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Erstaunliche Geschichten aus der Erforschung eines der scheinbar vertrautesten Tätigkeiten des Menschen, dem Gehen – von Physiologie und Medizin über die Kriminologie bis hin zur Literatur und bildender Kunst. Das Gehen ist ein vertrauter und alltäglicher Vorgang, der sich der exakten Erfassung hartnäckig zu entziehen scheint. Die Ungreifbarkeit des Gegenstandes stieß im 19. Jahrhundert eine Reihe von wissenschaftlichen Untersuchungen an, die die menschliche und tierische Bewegung messen, analysieren und auch verbessern sollten. Von der Physiologie und Medizin über die Kriminologie bis hin zur Literatur und bildenden Kunst reichen die Ansätze zur Sicherung und Verwertung von Gangspuren. Ein bisher kaum beleuchtetes Kapitel der Wissenschaftsgeschichte, in dem sich zentrale soziale, politische und ästhetische Probleme des neunzehnten Jahrhunderts bündeln.
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Seitenzahl: 381
Andreas Mayer
Wissenschaft vom Gehen
Die Erforschung der Bewegung im 19. Jahrhundert
Fischer e-books
ZUM ANDENKEN AN OSWALD ALTURBAN
(26. 12. 1916–1. 12. 1998)
FÜR YVONNE
»Ist es nicht wirklich außergewöhnlich festzustellen, dass, seitdem der Mensch geht, niemand sich jemals gefragt hat, warum er geht, wie er geht, ob er geht, ob er nicht besser gehen könnte, was er beim Gehen macht, ob es nicht ein Mittel gäbe, seinen Gang Vorschriften zu unterwerfen, zu verändern, zu analysieren: Fragen, die sämtliche philosophischen, psychologischen und politischen Systeme betreffen, mit denen sich die Welt befasst hat.«
Honoré de Balzac, Théorie de la démarche (1833)
»Tullio hatte wieder angefangen, von seiner Krankheit zu erzählen, die auch sein wichtigster Zeitvertreib war. Er hatte die Anatomie des Beins und des Fußes studiert. Lachend erzählte er mir, daß man beim schnellen Gehen für einen Schritt nicht mehr als eine halbe Sekunde benötige und daß sich in dieser halben Sekunde nicht weniger als vierundfünfzig Muskeln in Bewegung setzen würden. Ich staunte, und sofort lief ich in Gedanken zu meinen Beinen, um dort nach diesem ungeheuerlichen Apparat zu suchen. Ich glaube, ich habe ihn gefunden. Natürlich stieß ich dabei nicht auf vierundfünfzig Einzelvorrichtungen, sondern auf einen immens komplizierten Mechanismus, der, sowie ich meine Aufmerksamkeit darauf richtete, aus seinem geregelten Gang geriet.
Ich verließ das Café hinkend, und ein paar Tage lang hinkte ich auch weiterhin. Das Gehen war für mich zu einer schweren und auch leicht schmerzhaften Arbeit geworden. Diesem Wirrwarr an Mechanismen schien jetzt das Schmieröl zu fehlen, und sie schienen sich in ihren Bewegungen gegenseitig zu behindern. Wenige Tage später befiel mich ein schlimmeres Übel, von dem ich berichten werde, und das das erste abschwächte. Aber noch heute, da ich darüber schreibe, geniert es die vierundfünfzig Bewegungsabläufe, wenn mir wer beim Gehen zuschaut, und ich bin drauf und dran hinzufallen.«
Italo Svevo, La coscienza di Zeno (1923)
Kaum eine Tätigkeit scheint in ihrem alltäglichen Vollzug dem Wesen der menschlichen Natur so sehr inhärent zu sein wie das Gehen auf zwei Beinen. Die Selbstverständlichkeit dieses gleichsam automatisch ablaufenden Aktes erweist sich jedoch spätestens dann als zerbrechlich und zweifelhaft, sobald die Frage nach seinem Mechanismus zum Thema wissenschaftlicher Forschung wird. Die seit dem späten achtzehnten Jahrhundert unternommenen Versuche, die natürliche Gangart des Menschen mit Hilfe von Messinstrumenten und Deutungstechniken eindeutig zu bestimmen und zu kultivieren, antworten auf eine Verunsicherung, die westlichen Industriegesellschaften eignet. Sie ist mit Schlagworten wie »Mechanisierung« oder »Beschleunigung der Lebenswelt« nur unzureichend beschrieben.[1] Als ein genuines Projekt des neunzehnten Jahrhunderts lässt sich die Karriere der wissenschaftlichen Gangforschung nicht ohne die schrittweise Einführung neuer wissenschaftlicher und technischer Erfindungen wie der mit Dampfkraft betriebenen neuen motorischen Fortbewegungsmittel verstehen. Doch tritt das Gehen des Menschen nicht mit bewegten Maschinen in Konkurrenz, deren reibungsloses Funktionieren sichergestellt wäre (wie es etwa eine optimistische Fortschrittsgeschichte nahelegt). Sobald die Geschichte der Geschwindigkeit im neunzehnten Jahrhundert nicht aus der Ingenieursperspektive erzählt wird,[2] sondern aus der Sicht derer, die sich täglich im modernen Verkehr bewegen müssen, bietet sich ein weitaus zwiespältigeres, nicht selten chaotisches Bild. Die Kräfte von Menschen, Tieren und Maschinen treten in einen Wettlauf ein, der sich keineswegs in einem wohlkoordinierten System abspielt.[3] Sei es bei weiten Reisen über Land oder im Stadtraum, die neuen Fortbewegungsmaschinen befinden sich noch lange in zäher Konkurrenz zu Fußgängern und Pferden, die nun selbst als ideale Gangmaschinen begriffen werden.
Wenn das Gehen schon am Ende des achtzehnten Jahrhunderts von vielen Autoren als ideale und natürlichste Form der Fortbewegung gepriesen wird, so verdankt sich diese Bestimmung jedoch nicht nur pragmatischen Aspekten. Dass das Ideal vom natürlichen aufrechten Gang von moralischen und politischen Werten durchdrungen ist, haben eine Reihe von kulturhistorischen Arbeiten gezeigt. Im Anschluss an Norbert Elias wird dieses Ideal zumeist als Ausdruck einer bürgerlichen Gehkultur begriffen, die sich von aristokratischen Habitusformen distinguiert, oder, den Thesen von Michel Foucault folgend, als ein Prozess der Disziplinierung von Körperbewegungen, in dem sich eine neue subtile Form der Disziplinarmacht manifestiert.[4] Die Geschichte und Soziologie des Körpers, die in den letzten zwei Dekaden eine mittlerweile unüberschaubare Literatur hervorgebracht hat,[5] hat sich auch episodisch mit der Erforschung menschlicher Bewegung im neunzehnten Jahrhundert befasst, doch diese vorwiegend als einen Prozess der Verwissenschaftlichung oder der Normalisierung interpretiert.[6] Der kognitive Aspekt der medizinischen und physiologischen Literatur wird dabei zugunsten ihrer als normativ gesetzten Funktionen vernachlässigt. Wenn auch der Wille zur kontrollierten Reform bewegter Körper bei vielen Wissenschaftlern und Medizinern offensichtlich ist, scheint es jedoch nicht als ausgemacht, dass die Auswirkungen wissenschaftlicher Beobachtungen und Experimente zwangsläufig zur Ausbildung neuer Normen führen.
Das vorliegende Buch nähert sich der Untersuchung dieses weitverzweigten Feldes nicht über eine Geschichte des Gehens im Sinne von körperhistorischen oder -soziologischen Ansätzen, sondern als eines bisher ungeschriebenen Kapitels der Geschichte wissenschaftlichen Beobachtens und Experimentierens.[7] Es rekonstruiert in vier Etappen ein bisher kaum in seiner Gesamtheit erfasstes Feld, in dem sich das Problem der Objektivierung anhand eines zugleich trivialen und kulturell hoch bewerteten menschlichen Aktes unausgesetzt stellt. Die Erforschung des Gehens, die bis zum Ende des neunzehnten Jahrhunderts vor allem in Frankreich und Deutschland zu einem prestigereichen Projekt aufrückte, wird im Folgenden im Rahmen einer historischen Anthropologie des Wissens untersucht. Dabei gilt es primär zu verstehen, wie das alltägliche Phänomen der menschlichen Bewegung in den Rang eines ungreifbaren Objektes aufgestiegen ist.[8]
Das erste Kapitel bestimmt die Ausgangspunkte zu einem empirischen Wissen über den menschlichen Gang, wie sie sich bis zum Ende des achtzehnten Jahrhunderts in Europa und insbesondere in Deutschland herauskristallisieren. Dieses Wissen geht aus neuen kulturellen Bewertungen hervor, die die Praxis des Gehens mit der Fußreise erfährt, die sich von neuen Transportmitteln und -wegen absondert. Rousseaus anthropologische Bestimmung des menschlichen Körpers als eines ursprünglichen Instruments, die auch mit einer philosophischen Nobilitierung des Reisens zu Fuße einhergeht, liefert vielen Wissenschaftlern, Medizinern und Intellektuellen die Stichworte für das Kultivieren einer natürlichen Gangweise, die sich betont langsam und ungeregelt der Quantifizierung von Reisewegen im neuen Verkehrssystem entgegensetzt. Die Formen dieses Wissens über die der Natur gemäßen Körperbewegung sind heterogen und treten verstreut an verschiedenen Orten und im Zusammenhang mit der Neudefinition von kulturellen Praktiken auf. Das Wissen über den natürlichen Gang beruft sich zunehmend auf eine mechanistische Physiologie, die den menschlichen Körper als eine zugleich im Sinne der Kraftersparnis eingerichtete und auf ästhetische Zwecke hin berechnete Maschine begreift, wie anhand von drei exemplarischen Formationen gezeigt wird: Dies sind pädagogische Institutionen wie die deutschen Philantropine, die für eine neue Erziehung des Gehens im Rahmen von Gymnastiklehren plädieren, militärische Exerzierplätze, auf denen Soldaten die zweckmäßigsten Marschschritte einüben, sowie die ersten in den Städten und ihrer Umgebung angelegten Promenaden, die ein neues, alltägliches Beobachtungsfeld für eine Physiognomik des Ganges bieten.
Das zweite Kapitel wendet sich den Beobachtern der Körperbewegung in Frankreich zu, die erstmals versuchen, die »fortschreitenden Bewegungen des Menschen und der Tiere« zum Gegenstand einer neuen Wissenschaft zu machen. Die kritische Revision der Iatromechanik des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts, die lebende Organismen als bewegte Maschinen auffasst, wird dabei zum Ausgangspunkt neuer physiologischer Lehren. Im Zentrum dieser Diskussionen steht der berühmte Traktat De motu animalium von Giovanni Alfonso Borelli, der bis heute als Gründungstext der Biomechanik gilt.[9] Die vitalistische Physiologie, die die Bezüge zwischen dem Moralischen und dem Physischen ins Zentrum ihrer neuen »Wissenschaft vom Menschen« stellt, greift den deduktiven Experimentalstil der Iatromechanik an und privilegiert ein Vorgehen, bei dem wissenschaftliche Theorien über die Lebensvorgänge aus einer Fülle von Tatsachen abgeleitet werden. Viele Mediziner begreifen im frühen neunzehnten Jahrhundert die Bewegungsphysiologie im Sinne einer ganzheitlichen Anthropologie, die eine hohe Diversität von Erscheinungen des Gehens, Laufens und Springens ohne Rückgriff auf die Gesetze der Mechanik oder metaphysische Prinzipien zu erklären sucht. Der Versuch einer Integration von mechanischen und semiotischen Ansätzen bei der Analyse des Bewegungsakts führt jedoch den totalisierenden Diskurs der Wissenschaft vom Menschen an seine Grenzen. In seiner »Théorie de la démarche«, einem kurzen, aber zentralen Text seiner Comédie Humaine, antwortet Balzac auf die französischen Versuche, eine physiologische Theorie des Gehens auf der Grundlage der Mechanik zu entwickeln, mit einem spielerischen Gegenentwurf, der in radikaler Zuspitzung die Bewegung zum notwendigen und unmöglichen Gegenstand einer neuen Wissenschaft vom Menschen erklärt.
Das dritte Kapitel wendet sich den Anfängen eines neuen Experimentalismus zu, wie er erstmals 1836 mit der ersten längeren Abhandlung zur Mechanik der menschlichen Gehwerkzeuge von Wilhelm und Eduard Weber auf den Plan tritt. Das weitgespannte Feld der diversen kulturellen und individuellen Variationen der Gangarten sowie ihrer pathologischen Erscheinungsformen, mit denen sich die weitgehend nosographisch ausgerichtete Physiologie der menschlichen Bewegung befasst, wird hier zugunsten einer Untersuchung des »natürlichen Gangs« ausgeschlossen, der als ein idealer Gegenstand für eine physikalisch-mechanische Studie gilt. Diese Idealbestimmung erfolgt weitgehend im Anschluss an die Zielsetzungen der industriellen Mechanik, die die Leistungen menschlicher, tierischer und maschineller Bewegung im Hinblick auf reibungslosen Transport und eine effizientere Organisation militärischer Marschformationen vergleichenden Berechnungen unterzieht. In ihrer Studie entwickeln die Brüder Weber neuartige Praktiken, die die räumliche Isolierung und Selektionsmechanismen in einem Labor mit dem Gebrauch von populären Illusionstechniken verknüpften, um das regelhafte Spiel der »Gehwerkzeuge« in Ablösung von den gehenden Menschen selbst auf eine neue Weise sichtbar zu machen.
Von der Weber’schen Studie führt jedoch kein bruchloser Weg zu den graphischen und photographischen Aufzeichnungsverfahren des französischen Physiologen Etienne Jules Marey.[10] Das vierte Kapitel behandelt dieses sicherlich prestigereichste Unternehmen zur Erforschung menschlicher und tierischer Bewegung, das sich in Frankreich ab 1870 ausbreitete. Mit der weitgehenden Mechanisierung und Objektivierung der Gangaufzeichnung, die die Sinne des menschlichen Beobachters für unzureichend erklärte, beanspruchen Marey und seine Mitarbeiter, zu einer homogenen und eindeutigen Repräsentationsform zu gelangen, die diverse »Lokomotionssysteme« jeweils in derselben Form nicht nur kognitiv erfassen, sondern auch kontrollierbar und letztlich reformierbar machen soll. Die Forschungen des französischen Bewegungsphysiologen an seiner Station physiologique, die im zwanzigsten Jahrhundert zum Symbol einer vollständig durchmechanisierten Moderne aufgerückt sind,[11] wurden jedoch in wissenschaftlichen, medizinischen, künstlerischen und politischen Praxisfeldern jeweils sehr unterschiedlich rezipiert. Ein zentrales Feld für die Ausbildung von Beobachtungs- und Notationstechniken, die Anspruch auf wissenschaftliche Exaktheit erhoben, bildete das Projekt einer »rationalen« Dressur, das mit der Forderung nach einer realistischen Darstellung von Pferden in der Historienmalerei einherging. Gleichzeitig bildeten sich in Bezug auf die Klassifikation der Pferdegangarten, die klinische Diagnostik in der Forensik, der Neurologie oder der Orthopädie jedoch mit dem Gebrauch des Spurenbildes andere Verfahren der Gangaufzeichnung heraus, die implizit oder direkt mit den graphischen und photographischen Methoden der Bewegungsphysiologie rivalisierten. Trotz der von Mareys Forschungen ausgehenden Versuche, die chronophotographische Zerlegung der Gangarten zur Norm für eine neue wissenschaftliche Ästhetik und pädagogische Reformen des Gehens zu erheben, koexistieren am Ende des Jahrhunderts vielmehr in den Humanwissenschaften verschiedene Techniken, die Körperbewegung zum Gegenstand zu machen.
In seinem Briefroman Julie ou La Nouvelle Héloïse (1761) sondert Jean-Jacques Rousseau die vornehme Welt, die sich in der Kutsche fortbewegt, von jener »anderen« sozialen Welt, die sich freiwillig oder notgedrungen zu Fuß bewegt: »Diejenigen, die zu Fuß gehen, gehören nicht zur vornehmen Welt: Sie sind Bürger, Leute aus dem Volke, Leute aus der anderen Welt, und man könnte sagen, dass die Karosse nicht so sehr zum Fahren notwendig ist als um zu existieren.«[12] Rousseau ist nicht der Einzige, der in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts das Fahren und das Gehen nicht nur als zwei gegensätzliche Arten der Fortbewegung, sondern auch als grundlegend verschiedene Existenzweisen bestimmt. Die Kultur- und Literaturgeschichte hat in der neuen Bewertung des Gehens das Aufkommen einer »bürgerlichen Gehkultur« in der Aufklärung gesehen, die in ihrem Bestreben nach Distinktion gegenüber den Repräsentationsformen der höfischen Welt den Spaziergang als eine neue Praxis des Erfahrens und Beschreibens von Natur und Gesellschaft definiert.[13] Die Abgrenzung vom aristokratischen Kodex der Bewegung richtete sich vor allem gegen dessen Künstlichkeit und Trägheit, wie sie sich auf den Promenaden zeigte, wo die Fahrt in der luxuriös ausgestatteten Kutsche demonstrativ dem Gehen vorgezogen wurde.[14] In der Aufklärung definierten sich zahlreiche Philosophen, Schriftsteller und Pädagogen in klarer und meist polemischer Distanz zu dieser Existenzweise.
Wie das Beispiel Rousseaus zeigt, blieb jedoch unklar, welches soziale Profil und welche Form der Existenz dem Fußgänger im achtzehnten Jahrhundert letztlich eignete: »Bürger, Leute aus dem Volke, Leute aus der anderen Welt« formen keine eigene Klasse. Das Problem durchzieht eine umfangreiche Reiseliteratur, die die »Promenade«, den »Spaziergang« oder die »Fußreise« im Titel führt.[15] In diesen Texten wird das Gehen zur natürlichsten und besten Form des Reisens erklärt und zugleich eine neue Sensibilität für die ästhetischen und poetischen Qualitäten der ambulanten Lebensweise propagiert. Das menschliche Gehen wird jedoch nicht nur als eine Praxis in Abgrenzung zum Fahren im Wagen neu bestimmt, sondern erscheint auch bereits in Konturen als Gegenstand eines vorerst noch heterogenen Wissens, in dem mechanische und semiotische Ansätze ineinandergreifen. Nach einer Bestimmung der anthropologischen Ausgangspunkte, wie sie sich in der Literatur zur Fußreise finden, werden im Folgenden die Versuche betrachtet, den natürlichen Gang zum Gegenstand eines Wissens zu machen. Dieses Wissen bezieht sich zwar auch auf wissenschaftliche Theorien, doch bleibt es durch seine praktische Ausrichtung an konkreten Orten und Tätigkeiten orientiert: Es zirkuliert auf den ersten halböffentlichen Promenaden, auf denen Spaziergänger ein neues Beobachtungsfeld entdecken, in den Institutionen der Philantropen, die eine neue Erziehung des Gehens propagieren, und auf militärischen Exerzierplätzen, wo sich die Einübung in den Soldatenmarsch vollzieht.
Als der sicherlich prominenteste Wortführer des moralphilosophischen und ästhetischen Entwurfs einer ambulanten Existenzweise gilt Rousseau, der, wenngleich er selbst keine eigentlichen Reiseberichte verfasst hat, durch seine 1782 postum veröffentlichten Schriften vielen Fußreisenden das Programm liefert. In einer berühmten Passage der Bekenntnisse findet sich das Selbstverständnis des einsamen Spaziergängers formuliert:
»Was ich im Hinblick auf die Einzelheiten meines Lebens, deren ich mich nicht mehr zu erinnern vermag, am meisten bedauere, ist, dass ich keine Tagebücher über meine Reisen geführt habe. Nie habe ich so viel gedacht, nie bin ich mir meines Daseins, meines Lebens so bewusst, nie, wenn ich so sagen darf, so ganz Ich gewesen, wie auf denen, die ich allein und zu Fuß gemacht habe. Im Gange liegt etwas, das meine Gedanken weckt und belebt; verharre ich auf der Stelle, so bin ich fast nicht im Stande zu denken; mein Körper muss in Bewegung sein, damit mein Geist in ihn hineintritt. Die Ansicht der ländlichen Gegend, die Abfolge angenehmer Aussichten, die frische Luft, der große Appetit, das Wohlbefinden, das sich beim Gehen bei mir einstellt, die Zwanglosigkeit in der Schenke, die Abwesenheit von allem, was mir meine Abhängigkeit fühlbar macht, von allem, was mich an meine Lage erinnert, dies alles macht meine Seele frei, verleiht mir eine größere Kühnheit im Denken, schleudert mich gewissermaßen in die Unermesslichkeit der Dinge, um sie zu ordnen, auszuwählen und sie mir nach meinem Gutdünken, ohne Zwang und Furcht, anzueignen. Ich verfüge als Herr über die ganze Natur; von Gegenstand zu Gegenstand schweifend, vereinigt und identifiziert sich mein Herz mit denen, die es angenehm berühren, umgibt sich mit reizenden Bildern, berauscht sich an köstlichen Empfindungen.«[16]
Der einsame Spaziergänger kehrt der Stadt als Inbegriff der zivilisierten und verdorbenen Welt demonstrativ den Rücken, um im Modus des Gehens die Natur in ihrer Schönheit zu genießen und in ihrer Ordnung zu erschließen und zugleich sich seiner selbst bewusst zu werden. Die Körperbewegung wird damit zur zentralen Bedingung für die geistige Erfassung und Aneignung der Welt durch den Menschen, wobei der Erkenntnisakt untrennbar mit einer spezifischen Stimmungslage gleichgesetzt wird. Rousseau präsentiert sich hier, gleichsam in Form einer philosophischen Urszene, als radikaler und furchtloser Denker, der in der modernen Welt die peripatetische Methode der antiken Philosophie wiederzufinden trachtet. Der schweifende Blick des Philosophen wendet sich von den klassifikatorischen Systemen und dem instrumentellen Apparat der Naturwissenschaften ab: Durch die Freisetzung einer zunächst ziellosen Bewegung zielt er auf ein totales Erfassen der Welt in ihrer Ordnung.
Die hier angedeutete Poetik des Spazierens in der freien Natur, die in der Zeit der Französischen Revolution und in der Frühromantik verschiedene Ausprägungen finden wird,[17] enthält auch eine Herrschaftsphantasie, die in einer anthropologischen Bestimmung der Naturhaftigkeit des menschlichen Gehens gründet. In früheren Schriften Rousseaus, insbesondere im Discours sur l’origine et les fondemens de l’inégalité parmi les hommes (1755) und im Erziehungsroman Émile (1762) finden sich die zentralen Elemente dieser Anthropologie.[18] Wesentlich für die Bestimmung des Menschen ist im Discours einerseits, dass dieser von allen Anfängen an als Zweibeiner vorgestellt ist: »ich nehme an, daß er zu allen Zeiten so gestaltet war, wie ich ihn heutzutage vor mir sehe: auf zwei Füßen gehend, sich seiner Hände bedienend, so wie wir es mit den unseren tun, seine Blicke auf die ganze Natur gerichtet und mit den Augen die weite Ausdehnung des Himmels ermessend«.[19] Damit relativiert Rousseau einerseits die verschiedenen Zeugnisse von auf den Händen und Füßen laufenden Menschen, wie er sie in Berichten über die Hottentotten und die Kariben der Antillen sowie die von Tieren großgezogenen Fällen von »wilden« Menschenkindern gelesen hat, und folgt, zumindest in groben Zügen, dem Porträt des Menschen als Herrscher über die Natur und alle anderen Lebewesen, wie es Buffon in seiner Histoire naturelle (1749) gezeichnet hat.[20]
Andererseits entwickelt Rousseau seine Zivilisations- und Wissenschaftskritik unter Rückgriff auf die ethnographische Reiseliteratur, die von der erstaunlichen Kraft und Geschicklichkeit der »edlen Wilden« berichtet.[21] Bedeutender als die jeweiligen empirischen Details, die er von den zitierten Beobachtern übernimmt, ist jedoch die daraus gezogene, weitreichende theoretische Schlussfolgerung, die in einer Kritik an den Maschinen und Werkzeugen des zivilisierten Menschen gipfelt:
»Da der Körper des Wilden das einzige Werkzeug ist, das er kennt, gebraucht er ihn zu verschiedenen Tätigkeiten, zu denen unsere Körper aus Mangel an Übung nicht mehr fähig sind; unser Erfindungsgeist [industrie] nämlich raubt uns die Stärke und die Behändigkeit, die zu erwerben ihn die Not zwingt. Würde sein Arm so starke Äste brechen können, wenn er eine Axt gehabt hätte? Würde seine Hand einen Stein mit solcher Wucht werfen, wenn er eine Schleuder gehabt hätte? Würde er so leicht auf einen Baum klettern, wenn er eine Leiter gehabt hätte? Wäre er so schnell im Laufen, wenn er ein Pferd gehabt hätte? Lasst dem zivilisierten Menschen die Zeit, alle seine Maschinen um sich zu versammeln, so wird er zweifellos den wilden Menschen überwinden. Wenn ihr aber einen noch ungleicheren Kampf sehen wollt, so stellt sie nackt und unbewaffnet einander gegenüber, und ihr werdet bald erkennen, welchen Vorteil es hat, alle seine Kräfte unaufhörlich zur Verfügung zu haben, stets auf jedes Ereignis vorbereitet zu sein und sich sozusagen selbst immer ganz mit sich zu führen.«[22]
Rousseaus Anthropologie erkennt im Körper das primäre und ursprünglichste Instrument des Menschen. Ein Arsenal an natürlichen »Maschinen«, die er in seinen Händen, Füßen und Sinnen zu entdecken hat, wird so gegen die zur Erkenntnis und Beherrschung der Natur entwickelten Werkzeuge (aber auch die als Nutz- und Lasttiere gebrauchten Pferde) gesetzt. In seiner Variante des cartesischen Dualismus fasst Rousseau das Tier als »eine kunstvolle Maschine« (une machine ingénieuse) auf, die sich durch ihren naturgegebenen Instinkt selbst erhält, im Gegensatz zum Menschen, der seine Maschine im Bewusstsein seiner Handlungsfreiheit handhabt.[23] »Sich immer ganz mit sich zu führen«, diese Maxime wird im Émile zum Ausgangspunkt einer umfassenderen Kritik an der experimentellen Physik und ihrem instrumentellen Apparat. Der Gebrauch von Instrumenten zur Messung von Distanzen oder Gewichten muss Rousseau zufolge notgedrungen zur Verkümmerung der Sinnestätigkeit der menschlichen Körperorgane führen: »je erfinderischer unsere technischen Instrumente werden, umso plumper und ungeschickter werden unsere Organe; vor lauter Maschinen, die wir um uns herum versammeln, entdecken wir keine mehr in uns selbst.«[24] Dementsprechend wird dem Erzieher empfohlen, im Unterricht der Naturwissenschaften seinen fiktiven Schüler zum Gebrauch seiner körperlichen Sinne anzuregen, im Sinne einer langwierigen und mühseligen »Experimentalphysik« (physique expérimentale),[25] die ohne die Hilfe von Buchwissen oder Messinstrumenten den ungeschützten Widerstand mit der Welt sucht. Im Rahmen einer solchen Erziehung wird die Fußreise zu einem Pflichtprogramm. Denn nur hier kann der angehende Gelehrte sowohl eine ästhetische Sensibilität für das richtige Genießen der Natur als auch deren Erkenntnis erlernen:
»Zu Fuß reisen heißt, reisen wie Thales, Plato und Pythagoras. Es fällt mir schwer zu begreifen, wie sich ein Philosoph entschließen kann, anders zu reisen und sich selbst um die Gelegenheit zu bringen, die Reichtümer zu erforschen, über welche sein Fuß dahinschreitet und welche die Natur in verschwenderischer Fülle vor seinen Blicken ausbreitet. Wer, der nur ein wenig Gefallen am Landbau findet, hätte nicht Lust, die Erzeugnisse, welche dem Klima der durchwanderten Gegenden eigentümlich sind, so wie die Art ihrer Kultur kennenzulernen? Wer kann, wenn er auch nur im geringen Grade ein Freund der Naturgeschichte ist, sich wohl entschließen, über ein Erdreich hinzuschreiten, ohne es einer Untersuchung zu unterziehen, einen Felsen zu erklettern, ohne ein Stück davon abzuschlagen, Gebirge zu durchwandern, ohne Pflanzen zu sammeln, mit dem Fuß an Kiesel zu stoßen, ohne nach Fossilien zu suchen?«[26]
In der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts gewann die Fußreise nicht allein durch Rousseaus Vorbild eine neue Attraktivität. Für angehende Naturforscher waren insbesondere die Beschreibungen des Schweizer Naturforschers Horace-Bénédict de Saussure in seinen Voyages dans les Alpes, die ab 1779 erschienen, Ansporn, sich auf längeren Studienreisen zu Fuß zu bewegen. Der junge Georges Cuvier berief sich zugleich auf Rousseau und Saussure, als er mit einigen deutschen Studenten 1788 eine achttägige Fußreise durch das Schwabenland unternahm.[27] Während die ambulante Sondierung des Terrains wesentlicher Bestandteil der spezialisierten Beobachtungspraxis der Geologie oder Botanik war, wurde diese Form des Reisens in der Aufklärung zunächst auch von einer kleinen Gruppe von Gebildeten kultiviert:
»Der Mineraloge und Botaniker muß zu Fuße reisen, das erfodert [sic] sein Studium. Allein seit einiger Zeit sind die Reisen zu Fuße in Deutschland auch bey andern Personen Mode geworden, die, ohne eben Mineralogen und Botaniker zu seyn, sie sehr bequem und behaglich fanden. Sie gehen freilich langsamer, allein man genießt des Weges doppelt, lernt die Naturschönheiten des Landes besser kennen und bekommt herrlichen Appetit. Mancherley kleine, zum Theil äußerst angenehme Zufälle und Abentheuer stossen dem Fußgänger auf, wenn andern Eilenden in ihrem Wagen Alles wie in einem Guckkasten vorüberfliegt.«[28]
Diese Charakterisierung, die einem der ersten kommerziell in Deutschland vertriebenen Reiseführer entstammt, platziert die Vorzüge der Fußreise nicht umsonst in Kontrast zur Fahrt im Wagen. Der Spaziergänger präsentiert sich seiner Leserschaft meist als isolierter Reisender, der das Fahren in der »Maschine«, wie die Wagen und Kutschen oft bezeichnet werden, demonstrativ verschmäht.[29] Indem der Reisende sich von der Gesellschaft und den Maschinen abwendet, stilisiert er sich zum exemplarischen Einzelgänger, der andere auffordert, es ihm gleichzutun. Die Fußreise bezeichnet weder ein eigenes Genre noch ein kohärentes sozialkritisches Programm.[30] Sie markiert primär eine Geste des Sich-Absonderns von der geplanten und regulierten Form des Reisens in der Postkutsche. Ab Mitte des achtzehnten Jahrhunderts dehnt sich das Postverkehrssystem, mit der auf manchen Strecken regelmäßig verkehrenden »Ordinari-Post« und der teureren und schnelleren Extra-Post, in vielen Teilen Europas auf den Personenverkehr aus und lässt die Reisezeit zu einer mehr oder weniger kalkulierbaren Größe werden.[31] Innerhalb dieses Systems wird der Reiseweg durch Stationen (die Relais oder Posten) und Signale (wie das Posthorn) reguliert. Das Reisen mit der Postkutsche folgt damit einer neuen, spezifischen Zeitökonomie, die sich jedoch nicht im Sinne einer uniformen Beschleunigung verstehen lässt. Zwar erreichen die von Pferden gezogenen Wagen mit dem zunehmenden Ausbau des Straßensystems bis zum Ende des Jahrhunderts nach und nach immer höhere Geschwindigkeiten, doch wechselt die schnellere Fahrzeit mit jeweils sehr langen Pausen an den Posten ab. Die durch die raschere Fortbewegung im Wagen gewonnene Zeit kontrastiert daher immer mit einem Zeitverlust, der beim Wechsel der Pferde, dem Entrichten des Postgeldes oder dem Verladen von Gepäckstücken entsteht.[32]
Die Fußreise erscheint als eine Praxis des Gehens, die sich negativ auf diese neue Ökonomie des Reisens bezieht. So verspottet der Journalist Johann Kaspar Riesbeck die Schriften jener Reisebeschreiber, die »in ihren wohlverschlossenen Waagen« mit der Extra-Post fahren.[33] Solche Bemerkungen richten sich gegen Reiseschriftsteller wie den Berliner Aufklärer Friedrich Nicolai, der seine mehrere tausend Seiten umfassende Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz im Jahre 1781 mit einer detaillierten Schilderung seines Reisewagens beginnt, den er mit einer »bequemen Wohnung« vergleicht, und der für jede längere Reise eine minutiöse Planung empfiehlt.[34] Zur exakteren Berechnung der Reisewege diente dabei ein an den Rädern des Wagens angebrachter Wegmesser, den der Mechaniker Catel eigens für Nicolai konstruiert hatte und dessen Vorzüge Letzterer in einer Beilage zu seinem Buch wortreich beschrieb (vgl. Abb. 1.1.a+b).[35] Solche Instrumente zur Vermessung von Wegen, die bereits in der Antike existiert hatten, wurden im Zusammenhang mit den neuen Formen des Fahrens verfeinert und erlaubten ungefähre Quantifizierungen der Entfernungen zwischen Städten, die sich tabellarisch in den ersten Reiseführern aufgelistet fanden.[36] Nicolai verstand dementsprechend seinen zum Messinstrument umgestalteten Reisewagen als ein Mittel, um den tatsächlich durchfahrenen Weg objektiv zu bestimmen, und pries dessen Nützlichkeit für das Verbessern der »meist noch sehr unvollkommenen Karten«.[37]
1.1.a Wegmesser von Catel. Aus: Friedrich Nicolai: Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz im Jahre 1781.
1.1.b Wegmesser von Zürner. Aus: Friedrich Nicolai: Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz im Jahre 1781.
Die Polemik gegen die luxuriös ausgestattete Extra-Post und die mit ihr verbundene Vermessung des Reisewegs kann sich wieder auf Rousseau berufen, dem der Wagen als »gut verschlossener Käfig« gilt,[38] der sich als Hindernis zwischen den Menschen und die Natur stellt und zudem der Verweichlichung Vorschub leistet. Nach dem Vorbild von dessen imaginärem Musterschüler Émile, der »nie eine Extra-Post besteigen« wird,[39] kultivieren viele Fußreisende nach der Manier von »echten fahrenden Rittern« nun ein langsames und zielloses Gehen, das sich der Berechnung entzieht.[40] Manche verbinden damit anspruchsvolle literarische Projekte, in denen eine neue Schule des Sehens propagiert wird: so etwa der Hamburger Publizist Jonas Ludwig von Heß, der zwischen 1793 und 1800 mit einer siebenbändigen Darstellung seiner Fußwanderungen, den Durchflügen durch Deutschland, die Niederlande und Frankreich, auf Nicolais vielgelesene Reiseberichte antwortet. Die Bezeichnung »Durchflüge« ist durchaus ironisch zu verstehen, denn nicht um die Betonung der Geschwindigkeit geht es hier, sondern einerseits um die Ungebundenheit und Flexibilität des Fußreisenden als eines »nestlosen Geschöpfs«, andererseits um die notwendigen »Mangelhaftigkeiten« von dessen Reisebeschreibung. Letztere beansprucht gleichwohl größere Unparteilichkeit und Genauigkeit in der Beobachtung gegenüber Nicolais Berichten, da das Reisen zu Fuße im Gegensatz zur Kutschenreise sich der Nähe der beobachteten Gegenstände sicher weiß.[41] Die Kutsche erweist sich hier nicht als ein Vehikel der Aufklärung, als das sie der Berliner Zeichner Daniel Chodowiecki in einem Kupferstich 1793 in einer sonnendurchfluteten Landschaft präsentierte (vgl. Abb. 1.2.).
1.2. Daniel Chodowiecki: »Aufklärung.« Kupferstich aus dem Göttinger Taschenbuch für 1791.
Die Beeinträchtigungen des ästhetischen Naturerlebnisses durch die Reise in der Postkutsche, welche ihrer ruckartigen Geschwindigkeit, der Einschränkung des Gesichtsfeldes, aber auch der darin anzutreffenden Gesellschaft geschuldet sind, gehören zu den immer wiederkehrenden Klagen der Fußreisenden. So bedauert Karl Philipp Moritz auf seiner Englandreise im Jahr 1782, dass er »immer nur stückweise und abgebrochen einen Prospekt haben« kann, »welches mich wünschen ließ, bald aus diesem rollenden Kerker befreit zu sein«.[42] Die Kutsche besteigt der sich als Originalgenie gebärdende Moritz, der in Miltons Werken lesend auf den Landstraßen Englands umherwandert, nur widerwillig und vor allem, um der sozialen Deklassierung zu entgehen, die er nicht müde wird anzuprangern: »Ein Fußgänger scheint hier ein Wundertier zu sein, das von jedermann, der ihm begegnet, angestaunt, bedauert, in Verdacht gehalten und geflohen wird […].«[43] Denn wer im »Lande der Pferde und Kutschen«[44] nicht im Wagen fährt, sondern »eine weite Reise zu Fuße täte, würde für einen Bettler oder Spitzbuben gehalten«.[45] Das Zeugnis Moritz’ mag von Übertreibungen nicht ganz frei sein; jedoch finden sich in anderen Berichten sowie in den ersten Reiseführern durchaus ähnliche Einschätzungen, auch hinsichtlich der zahlreichen Unannehmlichkeiten, denen die »Reisedilettanten zu Fuße« in Deutschland ausgesetzt sind.[46] So macht der Rechtsgelehrte Heinrich Ludwig Christian Böttger sogar den »Vorschlag einer Uniform für Reisende zu Fuße«, um das »traurige, unmenschliche und so vieles Unheil gebährende Vorurtheil« gegenüber Fußreisenden einzudämmen.[47]
Der Fußgänger bleibt daher auf Reisen letztendlich vom Fahren abhängig, das sich auf manchen Strecken immer wieder als unumgänglich erweist. Wer sich dabei unabhängig vom Postverkehrssystem bewegen will, ohne dem Luxus der Extra-Post zu frönen, mietet etwa eine »Carriole« oder ein Cabriolet, ein meist nur von einem Pferd gezogenes Fuhrwerk mit zwei Rädern. Das ästhetische Naturerlebnis kontrastiert dabei nicht selten mit der stoßartigen und gewalttätigen Art der Fortbewegung, wie sie etwa der Dessauer Schulrat und Pädagoge Gerhard Anton Ulrich Vieth 1790 in einem Brief seinen Eltern schildert: »In Naumburg nahm ich ein Kariol, ein jämmerliches Ding, und ein Pferd, welches noch niemals eingespannt und alt und steif war; hinzu himmelhohe Berge und felsichte Hohlwege genommen, so können Sie sich eine Idee von unserer Wallfahrt machen. Berg an, um Ihnen eine Scene auszumahlen, giengs gewöhnlich folgendermassen: voran ich, das Pferd beym Halfter gezogen, welches wie der Teufel um sich biss, wenn man es anfasste, und mir auch eins in den Arm versetzte, doch ohne weitern Schaden ausser einem Fleck auf dem Ermel. Darauf das Cariol und hinten mein Begleiter, aus allen Kräften schiebend. Ein Regen von Peitschenhieben und unaufhörliches Zurufen machte das Accompagnement. Dies abgerechnet – welches indessen das übrige umso piquanter machte – war alles unbeschreiblich schön.«[48]
Der Unfall im widerwillig bestiegenen Cabriolet gehört zu jenen Episoden, in denen die Spaziergangsliteratur die Tücken des Fahrens auf unwegsamen Straßen nicht drastisch genug ausmalen kann (vgl. Abb. 1.3.a+b.). So schildert auch der königliche Offizier Jacques-Louis de Latocnaye (1767–1823), der nach seiner Flucht vor der französischen Revolution 1791 zehn Jahre lang im Exil die britischen Inseln und schließlich im Jahr 1802 auch Schweden und Norwegen zu Fuß durchwandert, seinen Sturz aus der »Cariole« als ein Ereignis, das nicht nur seinem ästhetischen Genuss, sondern auch seiner weiteren Mobilität ein jähes Ende setzt: »Im Fallen blieb mein Bein zwischen zwey Baumzweigen hängen, glitschte zwischen ihnen durch, und mit verrenktem, ausgesetztem Knie, und außer Stande, mich zu rühren, kam ich auf der Erde an. Allein, in einem so fernen Lande, außer Stande, zu gehen, aller Hülfe beraubt, was sollte aus mir werden? O wie grausenvoll schien mir nun die schöne Landschaft und der schöne Fluß Ongerman!«[49]
1.3.a+b Johann Heinrich Ramberg: »Unfälle zu Pferde und zu Wagen« (1806). Sammlung des Niedersächsischen Landesmuseums Hannover.
Eine geradezu exemplarische Kutschenszene findet man zeitgleich im Bericht eines anderen Militärs und berühmten Fußgängers, nämlich bei Johann Gottfried Seume (1763–1810), der auf seinem berühmten »Spaziergang« von Leipzig nach Syrakus ausgestattet mit einem einfachen Tornister aus Seehundfell unterwegs ist, in dem sich neben Kleidung und Schuhen eine kleine Reisebibliothek befindet. Als die prekäre Wetterlage und die »gefährlichen Moräste« zwischen Ferrara und Bologna den Fußreisenden zwingen, in ein Pferdekabriolett steigen zu müssen, vervielfachen sich die Wechselfälle und Hindernisse: »Wir zahlten gut und fuhren schlecht, und wären noch schlechter gefahren, wenn wir nicht zuweilen einige der schlimmsten Strecken zu Fuße gegangen wären. Einige Stunden von Ferrara aus ging es leidlich, dann sank aber der Wagen ein bis an die Achse. […] Wir stiegen aus und arbeiteten uns zu Fuße durch, und es ward mit dem leeren Wagen immer schlimmer. Erst fiel ein Pferd, und als sich dieses wieder erhoben hatte, das andere, und einige hundert Schritte fielen alle beide und wälzten sich ermattet in dem schlammigen, tonigen Boden.«[50] Letztendlich schildert Seume, wie er selbst den Wagen mit der ganzen Kraft seines »physischen Wesens« aus dem Schlamm zog und die anderen Mitreisenden zu deren Erstaunen über die unwegsame Strecke lotste, dass er ihnen von seiner »Kraft und Gewandtheit eine gar große Meinung gab«.[51]
Die jedem Reisenden der Zeit geläufigen Gefahren der Kutschenfahrt werden in Seumes Darstellung dramatisiert und in ein Lehrstück umgemünzt, in dem die Stärke und Behändigkeit des gehenden Menschen die Leistung des von der Kraft der Pferde gezogenen Wagens übertrifft. Der Spaziergang nach Syrakus, der im frühen neunzehnten Jahrhundert Rezensenten und Lesern vielfach »als kühnes, genialisches Unternehmen« gilt,[52] redet einer Generation von Pädagogen und Popularphilosophen das Wort, die im aufrechten menschlichen Gang nicht nur die Überlegenheit des Menschen dem Tier gegenüber, sondern auch die Voraussetzungen für dessen Menschlichkeit erkennt. In humanitärer Absicht versteht sich Seume somit als Kritiker des verkehrstechnischen Fortschritts. Tiere und Maschinen sind ihm Hilfsmittel, deren sich der Mensch entledigen muss, um im auf alle Stützen verzichtenden Akt des Gehens Freiheit und Autonomie zurückzugewinnen:
»Ich halte den Gang für das Ehrenvollste und das Selbständigste in dem Manne und bin der Meinung, daß alles besser gehen würde, wenn man mehr ginge. Man kann fast überall bloß des wegen nicht recht auf die Beine kommen und auf den Beinen bleiben, weil man zu viel fährt. Wer zu viel in dem Wagen sitzt, mit dem kann es nicht ordentlich gehen. Das Gefühl dieser Wahrheit scheint unaustilgbar zu sein. Wenn die Maschine stecken bleibt, sagt man doch noch immer, als ob man noch recht sehr tätig dabei wäre: Es will nicht gehen. […] So wie man im Wagen sitzt, hat man sich sogleich einige Grade von der ursprünglichen Humanität entfernt. Man kann niemand mehr fest und rein ins Angesicht sehen, wie man soll: man tut notwendig zu viel oder zu wenig. Fahren zeigt Ohnmacht, Gehen Kraft.«[53]
Das Ideal des aufrechten Ganges als natürlichster Form der Körperbewegung beherrscht auch die pädagogische und medizinische Literatur, die sich verstärkt gegen die Maschinen und Vorrichtungen wendet, die seit Ende des sechzehnten Jahrhunderts bei Kindern der höheren Stände zur Erziehung des Gehens gebräuchlich waren. Sprichwörtlich wird in diesem Zusammenhang vor allem das Gängelband, das noch in den ersten Lebensjahren fester Bestandteil der Kinderkleidung ist (siehe Abb. 1.4.).[54] Aber auch der Laufwagen oder die Kinderschienen, mit denen man die Kinder in den ersten Lebensjahren stützt, verfallen nun sowohl der ärztlichen als auch der moralischen Kritik. Maßgeblich ist hier Rousseaus Verdikt, es gebe »nichts Lächerlicheres und Unbeholfeneres als die Gangweise von Leuten, die als Kinder zu lange am Gängelband geführt wurden: auch so eine von den Beobachtungen, die gerade wegen ihrer Trivialität zutreffend sind, und dies in mehrfachem Sinn«.[55] Die letztere Bemerkung weist auf den bereits weitverbreiteten übertragenen Sinn des Ausdrucks hin, jemanden zu »gängeln« oder »am Gängelband zu führen«. Die moralische Kritik an der Unfreiheit im Denken und Handeln ist eng mit einer medizinischen Auffassung verknüpft, die die »Methode, die Kinder vermittelst Gängelbänder und Gängelwagen gehen zu lehren« für »höchst verwerflich« hält.[56] Der Arzt und Gelehrte Johann Georg Krünitz zeichnet 1778 in seiner Oekonomischen Encyclopädie ein drastisches Bild von dieser Methode:
1.4. Rubens: »Rubens mit Helene und einem Kind«. Helene hält das Kind am Gängelband. Aus: Feghelm, Dagmar, und Markus Kersting: Rubens. Bilder der Liebe.
»Sie sehen dabey fast beständig im Gesichte roth, auch wohl braun und blau, aus. Ihr Kopf und ganzer Leib sind nach vorwärts gebogen. Die Gängelbänder werden am Hinter= und Seitentheile des Schnürleibes stark befestiget, dergestalt, daß sie die Schulter überall umgeben. Sie haben die ganze Last des Kindes zu halten, und es kann dasselbe kaum die Erde berühren. Da das Kind sich beständig mit der Brust darauf stützt, so wird diese, welche doch vor allen Theilen des Leibes eine ganz freye Bewegung haben sollte, solchergestalt von dem vordern Theile des Schnürleibes gewaltig gedrückt, und der Kreislauf kann daselbst nicht gehörig von statten gehen; im Kopfe hingegen geschieht selbiger freyer, und mithin sammelt sich das Blut daselbst an, und treibt die Blut=Gefäße auf. Die üblen Folgen aber, welche von dergleichen Anhäufung des Blutes in den Gefäßen des Kopfes zu entstehen pflegen, sind zum Theil bekannt genug. Die krumme Stellung des Kindes, welche durch das, nach hinten zu, ziehende Schnürleib verursachet wird, zwingt die Schulterblätter, sich über einander, nach dem Rückgrath zu, zu legen, hebt die Achseln in die Höhe, und ist im Stande seine Wirbelbeine zu verrücken. Vornehmlich aber ist dasselbe alsdenn zu befürchten, wenn man, wie zum öftern geschieht, das Kind nur an Einem Gängelbande hält, und es daran rings herum auf seine Beine treten läßt. Indem sein Körper nicht auf den Füßen fest aufsteht, erlangen diese ihre Stärke nur sehr langsam, und können sich durch das Schleifen an der Erde gar verrenken und verdrehen.«[57]
In den neugegründeten deutschen Erziehungsanstalten in Dessau und Schnepfenthal, wo die Philantropen erstmals die »Leibesübungen« in Theorie und Praxis zu einem zentralen Bestandteil des Unterrichts machen, wird ebenfalls eine Erziehung des Gehens propagiert, die konsequent auf Gängelbänder und Laufwagen verzichtet. Der deutsche Pfarrer und Pädagoge Christian Gotthilf Salzmann, der 1784 die philantropische Erziehungsanstalt Schnepfenthal bei Gotha eröffnet, rät den Müttern vom Gebrauch des Gängelwagens ab und empfiehlt, die Kinder erst kriechen zu lassen, bevor sie gehen lernen.[58] Auch dessen Mitarbeiter Johann Christoph Friedrich Gutsmuths verwirft in seiner Gymnastik für die Jugend (1793), dem ersten systematischen Handbuch der Leibesübungen, alle in den Kinderstuben noch gebräuchlichen »künstlichen Mittel« zur Erlernung des Gehens: »sie veranlassen eine ganz falsche Haltung des Körpers, und ein ganz falsches Benehmen des kleinen Lehrlings«.[59] Den Maximen Rousseaus entsprechend wird das Kind beim Erlernen des aufrechten Gehens vor allem sich selbst und der Einschätzung seiner Körperkräfte überlassen: »Es ist zu dieser Fähigkeit nichts nöthig, als was die Natur gab.«[60]
Zur Ausbildung der richtigen Gangweise, die nicht durch Apparate, sondern durch die Anweisung des Erziehers erreicht werden soll, sind jedoch zahlreiche Korrekturen nötig. Bei der »Uebung im Gehen« haben die Zöglinge jeweils einzeln vor dem Vater oder dem Erzieher auf- und abzugehen und sich der Kritik der anderen Mitschüler zu unterwerfen: »Oft lasse er jeden in verschiedene Richtungen vor den übrigen Zuschauern, welche hier die Censoren ausmachen, gehen; einmal von der Gesellschaft abwärts, dann auf sie zu, drittens quer vorüber; bald gemächlich langsam, bald geschwinder, bald eilend. Durch diese Abänderungen wird der Gang einer Person hinlänglich ins Licht gesetzt. Ist es geschehen, so sagt jeder seine Meynung in Absicht der bemerkten Fehler; und da selbst Knaben hierin ein sehr richtiges Gefühl haben und alle, auch sehr geringe Karrikatur leicht herausfinden: so bleibt nicht leicht ein Fehler unentdeckt.«[61]
Bei ihrer Bestimmung des natürlichen Gangs übernehmen die Philantropen wesentliche Merkmale aus der älteren aristokratischen Anstandsliteratur, die sich seit Castigliones Libro del Cortegiano (1528) der Definition des Hofmannes widmet,[62] insbesondere die Forderung nach einer aufrechten Haltung sowie die Leichtigkeit und Gewandtheit der Bewegungsweise.[63] Angesichts der Tatsache, dass die ersten Philantropine sich als Ausbildungsstätten für die überwiegend dem Adel angehörende Elite verstehen, ist diese Bestimmung nicht überraschend. Entscheidend ist jedoch, dass diese Eigenschaften des höfischen Habitus nun unter eine einzige Formel gefasst und somit neu bestimmt werden: »Nur durch den Ausdruck der körperlichen Kraft und Gewandtheit entsteht der gute Anstand im Gange des Mannes; denn jene Eigenschaften sind es, die einen behenden, leichten, elastischen und dabey doch festen, männlichen Schritt bilden, welche die gerade Haltung, die leichte natürliche Wendung des Körpers ungesucht hervorbringen, das Einsinken der Brust, das Vorfallen der Schultern, die Beugung des Nackens und die schlaffe Schwenkung der Arme verhindern.«[64]
Im Zuge dieser Neudefinition des richtigen Gehens verfallen auch die Methoden der Tanzmeister der Kritik.[65] Zwar räumen die ersten Lehrbücher der Leibesübungen, die am Ende des achtzehnten Jahrhunderts den Geist der griechischen Gymnastik wiederbeleben wollen, neben der klassischen Trias von Gehen-Laufen-Springen auch der Kunst des Fechtens, Tanzens und Voltigierens breiten Raum ein.[66] Doch erstrecken sich die Kompetenzen des Tanzmeisters nun nur noch auf ein klar abgegrenztes Gebiet. So konzediert etwa Gutsmuths, dass die Tanzkunst »zum guten Anstande im Gehen« etwas beitragen könne, warnt aber allgemein davor, »irgend eine Art des Tanzschrittes und die Haltung des Körpers beym Tanzen in die alltägliche Stellung beym Gehen übertragen zu wollen«.[67] In seinem Versuch einer Encyclopädie der Leibesübungen (1795) preist Vieth die Verwandlungskunst, die der Tanzmeister an seinen Zöglingen zu vollziehen weiß, jedoch nur, wenn dessen Methoden im Rahmen der Gesetze der menschlichen Anatomie bleiben. Die »grausame Schule«, die die im Tanz geforderte Auswärtsstellung der Füße mit Hilfe von Maschinen wie den »Fußbrettern« (boîtes) oder dem »Hüftendreher« (tourne-hanche) erzwingt, wird zugunsten von einfachen Übungen verworfen (vgl. Abb.1.5.).[68] Die »affectirten Manieren und gezierten Stellungen« verwarf Vieth mit einem ähnlichen Raisonnement nicht allein aus ästhetischen, sondern auch aus medizinischen Gründen.[69]
1.5. Fußbretter und Hüftendreher. Karikatur von Robert Dighton aus The Town and Country Magazine; Or, Universal Repository of Knowledge, Instruction, and Entertainment. (1785)
Die Argumentation der Popularphilosophen ist symptomatisch für eine Tendenz, die in der Spätaufklärung gegen die Künstlichkeit älterer Ideale der Körperbewegung und der Fußstellung zunehmend eine anatomisch-physiologische Auffassung setzt, die den menschlichen Körper als »eine bewundernswürdige Maschine« begreift, »welche unendlich mannigfaltige Bewegungen aus eigner Kraft ausübt«.[70] So verwirft Vieth die Schriften der Tanzkunst als weitschweifige und verworrene Werke, die »die mathematische Methode affektiren, und da, wo ein paar gerade oder krumme Linien gezeichnet sind, von Geometrie sprechen. O Vater Euclides! vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie thun!«[71] Die Natürlichkeit der Bewegung erhält hier eine gänzlich andere mathematische Bestimmung, die in einer Mechanik bewegter Körper gründet:
»Die einfachste und natürlichste Art, seinen Körper von einem Ort zum andern zu bewegen, ist das Gehen, welches darin besteht: daß die Stützen, die den Körper tragen, wechselsweise eine vor die andere gerückt, und der Schwerpunkt des Körpers nach und nach über die eine und über die andere gebracht wird. Das Gehen ist daher theils ein Erfolg von der Wirkung der Muskeln, theils ein Erfolg der Schwere: denn indem der Schwerpunkt von einem Fuße über den andern gebracht wird, so durchfällt er eigentlich einen kleinen Raum, wird aber sogleich von dem folgenden Fuße unterstützt.«[72]
Ein »beständig verhindertes Fallen«:[73] Diese am Ende des achtzehnten Jahrhunderts weitverbreitete Vorstellung vom aufrechten Gehen verdankte sich der Popularisierung der Grundprinzipien von Giovanni Alfonso Borellis berühmtem Traktat De motu animalium (1680/81), wie sie etwa in Johann Gottlob Krügers vielgelesener Naturlehre (1748) zu finden war.[74] Bei Krüger hieß es bezeichnenderweise über die Schriften Borellis, diese enthielten »vortreffliche Wahrheiten, aber auch seltsame Phantasien in sich, und sein Buch von der Bewegung der Thiere hat das eigene Schicksal, von allen gelobet, von einigen gesehen, von wenigen gelesen, von noch wenigern verstanden, und von den allerwenigsten mit Vernunft beurtheilet zu werden.«[75] Diese mechanistische Physiologie begriff den Körper nicht allein als eine zweckmäßig eingerichtete Maschine, die auf die Ersparung von Kraft hin angelegt war, sondern in der Ausführung ihrer Bewegungen zugleich auch eine »vortreffliche« ästhetische Wirkung erreichte. Bezeichnend dafür ist die Argumentation Krügers, die auch Vieth übernahm: Die Positionierung der Muskeln nahe an den Gelenken, den »Ruhepunkten« der Maschine, sei darum keine »Verschwendung« von Kräften, da sie ihren höheren Zweck in der Verkürzung der Muskelbewegung finde. Damit werde sowohl eine »ungestalte« Form des Körpers vermieden, als auch das Ausführen der »allergeschwindesten Bewegung« ermöglicht.[76] Eine solche neue Ökonomie und Ästhetik von Gang- und Bewegungsweisen, die allein aus den Grundsätzen der Mechanik abzuleiten waren, bildeten sich am Ende des achtzehnten Jahrhunderts am konsequentesten im Militär mit der Revision älterer Marschvorschriften heraus.
»Das Nothwendigste bey der Bildung eines Soldaten«, betonte der preußische General von Saldern 1781, »ist der Marsch; er muß sowohl in kleinen, als in großen Trupps, auf das vollkommenste darinn geübt seyn; und wenn im großen exercirt wird, sich selbsten zu helfen wissen, ohne daß er daran erinnert wird.«[77] Das Bestimmen verschiedener zweckbestimmter Gang- und Marscharten wurde im Militär des achtzehnten Jahrhunderts zum Gegenstand eines neuen Wissens, insbesondere in den Taktik- und Manöverlehren, die Modifikationen bei der Regulierung von Schrittlängen für die Infanterie empfahlen, wie sie in den Exerzierreglements vorgeschrieben waren. Als Referenz für diese Ansätze zu einer Quantifizierung der »immerfort gehenden gleichförmigen Bewegung des Körpers«[78] beim Marschieren durch eine neue »Krieges-Wissenschaft«, wie sie im letzten Drittel des achtzehnten Jahrhunderts in den deutschen Staaten zunehmend an Prestige gewann,[79] diente überwiegend jene Mechanik des Gehens, auf die sich auch Theoretiker der Gymnastik wie Vieth stützten.[80] Diese einfachen Grundsätze lagen in der Berechnung des Körperschwerpunkts und der Grundfläche, jenes Raums, auf dem der Körper im Stehen oder Gehen im Gleichgewicht erhalten wird: »Geseze der Natur, welche die Menschen desto genauer beobachten, je gewisser bei deren Uebertretung die unausbleibliche Strafe des Fallens verbunden wäre«.[81]
Unter Berufung auf diese Natürlichkeit eines mechanischen Gesetzen unterliegenden Ganges plädierten die Manöverlehren und Taktiken für eine Revision der älteren Exerzierreglements, die dem Soldaten komplizierte Bewegungen in der Handhabung der Waffen, die Unbiegsamkeit des Oberkörpers und das Steifhalten des Knies im Marsch vorschrieben.[82] Die mechanische Koordination der Infanteristen im frühen achtzehnten Jahrhundert, für die der »Drill« des preußischen Reglements vorbildhaft war, bildete eher das Symbol eines perfekt funktionierenden Räderwerks, wie es bei den öffentlichen Heerschauen und Revuen vorgeführt wurde. Dabei kam es vor allem darauf an, dass der Soldat »sich ein gutes Air gebe, nemlich den Kopf, Leib und Füsse recht ungezwungen halte, und den Bauch einziehe«, wie es im Preußischen Exerzierreglement von 1743 hieß.[83] Das Schultern und Tragen des Gewehrs, das durch eine Vielzahl von komplizierten Handgriffen und Bewegungen vorgeschrieben war, hatte ebenso wie das Geradestehen, das Vorwärts- und Rückwärtsmarschieren in einer linearen Bewegung einen vorwiegend repräsentativen Charakter, der ab der Jahrhundertmitte zunehmend ins kritische Visier der Militärtheorie geriet.
Besonders nach dem Siebenjährigen Krieg (1756–1763