oder auch nicht. Ich habe gelernt, auf meinen Körper zu hören und großzügig zu mir zu sein.

Die ersten Todestage war ich vor allem traurig und habe sehr viel geweint. Letztes Jahr war es anders. Ich war sehr gereizt, aggressiv, habe überall Streit gesucht. Auch hier kann ich also keinen Rhythmus erkennen. Erschwerend kommt hinzu, dass diese Gefühle das feste Datum nicht zu kennen scheinen. Eine Woche vorher oder auch später kann die Trauer zuschlagen.

Ich weiß inzwischen, dass es im Jahresrhythmus nur eine sehr kurze Zeit gibt, in der Ingas Tod nicht ununterbrochen mein Leben bestimmt. Diese Zeit ist zwischen Neujahr und April. Dann beginnt die „heiße“ Phase mit Elias´ Geburtstag, ihrem Geburtstag, ihrem Todestag. Die Auswirkungen dieser anstrengenden Zeit ziehen sich bis in den Spätsommer, nach einer kurzen Verschnaufpause startet auch schon wieder die Adventszeit.

Ohne meinen Mann, meine Kinder und unsere Freunde würde ich es nicht schaffen. Keiner unserer Freunde hat sich abgewandt, ich kann auch heute noch mit ihnen über Inga sprechen, sie fragen nach und sie spüren, wenn ich Trost brauche.

„Die Zeit heilt alle Wunden.“ Dem kann ich gar nicht zustimmen. Narben bleiben und sie reißen immer wieder auf. Auch heute noch habe ich das Gefühl, unvollständig zu sein. Nur selten gelingt es mir, auch innerlich fröhlich oder glücklich zu sein.

Egal was heute passiert, ich sage immer: „Es ist nicht so schlimm. Immerhin ist niemand gestorben.“ Für fast jedes Problem gibt es eine Lösung.

Mir persönlich hat mein Glaube sehr geholfen. Ich habe nie an Gott gezweifelt, sondern fand es sehr beruhigend, in dieser Hinsicht die Verantwortung abgeben zu können. Ich bin mir sicher, er weiß was er tut, auch wenn ich es nicht verstehe. Vielleicht werde ich es nie verstehen können, aber das muss ich ja auch nicht.

Anja K.

Jens V.

*19.11.1989 +27.06.2011

Liebe bis ins JENSeits - Vergessen werde ich dich nie.