Wisteria - Emrys Serry - E-Book

Wisteria E-Book

Emrys Serry

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Beschreibung

Das Königreich Eastwood wird von einem unfairen und machtgierigen Herrscher regiert, der seine eigenen Bedürfnisse über das Wohlergehen seines Volks stellt. Eine Untergrundorganisation bestehend aus Partisaninnen versucht gegen dieses Regime vorzugehen, indem es gezielt Adlige und andere Mitglieder der sozialen Oberschicht aus dem Weg räumt. Lou ist eine dieser Partisaninnen. Jahrelang befolgte sie die Befehle ihrer Anführerin, doch eines Tages weigert sie sich, ein Ziel auszuschalten und wird damit selbst zur Zielscheibe. Auf ihrer Flucht wird sie von anderen Partisaninnen gejagt und kann nur knapp entkommen, doch sie begegnet im angrenzenden Königreich anderen, die ihr von den wahren Absichten der Untergrundorganisation erzählen. Lou schöpft Verdacht, dass nichts so ist, wie es zu sein scheint, und plant nun einen Anschlag auf den König höchstpersönlich, um Eastwood endlich von seinem Leid zu befreien. Sie ahnt nicht, dass der König nicht allein dafür verantwortlich ist, was im Königreich geschieht.

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Für alle, die das Gefühl haben, dass die Welt ungerecht ist …

… und für alle, die etwas daran ändern möchten.

Inhaltsverzeichnis

PROLOG

EINS

ZWEI

DREI

VIER

FÜNF

SECHS

SIEBEN

ACHT

NEUN

ZEHN

ELF

ZWÖLF

DREIZEHN

VIERZEHN

FÜNFZEHN

SECHZEHN

SIEBZEHN

ACHTZEHN

NEUNZEHN

ZWANZIG

EINUNDZWANZIG

EPILOG

ÄS MERCI

PROLOG

Neun Jahre hartes Training hatten mich auf diesen Moment vorbereitet. Ich erwartete zwar nicht, dass ich bei einem so simplen Auftrag auf Komplikationen stossen würde, aber was wäre das Leben schon ohne ein paar unerwartete Überraschungen? Ausserdem hatte ich nicht gedacht, dass ein königlicher Berater pervers genug wäre, von mir zu verlangen, es mit ihm zu treiben, während sein Kollege zusah. Obwohl dieses kleine Problem durch einen zusätzlichen Kelch vergifteten Wein und durch einen zweiten Sarg gelöst werden konnte, war ich doch schockiert von der unglaublichen Unverfrorenheit. So schockiert, dass ich nach Erfüllen meines Auftrages direkt in die Badekammer verschwunden war, um mir mit kaltem Wasser das Gesicht zu waschen.

Als sich die sanften Wellen des Waschbeckens wieder beruhigt hatten, konnte ich einen kurzen Blick auf mein mittlerweile geschwollenes Kinn werfen. Na grossartig. Eine weitere Ausrede, die ich erfinden musste. Bevor ich noch einen weiteren Gedanken an meinen beinahe misslungenen Auftrag verschwenden konnte, wurde ich durch das Klopfen an der Tür aus meiner Starre geweckt.

«Was?», schrie ich in die Richtung der Tür und merkte zu spät, wie heiser meine Stimme klang. Ich hatte stundenlang nicht gesprochen und es nicht einmal bemerkt. Ich fragte mich jedoch, mit wem ich hätte sprechen sollen. Das Interesse des Beraters hatte ich in dieser Hinsicht jedenfalls nicht geweckt.

«Sie erwartet deine Berichterstattung.», antwortete eine sanfte Stimme. Wie konnte eine Stimme so sanft klingen, wenn die Nachricht, die sie überbrachte, mich wie ein Bleiklotz auf den Meeresgrund zog? Als ich realisierte, dass ich schon zu lange mit meiner Antwort gezögert hatte, sagte ich hastig, dass ich noch fünf Minuten brauchte, um mich umzuziehen. Stattdessen verbrachte ich diese viel zu kurze Zeit damit, mich daran zu erinnern, wer ich war und was meine Aufgabe war. Ich war eine Schauspielerin, die jeden Tag eine andere Rolle einnahm. Ich war eine Freiheitskämpferin, ein Teil einer Truppe von Partisaninnen, doch ich fühlte mich wie eine Soldatin, die nur zu einem einzigen Zweck ausgebildet wurde. Meine Aufgabe war es, die Menschen zu töten, die unserem Plan im Weg standen.

EINS

Nachdem ich meine dunkelbraunen, struppigen Haare zu einem Zopf geflochten und mir schnell ein dünnes Leinenkleid übergeworfen hatte, trat ich aus der Tür, wo schon meine frisch polierten Stiefel auf mich warteten. Während des Gehens zog ich das weiche Ziegenleder über meine Füsse und hielt nur kurz zum Zusammenbinden der Schnürung an. Als ich um die Kurve ging, liess ich meine Hand über die kalte Steinmauer streifen. Das Höhlengewölbe, in welchem wir lebten, wurde nur von Kerzen und kleinen Öffnungen in der Mauer beleuchtet. Gerade als ich um die letzte Ecke bog, kam mir eine schlanke, blonde Frau entgegen. Obwohl ich sie sicherlich schon über hundertmal gesehen hatte, blieb mir bei ihrem Anblick noch immer die Luft weg. Sie war wunderschön. Ihr Gesicht sah aus, als ob sie in meinem Alter war. Mir war klar, dass sie schon die Hälfte ihres Lebens hinter sich haben musste, doch dieser Gedanke entschlüpfte meinem Gedächtnis immer wieder. Hier im Dunkeln schienen ihre Haare hellbraun oder sogar blond zu sein, aber manchmal, wenn wir draussen trainierten, sah es fast so aus, als ob ihr Haar dunkler wurde. Die Farbe schien sich jeden Tag zu verändern und ich weiss nicht warum, aber es faszinierte mich.

«Wisteria. Ich habe mir schon Sorgen gemacht, dass du mich heute versetzt.» Obwohl ich «Wisteria» nicht als meinen Namen anerkennen wollte, antwortete ich darauf.

«Es gab ein paar kleine Schwierigkeiten, welche jedoch ohne Komplikationen beseitigt werden konnten.», sagte ich hastig und drehte während dem Gehen den Kopf, damit mein geschwollenes Kinn nicht zu viel Aufmerksamkeit auf sich zog.

«Ich musste ein Säuberungsteam hinschicken, weil du der Zielperson … ein Körperteil abgetrennt hast. Das Beseitigen der Blutflecke hat Stunden gedauert.» Ach ja, da war ja noch was.

«Kommt nicht wieder vor.» Ich wollte nicht noch mehr Zeit damit verschwenden, über meinen beschämenden Auftrag zu sprechen, also bog ich bei der nächsten Ecke in Richtung Ausgang ab.

«Ich war noch nicht fertig.», klang die Stimme mir hinterher und hallte noch bis zum Ende des Gangs weiter. Ich drehte den Kopf ein wenig, um zu signalisieren, dass ich zuhörte.

«Ist alles in Ordnung?» Mein Kinn pochte, als ich mit den Zähnen knirschte. Ich antwortete nicht. Dafür würde ich zwar ein andermal noch Probleme bekommen, aber sicherlich nicht, wenn die Hälfte der Höhlenbewohner sich hinter der nächsten Kurve versteckte und lauschte. Es kam nicht oft vor, dass ein Auftrag schiefging. Normalerweise waren wir immer zuverlässig. Sonst wären wir sicherlich schon aufgeflogen und hingerichtet worden. Unsere Arbeit konnte nicht gerade als ehrenhaft oder aufrichtig bezeichnet werden, obwohl wir versuchten, das Leben in Eastwood zu erleichtern, den Menschen mehr Freiheit zu geben.

«Erzählst du mir, was passiert ist?» Sie würde nicht Ruhe geben, das hatte sie noch nie, doch ich schwieg.

«Oder muss ich dich zuerst daran erinnern, dass das ein Befehl ist?» Dieser mütterliche Ton schickte einen kalten Schauer durch meine Wirbelsäule. Ich wusste, dass sie sich um ihre Mädchen sorgte, aber je mehr sie nachhakte, desto stärker wurde mir bewusst, dass wir keine Möglichkeit hatten, Geheimnisse zu haben.

«Ich musste den Notfallplan einleiten, weil eine Person aufgetaucht ist, mit der ich nicht gerechnet hatte.», sagte ich seufzend.

«Wenn das alles ist, wie ist dann das Glied des Beraters verschwunden?» Gute Frage. Nur ist sie unnötig, weil glasklar war, wie das passiert war. Als ich keine Anstalten mache, den Vorfall zu erklären, fixieren mich zwei ungeduldige Augen. Ich verschränkte die Arme wie ein trotziges Kind und liess meinen Kopf seufzend nach hinten fallen.

«Ich habe mich vom Moment mitreissen lassen.» Mir war bewusst, dass das eine schlechte Antwort war, denn ich durfte auf keinen Fall die Nerven verlieren. Das hatte man uns jahrelang eingebläut, doch ich stolperte in letzter Zeit immer wieder in emotionale Verwicklungen hinein. Ich fühlte, wie ein fragender Blick auf meiner Schulter lastete und wehrte mich gegen das Gewicht, doch es gelang mir nicht, das unwohle Gefühl abzuschütteln.

«Ich hätte Besseres von dir erwartet, Wisteria.» Schon wieder dieser bescheuerte Name. Die anderen Anschuldigungen meines kindischen Verhaltens blendete ich aus, bis endlich wieder Stille einkehrte. Nachdem sie mit ihrem Vortrag fertig war, setzte ich mich erneut in Bewegung, doch schon nach kurzer Zeit wurde ich erneut aufgehalten. Mir entschlüpfte noch ein Seufzer, doch beim Anblick von Daphnes ernster Miene wurde mir eiskalt.

«Weisst du, was all unsere Decknamen gemeinsam haben?» Eine dramatische Pause folgte, um das, was gesagt werden würde, deutlicher zu machen. Selbstverständlich wusste ich, was unsere Namen bedeuteten. Es waren nicht unsere echten Namen, aber sie wurden uns gegeben und es wurde von uns erwartet, dass wir sie akzeptierten. So wie wir unser neues Leben akzeptieren sollten. Ich hatte mich noch nie sonderlich für Regeln interessiert, obwohl ich immer so tat, als ob sie mir am Herzen lagen.

«Es sind giftige Pflanzen, hauptsächlich Blumen. Wunderschön und tödlich zugleich. Zurzeit bist du nur eines davon.» Ich musste meine Hände vom Zittern abhalten, damit sie keinen Verdacht schöpfte. Wenn Daphne nur erahnen konnte, was ich vorhatte. Schon bald würde sie mich los sein, und zwar für immer.

«Ich ermahne dich ein letztes Mal daran, was du bist.» Was; nicht wer, sondern was. Nun war ich also nicht einmal mehr ein Mensch. Möglicherweise war ich es noch nie gewesen.

«Dein Name ist nicht Rose oder Daisy oder Poppy. Dein Name ist Wisteria. Also benimm dich auch so, wie dein Name es dir vorgibt. Ich werde dich nicht noch einmal warnen. Ich habe diese Rebellion gebildet, um unserem Land zu helfen. Wir sind eine Truppe, eine Familie und durch dein Verhalten gefährdest du diese Familie. Du weisst, dass ich das nicht zulassen kann.» Eine weitere Warnung würde ich nicht brauchen. Es kam nicht oft vor, dass Daphne ihre Position mit solch einer Rede demonstrierte, aber wenn es vorkam, dann wusste man, dass es ernst gemeint war. Obwohl ich diese Truppe nicht als Familie wahrnahm, hatte sie Recht. Daphne hatte mich gerettet und aufgenommen. Sie hatte mir auf merkwürdige Weise ihre Aufmerksamkeit und Liebe geschenkt.

«Lass dich auf der Krankenstation von Ely untersuchen.» Mein mittlerweile wahrscheinlich blau verfärbtes Kinn blieb doch nicht unbemerkt. Der rasante Themenwechsel brachte mich kurz aus der Fassung, doch ich fing mich schnell wieder und realisierte, dass das Letzte, was ich wollte, ein Besuch auf der Krankenstation war. Besonders, wenn gerade das ganze Höhlengewölbe von meinem Versagen erfahren hatte.

«Unnötig. Mir geht’s gut.», antwortete ich knapp und lief schnell weiter, bevor ich noch ein drittes Mal aufgehalten werden konnte. Ich lief so schnell, dass man meinen konnte, ich würde nie mehr zurückkehren.

Warum sollte man Menschen mit ihrem Namen ansprechen? Besonders, wenn sie ihn nicht einmal selbst auswählen konnten. Namen waren nur Scheinheiligkeiten, die anderen Menschen ein falsches Bild über die Persönlichkeit vermittelten. Wenn man den Namen einer Person kannte, dann machte man sich nicht mehr die Mühe, einander kennenzulernen, weil man schon seine Schlüsse gezogen hatte. Jedenfalls in meiner Welt. Dazu kam noch der Titel einer Person, der weitaus mehr Einfluss auf die Meinung anderer hatte. Wenn man Lord vor seinem Namen stehen hatte, dann war man grundsätzlich schon mehr wert als das gemeine Volk. Wenn man Berater des Königs war, dann war man zwar nicht so viel wert wie ein Lord, aber immer noch mehr als das Volk. Und dann gab es noch den König. Dagegen waren wir nur Soldaten und Arbeitskräfte. Selbstverständlich war auch er wichtiger als das Volk. Im Grunde war in Eastwood jeder besser als das gemeine Volk. Dann gab es noch uns andere. Wir, die uns gegen dieses System zu wehren versuchten und dabei verdrängten, dass wir nichts anderes machten als der König und seine Gefolgschaft. Wir töteten irgendwelche Leute, die scheinbar dem System schadeten. So lange, bis alle Problemquellen ausgeschaltet waren und wir so leben konnten, wie wir es wollten. Aber unsere Aufgabe würde niemals erfüllt sein. Es würde immer neue Herrscher geben, die das bisherige System weiterführten.

«Was machst du da?» Ich drehte meinen Kopf um und blickte in zwei wunderschöne, eisblaue Augen.

«Nichts», erwiderte ich und schaute wieder auf den spiegelglatten See vor mir.

«Daphne macht sich Sorgen um dich. Du gibst es zwar nicht zu, aber du hast ziemlich etwas abbekommen.» Das hatte ich, aber das war noch lange kein Grund, um wie ein Schwächling auf die Krankenstation zu rennen und mich zu beklagen. In diesem Königreich wurde man als Frau nicht anständig behandelt; das mussten einige unter uns endlich akzeptieren. Genau das war es, wogegen ich zu kämpfen versuchte, aber ich hatte mich schon lange dafür entschieden, dass das Verüben von Attentaten wahrscheinlich nicht der beste Weg war, um eine Veränderung zu erzielen.

«Es geht mir gut, Ely. Du musst nicht hierbleiben und meinem Ego noch mehr Schaden zufügen.» Ich schätzte ihre Gesellschaft normalerweise. Nur nicht, wenn ich wusste, dass ich einen Fehler gemacht hatte und man zu allem Überfluss noch darauf herumritt.

«Daphne hat mir erzählt, was passiert ist. Wir alle machen mal Fehler, Wisteria. Du musst dir keine Vorwürfe machen.»

«Tu nicht so, als ob du es verstehen würdest. Du hast keine Ahnung, wie es ist, dort draussen zu sein und das zu tun, was wir tun.» Mein Verhalten war in der Tat kindisch. Ich wusste ganz genau, was auf mich zukommen würde, als ich den Auftrag erhalten hatte. Ich konnte mich darauf vorbereiten und trotzdem war ich überrascht, als mir der Berater die Kleider vom Leib riss und mich aufs Bett warf. Dabei hatte ich sein Grinsen schon lange vor dem Klopfen an der Tür bemerkt und ich wusste ganz genau, was er sich dachte, als er von meinem nackten Körper glitt und die Tür öffnete. Ich wollte Ely nicht so harsch anblaffen und trotzdem bereute ich nicht, dass ich die Worte ausgesprochen hatte. Und ich würde mich nicht dafür entschuldigen. Ich wusste, dass Ely etwas an mir lag. Ich konnte es nie verstehen, aber Daphne hatte Recht. Irgendwie waren wir alle eine Familie. Eine ziemlich kaputte und kranke Familie, die irgendwelche Leute verführte, manchmal sogar mit ihnen schlief und sie anschliessend auf Befehl umbrachte, aber dennoch eine Familie.

«Okay, dann höre ich eben auf, einfühlsam zu sein. Eigentlich bin ich hier, um dir deinen neuen Auftrag zu übergeben.» So schnell nach Abschliessen eines Auftrages war ich noch nie eingesetzt worden. Ich streckte die Hand aus und nahm den Umschlag von Ely entgegen.

«Falls du ihn nicht ausführen willst, dann wird Bryonia das für dich übernehmen. Ich würde dir also raten, dass du es dir gut überlegst.» Mir kam es beinahe so vor, als ob sie es genoss, jedes Wort auseinanderzunehmen und darauf herumzureiten. Damit gab sie mir die Kälte zurück, die ich ihr vorhin ungewollt entgegengeschleudert hatte. Wirklich überaus klug. Daphne wusste genau, dass ich in diesem Fall den Auftrag nicht ablehnen würde. Bryonia war erst 11 Jahre alt und nur knapp ein Jahr in der Ausbildung gewesen. Jeder in unserer Höhlensiedlung wusste, dass sie es nicht überleben würde. Ich hatte also keine andere Wahl.

Mein Blick schien verschwommen zu sein. Ich sah die Umrisse einer Tür und jemanden, der sie öffnete. Hatte ich an die Tür geklopft? Erst, als ein Mann mit grauen Haaren und einem schwarzen Fell über den Schultern erschien, wusste ich, was vor sich ging. Der Mann griff nach meiner Hand und zog mich in das Zimmer. Ich spürte seinen Herzschlag in meiner Handfläche und meinen eigenen an der Stelle, wo seine Finger sich in meine bohrten. Der Mann verlor keine Zeit. Sofort fing er an, mich zum Bett zu bugsieren und an meinem Mantel zu ziehen. Als er den Knoten gelöst hatte, fiel mein Dolch klappernd zu Boden. Der Mann hielt inne und starrte zuerst mich und dann den Dolch an. Ich war so schockiert, dass ich mich nicht bewegen konnte, doch als er sich in Bewegung setzte, um den Dolch aufzuheben, warf ich mich auf ihn. Meine Hände rutschten über das Fell auf seinen Schultern und ich fiel neben meinem Dolch zu Boden. Der Mann realisierte, was vor sich ging und versuchte, meine Haare zu packen. Blitzschnell rollte ich mich zur Seite und schnappte mir den Dolch, aber als ich mich umdrehte, stand der Mann mit einem Schwert über mir und liess es auf mein Gesicht zurasen.

ZWEI

Schweiss durchnässt schreckte ich aus dem Schlaf hoch. Dies war einer der wenigen Aufträge gewesen, die schiefgegangen waren. Ich wusste, dass der Mann in Wirklichkeit kein Schwert hatte und sich stattdessen auf dem Boden wälzte und mich anflehte, Gnade zu haben. In meinen Albträumen veränderte sich die Realität immer so, dass am Ende keine Schuldgefühle zurückblieben. Es blieb nichts, was einen bitteren Geschmack in meinem Gedächtnis zurückgelassen hätte. Ich musste mich nicht dafür schämen, meinen Dolch in den Bauch des Mannes gerammt zu haben. Ich musste mich ebenfalls nicht dafür schämen, dass er schrie, was eine Wache anlockte und ich musste mich sicherlich nicht dafür schämen, dass die Wache noch ein Kind war, das einen Auftrag erhalten hatte, von dem man dachte, dass er absolut ungefährlich war. Doch wofür ich mich ohne Zweifel nicht schämen musste, war die Tatsache, dass ich das Kind ohne zu zögern ermordet hatte.

Elys Brief enthielt mein nächstes Ziel. Die Zeichnung im Umschlag wurde nur sehr grob gekritzelt. Dunkle, kurz geschorene Haare, kantige Gesichtszüge, schmale Lippen und eine eher grosse Nase im Vergleich zum Rest seines Kopfes. Auch die Beschreibung war vage. Gross, schlank, mit einer Narbe auf der rechten Hand. Es würde wohl schwierig werden, ihn zu finden, doch bevor ich mir eine Strategie überlegte, ging ich in die Küche und holte mir eine Scheibe Brot und ein Stück Käse. Das war etwas vom Ersten, was ich während meiner Ausbildung gelernt hatte. Nie mit leerem Magen versuchen, einen doppelt so schweren Mann auf den Boden zu bringen. Damals hatte ich es bitter bezahlt. Trotz meines Plans, mich zunächst umzusehen und die Gewohnheiten meines neuen Opfers zu studieren, kam es mir so vor, als ob ich die Energie noch brauchen würde.

«Sie hat dich also doch behalten.» Ich schreckte zurück und liess beinahe das Brot fallen. Es war dieselbe Stimme, die mich angewiesen hatte, Daphne Bericht zu erstatten.

«Ich bin kein Haustier und das weisst du ebenso gut wie ich, Euphorbia.» Ich versuchte so schlagfertig wie möglich zu sein, wenn ich mit Euphorbia sprach, doch sie hatte eine so gewitzte Zunge, dass ich oft keine passenden Worte fand.

«Ist das so? Ich hätte schwören können, dass es dir gefällt, dich von reichen, alten Männern kraulen zu lassen.» Autsch, offensichtlich kam sie gleich zur Sache. Wir konnten uns noch nie ausstehen, aber bisher blieben unsere Zwiste verbal. Dies würde sich ändern, sobald ich diesen Ort verliess.

«Warst nicht du diejenige, die damals nur knapp dem Emissär mit dem Messerfetisch entgangen ist? Nach dem, was ich gehört habe, hat er dir damals dreckige Wörter auf die Haut geritzt.» Eigentlich wollte ich diese abstossende Geschichte nicht ausgraben, aber bei Euphorbia musste man mit harten Mitteln kämpfen. Meine Bemerkung schien sie jedoch nicht so sehr zu ärgern, wie ich es mir erhofft hatte.

«Du hast wohl vergessen, welche Pflanze sich in meinem Namen versteckt. Ich bin erst giftig, wenn du mich schneidest. Ausserdem ziehe ich es vor, mit meiner Beute zu spielen, sonst würde das Ganze ja keinen Spass machen.» Euphorbia schlich durch den Raum wie ein Raubtier, um ihre Botschaft zu untermauern.

«Und ich vergifte dich, wenn du mich anfasst. Ich würde dir also empfehlen, mir nicht im Weg zu stehen.», sagte ich und ging zielstrebig zur Tür.

«Deine sadistische Veranlagung solltest du vor Daphne verstecken, sonst könntest du bald diejenige sein, die auf die Strasse gesetzt wird.», fügte ich hinzu, als Euphorbia keine Anstalten machte, mich aufzuhalten. Ich ass den Rest meiner Stärkung und bereitete mich auf meinen Auftrag vor. Die Zeiten, als ich mich selbst gefährdet hatte, um andere zu retten oder um jeden Preis den Befehlen anderer zu gehorchen, waren vorbei. Es war nicht mehr meine Aufgabe, mich mit den anderen Partisaninnen zu streiten, nur um mein Ego zu erfrischen.

Nach dem Essen ging ich zurück in meine Kammer und fing an, meine Messer zu schleifen. Ich wusste zwar noch nicht, welche Waffe für dieses Attentat am besten geeignet sein würde, doch die Erfahrung zeigte, dass es sich auszahlte, immer ein paar geschliffene Messer und einen Dolch bei sich zu tragen. Trotz allem, was mir zur Verfügung stand, war meine Lieblingswaffe ein einfacher Stock mit einer Metallspitze am einen und einer Klinge am anderen Ende. Mit dieser Waffe hatte ich als Kind immer trainiert. Sie erinnerte mich an eine Kriegssense, die an beiden Enden tödlich war. Leider würde ich sie nicht mitnehmen können, da sie zu gross war und Aufmerksamkeit auf sich richtete. Das war das Letzte, was ich auf meiner Flucht gebrauchen konnte. Atropa, mit der ich mir eine Kammer teilte, war dabei, ihre Misericordia zu schleifen. Eine Art Dolch mit drei Kanten, welche eine sehr schmale Spitze hatte. Perfekt, um in Rüstungsfugen zu stechen und sehr effektiv im Nahkampf.

«Was, schon wieder einen neuen Auftrag? Du bist doch gerade erst zurück.», sagte Atropa halb in Gedanken bei ihrem Dolch.

«Sieht so aus, als ob man mich schon wieder braucht.», antwortete ich knapp und setzte mich mit dem Schleifstein und einem nassen Tuch auf das Strohbett. Atropa war eigentlich eine grossartige Mitbewohnerin, aber manchmal, wenn sie zu viele Äpfel gegessen hatte, die in der Küche herumlagen, dann wurde sie aus irgendeinem Grund sehr gesprächig. Vielleicht wegen des vielen Zuckers.

«Daphne will dich wohl noch ins Grab bringen.», bemerkte sie nun voll auf mich konzentriert und entlockte mir damit ein kleines Lächeln. Ja, das wollte sie wohl. Aber in Wahrheit war ich schon lange im Grab. Ich hatte es nur nie bemerkt. Schon seit Langem wartete ich darauf, mein Leiden zu beenden und aus der Rebellion auszutreten, aber etwas in mir hielt mich davon ab. Ich wartete schon lange auf den geeigneten Moment, aber er schien nie zu kommen. Ich fing an, daran zu zweifeln, dass ich dieses Leben jemals hinter mir lassen konnte, doch es war der einzige Weg für mich.

Überraschenderweise war es nicht schwierig, meine Zielperson zu finden. Er sass mitten auf dem Marktplatz auf dem Brunnenrand und begrabschte gerade ein junges Mädchen, das mit einem Korb Brot an ihm vorbeilief. Er riss sie an ihrem Kleid auf seinen Schoss und hielt sie an der Taille fest, obwohl sie sich gegen seinen harten Griff zu wehren schien. Dabei fiel mir sofort die feine, blasse Linie auf seinem rechten Handrücken auf. Das war er, der Glückliche. Ich beobachtete die Szene von der anderen Seite des Brunnens aus und wusch mir zur Ablenkung die Hände im eisigen Wasser. Am liebsten hätte ich sofort eingegriffen. Das Bild von seiner Hand, die unter den Rock des kleinen Mädchens rutschte, hatte mir das Rot in die Wangen getrieben. Das war wohl ein Grund mehr gewesen, weshalb Daphne Bryonia als meinen Ersatz auserwählt hatte. Da hatten wir einen, der auf kleine Mädchen stand. Beiläufig dachte ich mir, dass ich wohl erneut einen erwischt hatte, der ein Schwein im Bett war. Ich fragte mich, ob es diese Momente waren, die mich davon abhielten, meinen Dienst als Partisanin aufzugeben. Solche Aufträge gaben mir das Gefühl, dass ich etwas bewirken konnte. Dass ich meinen Anteil dazu leisten konnte, das Böse aus diesem Königreich zu vertreiben. Doch dann war der Moment vorbei und ich wurde mit meiner zersplitterten Seele zurückgelassen, denn das war es, was Mord mit der Seele anstellte. Sie zerriss einen in tausend Stücke, die man niemals wieder zusammenflicken konnte. Das Einzige, was mich zusammenhielt, war die Routine. Ich hatte schon im Kindesalter angefangen, Menschen zu töten und irgendwann wurde es so normal, wie jeden Morgen aufzustehen.

Als mein Ziel mit der Kleinen fertig war, knöpfte ich die obersten Knöpfe meines Kleids auf und liess den Schal, den ich vorher fest um meinen Hals geschlungen hatte, über die Schultern fallen. Dann griff ich mir vom nächsten Marktstand ein blaues Taschentuch, das zu meinem Kleid passte, und ging zu meinem Ziel rüber. Als ich in Reichweite war, liess ich das Taschentuch aus meiner Hand gleiten und stolperte beim Bücken mit einer ungeschickten Bewegung über meine eigenen Füsse. Wie erwartet, erregte dies die Aufmerksamkeit meiner Zielperson.

«Oh, wie ungeschickt von mir. Ich wollte Euch nicht im Weg stehen.», sagte ich mit einer hohen, mädchenhaften Stimme und versuchte hastig aufzustehen. Zwei starke Hände zogen mich wieder nach unten und ich landete auf zwei harten Oberschenkeln. Genau wie das Mädchen zuvor, nur dass ich es so geplant hatte. Ich spielte Überraschung vor und kämmte mir rasch mit meinen Fingern die Haare aus dem Gesicht. Dann legte ich meine eine Hand auf seine Schulter und die andere auf seine Hand, die meine Hüfte umklammert hielt. Die kleine Rille der blassen Narbe schnitt in meine Fingerkuppe und ich verkniff mir den Drang, über seine Hand zu streichen.

«Verzeihung, ich wollte Sie keinesfalls belästigen. Ich war nur ungeschickt.», plapperte ich vor mich hin, in der Hoffnung, dass er auf diese Leier anspringen würde. Bevor ich noch etwas sagen konnte, spürte ich seine Lippen auf meinen. Seine Hand strich rau über die Beule an meinem Kinn, die ich versucht hatte zu verstecken. Als sich unsere Lippen wieder lösten, war ich komplett ausser Atem. Wie lange hatte der Kuss gedauert? Fingen die Leute schon an zu starren? Ich liess meinen Blick über den Marktplatz schweifen. Mittlerweile standen zwei Wächter in unserer Reichweite und beobachteten unsere Vorführung. Ich hatte nicht genug Zeit, um darüber nachzudenken, weshalb die Wächter uns beobachteten, aber es konnte nichts Gutes bedeuten.

«Nur nicht so eilig. Wenn du schon von mir auf die Knie fällst, dann habe ich auch das Recht, mich mit dir zu vergnügen.» Nein, hatte er nicht, aber egal. Er würde ohnehin nicht mehr lange genug leben, um dieses Spiel mit anderen Mädchen zu spielen. Das würde wohl schon wieder ein improvisierter Auftrag werden. Ich versuchte, mir etwas einfallen zu lassen, aber ich konnte nicht denken.

«Hmm … du weisst wohl nicht, auf wessen Schoss du sitzt, nicht wahr?», fügte er hinzu, als ich nicht auf seinen Kommentar antwortete. Natürlich wusste ich, wer er war. Eine der Fähigkeiten, die man sich in meinem Beruf aneignete, war, Menschen nach sorgfältigem Beobachten besser zu kennen, als ihre eigenen Mütter es taten. Nur dass ich ihn noch nicht ausreichend beobachtet hatte, um mein Urteil fällen zu können. Normalerweise schlich ich wochenlang umher und verfolgte meine Ziele, um mir ihre Gewohnheiten und Eigenheiten zu merken. Doch das war meinem Ziel egal; das sagte mir die Tatsache, dass ich gerade auf seinem Schoss sass.

«Mein Name ist Ewan von Eastwood.» Meine Augen weiteten sich. Mist! Ich stemmte mich gegen den Griff des Mannes und versuchte zu entwischen, aber er klammerte sich noch stärker an meiner Hüfte fest. Daphne hat es wohl nicht für wichtig erachtet, mir zu sagen, dass ich den Thronfolger des Königreiches ermorden sollte. Niemand ausserhalb der Burg hatte jemals einen Thronfolger gesehen. Das Einzige, was dem Volk bekannt war, waren die Namen, da sie bei öffentlichen Veranstaltungen zur Ehrung der königlichen Familie genannt wurden. Seinen Namen auf einem Marktplatz voller wütender Bauern und Mägde so laut auszusprechen, war ziemlich mutig, das musste ich zugeben. Oder aber herausfordernd, was mich am Ende ebenfalls mein Leben kosten würde.

«Oh, eure Majestät! In diesem Fall tut es mir noch mehr leid, dass ich Euch mit meiner Ungeschicktheit belästige. Das wird sicherlich nicht erneut vorkommen.», erwiderte ich rasch und während ich weiterhin versuchte, mich aus seinem Griff zu lösen.

«Du kannst es wiedergutmachen, wenn du willst. Heute Nacht. In meinem Schlafgemach.» Natürlich.

«Oh, Ihr seid zu gütig. Ich wäre wohl kaum gut genug, eure Bedürfnisse zu befriedigen.», sagte ich gespielt ausser Atem und versuchte mich erneut zu erheben. Sein Griff lockerte sich nicht und ich konnte mich nicht daraus befreien, ohne die Wachen in Alarmbereitschaft zu versetzen.

«Nein, wärst du nicht, doch das ist mir aufgrund des momentanen Mangels an hübschen Frauen egal.» Hat er mich gerade indirekt hässlich genannt? Die Wächter traten noch einen Schritt näher auf uns zu. Einige Bauern, die in der Nähe standen, drehten sich zu uns und beobachteten die Wächter.

«Verzeiht mir meine Eile, aber ich muss nach Hause zu meinem Mann.», versuchte ich verzweifelt mich herauszureden. Hoffentlich würde das plötzliche Erwähnen eines Ehemannes ihn daran erinnern, dass ich älter war, als ich zu sein schien und ihn mit Abscheu erfüllen.

«Der ist doch keine Konkurrenz für mich. Denkst du etwa, dass ich mir nicht nehme, was ich will.» Oh, doch das wusste ich ganz genau. Einer der Wachen winkte seinen Kollegen am Tor zu und bedeutete ihnen, zu uns herüberzukommen. Ich musste mich irgendwie befreien, doch mich aus seinem Griff zu lösen, würde die ganze Situation wohl noch schlimmer machen. Ich versuchte weiterhin, mich hochzustemmen, aber gegen seinen festen Griff hatte ich ohne Aufsehen zu erregen keine Chance. Ich musste mich entscheiden. Entweder von den Wächtern verprügelt werden oder es riskieren, dass mich die Bauern überrannten, wenn sie gleich auf den Königssohn losgehen würden.

«Sieht so aus, als ob du dich in meiner Gesellschaft nicht sehr wohlfühlst.», sagte er und riss mich dabei noch etwas näher an sich heran.

«Wie Ihnen sicherlich bekannt ist, ist Ehebruch in diesem Königreich ein schweres Vergehen.» Das war es nicht. Niemanden interessierte, wer es insgeheim mit wem trieb, denn jeder hatte irgendwann in irgendeiner Art eine Affäre mit jemandem gehabt. Doch es war genauso bekannt, dass sich die königlichen Nachkommen wenig um das eigene Königreich scherten und sicherlich zuletzt um dessen Gesetze. Trotzdem musste ich versuchen, eine empfindliche Stelle zu treffen.

«Ich bin ein Nachkomme. Ich kann die Regeln ändern, wenn ich es will.» Auch das war mir bekannt und trotzdem hatte ich gehofft, dass meine Worte irgendein Schuldgefühl hervorrufen würden. Nun standen mittlerweile alle auf dem Platz vorhandenen Wächter mit gezückten Waffen um uns herum. Ein Schmied, der einen Hammer vom Boden aufhob und näher an den Brunnen trat, fiel mir ins Auge. Die Bauern spannten ihre Muskeln an und schlossen ihre Hände fester um Mistgabeln, Schaufeln und was auch immer gerade herumlag. Verprügelt zu werden war definitiv besser. Jetzt oder nie. Bevor ich noch einen Gedanken mehr an dieses königliche Ekel verschwenden konnte, drückte ich auf einen Druckpunkt an seiner Hand, was ihn dazu zwang, mich loszulassen. Ich verbeugte mich hastig beim Aufstehen, drehte mich um und lief hastig davon. Während der Schlamm meine nackten Beine bespritzte, hoffte ich, dass die Wächter wieder ihren ursprünglichen Platz einnehmen und von mir ablassen würden. Doch nicht nur das. Sie liefen an mir vorbei und gingen zielstrebig auf einen Hufschmied zu, der mit erhobenem Schmiedehammer auf meine Zielperson zustürmte. Bevor die Wächter ihn erreicht hatten, schwang der Hufschmied den Eisenhammer und zerschmetterte damit den königlichen Schädel der Person, die sich vor wenigen Minuten nach vorne gebeugt und mich geküsst hatte. Blut spritzte auf die Erde und das Gesicht des Angreifers. Die Geräusche jagten mir einen Schauer durch die Knochen. Es hörte sich an, als ob jemand ein Schwein schlachten würde. Während der Königssohn quiekte und versuchte, sich zu wehren, hörte ich das Geschrei des Schmieds. Schon bald traf das Eisen des Hammers auf entblössten Schädelknochen. Ein lautes Knacken war zu hören, bevor der schlaffe Körper meiner Zielperson in den Brunnen fiel und das Wasser hellrot färbte. Um uns herum griffen sich Frauen vor den Mund und wandten sich entsetzt von der Szene ab. Dann ging alles schnell. Die Wächter nahmen den Hufschmied gefangen und brachten ihn in die Burg. Als der Mann fortgeschleift wurde, rief er mit erhobenem Kinn: «Lang lebe Eastwood! LANG LEBE EASTWOOD!» Der Spruch, der hier überall zu hören und zu sehen war, wenn die Krone gerade nicht hinsah. Damit war keineswegs des Königs langes Leben gemeint, sondern Eastwood selbst.

DREI

«Du hast mir nicht gesagt, dass ich einen der wohl bestbewachten Männer dieses Königreiches umbringen soll!», schrie ich Daphne entgegen. Sie liess sich jedoch nicht von meinem Tonfall beeindrucken und lief auf die Feuerstelle in der Ecke des Raums zu.

«Was macht das für einen Unterschied?», fragte sie mit ihrer üblich ruhigen Stimme. Was das für einen Unterschied machte? Der Unterschied war etwa so gross, wie der zwischen einer Gabel und Atropas Misericordia.

«Ich hätte diesen Auftrag niemals ausgeführt.», sagte ich und drehte mich bereits zum Gehen um, doch Daphne versperrte mir den Weg. Zu spät bemerkte ich, dass ich «hätte» gesagt hatte. Mein Kopf hatte schon entschieden, dass der Moment gekommen war, diesen Ort zu verlassen, aber mein Herz hielt noch immer an meiner Familie fest.

«Du hattest freie Bahn. Du hättest mit ihm in die Burg gehen können. Die Wächter wären fortgeschickt worden und du hättest Gelegenheit gehabt zu verschwinden, bevor jemand etwas mitbekommt. Aber du hast es nicht getan.» Ihre Worte stachen in meinen Bauch, wie ein Dolch. Sie hatte es mit Absicht getan. Sie wollte herausfinden, ob ich ihr noch immer ergeben war. Dabei hatte sie vollkommen vergessen, dass ich es nie war.

«Wenn ich dabei erwischt worden wäre, wie ich einen der Thronfolger umbringe, dann hättest du mir genauso gut persönlich deinen Dolch ins Herz rammen können.» Das konnte ich auf keinen Fall riskieren. Auch wenn ich freie Bahn hatte. Ich war nicht vorbereitet, den Auftrag sofort auszuführen. Ich hatte bisher immer abgewartet, bis es dunkel war, bevor ich zuschlug. Es wurde immer von uns erwartet, dass wir sicherstellten, dass niemand etwas Verdächtiges sah, denn ich würde in Eastwood bleiben müssen und wenn irgendjemand Notiz von mir nahm, dann war meine Tarnung aufgeflogen. Ich müsste das Königreich verlassen und könnte nie mehr zurückkehren, falls ich die Flucht überhaupt überlebt hätte. Wäre damals schon klar gewesen, dass ich sowieso von diesem grausamen Ort verschwinden musste, dann wäre ich besser gleich gegangen, obwohl mein Entschluss längst feststand. Ich verlor weder die Nerven noch verfiel ich in Panik. Ich hatte offen gestanden noch nie eine so klare Sicht wie heute.

«Du weisst, was passiert, wenn du dich dafür entscheidest, unsere Truppe zu verlassen. Dann kann ich nichts mehr für dich tun. Dann bist du auf dich allein gestellt.» Meine Mutter ist gestorben, als ich noch ein Kind war und mein Vater hat sich dazu entschieden, sich selbst in Sicherheit zu bringen und mich zurückzulassen. Ich war von Anfang an allein. Ich wollte nicht mehr die Marionette von irgendjemandem spielen. Ich wollte einfach nur weg von hier, und zwar so schnell wie möglich. Seit einer Ewigkeit hatte ich mir ausgemalt, wie es wäre, dieses Leben hinter mir zu lassen. Je mehr ich darüber nachdachte, desto mehr verschwand der Nebel, der meine Sicht verblendete. Das hier war kein Leben, wie ich es führen wollte. Ganze neun Jahre hatte ich damit verschwendet, für diese Organisation zu arbeiten. Aber sie erzählten uns nicht bessere Lügen als der König. Der einzige Unterschied zu einem normalen Leben in Eastwood fand sich darin, dass Daphne für uns gesorgt hatte, auch wenn sie im Gegenzug etwas von uns verlangte. Ich wusste, was mich ausserhalb dieser Höhlengewölbe erwartete, aber eines war klar: Ich würde nie mehr zurückkehren zu diesem Leben … und ganz sicher nicht zu diesem Ort. Der Gedanke, ob ich Daphne vermissen würde, streifte kurz meinen Geist. Sie war diejenige gewesen, die einer Mutter am nächsten kam, doch ich durfte mich nicht von Gefühlen ablenken lassen. Mein Entschluss stand fest. Ich lief an Daphne vorbei und berührte beim Durchschreiten des Gangs aus Versehen leicht ihre Schulter.

«Bevor du gehst, gibt es noch etwas, was du wissen solltest.», sagte sie mit ruhiger Stimme. Ich war schon beinahe ausser Hörweite. Sie hat also gewartet, bis sie sich sicher war, dass ich gehen würde. Ich blieb stehen, drehte mich aber nicht um.

«Der König behandelt sein Volk wie das Vieh in der Scheune.», fing Daphne an zu erklären, doch ich unterbrach sie gleich.

«Davon musst du mir nichts erzählen. Ich weiss besser als alle anderen, wie das Volk behandelt wird.», entgegnete ich harsch.

«Darauf will ich nicht hinaus.», sagte sie mit ruhiger Stimme und wartete einen Moment, bevor sie fortfuhr.

«Weibliche Nachkommen werden schon seit Ewigkeiten aus Eastwood vertrieben. Frauen müssen auf den Feldern arbeiten und sterben häufig schon nach weniger als einem Jahr. Sonst werden sie nur für simple Aufgaben gebraucht, wie zur Herstellung von Kleidung. Das ist einer der Gründe, weshalb ich unsere Rebellion gegründet habe. Es wird endlich mal Zeit, dass wir anfangen, uns zu wehren.»

«Seit wann ist es meine Schuld, dass schlimme Dinge passieren? Warum muss ich der gute Mensch sein und eingreifen?», konterte ich. Zu spät bemerkte ich, was ich gerade gesagt hatte und vor allem, wie ich es gesagt hatte.

«Etwas zu unternehmen, macht dich nicht zu einem guten Menschen. Genauso wenig, wie es dich gut macht, wenn du nichts unternimmst. Der Unterschied liegt darin, dass du nicht nur für dich selbst sorgst. Das ist es, was dich von einem schlechten Menschen unterscheidet.», entgegnete sie mit einem belehrenden Unterton, der mich mehr störte, als er es sollte. Hatte sie sich je um jemanden anders als sie selbst geschert?

«Wir bringen Menschen um. Nichts daran ist ehrenhaft.», ausserdem habe ich es mir nicht ausgesucht, zur Attentäterin gemacht zu werden. Doch das würde ich niemals laut aussprechen. Ich habe ohnehin schon viel zu viel gesagt. Noch ein weiteres Wort und ich riskierte, meinen Vorsprung zu verlieren. Ich würde mich beeilen müssen. Die anderen würden es kaum erwarten können, mich zu verfolgen. Insbesondere Euphorbia, die mit der sanften und doch giftigen Stimme.

«Wer ist deiner Meinung nach besser: Der, der böse Menschen umbringt oder der, der die Unschuldigen nicht beschützt?» Eine Fangfrage, denn wir wussten beide ganz genau, was meine Antwort sein würde.

«Das habe ich mir schon gedacht.», sagte Daphne und lief ohne ein weiteres Wort davon. Es gab keine Antwort. Beide Personen waren gleich. Nur, dass dies eine Lüge war. Eine Maske, die ich mir vor Jahren aufgesetzt hatte, um meine echte Persönlichkeit zu verschleiern. Doch irgendwann wurde der Schleier ein Teil von mir und ich würde diese Maske nie mehr ablegen können. Sie war für immer ein Teil von mir.

Ich brach noch vor dem Morgengrauen auf. Zum einen wollte ich mich nicht von Atropa verabschieden müssen, denn ich hasste Abschiede, zum anderen war es besser, sich leise davonzuschleichen. Ich würde schnell sein müssen, denn Daphne hatte gestern beim Abendessen allen Bescheid gesagt, dass ich die Rebellion verlassen würde. Unser Gesetz besagte, dass die anderen Partisaninnen einen jagen durften, wenn man sich dazu entschied, die Höhlengewölbe zu verlassen und anderswo zu leben, denn man gehörte damit nicht länger zur Familie und kannte das Geheimnis, das wir alle schworen, zu bewahren. Meist überlebte man den Austritt zwei oder drei Tage, bevor die anderen einen fanden und töteten. Dazu kamen noch die 24 Stunden Vorsprung. Als ob das etwas ändern würde. Wer würde es überleben, jahrelang ausgebildeten Attentäterinnen verfolgt zu werden? Ich hatte mir diese Überlegung schon so viele Male gestellt und nie hätte ich gedacht, dass es einmal ernst werden würde. In den vielen Gedanken, die mir durch den Kopf geschwirrt waren, hatte es nicht einen gegeben, der mir den Weg nach Verlassen der Truppe zeigte. Ich hatte keine Ahnung, wo ich hingehen konnte. Ich kannte niemanden in Eastwood, dem ich genug vertrauen konnte, um dort zu leben. Ich kannte nicht einmal zehn Mitglieder unserer Truppe. Wir assen zwar meist zusammen im unterirdischen Speisesaal in den Höhlen, aber ich hatte mir nie ihre Gesichter angesehen. Ich würde Freund von Feind nicht unterscheiden können und das machte mir noch mehr Angst als die Frage, was ich nun tun sollte.

«Du wolltest doch nicht etwa gehen, ohne dich von mir zu verabschieden, oder?», sagte eine Stimme, die hinter der grossen Kastanie hervorzukommen schien. Mist, ich hätte wohl doch den Weg am Fluss entlang nehmen sollen. Schon seit Jahren kamen Atropa und ich hier in den Wald und suchten zusammen nach Beeren. Ich hatte mich für diesen Weg entschieden, um noch ein letztes Mal an die schönen Momente der letzten neun Jahre erinnert zu werden. An die Momente, in denen ich das Gefühl hatte, Schwestern zu haben, die mit mir umgingen, als ob wir eine richtige Familie waren. Ich konnte nicht noch mehr Gedanken daran verschwenden, denn sonst wäre das Risiko zu gross gewesen, dass ich umkehrte und zurück in die Höhlengewölbe ging.

«Ich habe noch ein paar Stunden, bevor die Jagd beginnt.», antwortete ich scharf. Harscher als beabsichtigt.

«Denkst du wirklich, dass ich es darauf auslege, dich zu verfolgen? Ich würde schon beim Versuch sterben, dir näher als zwei Meter zu kommen.», erwiderte sie mit einem kleinen Lächeln im rechten Mundwinkel.

«Ich könnte dir nie etwas tun», sagte ich nun etwas sanfter als vorhin. Unsere Freundschaft war schon immer speziell gewesen. Man kann nicht einfühlsam sein, wenn man tagtäglich Leute umbrachte. Wir hatten nie über unsere Probleme gesprochen oder bis spätabends über junge Wächter gelästert, die an der Burgmauer patrouillierten, wie es andere Mädchen taten. Ich hatte es eigentlich nie vermisst, doch jetzt wurde mir erst klar, was ich alles verpasst hatte.

«Ich wollte dir nur das hier geben.», sagte Atropa und kam einen Schritt auf mich zu. Sie hielt mir ein kleines Paket hin, das mit einem Lederband zusammengehalten wurde. Auch ich streckte meine Hand aus und griff nach dem Paket. Als ich vorsichtig die Schlaufe löste, rutschte das Schafsleder von einem mit Gravuren verzierten Metallgriff runter. Es war Atropas Misericordia.

«Ich … du weisst, dass ich das nicht annehmen kann.», sagte ich mit etwas zittriger Stimme. Wir durften keine Waffen und keine Verpflegung aus den Höhlengewölben mitnehmen, wenn wir es verliessen.

«Doch kannst du. Ich schenke es dir.» Atropa schien es sich genau überlegt zu haben, so selbstsicher wie die Worte ihren Mund verliessen.

«Du solltest jetzt gehen», fügte sie mit derselben ruhigen Stimme hinzu. Ja, das sollte ich. Ich wickelte das Schafsleder wieder um die scharfe Klinge und band das Päckchen sorgfältig zusammen. Dann steckte ich es in die kleine Umhängetasche mit meinen wenigen Habseligkeiten. Als ich mich drehte, um weiterzugehen, schlangen sich zwei Arme um meine Schultern. Atropa umarmte mich. Auch das hatten wir noch nie getan. Wir empfanden es immer als eine unnötige Geste. Niemals hätte ich mir gedacht, dass ich eine Umarmung so geniessen konnte, wie jetzt gerade. Als sich ihre Arme etwas lösten, sah ich ein letztes Mal in Atropas Augen. Sie bemerkte sicherlich das sanfte Zittern in meinem Körper, doch freundlicherweise ignorierte sie es.

«Wenn es jemand schafft, dann du.», da war keine Spur von Trauer in ihren Augen zu erkennen. Sie sah viel mehr überzeugt aus. Überzeug davon, dass dies nicht das letzte Mal sein würde, dass wir uns sahen. Obwohl ich nicht so richtig davon überzeugt war wie sie, legte ich eine Hand auf ihre Schulter und nickte sanft. Dann lösten wir uns voneinander und ich verschwand ins Dickicht.

VIER