Wissensdurstler 1 & 2 - Roman Lachlust - E-Book

Wissensdurstler 1 & 2 E-Book

Roman Lachlust

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Beschreibung

Christian König hat die erste Lebenshalbzeit hinter sich. Die Zweite beginnt vielversprechend. Frau weg, Kind weg, Job weg. Ihm ist klar, er muss neu durchstarten. Eine berufliche Umschulung scheint die geeignete Maßnahme zu sein. Er stürzt sich voller Wissensdurst in dieses turbulente Abenteuer. Bereits im Vorbereitungskurs übersteht er vom rammelgeilen Königspudel über eine ausufernde Tequilaparty mit anschließendem Zahnarzttermin und einem vietnamesischen Feng Shui Doktor bis hin zur Hämorrhoiden-Operation, sämtliche Situationen, die ein Umschülerleben so mit sich bringt. Er und seine Freunde Felix, Bruno und Birne gründen einen Gute-Laune-Club und gemeinsam flüchten sie sich in eine spätpubertäre Parallelwelt. Dort erleben sie die skurrilsten Situationen im Astra-Land, in der Uckermark und im Jurassic Park. Auf Christian's Suche nach dem ultimativen Angelpark begegnen ihm vom Katheter tragenden Stalingrad-Veteran über eine knuffige Hardrock-Omi bis hin zur pummeligen Goldmarie jede Menge sympatisch-schräge Leute.

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Stimmen aus dem Buch!

„Eine, zu einhundert Prozent wahre Begebenheit, wie sie ja vielleicht passiert sein könnte. Jedes einzelne Wort ist wahr, ich habe es mir selber ausgedacht.“

Christian König

„Der Hammeer, Alteer! Oinee ächtee Päärle unter die Regional-Literatuä. Und ich wa mit daboi, odää wääs.“

Felix Boakenhuus

„Wie jetze, ich bin in dat Buch? Hömma, schreibe bald selber eins. Boah glaub'se, dat wird'n Kochbuch über Asteräät-Liköre . Vielleicht noch wat über Hummelbestäubung, ma sehn.“

Horst Kartuschke alias Birne

„Heilije Scheisse, war dit een Trip jewesen. Ick bin so offte zu'n pissen jerannt vor lauter lachen, nu kann ick mir schon widder neue Botten koofen. Ick jlobe für`n nächsten Teil muss ick vorher uff eene Leberkur, oder wie dit heißt. Und du, koof ma ratzifatzi disse Schwarte hier! Bevor se alle wech sind. Iss wirklich jut, wa. Mensch, hab ick een Brand.“

Bruno Dicht

Das Buch:

Christian König hat die erste Lebenshalbzeit hinter sich.

Die Zweite beginnt vielversprechend.

Frau weg, Kind weg, Job weg.

Ihm ist klar, er muss neu durchstarten. Eine berufliche Umschulung scheint die geeignete Maßnahme zu sein.

Er stürzt sich voller Wissensdurst in dieses turbulente Abenteuer und schon im Vorbereitungskurs begegnen ihm:

ein Samson ohne Fell;

ein Streetfighter mit vier Dioptrien und den falschen Schuhen;

ein rattenscharfer Königspudel;

eine Disco-Hagebutte und viele andere irre Typen.

Werde auch du zum Wissensdurstler und erfahre:

wie leicht es ist, das Ozonloch wieder zu schließen;

wie Kafka-Texte als Rap-Version klingen;

wie ein russischer Trinkspruch fast den dritten Weltkrieg auslöste;

wie gefährlich eine Hummelbestäubung sein kann;

wie eine Tequila-Fahne beim Zahnarzttermin unbemerkt bleibt;

wie man Hämorrhoiden nach Feng-Shui-Kriterien platziert

und was ein Neunzig-Minuten-Elfmeter ist.

Der Autor:

1963 in Magdeburg geboren. Handwerker, Fachberater, Umschüler,

Angelparkbetreiber, Auswanderer, Romanautor.

Lebt seit 2019 mit Lebensgefährtin, vier Katzen,

vier Hunden und vier Kühen mitten in der paraguayischen Pampa.

Roman Lachlust gelingt es, dem Leben nicht nur auf`s Maul zu schauen, sondern auch in den Schlüpfer. Seine bildhafte Sprache lässt im Leser einen Film ablaufen. Ganz so, als wäre er im Kino. Einsteigen, anschnallen und lachen bis sich die Bauchmuskeln aufdröseln.

Inhaltsverzeichnis

Wissensdurstler

Die turbulente Umschüler-Komödie

Rasenkantensteinhorizont

Touchdown

Kafka-Rap

Reisen zum Mars

Schrottwichtel

Disco-Hagebutte

Hammeerpäärle

Super-Spermi

Birne Maja

Hot-Dog-Desaster

Tequila-Zahn-Rise

Hummel-Doof und Pudel-Nass

Neunzig-Minuten-Elfmeter

Hämorrhoiden-Feng Shui

Konfuzius-Stinkefinger

Rasenkantensteinhorizont

Eigentlich dachte ich immer, Souterrain hätte etwas mit ganz besonders viel Sonne zu tun. Das hört sich so sonnig an, so mediterran, so voller Flair und Lebensfreude.

Bei diesem Wort habe ich eine sonnige Terrasse mit freiem Blick auf den Atlantik vor meinem inneren Auge. Azurblauer Himmel, türkisfarbenes Meer, raschelnde Kokospalmen. Ich sehe, wie die Wellen auf den zuckerweißen Sandstrand rollen. Höre wie sie rauschend die Muschelschalen und Kieselsteine im endlosen Rhythmus hin und her schubbeln. Knusperbraune String-Tanga bekleidete Südsee-Schönheiten stelzen an meiner Strandmatte vorbei.

Ich spüre den warmen Wind auf meiner Haut, höre Möwengeschrei, Reggae-Musik und Cocktailglas-Geklimper.

Es riecht nach salziger Meeresluft, gegrillten Scampi und Sonnenschutzcreme.

Falls Sie ähnliche Assoziationen bei diesem Wort haben, lassen Sie sich eines Besseren belehren.

Sie liegen voll daneben.

Ich habe ein französisches Wörterbuch. Und ich habe nachgeschaut. Jetzt weiß ich es besser.

Nach der Besichtigung meiner neuen Souterrainwohnung ist mir restlos klar, es bedeutet so ziemlich das Gegenteil von sonnig.

Genauer gesagt ist es das französische Wort für unterirdisch.

Da kann man mal wieder sehen, wie dick die Franzmänner auftragen. Bei denen hört sich immer alles so toll erotisch an.

Oder kennen Sie ein französisches Wort, das uncharmant klingt?

Selbst Merde klingt da nicht wie Scheiße, sondern eher wie ein sinnlicher Frauenname oder ein leckeres Südfruchtdessert.

„Schöne komfortable Souterrainwohnung, Südseite, 50qm, 2 Zimmer, Küche mit Abstellraum, Bad mit Wanne. Günstig zu vermieten“

Beim Blick aus dem Südfenster meiner Umschüler-Souterrain-Bude, die ich nun für zwei Jahre behausen werde, bin ich auf Augenhöhe mit den Rasenkantensteinen des Nachbargrundstückes und kann praktisch mit bloßem Auge die Zellstruktur der aufgeplatzten Walnussschalen erkennen, die von dem riesigen Baum, der zwischen mir und meinem sonnigen, mediterranen Flair steht, heruntergefallen sind.

So weit unten bin ich nun?

Ich habe quasi einen Rasenkantensteinhorizont.

Merde!

Hier kann ich mich nicht mal selbstmörderisch aus dem Fenster stürzen, wenn die Nussbaumdepressionen unerträglich werden.

Da müsste ich ja nach oben springen!

Ich sehe mich schon schwankend und verzweifelt auf dem Fensterbrett stehen. Mit einer Hand am Fensterrahmen in der anderen den Abschiedsbrief, wie ich in die Menge der Schaulustigen schreie, die sich sensationslüstern vor dem Haus versammelt hat.

“Erfüllt meine Forderungen, oder ich springe! Ich verlange:

1. die Rodung des Nussbaumes

2. Tiefersetzung der Rasenkantensteine

3. wöchentlichen Rasenschnitt

4. die sofortige Beendigung der Polkappen-Schmelze!“

Es kommt immer gut, wenn man sich für die Umwelt einsetzt.

Die Polizeipsychologin redet beruhigend auf mich ein. Sie hat sich vor das Fenster gekniet um auf Augenhöhe mit mir zu sein.

Vier Feuerwehrleute legen das Sprungtuch auf den Rasen damit ich nicht darunter durch hechten kann.

Falls es gar nicht anders geht, muss ich eben Tabletten nehmen oder mich auf die Schienen der Deutschen Bahn binden.

Obwohl, da würde ich wahrscheinlich den Hungertod sterben, bei den vielen Lokführerstreiks und fahrplanmäßigen Verspätungen. Wenn es nicht so weit weg wäre, dann könnte ich mich auf den Schienenstrang der Harzer Schmalspurbahn tackern. Das ist ein Privatunternehmen bei dem ich auf Pünktlichkeit hoffen könnte und wäre eine echte Alternative.

Aber bei der Anreise durch den schönen Harz sind die Suizidgedanken sicher schon verflogen ehe der Brocken in Sicht käme. Bei der Deutschen Bahn wäre mir das zu unsicher.

Da haut man sich auf die Gleise und dann kommt keine Sau.

Da kriegt man ja gleich die nächste Depression.

Was soll's, so schlecht ist die Bude ja nun auch wieder nicht.

Die zwei Jahre werde ich das schon durchstehen und dann steht mir die ganze Welt offen.

Genau, die ganze Welt und nicht nur dieses kleine verkackte Provinznest hier.

Bad Pyrmont!

Das hört sich auch wahnsinnig fantastisch an.

Könnte sich ein Franzose ausgedacht haben.

Sicher hat dieser kaiserliche Kuschelort schon bessere Zeiten gesehen. Einige der hochherrschaftlichen aber leicht angegammelten Protz-Villen lassen noch erahnen wie prunkvoll es hier einmal war. Das alljährliche Perücken-Geläuf-Spektakel, bei dem sich einige Honoratioren der Stadt in mottenmiefige altpreußische Kostüme zwängen und durch die Stadt lustwandeln, gibt zumindest einem bestimmten Prozentsatz der hiesigen Einwohner das Gefühl einmal bedeutende Vorfahren gehabt zu haben.

Ich werde trotzdem mal versuchen, alles positiv zu sehen.

Shaka, Shaka!

„Na wenigstens kann man hier beim Fenster putzen nicht in den Tod fallen“, witzele ich den saufnasigen Hausmeister an, der mir mit gleichgültiger Miene mein neues Zuhause zeigt.

Er gibt ein Geräusch von sich, das irgendwo zwischen Zustimmung und Ungeduld liegt. Bestimmt hat er es eilig, sich wieder an seiner Flasche Detmolder Pils festzusaugen, von der ich ihn vor fünf Minuten weg geklingelt habe.

Abgesehen von der tollen Lage und der einzigartigen Aussicht bietet dieses Schmuckstück deutscher Wohnkultur mit dem französischen Namen aber doch noch echte Vorzüge.

Zum Beispiel ist es hier unten selbst im Sommer ausreichend kühl. Man könnte locker ohne Kühlschrank auskommen.

Das ist mit meinem ökologischen Denken sehr gut zu vereinbaren. Da in einem Umschüler-Kühlschrank ja hauptsächlich Bier gekühlt wird, könnte er abgeschaltet oder müsste gar nicht erst angeschafft werden. Außerdem gäbe es dann auch keine Kapazitätsprobleme. Ein unschätzbarer Vorteil, da ich die Wochenration einfach kistenweise in den Abstellraum stapeln kann.

Während man die Wohnräume aufgrund ihrer Lichtverhältnisse noch getrost als Twilight-Zone bezeichnen kann, trifft die Bezeichnung das schwarze Loch bei fensterloser Küche und Abstellraum wohl am ehesten den Nagel auf den Kopf. Hier drin ist es so strahlend hell wie im Arsch vom Grottenolm. Selbst im Dämmerlicht meines Wohnzimmers könnte ich bedenkenlos lichtempfindliche Lebensmittel oder Arzneien auf dem Fensterbrett lagern. Es gibt keine durch UV-Licht vergilbten Möbelstücke oder Wohnraumtextilien mehr … einfach herrlich!

Na also, geht doch.

Es kommt eben immer auf die Sichtweise an.

Shaka, Shaka!

„Hier sind die Schlüssel“, faselt das Erdbeernasenbier und nestelt dabei umständlich einen Schlüsselbund aus der Hose.

„Hauseingang und Keller, Wohnungstür und Briefkasten.

Ich leg Ihnen noch Teppichboden im Wohnzimmer aus.

Die Zweitschlüssel gebe ich Ihnen dann beim Einzug.

Wann wollen Sie denn einziehen?“

„Nächste Woche am Wochenende.“

„Wir sind hier an und für sich ein ruhiges Haus!“

Das soll mir recht sein. Erstens bin ich jetzt so etwas wie ein Student und muss ja viel lernen und zweitens genügt mir der Stress bei der Umschulung.

Man glaubt gar nicht, welche Profilneurosen sich entwickeln, wenn Menschen längere Zeit keine richtige Aufgabe im Leben haben und sich plötzlich wieder beweisen sollen.

Der Hausmeister gibt mir die Schlüssel. Dann verzieht er sich wieder in seinen als Werkstatt getarnten Biervorratsraum, von wo ich ihn mit den Flaschen klimpern höre.

Bis zum Umzug werde ich noch weiterhin im Hotel wohnen.

Hier ist eine ganze Etage von Umschülern bewohnt und einige davon sind auch in meinem Kurs.

Der Kostenträger der beruflichen Rehabilitation lässt sich da echt nicht lumpen. Zwar gibt es ein Internat direkt auf dem Ausbildungsgelände, aber das ist Gott sei Dank überfüllt.

Ich tausche die Bequemlichkeit eines kurzen Schulweges gern gegen den Komfort einer eigenen Wohnung. Auch wenn sie weitestgehend tageslichtlos ist.

Es wird Zeit, meine Behausung in spe abzuschließen.

Mein Zeiteisen sagt mir, dass es 16.00 Uhr ist.

Exakt um diese Zeit öffnet die Sporthalle auf dem Reha-Gelände.

Ich hetze also durch die spätherbstlich gefärbte Stadtrandidylle und schwinge mich mit Drei-Stufen-Schritten über die Seitentreppe in den zweiten Stock des Hotels. Dann betrete ich atemlos mein von der Gemeinschaft der Rentenbeitragszahler gesponsertes Economy-Zimmer mit Dusche, TV und Balkon.

Sporttasche schnappen und Sport frei!

Gerade als ich kehrt machen will, fällt mein Blick auf die Schulungsunterlagen, die auf dem Minitisch herumliegen.

Ich muss ja noch die Inhaltsangabe zu diesem abgefahrenen Kafka-Text schreiben und überlege krampfhaft, zu wann das erledigt werden sollte. Eigentlich frage ich mich ernsthaft, wozu man so etwas überhaupt braucht. Besonders wenn man eine Berufsausbildung zum Mediengestalter machen will.

Herr Demsin, unser Deutschlehrer, hat sich diese Überflüssigkeit als Projektarbeit ausgedacht und uns aufgefordert, die Aufgabe in Zweiergruppen zu lösen. Ich ziehe mein Handy aus der Tasche und wähle Felix` Nummer. Der hat aber leider mal wieder ausgestellt. Wahrscheinlich pennt er und verlässt sich einmal öfter darauf, dass ich diesen Kram allein erledige.

Es ist beängstigend, was Universitätsprofessoren dem armen Kafka so alles in seine Texte hinein interpretieren. Im Internet wimmelt es nur so von schwülstigen und hoch wissenschaftlichen Deutungen, welche eher auf die erklärungsnarzistischen Neigungen ihrer Verfasser schließen lassen als auf den ernsthaften Versuch, verstehen zu wollen, was denn der Meister mit seinem rätselhaften Geschreibsel wohl gemeint haben könnte.

So ein Schwachsinn. Vielleicht war der gute Kafka ja einfach nur bekloppt und nun versucht alle Welt, seine vermeintliche Genialität zu deuten und jeder fühlt sich auch gleich ein bisschen genial. Quasi seelenverwandt mit dem großen Schreiberling.

Dabei soll er ein ziemlich trauriges Leben geführt haben.

Hat angeblich extrem unter dem übermächtigen Vater gelitten und war unglücklich verliebt.

Da Felix in einer Pension am anderen Ende der Stadt untergebracht ist, werde ich mal einen der anderen Kursteilnehmer hier im Hotel fragen, ob wir diesen Kafka-Kram zu morgen schon erledigt haben müssen.

Als ich den Flur betrete, ist zumindest schon mal klar, wer auf seinem Zimmer hockt.

Durch die laubholzfurnierte Pressspanplatte mit der aufgeklebten Neun, brettern mir die Böhsen Onkelz ihren Song Kirche entgegen.

Hier wohnt Birne! Birne heißt eigentlich Horst.

Aber da er Figur und Charme einer Zwanzig-Tonnen-Abrissbirne hat, nennt ihn jeder im Kurs ehrfurchtsvoll Birne.

Er ist das fleischgewordene Klischee eines Ruhrpott-Prolls, wie es im Buche steht.

Laut, niveaulos und dumm wie'n Bergarbeiterfurz.

Aber keiner traut sich das dem 130-Kilo-Fettberg zu sagen.

Mit geschulterter Sporttasche klopfe ich dreimal an seine Pforte.

Horst's versoffene Stimme grölt gerade volles Rohr den Refrain „ … ich scheiße auf die Kirche, ihren Papst und seinen Segen.

Ich brauch ihn nicht als Krücke, ich kann alleine leben …“

Ich poche noch einmal kräftig. Diesmal anhaltend und fordernd.

„Jaaaaaa, Mann“, röhrt es genervt.

Ein Gitarrensolo später wird die Tür aufgerissen und meine Augen versagen mir den Lidschlussreflex.

Diesen Umstand werde ich noch Jahrzehnte später bedauern.

Das Bild, welches sich mir bietet, hat sich in Sekundenbruchteilen über Netzhaut und Sehnerv in mein fotografisches Langzeitgedächtnis gefräst.

Vor mir steht Samson aus der Sesamstraße. Nur ohne Fell! Dafür trägt er ein XXL-Arminia-Bielefeld-Badetuch um die Hüften gezurrt, was jedoch auf diesem riesigen, nahtlos weißen Schwabbel so verloren wirkt, wie die Osterinseln im Pazifik.

Er sieht aus wie ein Türrahmen ausfüllendes Raffaello.

Wie diese schneeweiße Kokosnuss-Mandel-Versuchung von Ferrero. Die eisgekühlte German-Kleinigkeit, die sich die Schönen und Reichen in ihren schneeweißen Klamotten auf ihren schneeweißen Luxusjachten an ihren schneeweißen Südseestränden zwischen ihre schneeweißen Perlmuttzähne schaufeln.

Allerdings duftet er nicht nach Kokos-Mandel-Splitter, sondern so sehr nach Old Spice, dass mir die Nase läuft.

Ich schließe die Augen.

Aber leider zu spät.

„Moje“, brüllt mich die German-Kleinigkeit an.

„Hömma, bin grad voll am Duschen, verstehse.“

„Mensch Birne, wirf dir was über. Ich kriege Augenzirrhose.“

„Iss`n los?“

Ich versuche, krampfhaft meinen Blick von Birne's beachtlichem Bauchnabel, den man locker als Sitzbadewanne nutzen könnte, loszureißen und mich auf den Türrahmen zu konzentrieren.

Es gelingt natürlich nicht.

Der könnte glatt einen Gullydeckel als Nabel-Piercing nehmen.

Wie heißt eigentlich das französische Wort für Bauchnabel?

Das hört sich mit Sicherheit auch wieder total erotisch an.

Einen Moment habe ich Panik, Birne könnte mir ganz schöfferhoferlike ins Gesicht rülpsen:

“Hömma, ast du noch ein paar Kisten von die Bier, die so schön at geprickelt in mein Bauchnabell?“ und ich das dann erotisch fände.

„Müssen wir die Kafka-Zusammenfassung morgen schon fertig haben?“

Samsons fellloser Zwillingsbruder grunzt abfällig.

„Jepp. Ey man, iss mir aber völlig Latte. Hömma, ich raff eh nich wat der Spacken da schreibt.“

Das ist mir absolut klar, Birne.

Wer mit 34 Jahren noch Spiderman-Comics auf dem

Nachtschrank hat und dies für die Krone der Weltliteratur hält, der kann wohl mit Texten, die nicht in Sprechblasen stehen sowieso nicht viel anfangen.

Ich überlasse die Sesamstraßen-Karikatur also seiner lauten Pogo-Mucke und nehme mir fest vor, heute Abend nach dem Sport die Kafka-Aufgabe noch zu erledigen. Schließlich nehme ich diese ganze Reha-Maßnahme hier doch sehr ernst und glaube fest daran, dadurch auch einiges in meinem Leben wieder auf die Reihe zu bekommen.

Touchdown

Nachdem ich mich gut zwei Stunden lang mit den rostigen Eisen in der Sporthalle herumgequält habe, schleppe ich meinen ausgepowerten Mittelklassekörper unter die Dusche und gönne meiner selfmade-ich-habe-keine-Kohle-Spar-Frisur eine Schauma-for-Men-Kur.

Ich lasse mich ganze zwanzig Minuten lang mit heißem Rentenbeitragszahlerwasser betröpfeln und fühle mich richtig toll.

Diese positive Hochstimmung werde ich auch brauchen, um den schier endlosen Weg bis zum Ausgang dieses düsteren Bildungstempels zu überstehen.

Bei der farblichen Gestaltung der Ausbildungsstätte waren ganz sicher psychologisch geschulte Innenarchitekten am Werk.

Einfach genial, wie der tiefschwarze Gummi-Noppenbelag des Fußbodens mit dem dunkelbraunen Hochglanzlatex der Wände harmoniert.

Wer denkt, dieses gewagte Farbenspiel sei nicht mehr zu toppen, wird verblüfft die in frechem Kinderkacke-Ocker gehaltenen Fensterrahmen ,sowie die durchfallfarbenen

Deckenverkleidungen und Verklinkerungen zur Kenntnis nehmen.

Ja, das nenne ich mal farbenfroh und wirklich durchdacht.

Das heitert auf. Das macht Mut.

Schließlich ist es nicht so einfach, Menschen, die krankheits-oder unfallbedingt ihren Beruf nicht mehr ausüben können, nachhaltig zu motivieren. Damit sie sich nochmals in eine neue Ausbildung stürzen anstatt sich einfach hängen zu lassen und sich ihren Depressionen hinzugeben. Aber wer käme bei solch einem positiven und bunten Farbton-Potpourri auf den Gedanken, das Leben sei scheiße.

Mit frisch geduschten stahlharten Muskeln und dem angenehm ausgepowerten Gefühl, wie es sich nach einem harten Training einstellt, peile ich die Ausgangstür an. Ich bin in Gedanken schon bei meiner Kafka-Textzusammenfassung, die ich ja gleich noch bewältigen muss.

Da lacht sich eine glockenhelle Stimme in mein Bewusstsein und Sekunden später stolpert der dazugehörende blonde Engel in mein Blickfeld.

Mein Gehirn schrumpft auf Rosinengröße und beschränkt sich im Wesentlichen auf die Stammhirnfunktionen. In meinem nun freigewordenen Hinterkopf nimmt ein winziges Symphonieorchester platz. Es beginnt diese tolle erhebende Filmmusik von Vangelis zu spielen.

Meine Gesichtsmuskeln haben sich in den vorgezogenen Feierabend verabschiedet und sind wohl plötzlich der Meinung, es gäbe Schlimmeres als einen debilen Gesichtsausdruck.

Mein Herz springt mit einem lauten Flupp aus meinem T-Shirt.

Dort beginnt es auf Fußballgröße geschwollen, zu pulsieren.

Im gleichen Moment wird es prasselnd von zwanzig Millionen Amor-Pfeilen durchbohrt.

Ich gehe völlig entrückt weiter auf den Punkt zu, an dem wir uns automatisch in die Arme laufen werden und bestaune dabei fasziniert ihre grazilen Bewegungen.

Ihre frech verstrubbelte Kurzhaarfrisur.

Ihr süßes Gesicht.

Ihre rehbraunen Augen.

Ihr verführerischer Mund.

Ihr flacher Bauch.

Ihre endlosen Beine.

Einfach alles an ihr erscheint mir göttlich.

Ich bin jetzt fast sechs Wochen hier.

Wieso habe ich sie noch nie gesehen?

Meine Wahrnehmung schaltet auf Zeitlupe, damit ich diesen fantastischen Anblick besser genießen kann.

Sie redet beim Laufen mit jemandem neben sich, aber alles um sie herum wirkt wie ein, bis zur Unschärfe, gesoftetes Foto.

Die ganze Eingangshalle ist mit ihrer Aura ausgefüllt und alles scheint plötzlich zu strahlen.

Der schwarze Noppen-Fußboden verwandelt sich in einen zuckerweißen Sandstrand.

Die versifften Deckenverkleidungen in einen azurblauen Sommerhimmel mit hingetupften Zirruswölkchen.

Halbvergammelte Ficus-Benjamina-Zwerge finden anscheinend urplötzlich einen äußerst rätselhaften Zugang zu einem Mega-Düngerstäbchen in ihrer trüben Hydrokasten-Brühe und schießen in sekundenschnelle zu riesigen Kokospalmen auf.

Aus den braunen Wänden werden türkisfarbene Südseewellen, die mit kleinen weißen Spitzenhäubchen versehen rauschend auf den Strand rollen.

Der abgestandene Flurmief entpuppt sich als frische Meeresbrise

… und der dumpfe Schmerz auf meiner linken Gesichtshälfte als die Folge dessen, ungebremst gegen den feststehenden Glasflügel einer Verbindungstür zu laufen.

Krawumm!

Mein blonder Engel guckt irritiert. Dann amüsiert. Dann weg.

Sie schwebt einen Meter entfernt an mir vorbei und plappert unbeschwert mit ihrer Begleiterin weiter, während ich wie ein Antennenwels mit breitgequetschtem Gesicht an der transparenten Hinterhältigkeit klebe.

Wenigstens kann ich mit dem offenen Auge noch einen Blick auf ihren Knackarsch werfen.

Der ist übrigens auch göttlich.

Ich versuche krampfhaft, mit meinen Sportschuhen ein Loch in den zuckerweißen Sandstrand zu polken, damit ich schnell darin versinken kann. Aber der hat sich im Moment meines Touchdowns wieder in schwarzen Noppen-Belag verwandelt.

Es bleibt mir also nichts weiter übrig, als mit hochrotem und zwischen die Schultern gezogenem Kopf verschämt um mich zu blicken und schnell das Weite zu suchen.

Erleichtert stelle ich fest, dass sonst niemand mein Missgeschick bemerkt hat und schaffe es ohne weitere Peinlichkeiten am Pförtner vorbei bis durch die Ausgangstür.

Auf dem Bürgersteig läuft mir strahlend Felix über den Weg.

Felix war mir gleich von Anfang an sympathisch.

„Na Alter, mutierst du jetzt zum Einhorn, oder was“, grinst er mich an und tippt sich bedeutungsvoll an seine Stirn.

Er kommt aus der Nähe von Lüneburg und spricht diesen geilen Dialekt wie aus einem Werner-Beinhart-Film.

Dabei zieht er die meisten Vokale typisch norddeutsch in die Länge. So, dass es sich anhört wie „Oalteeer und Einhoooon“.

Und er hängt an fast jeden Satz ein „odää wääs“.

Ich brabbele irgendwas von Sportunfall, während ich eine kohlrabigroße Beule an meiner Stirn ertaste und hoffe das Thema ist damit durch.

Erst jetzt, da ich weiß, dass sie da ist, fängt sie an weh zu tun.

Hätte ich nur nicht hingefasst.

Irgendwie kann ich die Gedanken nicht von meiner Engels-Begegnung losreißen und fühle mich immer noch wie im Zeitlupen-Modus.

„Und, Bock auf Pardie heude Abend, odää wääs“, zwinkert er mir auffordernd zu.

„Was gibt es denn für einen Grund?“, höre ich mich zurückfragen und blicke verstohlen zum Haupteingang hinter mir, in der Hoffnung vielleicht noch einen Blick auf meine Traumfrau zu erhaschen.

Ich zucke erschrocken zusammen, als ich in Brunos breites Grinsen gucke. Er steht einen halben Meter hinter mir und berlinert mich an:

„Weil heute erster Donnerstach inne Woche iss. Außerdem weeßte ja, aktiver Umweltschutz, jut wa“.

Bruno ist Halbrusse. Er hat bis zum sechsten Lebensjahr in Moskau gelebt und spricht perfekt russisch.

Danach ist seine Familie in einen kleinen Ort bei Schwedt an der Oder umgesiedelt.

Er selber hatte bis vor kurzem eine kleine Wohnung in Berlin und ist nun auch auf der Suche nach einer geeigneten Bude für die Dauer der Umschulung. Bis er fündig geworden ist, wohnt er mit mir im gleichen Hotel.

Bruno ist vom Geiste her eher schlicht und glaubt felsenfest daran, dass er das Ozonloch wieder zusaufen kann, wenn er jeden Tag eine Kiste Krombacher Umweltbier weg ballert.

Was das betrifft, entwickelt er sich zu einem wahren Greenpeace-Agitator. Felix und mich hat er bereits für sein Vorhaben begeistert und er kann auf unsere tatkräftige Unterstützung zählen. Wir haben allerdings auch nicht viel Widerstand geleistet.

Hier in Bad Pyrmont ist er gelandet, weil seine Reha-Beraterin beim Arbeitsamt der Meinung war, aus einem Dachdecker-Gehilfen mit leichtem Knieschaden, einen Bürokaufmann mit leichtem Dachschaden machen zu müssen.

Wenn da mal nicht nur die Arbeitslosenstatistik bereinigt werden sollte.

„Musste dich so anschleichen? Mensch, mir wäre fast der FI-Schalter rausgeflogen.“

„Holla, wenn ditte weita so wachsen tut, kannste dir balle ne zweete Mütze koofen“, grient er breit und tippt auf meinen Stirn-Kohlrabi.

Arschloch!

Felix verdreht die Augen und spöttelt Bruno zu:

„Sportunfall und ich sach noch Sport iss Mord. Odää wääs.“

„Ja, nee iss klar“, äfft Bruno den abgedroschenen Atze-Schröder-Spruch nach.

Einen Moment habe ich den schrecklichen Verdacht, die zwei könnten mein Missgeschick beobachtet haben. Dann wäre das der running gag der nächsten zwei Wochen und ich hätte keine ruhige Minute vor ihren Lästereien.

„Also, dann lasst uns den Regenwald retten“, gebe ich nach.

Wir steigen in Brunos schrottreifen Daewoo und knattern zum Minimal Getränkemarkt. Ich quetsche mich neben zwei leere Kisten Krombacher auf den Rücksitz, während meine Beine knietief in McDonalds Verpackungsmüll versinken. Als Bruno die Zündung startet, pustet mir das Techno-Gewummere aus der Bassrolle fast das Hirn raus.

Er weiß genau, wie ätzend ich diese Itz-Itz-Mucke finde und dreht schnell den Volumenregler seines nachgerüsteten CD-Players auf halbwegs erträglich.

„Wieso fährst du eigentlich immer extra hierher zum Bier kaufen?

Der E-Markt vorn an der Ecke ist doch viel näher an unserem Hotel“, frage ich Bruno, als wir zu dritt mit einem Palettenwagen an die Flaschenrückgabe rollen und die Leerkisten abstellen.

Felix antwortet an seiner Stelle und nickt dabei bedeutungsvoll zu dem Angestellten an der Kasse.

In dessen Gesicht leuchtet eine fette Säufernase. Genau wie bei meinem Hausmeister.

„Woil es hier speziell geschultes Fachpersonal gibt. Das sieht man doch, odää wääs?“

Zielsicher steuert Bruno auf den Krombacher-Stellplatz zu und wuchtet zwei Kisten auf den Wagen. Einen Augenblick schielt er unschlüssig zum Schnapsregal rüber, dreht dann aber ab zur Kasse. Felix wirft noch eine Tüte Chips mit aufs Band.

„Hallo Herr Dicht“, wird Bruno freundlich vom trinkerprobten Fachpersonal begrüßt. „Oettinger ist ab heute im Angebot!“

„Mensch Männekieken, ick und die freundlichen Kollejen sin hier, um den Rejenwald zu retten, wa. Nich weilwer uns irjendwie billich besaufen wolln. Oder kannste mit Oettinger etwa och irjendwat widder heile trinken?“

Es ist mir äußerst rätselhaft, wie man es fertig bekommen kann, in eine völlig fremde Stadt zu ziehen und schon nach zwei Wochen vom Getränkehändler mit Namen begrüßt zu werden.

Langsam wird mir bewusst, wie ernst unser Bruno seine selbstauferlegte Umweltverpflichtung nimmt. Er denkt halt nicht so egoistisch wie die meisten unserer Zeitgenossen und lebt eben nicht getreu dem Motto „Nach mir die Sintflut“.

Ein Mann mit Weitblick und großem Verantwortungsbewusstsein unseren Kindern und Enkeln gegenüber. Auch sie sollen in einer ökologisch funktionierenden Welt aufwachsen.

Für seine Ideale scheißt er auf die Leberwerte. Unsere Gesellschaft braucht viel mehr Menschen wie Bruno Dicht.

Selbstlose Mitbürger mit Zivilcourage und Durst. So etwas sollte man mal prämieren und auszeichnen. Biersorten sollten nach ihm benannt werden. Ich sehe schon die Werbesprüche vor mir

„Kommst`e von`ne Schicht – was macht dich schnell Dicht?

Hacke-Dicht! Der Turbo unter den Bieren - für Leute, die es eilig haben!“

Stattdessen wird man ja gleich geächtet, wenn die Leberwerte im Arsch sind. Keiner kommt auf den Gedanken, dass Bruno einfach nur ein selbstloser Umweltpionier ist.

Kafka-Rap

Eine halbe Stunde später sitzen wir in Brunos Hotelzimmer und lassen lustig die Flaschen klimpern. Nach zwei Krombachern versuche ich das dahin plätschernde Gespräch vorsichtig auf meine Engelserscheinung zu lenken. Ich fühle behutsam vor, ob einer von den Zweien meine Prinzessin vielleicht auch schon einmal gesehen hat.

Beide schütteln synchron den Kopf.

„Hört sich ja nach oinee Hammeerpäärle an, odää wääs?“

„Ja, echt super süß. Vielleicht macht sie hier nur eine Berufsfindung und ist nach zwei Wochen schon wieder weg“, sinniere ich besorgt.

Bruno prostet mir zu:

„Denne musste woll `n bisschen Jass jeben, wenn de da wat reißen wist, wa?“

Na, wie stellt der sich das denn vor? Im Moment machen hier ungefähr siebenhundert Leute irgendwelche Umschulungen in alle möglichen Berufe, vom Schuster bis zum Reiseverkehrs-Kaufmann. Soll ich etwa in jeden Ausbildungsraum stürmen, um sie zu finden? Selbst wenn das klappt, was soll ich sagen?

„Hallo ich bin das Karl-Dall-Gesicht von der Durchgangstür und wollte mal fragen ob du Kinder mit mir möchtest!“

Ich könnte auch mein Gesicht auf einen Scanner quetschen und es dann mit dem gleichen dämlichen Scheiben-Knutscher-Grinsen wie bei meiner unfreiwilligen Begegnung mit der Glastür ablichten, um es dann zusammen mit meiner Telefonnummer an die Info-Litfaßsäule beim Pförtner zu beppen. In der Hoffnung, sie erkennt diese Gesichts-Laola wieder und findet sie so toll, dass sie dann gleich anruft und mich fragt, ob sie mir helfen kann.

Ich spüle meine Ratlosigkeit mit einem weiteren Krombacher runter, während Bruno den Fernseher einschaltet und durch das hirnlose deutsche Abendprogramm zappt. Irgendwann bleibt er bei einer Castingshow für talentlose Schwachmaten mit völlig realitätsfremder Eigenwahrnehmung hängen.

Es ist Zehn geworden und in der ersten Kiste Krombacher sind noch fünf verplombte Flaschen, als Felix ganz nebenbei fragt:

„Duhu, sach ma. Wie woit sind wir oigentlich mit Kafka?“

Ach du Scheiße! Den habe ich ja schon wieder völlig vergessen.

„Ich habe noch gar nichts“, gebe ich zu, „und du?“

„Na denn brauch ich ja wenigstens koin schlechtes Gewisseen zu haben, odää wääs?“

„Super! Das muss morgen fertig sein. Da bleibt uns wohl nichts anderes übrig, als es jetzt noch zu erledigen.“

Mir ist sofort klar, dass das eine ziemlich dämliche Idee ist.

Immerhin sind wir schon ganz schön angebrütet. Aber ich hasse unerledigte Aufgaben und nicht erfüllte Pflichten.

Felix murrt eine Weile rum, aber ich lasse mich nicht erweichen.

Ich drücke ihm zwei Flaschen Bier in die Hand und ziehe ihn den Hotelflur entlang hinter mir her bis in mein Zimmer.

Er ist immer noch am Maulen als er zu allererst unser jeweils sechstes Felsquellwassergebräu entkorkt.

„Da sind wir in einer Stunde mit durch. Das kann doch nicht so schwer sein.“

Ich greife mir den Kafkatext und beginne laut vorzulesen.

Schon nach drei Sätzen ist mir klar, dass ich mich da ganz schön verschätzt habe.

Vor dem Gesetz ( Franz Kafka)

Vor dem Gesetz steht ein Türhüter. Zu diesem Türhüter kommt

ein Mann vom Lande und bittet um Eintritt in das Gesetz.

Aber der Türhüter sagt, dass er ihm jetzt den Eintritt nicht gewähren könne. Der Mann überlegt und fragt dann, ob er also später werde eintreten dürfen.

„Es ist möglich“, sagt der Türhüter „ jetzt aber nicht“.

Da das Tor zum Gesetz offen steht wie immer und der Türhüter beiseite tritt, bückt sich der Mann, um durch das Tor in das Innere zu sehen. Als der Türhüter das merkt, lacht er und sagt:

“Wenn es dich lockt, versuche es doch trotz meines Verbotes hineinzugehen. Merke aber! Ich bin mächtig. Und ich bin nur der unterste Türhüter. Von Saal zu Saal stehn aber Türhüter, einer mächtiger als der andere. Schon den Anblick des dritten kann nicht einmal ich mehr ertragen“.

Solche Schwierigkeiten hat der Mann vom Lande nicht erwartet, das Gesetz soll doch jedem und immer zugänglich sein denkt er, aber als er jetzt den Türhüter in seinem Pelzmantel genauer ansieht, seine große Spitznase, den langen dünnen schwarzen tatarischen Bart, entschließt er sich doch lieber zu warten bis er die Erlaubnis zum Eintritt bekommt. Der Türhüter gibt ihm einen Schemel und lässt ihn seitwärts von der Tür sich niedersetzen.

Dort sitzt er Tage und Jahre.

Er macht viele Versuche eingelassen zu werden und ermüdet den Türhüter durch seine Bitten. Der Türhüter stellt öfters kleine Verhöre mit ihm an, fragt ihn über seine Heimat aus und nach vielem anderen, es sind aber teilnahmslose Fragen wie sie große Herren stellen und zum Schlusse sagt er immer wieder, dass er ihn noch nicht einlassen könne.

Der Mann, der sich für seine Reise mit vielem ausgerüstet hat, verwendet alles und sei es noch so wertvoll, um den Türhüter zu bestechen. Dieser nimmt zwar alles an, aber sagt dabei

„Ich nehme es nur an, damit du nicht glaubst, etwas versäumt zu haben“.

Während der vielen Jahre beobachtet der Mann den Türhüter fast ununterbrochen. Er vergisst die anderen Türhüter und dieser erste scheint ihm das einzige Hindernis für den Eintritt in das Gesetz. Er verflucht den unglücklichen Zufall, in den ersten Jahren laut, später als er alt wird brummt er nur noch vor sich hin. Er wird kindisch und da er in dem jahrelangen Studium des Türhüters auch die Flöhe in seinem Pelzkragen erkannt hat, bittet er auch die Flöhe, ihm zu helfen und den Türhüter umzustimmen.

Schließlich wird sein Augenlicht schwach und er weiß nicht, ob es um ihn wirklich dunkler wird oder ob ihn nur seine Augen täuschen. Wohl aber erkennt er jetzt im Dunkel einen Glanz, der unverlöschlich aus der Türe des Gesetzes bricht.

Nun lebt er nicht mehr lange.

Vor seinem Tode sammeln sich in seinem Kopf alle Erfahrungen der ganzen Zeit zu einer Frage die er bisher an den Türhüter noch nicht gestellt hat. Er winkt ihm zu, da er seinen erstarrenden Körper nicht mehr aufrichten kann. Der Türhüter muss sich tief zu ihm hinunter

neigen, denn die Größenunterschiede haben sich sehr zu Ungunsten des Mannes verändert.

„Was willst du denn jetzt noch wissen“, fragt der Türhüter „du bist unersättlich“.

„Alle streben doch nach dem Gesetz“, sagt der Mann.

„Wieso kommt es, dass in den vielen Jahren niemand außer mir Einlass verlangt hat“.

Der Türhüter erkennt, dass der Mann schon am Ende ist und um sein vergehendes Gehör noch zu erreichen brüllt er ihn an.

„Hier konnte niemand sonst Einlass erhalten, denn dieser Eingang war nur für dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schließe ihn.“

„Du sach ma, Alteer. Der Typ war doch wohl oinfach nur bescheueert, odää wääs? Da würde ja nich ma Roich-Ranicki durchblicken.“

Felix krault sich nachdenklich seinen Bürstenhaarschnitt.

„Also oins ist schon mal klar. Ohne Lebätran kann ich sowieso nicht denken. Fang du schon mal an, ich besorg Nachschub, odää wääs?“

Damit verschwindet er in Richtung Bruno's Krombacher Zentrallager.

Na toll. Super Teamwork. Ich lese mir die ersten fünf Sätze noch einmal durch und versuche herauszufiltern, was in dem Text passiert. Ich tue mich schwer und bekomme nicht mehr auf meinen Zettel gekritzelt als:

„Ein Mann kommt vom Lande und will in die Stadt.“

Das ist doch alles Scheiße. Das würde ich nicht mal nüchtern hinkriegen.

„Ich hab's!“

Felix steht in der Tür und wedelt freudig mit vier Flaschen Krombacher Lebertran.

„Wir räppeen Kafka, Alteer!“

Es ist halb Eins geworden und Felix war noch zweimal bei Bruno, um Lebertran zu holen. So abgefahren seine Idee auch klang, jetzt grinsen wir uns zufrieden an und ich schiebe unseren Kafka-Rap in die Klemmmappe und packe sie dann in meine Tasche.

Immerhin haben wir eine ganze DIN A4 Seite geschrieben.

Da es schon viel zu spät ist und Felix noch bis ans andere Ende der Stadt laufen müsste, beschließen wir, dass er bei mir pennt.

Besoffen aber glücklich hauen wir uns in das Doppelbett.

Wir sind richtig stolz auf unser Werk. Bevor ich das Licht lösche, stelle ich die Weckfunktion am Handy auf kurz nach sechs.

Das müsste reichen, denn der Unterricht beginnt um sieben.

Beim Einschlafen lallt Felix:

„Siehst du Alteer, Kiste Bier macht kreativ, odää wääs!“

In dieser Nacht träume ich von einem riesigen schneeweißen Samson, der unter der Dusche steht und sich mit einem winzigen Lady-shave den kompletten Körper rasiert. Ich stehe vor der offenen Duschkabine, er hält mir den Rasierer hin und befiehlt mir, an den Stellen, die er selbst nicht erreichen kann, für ihn weiterzumachen. Ich bekomme Panik und schüttele verängstigt und angeekelt den Kopf.

Er grinst mich breit an und beginnt schnorchelnd zu lachen.

Dabei hüpft sein dicker Schwabbelbauch auf und ab und aus dem Bauchnabel fällt ein Gullydeckel auf meine Füße.

Ich versuche wegzulaufen und rudere wild mit den Armen bis ich nach vorn kippe. Mit dem Gesicht rutsche ich an der Duschverkleidung nach unten . Als ich mich wieder aufrichte, lässt sich mein Scheiben-Knutscher-Gesicht nicht mehr gerade biegen.

Das schnorchelnde Lachen wird immer lauter.

Aus dem Bauchnabel fallen jetzt Unmengen leerer Krombacher Bierflaschen und klimpern klirrend und scheppernd auf den Fliesenboden.

Als ich endlich schweißgebadet erwache, liege ich völlig verdreht mit dem Gesicht an den Nachtschrank gepresst und mein rechter Arm baumelt rudernd zwischen den Krombacherpullen neben meinem Bett herum. Felix liegt herzzerreißend schnarchend quer über meinen Schienbeinen und hat dabei meine Füße im Arm.

Ich möchte gar nicht wissen, welche eigenartigen Stellungen wir im Laufe der Nacht schon alles ausprobiert haben. Gerade als ich ihn wach schüttele, fängt auch mein Handywecker an zu piepen.

Um Punkt sieben stehen wir zusammen mit dem größten Teil unseres Kurses vor dem verschlossenen Unterrichtsraum.

Zwar nicht besonders knitterfrei, aber immerhin pünktlich.

Was man von unserem Kursleiter nicht gerade sagen kann.

Nach den üblichen maulfaulen Begrüßungen warten wir schweigend, dass es losgeht.

Fünf Minuten später schneit Herr Demsin um die Ecke.

Wie immer hektisch und leicht orientierungslos.

Ich frage mich einmal mehr, wer hier eigentlich eine Reha-Maßnahme braucht. Er winkt uns auf die andere Seite des Flures zum Grünen Salon. Das ist der Seminarraum für besondere Präsentationen oder Anlässe.

„Ach du Schoiße“, murmelt Felix, „ich dachte, wir brauchen das nur abzugebeen.“

Anscheinend soll jede Zweiergruppe ihr Geschreibsel vor der versammelten Mannschaft vorlesen.

Solche Spielchen macht Herr Demsin sehr gerne mit uns.

Er sagt, das trainiert das Selbstbewusstsein und die Gruppendynamik.

Während die meisten unserer Leidensgenossen völlig unbegeistert die Tische im Grünen Salon in U-Formation aufstellen, nehme ich Felix beiseite und frage ihn, ob er es vielleicht hinbekommt, mit dem Mund solche Scratchgeräusche zu machen. So wie die DJ`s mit ihren Turntables.

Er wölbt beide Hände vor den Mund und macht rhythmische Zisch- und Klopfgeräusche.

Ich halte ihm den erhobenen Daumen hin.

Nach einer guten halben Stunde und dem üblichen Gemurre einigen wir uns ganz gruppendynamisch und sozialkompetent darauf, dass jede Gruppe selbst ihren Vorleser bestimmt.

Insgesamt müssten wir also dreizehn Darbietungen ertragen.

Schnell stellt sich jedoch heraus, eine bleibt uns erspart, weil Birne und Ulf nichts zustande gebracht haben.

Als ich Birne so mit trotzig verschränkten Armen dasitzen sehe, blitzt vor meinem inneren Auge der schneeweiße, rasierte Samson auf und es schüttelt mich kurz.

Bevor es losgeht, bittet Herr Demsin noch einmal um unser Gehör für eine wichtige Information.

„Ich muss euch leider etwas mitteilen. Herr Kauls hatte einen Autounfall und liegt mit einer gebrochenen Hüfte im Krankenhaus in Hannover. Es geht ihm den Umständen entsprechend gut.

Aber er wird wohl für die Dauer eures Kurses ausfallen.

In der kommenden Woche fällt der Matheunterricht für euch aus.

Am übernächsten Montag stellt sich dann der neue Mathe-Lehrer bei euch vor.“

Er setzt sich zwischen uns Umschüler und dann geht es los.

Die Vorträge ähneln einander und sind durch die Bank recht unbeholfen, klobig und kurz. Für die meisten ist es das erste Mal seit der Schulzeit, vor anderen etwas vorzutragen.

Einziges Highlight bilden Carola und Anja.

Die beiden sind ziemlich cool.

Carola hat bei der Vorstellungsrunde am ersten Tag in unserem Kurs für einen Lacher gesorgt und mit den Worten:

„Hallo, ich bin die Popp-Carola“, gleich das Eis gebrochen.

Wenn man als Frau mit Nachnamen Popp heißt, dann ist dies wohl auch die beste Art, dummen Sprüchen vorzubeugen.

Anja ist eine ziemliche Wuchtbrumme mit flammend roten Haaren. Die beiden sind seit Beginn des Kurses unzertrennlich und ständig grundlos gut drauf.

Sie haben sich mit Tesafilm DIN A4 Blätter an die Stirn geklebt und so nach oben geklappt, dass sie auf dem Kopf liegen und man nicht sehen kann, was darauf geschrieben steht.

Dann stellen sie sich nebeneinander hin und lesen abwechselnd von einem Zettel vor, dass sie bei dem Text einfach nicht durchgeblickt haben.

Zum Schluss sagt Anja:

„Dieser Text hat uns sehr an eine Nummer von Hape Kerkeling erinnert, bei der er sich als polnischer Musikprofessor ausgibt und mit seinem Partner am Klavier freie Interpretationen zum Besten gibt. Die bestehen aus einzelnen, sinnlos zusammengewürfelten Worten, welche er zu Klaviergeklimper ins Publikum schreit.

Ein Konsortium von Kunstkritikern zerbricht sich dann den Kopf und diskutiert die angebliche Botschaft des vermeintlichen Künstlers.“

Dann rufen beide Mädels abwechselnd „der Wolf“, „das Lamm“,

„auf der grünen Wiese“, „ein Lurch lugt hervor“.

Klappen ihre Zettel vor das Gesicht, auf denen zwei riesige Fragezeichen aufgemalt sind und schreien gleichzeitig: „Hurrrtz!“

Endlich sind wir an der Reihe.

Ich nehme meinen Zettel und lese die Überschrift vor.

„Inhaltsangabe Vor dem Gesetz (Rapvariante)“

Felix fängt an zu scratchen und groovt uns ein.

„… wupp wupp, disch disch, tzick, disch, wupp …“

Unsere Kurskollegen schauen sich verwundert an.

Felix läuft zur Hochform auf und haut ein spontanes Intro raus:

„Jo, Alter. Check, check voll fett. Kafka is in the House, Digger!“

Ich wiege mich im Takt und fange an zu rappen:

„Ein Mann kommt vom Lande und will in die Stadt – dort will er wohl finde, was er noch nicht hat.

Er will ins Gesetz, doch da kommt er nicht rein – davor steht ein Türhüter, wie gemeißelt aus Stein.

Das ist ne Type, voll verlaust - und er sieht aus, dass es dir graust.

Er hat Flöhe so groß wie Karnickel im Kragen - und selbst die wird das Landei um Hilfe befragen.

Der Knecht vom Lande setzt sich hin wie’n Greis und liegt voll auf Eis – doch der Security der labert nur Scheiß.

Ganz schön verpennt ist unser Bauer, doch er gibt nicht auf, er liegt auf der Lauer – er checkt ständig ab, ob noch was geht, - er will durch die Pforte –

doch er traut sich nicht – die Torte – und dann ist es zu spät.

Der Bauer wartet und sitzt auf 'nem Schemel und lässt sich abzocken dieser Dämel.

Der Hüter bleibt cool und spielt voll auf Zeit – geht nicht mal nach Hause zu seiner Maid.

Der Landsknecht wird schwach und weich in der Dattel – doch der Lukenschließer sitzt fest im Sattel.

Und dann kriegt der Bauer doch noch die Peilung – er stellt 'ne Frage aber ohne Beeilung.

Der Türsteher schreit: “Es ist so weit – bei dir wird’s bald Nacht und ich schließ jetzt den Schacht.“

Der Dorftrottel flennt. Er hat sein ganzes Leben verpennt, er war nicht auf Trab – und dann nippelt er ab.“

„Wupp, tzick, disch.“

Wir sehen uns etwas atemlos an. Es ist totenstill im grünen Salon. Man könnte eine Mücke furzen hören.

Dann bricht ein tosendes Gelächter los und wir bekommen Standing Ovation. Selbst Herr Demsin wischt sich kreischend die Lachtränen aus den Augenwinkeln.

Wir geben uns jeder fünf und Felix sagt: