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Das Kult-Duo Hauptkommissar Zorn und der dicke Schröder von Bestsellerautor Stephan Ludwig ermitteln in ihrem dritten und vierten Fall Zorn – Wo kein Licht: Es ereignen sich innerhalb kürzester Zeit mehrere Verbrechen, und Zorn ist heillos überfordert, weil Schröder im Krankenhaus liegt. Doch dann hat Zorn eine heiße Spur, nur glaubt ihm keiner. Mit fatalen Folgen ... Zorn - Wie sie töten: Zorn schenkt einem als Selbstmord getarnten Mord keine Beachtung, da er damit beschäftigt ist, seinen ehemaligen Kollegen Schröder zu überreden, wieder sein Partner zu werden. Doch der Täter hat bereits neue Opfer im Visier. Menschen, die Zorn und Schröder nahestehen.
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Seitenzahl: 1028
Stephan Ludwig
Wo kein Licht / Wie sie töten
Zwei Romane in einem Bundle: Die Fälle drei und vier für Hauptkommissar Zorn und den dicken Schröder
Hauptkommissar Zorn und der dicke Schröder zum Dritten und Vierten: neue spannende Fälle für die Kult-Ermittler
Zorn – Wo kein Licht:
Hauptkommissar Claudius Zorn weiß nicht mehr, wo ihm der Kopf steht. Innerhalb kurzer Zeit ereignen sich mehrere Verbrechen, die alle auf seinem Tisch landen, und Schröder liegt mit einer Gehirnerschütterung im Krankenhaus. Aber dann erhält Zorn den entscheidenden Hinweis und hat schnell einen Verdacht. Alle Verbrechen hängen zusammen. Nur leider glaubt ihm keiner – mit fatalen Folgen ...
Zorn – Wie sie töten:
In einer Winternacht wird ein Mensch vor die S-Bahn gestoßen. Niemand hat etwas gesehen, und die Polizei geht von Selbstmord aus. Doch Hauptkommissar Zorn hat gerade ganz andere Sorgen. Er versucht, seinen Kollegen Schröder zu überreden, wieder sein Partner zu werden. Was beide jedoch nicht ahnen: Der Täter ist ganz in ihrer Nähe, und hat neue Opfer im Visier – Menschen, die den beiden Ermittlern nahestehen ...
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Stephan Ludwig arbeitete als Theatertechniker, Musiker und Rundfunkproduzent. Er hat drei Töchter, einen Sohn und keine Katze.
Zum Schreiben kam er durch eine zufällige Verkettung ungeplanter Umstände. Er lebt und raucht in Halle.
Die Zorn-Reihe bei FISCHER:
»Zorn – Tod und Regen«, »Zorn – Vom Lieben und Sterben«, »Zorn – Wo kein Licht«, »Zorn – Wie sie töten«, »Zorn – Kalter Rauch«, »Zorn – Wie du mir«, »Zorn – Lodernder Hass«
Alle Bände der Zorn-Reihe sind erfolgreich fürs Fernsehen verfilmt.
Claudius Zorn ist auch auf Facebook.
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Für Michel
(Du hast dir ganz schön Zeit gelassen. Gut, dass du trotzdem noch gekommen bist.)
I am the passenger
I stay under glass
I look through my window so bright
I see the stars come out tonight
Iggy Pop
Er rannte.
Es war fünf Uhr morgens, und er war allein. Noch zwei Stunden bis Sonnenaufgang. Die Stille über der Stadt war unwirklich, fast gespenstisch. Nichts war zu hören bis auf seinen hektischen Atem und das leise, irgendwie fettige Klatschen seiner nackten Füße auf dem kalten Asphalt. Obwohl es erst Anfang Oktober war, roch es nach Winter, nach Schnee und kaltem Rauch.
Der Mann war klein, korpulent, nicht älter als sechzig. Die Jacke des gestreiften Pyjamas spannte über seinem Bauch, die Hosenbeine schlackerten um die nackten Waden.
Die Straße vollführte einen sanften Rechtsbogen, senkte sich ein wenig. Er erreichte die Mauer der alten Burg. Dann sah er die Brücke, im schwefligen Licht der Laternen leuchtete sie wie in einem surrealen Film. Er beschleunigte.
Auf der anderen Straßenseite erschien eine Frau. Sie schob einen Kinderwagen, ihr Atem dampfte in der kalten Morgenluft. Sie sah den rennenden Mann im Schlafanzug und blieb stehen. Zögerte, öffnete den Mund. Dann ging sie weiter, kopfschüttelnd, ohne etwas gesagt zu haben.
Das, was er in der Hand hielt, hatte sie nicht erkannt.
Er achtete nicht auf sie, konzentrierte sich auf das Laufen. Früher hatte er viel Sport getrieben, das allerdings war über dreißig Jahre her. In der letzten Zeit hatte seine Kraft nachgelassen, jetzt war es die Angst, die ihn vorwärtstrieb.
Nein, Flügel verlieh sie ihm nicht, die Angst. Doch er war schnell, auch wenn er mit kleinen, tippelnden Schritten dahinhastete. Kein Wunder, wenn man bedachte, dass er auf dem besten Wege war, ein alter, gebrechlicher Mann zu werden.
Als er die Mitte der Brücke erreichte, blieb er stehen, stützte die Hände auf die Oberschenkel und versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Das graue Haar hing ihm in klebrigen Strähnen über das Gesicht, er schob es mit einer hastigen Bewegung hinters Ohr, richtete sich auf und sah sich um.
Da war niemand.
Er hatte keine Ahnung, wie sein Verfolger aussah, er kannte nur die Stimme auf seinem Anrufbeantworter. Aber er wusste, dass er da war. Dass er näher kam.
Du hast eine Grenze überschritten, hatte der Mann gesagt.
Und: Ich werde dich besuchen. Dann wirst du mir geben, was ich von dir will.
Der, der ihn jetzt verfolgte, hatte auch noch von anderen Dingen gesprochen, mit leiser, monotoner Stimme. Von Dingen, an die der alte Mann nicht denken wollte. Jetzt nicht.
Das Brückengeländer war nicht hoch, es reichte ihm gerade bis zur Hüfte. Er beugte sich vor. Tief unter ihm schoss der Fluss in schlammigen Wirbeln dahin, sein Schatten tanzte auf dem Wasser, ein unruhig zappelndes Schemen. Er griff nach der Brüstung, seine Hand zuckte zurück, als die Haut das kalte Metall berührte.
Der Boden vibrierte, von rechts näherte sich eine Straßenbahn. Die Scheinwerfer blendeten ihn, er schloss die Augen. Die Bahn fuhr langsam, dann, als sie die Brücke erreichte, beschleunigte sie und fuhr in vollem Tempo vorbei. Die Menschen darin waren kaum zu erkennen, dunkle Gestalten, die müde auf ihren Sitzen hockten. Niemand achtete auf den alten Mann im Schlafanzug, der jetzt über die Brüstung kletterte und sich auf das Geländer setzte.
Die Straßenbahn verschwand hinter einer Kurve.
Unten am Bootsanleger bellte ein Hund.
Der Mann hielt sich eine Pistole an die Schläfe.
Das war’s dann wohl, murmelte er und schloss die Augen.
Dann fiel er, mit den Füßen voran. Einem Instinkt folgend, hielt er sich mit der linken Hand die Nase zu, was überflüssig war, denn kurz, bevor er auf dem Wasser aufschlug, drückte er mit der anderen Hand ab. Die Kugel durchschlug seinen Schädel und bohrte sich dann in den Stamm einer Trauerweide am Ufer.
Das Wasser war kalt.
Doch das spürte er nicht mehr.
Knapp zwei Stunden später, als sich die Berufspendler bereits zum allmorgendlichen Stau auf der Brücke versammelt hatten, herrschte ein paar hundert Meter flussabwärts Hochbetrieb.
Kurz vor dem Wehr vollzog der Fluss eine scharfe Linkskurve, hohe Porphyrwände schoben sich steil aus dem Wasser. Auf halber Höhe war ein schmaler Wanderweg in den Fels gehauen, von dort führte eine steinerne Treppe zu einem Plateau direkt am Wasser. Über dem Eingang einer kleinen Höhle wies ein verwittertes Bronzeschild darauf hin, dass sich hier vor über zweihundert Jahren der Sage nach ein berühmter Freiheitskämpfer versteckt gehalten hatte.
Den Beamten, die sich an dieser Stelle versammelt hatten, war diese Geschichte egal, ihre Aufmerksamkeit galt dem, was sie im Wasser gefunden hatten. Fast ein Dutzend Polizisten drängten sich auf dem engen Plateau, einige in Zivil, ein paar trugen Uniform.
Die Leiche des alten Mannes hatte sich in den Ästen einer Eberesche verfangen. Sie schwamm auf dem Bauch, Arme und Beine weit ausgestreckt, wie ein Taucher, der entspannt auf der Oberfläche treibt und die Fische beobachtet. Das graue Haar umwehte den Kopf wie eine exotische Wasserpflanze.
Zwei Männer in den weißen Schutzanzügen der Spurensicherung beugten sich über das rostige Geländer und betrachteten die Leiche, die sich sacht unter ihnen in der Strömung bewegte.
»Wenn ich das richtig sehe«, sagte der eine, »haben wir da unten einen toten Mann in einem gestreiften Pyjama. Ich frage mich, wie er da hingekommen ist.«
»Eins ist sicher.« Der andere unterdrückte ein Gähnen, dabei wanderte sein Blick nachdenklich über die Villen am gegenüberliegenden Flussufer. »Aus dem Bett gefallen ist er jedenfalls nicht.«
Oben auf der Treppe erschien eine kleine, gedrungene Gestalt in einem weiten Regenmantel. Mit schnellen Schritten kam der Mann näher. Ein paar Stufen oberhalb des Plateaus blieb er stehen und vergrub die Hände in den Taschen seiner Cordhose, deren Farbe irgendwo zwischen einem schmutzigen Braun und einem giftigen Grün angesiedelt war.
Ein Mann in Lederjacke und Jeans ging ihm entgegen, begrüßte ihn und sprach leise auf ihn ein. Der Kleine hörte schweigend zu, dann nickte er, blinzelte in die aufgehende Sonne und kramte sein Handy hervor.
»Wir haben einen Fall, Chef«, sagte er nach einer Weile.
»Das kommt mir bekannt vor«, erwiderte die Stimme am anderen Ende gereizt. »Langsam könntest du dir einen neuen Spruch einfallen lassen, Schröder.«
Zorn brummte eine Verwünschung und legte das Handy zurück auf den Nachttisch. Dann richtete er sich vorsichtig auf und lauschte. Malina lag auf der Seite, sie hatte die Decke zwischen die Beine geklemmt und schien fest zu schlafen.
Scheiße, dachte Zorn und gab ihr einen Kuss auf die Wange, ich würde wirklich lieber hierbleiben, aber es lässt sich nicht ändern.
Sie lächelte, ohne die Augen zu öffnen.
»Wie spät ist es?«
»Zu früh.«
Sie lebten jetzt seit ein paar Monaten zusammen, doch noch immer hatte er das Gefühl, sie kaum zu kennen. Nun, eines hatte er mittlerweile mitbekommen: dass sie einen leichten Schlaf hatte. Schon das kleinste Geräusch konnte sie wecken, egal, zu welcher Uhrzeit, innerhalb von Sekunden war sie wach, als ob ein Schalter umgelegt würde.
Ansonsten wusste er noch immer nicht viel über die Frau, die er liebte.
Abgesehen davon, dass sie Rotwein mochte, John Irving vergötterte und absolut unausstehlich wurde, wenn sie Hunger hatte und nichts zu essen in der Nähe war.
Das war nicht viel, aber besser als nichts.
Seine Sachen lagen verstreut neben dem Bett. Mit dem Fuß angelte er nach einer Socke und zog sie an.
»Was ist passiert?«
Sie hatte den Kopf auf den Ellbogen gestützt und sah ihn an. Ihr Haar hatte sie wachsen lassen, es hing ihr wie ein schwarzer Vorhang bis über die Nase. Sie pustete es aus der Stirn. Noch etwas, das er an ihr liebte.
»Ein Toter im Fluss«, erklärte er und streifte sein T-Shirt über.
»Das klingt nicht gut.«
Er nickte und ließ sich zurück aufs Bett sinken. Malina legte den Kopf auf seine Brust, er atmete den Duft ihres warmen, vom Schlaf trägen Körpers. Während er ihr sacht mit den Fingern durchs Haar fuhr, fragte er sich, woher dieser Geruch kam. Soweit er es beurteilen konnte, benutzte sie weder Parfum noch irgendein Deo, und doch roch sie frisch, als habe sie die Nacht nicht in einem verschwitzten Bett, sondern auf einer frisch gemähten Wiese verbracht.
»Wenn Schröder sich um diese Zeit meldet, hat er selten gute Nachrichten.« Vorsichtig schob er ihren Kopf zurück auf das Kissen. »Diese Anrufe gehören zu meinem Job.«
»Dann ist es kein guter Job, Claudius.«
»Ich habe nie das Gegenteil behauptet.«
»Vergiss deine Brille nicht. Auf der Waschmaschine.«
Sie war mit ihm beim Optiker gewesen, und obwohl er sich anfangs mit Händen und Füßen sträubte, hatte er den Laden zwei Stunden später mit einer nagelneuen Brille auf der Nase wieder verlassen. Sie fand ihn süß, hatte sie behauptet, das schmale, dunkle Gestell passe wunderbar zu seinen langen Wimpern und dem schwarzen Wuschelkopf. Das hatte Claudius Zorn wiederum gefallen. Sehr sogar.
Er stand auf.
»Ich versuche nicht zu spät wieder hier zu sein.«
Doch das hörte Malina schon nicht mehr. Denn ebenso wie sie von einem Moment auf den anderen hellwach wurde, konnte sie urplötzlich wieder in tiefsten Schlummer fallen.
Claudius Zorn hatte sich mittlerweile damit abgefunden, in der Öffentlichkeit als erfolgreicher Ermittler zu gelten. Logisch, schließlich hatte er in den letzten beiden Jahren gleich mehrere schwere Verbrechen aufgeklärt. Jedenfalls offiziell, denn immer war es Schröder gewesen, der im Hintergrund die Fäden gezogen und den größten Teil der Arbeit geleistet hatte. Doch Zorn war der Vorgesetzte, er war es, dessen Name in der Presse genannt wurde. Schröder war diese zweifelhafte Art der Anerkennung egal – das glaubte Zorn zumindest. Sicher war er nicht, doch wann konnte man bei Schröder schon sicher sein?
Als er kurz vor halb acht den Volvo vor dem Präsidium parkte, beschäftigte ihn etwas anderes. Seufzend verstaute er den Autoschlüssel und machte sich auf den Weg zu seinem Büro, wo Schröder bereits auf ihn wartete.
»Ich hab Quarkbällchen mitgebracht, Chef. Und im Fenster steht frischer Kaffee.«
Zorn brummte etwas Unverständliches, nickte Schröder zu, hängte seine Jacke an den Garderobenständer und goss Kaffee ein.
Seit vier Monaten hatte er jetzt ein neues Büro. Er hätte zufrieden sein sollen, das Zimmer war geräumiger als das alte, mindestens dreimal so groß. Und es war viel heller, der Raum lag im vierten Stockwerk des Präsidiums, die Westseite war komplett verglast. Die Verwaltung hatte sich nicht lumpen lassen, ein senffarbener, flauschiger Teppich, hohe Regale und eine verchromte Stehlampe gehörten zur Einrichtung.
Und der dicke Schröder.
Schröder, der in einem gelb-grün karierten Pullunder hinter dem großen Schreibtisch saß, der jetzt ihr gemeinsamer Arbeitsplatz war.
»Gut geschlafen, Chef?«
Zorn antwortete nicht. Er hatte damals gar nicht erst versucht zu protestieren. Man hatte ihre Büros zusammengelegt, um, wie es hieß, die Dienstwege zu verkürzen. Schröder hatte sich ehrlich gefreut, so schien es Zorn jedenfalls. Und er selbst? Nun ja, sicher war er nicht. Klar, er mochte Schröder, und nachdem sie jetzt seit Jahren zusammen arbeiteten, hatte er akzeptiert, dass Schröder ihm geistig ebenbürtig war. Mindestens.
Seit sie sich das Büro teilten, wurde der Fußboden regelmäßig gesaugt, Schröder hatte Bilder aufgehängt und Grünpflanzen aufgestellt, große exotische Pflanzen, deren Namen Zorn sofort wieder vergessen hatte.
Aber seine Ruhe war dahin. Er hatte keine Tür mehr, die er hinter sich schließen konnte.
Tröstlich war, dass Schröder immer etwas zu tun hatte, ständig im Präsidium unterwegs war. Diese Zeit nutzte Zorn, um das zu tun, was er am liebsten machte: Dann legte er die Füße hoch und starrte die frisch geweißten Wände an.
Er stellte die Kaffeetasse ab und nahm Schröder gegenüber Platz.
»Also, was liegt an?«
Schröder klappte eine rosafarbene Akte zu.
»Eine ganze Menge. Die Kondensmilch ist alle. Außerdem müssen die Begonien umgetopft werden.«
»Schröder, bitte«, unterbrach Zorn ihn sanft. »Ich habe wenig geschlafen.«
Schröder senkte schuldbewusst den Blick.
»Weil ich dich aus dem Bett geholt habe.«
»Ja. Und jetzt erzähl.«
»Wir haben eine Leiche, männlich, circa sechzig Jahre alt«, begann Schröder, nachdem er sich umständlich geräuspert hatte. »Ungefähr eins fünfundsechzig groß und fünfundsiebzig Kilo schwer.«
»Also ungefähr deine Statur.«
»Ja«, nickte Schröder. »Aber das würde ich dem armen Mann nicht zum Vorwurf machen.«
Zorn trank einen Schluck Kaffee.
»Das hatte ich auch nicht vor. Er ist tot, damit ist er genug gestraft.«
»Er wurde oberhalb des Wehrs gefunden«, fuhr Schröder fort. »Ein paar hundert Meter von der Brücke entfernt. Der Gerichtsmediziner kann noch nicht viel sagen, außer, dass er nicht länger als zwei Stunden im Wasser lag.«
»Todesursache?«
»Aufgesetzter Kopfschuss.«
»Mord?«
»Oder Selbstmord. Der Schusskanal deutet darauf hin.«
»Dann müssten Schmauchspuren an der Hand sein.«
»Da will sich der Gerichtsmediziner noch nicht endgültig festlegen, aber es sieht danach aus, sagt er. Ich habe nachgedacht.« Schröder schob sich eine dünne rötliche Strähne aus der Stirn. Sein Haar war merklich lichter geworden, trotzdem achtete er noch immer peinlich genau darauf, die verbliebenen Reste sorgfältig quer über die Glatze zu kämmen. »Wenn man von Selbstmord ausgeht, könnte er sich von der Brücke gestürzt haben, die Strömung hätte ihn in dieser Zeit ziemlich genau zu der Stelle treiben müssen, an der er gefunden wurde.«
Zorn nahm die Brille ab und überlegte einen Moment. Dabei kaute er nachdenklich auf dem Bügel, etwas, das er sich angewöhnt hatte, wenn er nachdenken musste und dabei nicht rauchen konnte. Die Bissspuren waren mittlerweile deutlich zu erkennen.
»Er ist also gesprungen und hat sich dabei in den Schädel geschossen? Warum?«
»Um sicherzugehen.«
»Möglich«, nickte Zorn. »Er könnte aber genauso gut vorher erschossen worden sein. Dann hat man ihn zur Brücke gebracht und die Leiche über’s Geländer geworfen.«
»Das sollten wir bald herausfinden, Chef. Ich habe die Brücke absperren lassen, die Spurensicherung arbeitet schon dran. Die Anwohner werden ebenfalls befragt, irgendjemand muss ja den Schuss gehört haben. Vielleicht gibt’s auch einen Augenzeugen.«
»Gut, dann ist ja erst mal alles geklärt.« Zorn erhob sich schwerfällig und streckte den Rücken. »Ich geh dann eine rauchen.«
»Das«, erklärte Schröder heiter, »wollte ich dir gerade vorschlagen, Chef.«
Zorn hastete über den Parkplatz, im Laufen knöpfte er seine Jeansjacke zu. Früher hatte er sich zum Rauchen gleich auf die Bank vor dem Haupteingang gesetzt, doch irgendwann war ihm klargeworden, was für ein Bild er abgeben musste: Ein müder Staatsdiener, der einen großen Teil des Tages mit hängenden Schultern direkt vor dem Eingang des Polizeipräsidiums rauchend unter einer Kastanie saß, die personifizierte Unlust, in sich gekehrt und doch für jedermann sichtbar wie auf dem sprichwörtlichen Präsentierteller.
Eine Alternative musste her, dringend. Da traf es sich natürlich gut, dass dort, wo die Mannschaftswagen geparkt wurden, eine niedrige Hecke wuchs. Ein schmaler Pfad führte zu einer kleinen, ungepflegten Wiese mit zwei versteckten Bänken.
Hier saß Zorn also und starrte abwechselnd auf seine Turnschuhe und die Rückseite eines Einkaufszentrums. Kein schöner Anblick, doch das war Zorn egal.
Solange er nur in Ruhe rauchen konnte.
Er hatte keine Lust, über den Toten vom Fluss nachzudenken. Darüber konnte er sich später den Kopf zerbrechen, dann nämlich, wenn Schröder die ersten Ergebnisse hatte. In ein paar Stunden würden sie wissen, ob es sich um Selbstmord handelte, bis dahin würde er abwarten.
Und an etwas anderes denken, etwas Schönes.
An Malina, die wahrscheinlich gerade aufgestanden war und jetzt verschlafen im Bad stand, wo sie leise schimpfend nach der Zahnpasta suchte oder verzweifelt bemüht war, ihr wirres Haar zu ordnen.
Zorn seufzte. Eigentlich musste er zufrieden sein, er hatte doch jetzt, was er wollte. Sie lebten zusammen, und sie waren glücklich. Doch es gab ein Problem, etwas, das er schon lange mit sich herumtrug.
Aber auch das war kein guter Gedanke.
Weg damit.
Der Himmel war grau, es sah nach Regen aus. Die Art von Regen, die Zorn nicht mochte. Winzige Tröpfchen, die kein Gewicht zu haben schienen, scheinbar schwerelos in der kalten Luft standen und dafür sorgten, dass die Kleidung innerhalb kürzester Zeit feucht und schwer wurde.
Er zog fröstelnd die Schultern hoch, zerdrückte die Zigarette auf dem Rand eines bröselnden Betonpapierkorbs und machte sich widerstrebend bereit, zurück ins Präsidium zu gehen, als hinter ihm Schritte erklangen. Zweige wurden beiseite geschoben, jemand kämpfte sich schwer atmend durch das Gebüsch. Ein Mann erschien. Als er Zorn erblickte, blieb er verwundert stehen.
»Ich grüße dich«, sagte er feierlich, zögerte einen Moment und lief dann weiter.
Auf den ersten Blick sah er aus wie einer von denen, die tagsüber vor den Supermärkten standen, mehr oder weniger laut herumkrakeelten und Bier aus Einwegflaschen tranken. Er trug eine gefleckte Tarnhose und schwere schwarze Stiefel, ein Leinenrucksack hing über seiner ausgeblichenen Regenjacke.
»Guten Tag«, grüßte Zorn zurück.
Der Mann blieb stehen.
»Redest du mit mir?«
Er war etwas kleiner als Zorn, aber breit und massig gebaut wie ein Kampfsportler. Sein Alter war schwer zu schätzen, das halbe Gesicht wurde von einem schwarzen Bart bedeckt. Das Haar fiel ihm bis über die Schultern, er hatte es in der Mitte streng gescheitelt. Zunächst dachte Zorn, es werde von einem Gummiband zusammengehalten, doch dann stellte er verwundert fest, dass es sich um eine Stirnlampe handelte.
Zorn blickte sich um.
»Ich denke schon. Jedenfalls sehe ich niemanden hier, außer uns beiden.«
Der Mann mit der Lampe kam näher.
»Danke.«
»Wofür?«
»Es gibt sonst niemanden, der mit mir redet.«
Er sprach langsam, schleppend, als sei er ein wenig zurückgeblieben. Bunte Plüschtiere waren an seinem Rucksack befestigt. Dutzende Teddys, Hasen, kleine Puppen, lustige Plastiktrolle mit blauen Haaren bewegten sich gemächlich im Takt seiner Schritte. An seinem Gürtel baumelten Ketten, dünne Riemen und Stricke, an denen er allerlei Werkzeug, Schlüssel und anderen Kram festgemacht hatte.
»Was machst du hier?«, fragte er.
»Ich arbeite.«
»Wo, hier?«
»Nein.« Zorn, dem das Ganze langsam unangenehm wurde, wies mit dem Daumen über die Schulter. »Dort.«
»In dem großen Haus? Was machst du da?«
»Ich fange Verbrecher.«
»Oh!« Die Augen des Mannes weiteten sich. Sie waren dunkel, fast schwarz. »Gott jagt auch Verbrecher. Das hat er mir selbst gesagt. Er redet nämlich manchmal mit mir.«
Zorn musste lächeln.
»Dann bin ich also doch nicht der Einzige, der mit dir spricht.«
»Nein«, nickte der Mann. »Das bist du nicht. Hast du Geld? Kannst du mir Geld geben?«
Zorn tat, als müsse er überlegen.
»Wofür? Brauchst du was zu essen?«
»Essen?« Der Mann mit dem Bart lachte, als habe Zorn nicht alle Tassen im Schrank. »Ich brauch doch kein Essen! Gott gibt mir Essen!« Dann wurde er ernst. »Nein, für meine Lampe.« Er tippte sich an die Stirn. »Die Batterie ist alle, ich will eine neue.«
Zorn sah zum Himmel. Die Wolken waren dichter geworden.
»Ist es denn nicht hell genug?«
»Nein«, der andere schüttelte so heftig den Kopf, dass das Metall an seinem Gürtel klapperte. »Ist es nicht. Es ist dunkel. Jetzt sehe ich nur ein bisschen, aber wenn die Lampe an ist, sehe ich alles. Ich bin nämlich der Lampenmann, verstehst du?«
Das tat Zorn natürlich nicht, aber er nickte trotzdem.
»Was ist mit denen?« Er wies auf den Gürtel des Lampenmanns, dort hingen zwei Stabtaschenlampen.
»Das sind meine Ersatzlampen. Aber die am Kopf muss immer brennen«, erklärte der Lampenmann wichtig. »Sie muss funktionieren.«
Das letzte Wort schien ihm Schwierigkeiten zu bereiten, er sprach es langsam aus, jede einzelne Silbe betonend.
Funk-ti-o-nieren.
Zorn, der jetzt wirklich wieder loswollte, kramte in seiner Hosentasche und reichte ihm einen Fünfeuroschein. Der Lampenmann faltete ihn sorgfältig zusammen und verstaute ihn dann in seiner Jacke.
»Du darfst jetzt gehen«, sagte er dann. »Danke, dass du mit mir geredet hast.«
Zorn nickte und zwängte sich durch die Hecke. Als er dann über den Parkplatz lief, hörte er den Lampenmann rufen: »Danke, dass du mit mir geredet hast! Du bist ein guter Mensch!«
Wenn du das sagst, wird’s wohl stimmen, dachte Zorn und betrat das Präsidium.
Der Lampenmann sah ihm einen Moment nach.
»Du bist ein guter Mensch!«, rief er noch einmal, so laut er konnte.
Dann ging er langsam davon.
Ich werde versuchen, dich zu schützen.
Ein Windstoß fuhr durch die geborstenen Fensterscheiben, feiner Nieselregen wurde hereingeweht. Es war kalt, doch das störte ihn nicht. Der Schmutz war schlimm, aber das nahm er in Kauf. Er musste Kompromisse eingehen. Dies war sein Ort. Sein geheimer Raum, mitten in der Stadt und doch verborgen vor fremden Blicken, als befände er sich auf einem anderen Planeten.
Einer ist schon tot. Wie es aussieht, wird er nicht der Letzte sein.
Er schrieb langsam, Wort für Wort, Buchstaben für Buchstaben. Jede Linie sorgfältig nachzeichnend, als würde er keinen Brief, sondern eine technische Zeichnung anfertigen.
Dir wird nichts geschehen. Das werde ich verhindern.
Der Tisch, an dem er saß, bestand aus einer verzogenen Hartfaserplatte, die er quer über zwei schiefe Klappböcke aus Kiefernholz gelegt hatte. Leise kratzte der Bleistift auf dem Papier.
Aber du wirst mir helfen müssen.
Er wusste nicht, ob er den Brief abschicken würde, doch das war im Moment egal. Vielleicht würde er es irgendwann tun. Dann, wenn alles vorbei war. Wichtig war, dass er seine Gedanken aufschrieb, dass er das, was er bereits getan hatte, und das, was noch vor ihm lag, schwarz auf weiß vor sich sah. So bekamen seine Pläne etwas Konkretes.
Niemand wird mir etwas …
Ein Knacken, die Spitze des Bleistifts brach ab. Ohne den Blick vom Papier zu wenden, griff er nach einem neuen auf der Platte neben sich.
… nachweisen können. Nicht, wenn ich es nicht will. Aber das ist nebensächlich.
Er strich mit dem Ärmel das Papier glatt, dann klappte er das Notizbuch zu. Schloss die Augen und überlegte, was er als Nächstes tun würde.
Der Mann im Nebenraum stieß einen leisen Schrei aus.
Er achtete nicht darauf.
Später an diesem Oktobertag sollte Claudius Zorn trotz des trüben Wetters mehrere kleine Lichtblicke erleben, jedenfalls in Bezug auf seine Arbeit. Es war halb vier, also bald Feierabend (der erste Lichtblick), der Tote war vor weniger als neun Stunden aufgefunden worden, und doch waren sie bereits ein großes Stück weiter (Lichtblick Nummer zwei).
»Es war eindeutig Selbstmord«, erklärte Schröder gerade. »Er hat Schmauchspuren an der Hand, also definitiv selbst geschossen. Die Waffe lag direkt unter der Brücke im Fluss, seine Fingerabdrücke sind drauf. Er muss selbst gesprungen sein, wir haben keinerlei Hinweise auf einen Kampf gefunden.«
Zorn rührte schweigend in seinem Kaffee.
»Das sind natürlich vorläufige Ergebnisse«, fuhr Schröder fort, »aber ich glaube nicht, dass sich daran etwas ändern wird. Wir haben drei Leute, die angeben, heute Morgen gegen fünf so etwas wie einen Schuss gehört zu haben, aber leider keinen Augenzeugen.«
»Ich habe vorhin jemanden kennengelernt«, sagte Zorn, ohne mit dem Rühren aufzuhören. »Du wirst es nicht glauben, aber der Typ sieht alles. Sagt er jedenfalls.«
Schröder verschränkte die Arme hinter dem Kopf.
»Interessant, Chef. Vielleicht sollten wir ihn vorladen.«
»Das bringt nix. Er braucht seine Lampe.«
Schröder hob eine Augenbraue.
»Aha.«
Zorn starrte nachdenklich in seinen Kaffee.
»Er trägt so eine Stirnlampe am Kopf. Die muss an sein, sonst funktioniert es nicht, sagt er. Außerdem spricht er mit Gott.«
Sie schwiegen einen Moment. Die Klimaanlage sprang leise surrend an.
»Ich hab ihm Geld gegeben«, sagte Zorn.
»Warum?«
»Für Batterien.«
»Ach so.«
Der Kaffeelöffel klirrte in der Tasse.
»Damit die Lampe wieder geht.«
»Klingt einleuchtend.«
»Einleuchtend, genau.«
Der Nieselregen war stärker geworden, feine Schlieren liefen am Fenster hinab.
Zorn trank von seinem Kaffee.
»Was reden wir hier eigentlich für eine Scheiße?«
»Keine Ahnung, Chef. Du hast damit angefangen.«
Zorn rührte weiter. Schröder sah ihm eine Weile zu.
»Der Tote hat bei der Sparkasse gearbeitet. In der Kreditabteilung.«
Der Kaffeelöffel verharrte, es wurde still.
»Ach, das wissen wir also auch schon?«, fragte Zorn.
»Ja. Das wissen wir auch schon.«
»Dann haben wir heute hervorragende Arbeit geleistet, finde ich.«
»Of course«, nickte Schröder ernst. »Er hieß Meinolf Grünbein, geboren am 15. März 1952, keine Kinder, alleinstehend«, zitierte er aus dem Gedächtnis.
Zorn leckte den Kaffeelöffel ab und legte ihn neben der Tasse auf den Schreibtisch. Den missbilligenden Blick Schröders ignorierte er.
»Dann wäre das also auch erledigt.«
»Ich frage mich nur«, sagte Schröder und kratzte sich am Kinn, »warum er einen Pyjama trug.«
»Selbstmörder achten für gewöhnlich nicht sonderlich auf ihre Garderobe, Schröder.«
»Trotzdem. Er hat in der Nähe des Zoos gewohnt, das sind fast zwei Kilometer bis zur Brücke, die er im Schlafanzug zurückgelegt hat. Er muss einen Grund gehabt haben.«
Zorn sah aus dem Fenster und dachte an den Lampenmann.
»Vielleicht war er einfach nur durchgeknallt.«
»Oder er war in Panik, Chef.«
»Wovor?«
»Es könnte doch sein, dass er verfolgt wurde. Dass ihm jemand Angst eingejagt hat. So sehr, dass er von der Brücke gesprungen ist.«
»Und sich sicherheitshalber noch eine Kugel in den Schädel gejagt hat?«
Schröder zuckte die Achseln.
»Wir werden sein Umfeld unter die Lupe nehmen, nachsehen, was er bei der Sparkasse so gemacht hat. Vielleicht hat er einen Abschiedsbrief hinterlassen. Nachher fahre ich erst mal in seine Wohnung.«
»Okay.« Zorn sah auf die Uhr. »Was mache ich in der Zeit?«
»Du könntest die Begonien umtopfen, Chef.« Schröder lächelte. »Natürlich nur, wenn du Lust hast.«
Zorn schwieg, warf ihm aber einen Blick zu, den er für vernichtend hielt.
Dann nahm er den Löffel und rührte weiter in seinem Kaffee.
Das Problem des Claudius Zorn war einfach: Er hatte keinen Ort mehr, an dem er allein sein konnte. Nirgendwo fand er Ruhe. Weder bei der Arbeit noch zu Hause. Dort wartete Schröder, hier Malina. Überall war jemand.
Sicherlich, Zorn mochte Schröder und liebte Malina. So sehr, wie es ihm, dem Einzelgänger, möglich war, etwas unbeholfen zwar, aber von Herzen. Da war niemand, mit dem er lieber zusammen gewesen wäre.
Außer Schröder vielleicht. Manchmal, jedenfalls.
Diese Dinge gingen Zorn durch den Kopf, als er sich durch den abendlichen Stau in Richtung Bahnhof quälte. Am Kreisverkehr stand sein Hochhaus. Ganz oben, im vierzehnten Stock, saß Malina und wartete auf ihn.
Er hätte längst bei ihr sein können. Aber er war einen Umweg gefahren.
Warum, fragte er sich und bremste an einer Ampel, warum um alles in der Welt mache ich das? Weil ich ein paar Minuten Ruhe will? Bin ich bekloppt? Sie sitzt zu Hause, und ich habe nichts anderes zu tun, als ziellos durch die Gegend zu kurven?
Wenn ich mit ihr zusammen bin, will ich allein sein. Wenn sie weg ist, vermisse ich sie.
Scheiße.
Er war jetzt fast vierundvierzig, alt genug, um zu wissen, was er wollte. Trotzdem überlegte er immer wieder, warum er jedes Mal erleichtert aufatmete, wenn er morgens die Wohnungstür hinter sich zuzog und kurz darauf im dämmrigen Hausflur auf den Aufzug wartete.
Er wusste es nicht.
Als er den Volvo in der Tiefgarage abschloss, war er so ratlos wie zuvor.
Sie hatte ihm nicht gesagt, weshalb sie damals so plötzlich verschwunden war. Er hatte nicht gefragt, weil er Angst vor ihrer Antwort hatte.
Irgendwann würde er es tun. Vielleicht.
Heute jedenfalls nicht, dachte er und stieg in den Aufzug.
Die Wohnung des toten Bankangestellten lag im Erdgeschoss eines dreistöckigen Mietshauses im Norden der Stadt, direkt an einer von Kastanien gesäumten Hauptstraße. Schräg gegenüber war der Hintereingang des Zoos, hinter dem Wohnblock erhob sich eine Reihe bewaldeter Hügel, deren Flanke steil zum Fluss hinabführte.
Das Viertel gehörte nicht unbedingt zu den feinsten Gegenden, die lagen am anderen Flussufer, andererseits war es auch nicht zu vergleichen mit den verwahrlosten Betonburgen im Süden und Westen der Stadt.
Schröder stand im Flur, er hatte die Hände auf dem Rücken verschränkt und wippte auf den Zehenspitzen vor und zurück. Das tat er immer, wenn er nachdachte. Auch jetzt, denn etwas gefiel ihm nicht. Er musste nur noch herausfinden, was das war.
Die Wohnung war klein. Außer einer winzigen Küche gab es nur zwei Räume, einen zum Schlafen, der andere bot gerade Platz für ein Sofa, den Fernseher, einen Schreibtisch und eine dunkle Schrankwand, die mindestens dreißig Jahre alt sein musste.
Es roch nach altem Essen und schwerem, süßlichem Herrenparfum. Schröder ging ins Schlafzimmer und riss das Fenster auf. Das schmale Bett war nicht gemacht, er hob die Decke an und strich über das Laken. Obwohl er Schutzhandschuhe trug, berührte er den Stoff nur mit den Fingerspitzen.
Er schnüffelte an der Matratze. Verzog das Gesicht und richtete sich wieder auf.
Du warst nicht sehr reinlich, murmelte Schröder. Das passt nicht zu deinem Job, oder?
Am Bett stand ein voller Aschenbecher. Daneben lag ein umgekippter Stuhl. Auf dem Boden ein Chaos aus Unterhemden, Socken, benutzten Handtüchern, dazwischen eine weiße Unterhose und eine zusammengeknüllte Anzugjacke. Auf dem Nachttisch eine altmodische Brille, vorsichtig hob Schröder sie an, hielt die dicken Gläser gegen das Licht und legte sie wieder zurück. Er bückte sich und sah unter das Bett, schnaufend schob er eine leere Pizzapackung beiseite und zog eine Zeitung hervor. Kontrollierte das Datum und nickte.
Du hast letzte Nacht hier geschlafen, darauf wette ich. Im Morgengrauen bist du einfach aufgesprungen und losgerannt. Du hast schlecht gesehen, wahrscheinlich warst du halb blind, aber deine Brille war dir in diesem Moment egal. Es hat dich nicht gekümmert, du hast alles stehen lassen, ja, nicht einmal angezogen hast du dich. Bist schnurstracks zur Brücke gelaufen und hast dich erschossen. Warum? Warst du krank? Schizophren? Oder hat dich jemand in Panik versetzt? War jemand in der Wohnung? Hat er draußen gewartet? Oder hat er dich angerufen?
Schröder lief ins Wohnzimmer, dann wieder zurück.
Aber wie soll er dich anrufen, wenn ich hier kein Telefon sehe?
Er nahm sein Handy.
»Überprüfen Sie, ob auf den Namen Meinolf Grünbein ein Telefonanschluss gemeldet ist.« Er buchstabierte den Namen. »Außerdem will ich wissen, ob ein Auto auf ihn zugelassen ist. Seien Sie so gut und geben mir in der nächsten halben Stunde Bescheid, Sie haben ja meine Nummer.«
Eine aufgeregte Stimme antwortete.
»Ja, mir ist durchaus bewusst, wie spät es ist«, unterbrach Schröder und legte auf.
Er öffnete den Kleiderschrank. Links hingen zwei dunkle Anzüge, sie sahen neu aus, frisch gereinigt, der eine steckte in Plastikfolie. Daneben ein paar Kleiderbügel mit weißen Hemden. Schlipse, ein Paar Hosenträger.
Das, brummte Schröder, waren die Sachen, die du in der Bank getragen hast.
Rechts, in den Schubfächern, herrschte Chaos. Ein wilder Haufen Wäsche, wahllos hineingestopft, eine Jogginghose, einzelne Strümpfe, Wollpullover, egal, ob sauber oder schmutzig.
Nein, Meinolf Grünbein war kein ordentlicher Mensch gewesen.
Schröder ging in die Küche, registrierte die schmutzigen Bodenfliesen, die eingetrockneten Weinflecken auf der Tischplatte. In der Spüle eine benutzte Kaffeetasse, sie war noch feucht.
Zurück ins Wohnzimmer. Ein verblichener Teppich, neben dem Sofa eine achtlos hingeworfene Tagesdecke, auf einem niedrigen Beistelltisch mindestens ein Dutzend Tageszeitungen, einige lagen auf dem Boden. An der Wand hing ein gerahmtes Schwarzweiß-Foto, ein pummeliger junger Mann im Anzug und mit altmodisch zurückgekämmtem Haar stand vor einem silberfarbenen Motorroller und lächelte durch eine Hornbrille stolz in die Kamera.
Schröder nahm das Bild ab, sah auf die Rückseite:
Oktober 1970 – endlich, mein erstes Moped!!!
So hast du also mit achtzehn ausgesehen, überlegte Schröder.
Da, wo das Bild gehangen hatte, befand sich ein heller Fleck an der Wand. Die Wohnung war seit Jahren nicht renoviert worden.
Am Fenster stand ein Schreibtisch aus hellem Buchenholz. Auf den ersten Blick war nichts Auffälliges zu entdecken: eine olivgrüne Schreibunterlage, Briefumschläge, ein Notizblock, Bleistifte, ein Füllfederhalter. Schröder trat näher und verschränkte die kurzen Arme vor der Brust. Nach zwei Minuten stieß er einen leisen Pfiff aus.
Das war es. Hier stimmte etwas nicht.
Die Schreibunterlage war parallel zur Tischkante ausgerichtet, die Stifte lagen da wie Soldaten in Reih und Glied, die Briefumschläge waren fein säuberlich übereinander gestapelt.
Schröder drehte sich um, sein Blick wanderte über das Chaos im Zimmer und wieder zurück zum Schreibtisch.
Der einzige Platz in der Wohnung, der ordentlich, geradezu penibel aufgeräumt war.
Zu ordentlich.
Er strich über die Tischplatte und sah die Spur, die sein Finger im Staub hinterließ. Vorsichtig nahm er den Füller, die Spitze war ausgetrocknet. Die oberste Seite des Notizblocks war vergilbt, diese Dinge hatten lange hier gelegen, ohne benutzt zu werden. Es konnte Wochen, sogar Monate her sein, dass Grünbein hier gesessen hatte.
Schöder ging in die Hocke, starrte aus nächster Nähe mit zusammengekniffenen Augen über den Tisch. Jetzt erkannte er sie deutlich, die Umrisse im Staub. Sah, wie die Sachen vor kurzem noch gelegen haben mussten. Schief, ungeordnet, wie in der gesamten Wohnung. Aber dann waren sie zurechtgerückt worden, jemand hatte hier, auf dem Schreibtisch, aufgeräumt.
Vor kurzem erst. Heute morgen?
Grünbein war das bestimmt nicht gewesen. Wer dann?
Eine Straßenbahn rumpelte vorbei, Schröder bemerkte es nicht. Stattdessen griff er zum Handy.
»Ich brauche die Spurensicherung, sofort.«
Er nannte die Adresse.
Dann legte er auf, ohne eine Antwort abzuwarten.
Sie saßen in Zorns Küche. Malina hatte gekocht, es gab Steak, Pellkartoffeln, frisches Brot und Salat. Er mochte ihr Essen, die Art, wie sie es zubereitete: schnell, effektiv (ohne großes Brimborium, wie sie sagte), stark gewürzt. Und sie kochte riesige Portionen, als müsse sie eine Großfamilie satt bekommen. Auch das gefiel Zorn. Da er tagsüber kaum aß, war er abends am Verhungern.
Das Neonlicht in der Küche war ausgeschaltet, auf dem Tisch und auf dem Fensterbrett hatte Malina dicke Kerzen verteilt. Es roch nach gebratenem Fleisch und verbranntem Wachs. Und nach ihr, nach Flieder.
Malina saß ihm gegenüber, sie hatte eines seiner T-Shirts an, es war ihr viel zu groß. Ein Bein hatte sie angezogen, ihr Kinn ruhte auf dem Knie. Den linken Arm hatte sie um ihren langen weißen Unterschenkel geschlungen, mit der anderen Hand stocherte sie in ihren Kartoffeln.
Zorn war satt. Und er war glücklich. Die Zweifel waren verschwunden, alles war gut. Warum, fragte er sich kurz, muss ich immer wieder solch einen hirnverbrannten Blödsinn denken?
Er legte die Gabel beiseite.
»Das schmeckt wirklich toll, ein bisschen bitter. Ist das Ingwer?«
»Koriander.« Sie lächelte. »Tu nicht so, als ob du Ahnung hättest.«
Als Antwort hielt ihr Zorn seinen Teller entgegen, sie tat ihm Salat auf.
»Ich muss nächste Woche nach Zagreb. Magst du mitkommen?«
Sie arbeitete jetzt für ein kroatisches Reisebüro, organisierte Tauchtouren in der Adria. Angefangen hatte sie als Dolmetscherin, mittlerweile war sie zur Büroleiterin aufgestiegen. Zorn wusste nicht genau, was sie da tat. Aber sie mochte ihre Arbeit, das hatte sie ihm gesagt.
»Ich würde gern«, erklärte er. »Aber ich glaube nicht, dass ich hier weg kann.«
»Wegen des Toten, den ihr im Fluss gefunden habt?«
Er nickte kauend. Sie fragte ihn nie, was er den ganzen Tag über machte. Wenn er etwas erzählen wollte, tat er es. Wenn nicht, ließ sie ihn in Ruhe. Sie schien zu spüren, ob er über seine Arbeit reden wollte. Auch jetzt, denn sie wechselte das Thema.
»Möchtest du noch Fleisch?«
»Nee«, er schob seinen Stuhl zurück und strich mit der Hand über den Bauch. »Noch ein Bissen, und ich platze. Ich hab eh schon zugenommen.«
Malina sah ihn über den Rand ihres Rotweinglases an.
»Stimmt, Claudius.«
Das hatte Zorn tatsächlich. Ein, zwei Kilo vielleicht. Schlimm fand er das nicht, wenn er ein Hemd trug, wirkte er noch immer schlank und drahtig. Trotzdem richtete er sich empört auf.
»Malina, ich habe das nicht gesagt, weil ich mich dick fühle.«
»Warum dann?«
»Das sind Floskeln, man spricht sie aus, weil man das Gegenteil hören will«, erwiderte er gedehnt. »Weil man ein Kompliment erwartet.«
»Frauen tun so etwas.«
»Nun, Männer offensichtlich auch. Jedenfalls ab einem gewissen Alter. Und ich denke, eine kleine Aufmunterung würde mir jetzt gut tun.«
Malina sah schweigend auf ihren Teller. Er konnte ihr Gesicht nicht erkennen, es war hinter ihrem dichten Haar verborgen. Trotzdem wusste er, dass sie in sich hineinlächelte.
Er legte die Hand ans Ohr. »Ich höre?«
Sie warf den Kopf zurück, das Haar flog ihr aus der Stirn.
»Spätestens in zwei Jahren«, sagte sie, »wirst du ein dicker, alter Mann sein. Du wirst ein kleines Bäuchlein haben. Und vielleicht auch ein Doppelkinn. Aber weißt du was?« Die Spitze ihres Zeigefingers fuhr sacht über seinen Unterarm. »Du wirst toll aussehen.«
Er tat, als müsse er nachdenken.
»War das jetzt ein Kompliment?«
»Nein. Eine Liebeserklärung.«
Zorn wusste noch immer nicht, welche Farbe ihre Augen hatten. Jetzt schienen sie grau zu sein, mit einem hellblauen Schimmer an den Rändern. Vielleicht, überlegte er, lag es daran, dass sie ein wenig zu schielen schien. Unmerklich nur, aber das konnte der Grund sein, warum er sich nicht auf eine bestimmte Farbe festlegen konnte.
»Angenommen, ich wäre klein und dick, wie Schröder. Würdest du mich dann auch …«
»Ich mag Schröder«, unterbrach sie ihn.
»Ich auch.« Er unterdrückte ein Rülpsen. »Das muss ich, schließlich erledigt er fast die gesamte Arbeit für mich.«
Zorn hatte gehofft, dass Malina auflachen würde, wenigstens kurz, doch sie wurde ernst.
»Bisher habe ich Schröder nur zwei- oder dreimal getroffen. Ich weiß nicht mehr über ihn als das, was du mir erzählst.«
Und das ist wenig genug, fügte Zorn in Gedanken hinzu.
»Du musst aufpassen, Claudius.«
Er wusste, was jetzt folgen würde, doch er stellte sich dumm.
»Wie meinst du das?«
Sie hielt ihr Glas gegen die Kerze, schwenkte es im Licht, während sie nach den richtigen Worten suchte.
»Er ist was Besonderes. Du kommandierst ihn herum, er lässt sich alles gefallen, rennt für dich durch die Gegend wie dein Dienstbote. Das stimmt doch, oder?«
Zorn nickte. Widerwillig.
»Schröder hält mir den Rücken frei.«
»Warum sollte er das tun?«
»Weil er mich mag?« Er zuckte die Achseln. »Weil er weiß, dass ich ihn mag?«
»Du darfst ihn nicht ausnutzen«, sagte sie vorsichtig. »Ich glaube, er ist ein sehr, sehr einsamer Mensch. Er verströmt so eine Aura, ich kann es nicht erklären.«
»Ich weiß, was du meinst.«
Das stimmte wirklich.
»Du musst vorsichtig sein, Claudius.«
»Das sagtest du bereits.« Zorns Stimme hob sich. Er hasste es, wenn er sich verteidigen musste. Sie warf ihm einen kurzen Blick zu, sofort wurde er ruhig. »Ich hab ihm gesagt, dass ich für ihn da bin.«
»Wann?«
Zorn überlegte. Vor einem Jahr?
»Ein paarmal«, log er. »Und ich hab ihn eingeladen, hab ihm gesagt, dass er uns besuchen kann, wann er will. Er hat gesagt, dass er keine Zeit hat.«
Malina nippte an ihrem Wein.
»Manchmal sagt man etwas und hofft, dass der andere das Gegenteil tut.«
»Das waren meine Worte, Malina. Vor weniger als zwei Minuten.«
»Du weißt, wie ich das meine. Du hättest nachhaken sollen. Das hast du nicht getan, weil du es nie ernst gemeint hast. Das spürt er.«
»Woher willst du das wissen?
»Ich kenne dich ein wenig. Du bist ein fauler Mensch, Claudius Zorn.«
Den Bruchteil einer Sekunde spielte Zorn mit dem Gedanken aufzuspringen, die Küche zu verlassen und die Tür mit einem Knall hinter sich zuzuschlagen. Was er aber nicht tat, denn sie hatte recht.
»Okay«, nickte er ergeben. »Ich werde auf ihn aufpassen.«
»Gut.«
Malina war eine praktische Frau. Jetzt, wo alles gesagt schien, beugte sie sich über den Tisch und begann die Teller zusammenzuräumen. Zorn wollte ihr helfen, doch dann fiel sein Blick auf ihr T-Shirt. Genauer gesagt, auf sein T-Shirt. Und ihre Brüste, die jetzt deutlich zu sehen waren.
Malina sah auf.
»Was ist? Gefallen sie dir nicht?«
Zorn wurde tatsächlich rot.
»Doch. Sehr. Es ist mir nur peinlich, ständig draufstarren zu müssen.«
Noch immer stand sie vorgebeugt da, einen Teller in der Hand, ihr Gesicht direkt vor seinem. Zorn zwang sich, ihr in die Augen zu sehen. Sein Hals war trocken, er musste sich räuspern, bevor er weiterreden konnte. »Es ist albern, aber ich kann’s nicht ändern. Die sind wie Magneten. Ich komme mir vor wie ein hormongesteuerter Vollpfosten.«
»Als ich das erste Mal bei dir war, hast du woanders hingestarrt, weißt du noch?«
Natürlich, auf ihre Beine. Die fand er genauso schön.
Sie küsste ihn kurz, dann stand sie auf. Als er rauchend am Tisch saß und zusah, wie sie die Teller in die Spüle räumte, stellte er wieder fest, wie zufrieden er war. Er musste nicht weg. Es war gut, dass sie bei ihm war. Dass sie zusammen waren. Wie hatte er nur so dumm sein können? Woher kam dieser Gedanke, dass er lieber allein war? Alles war so, wie es …
»Es gibt noch etwas anderes, worüber wir reden müssen«, sagte sie über die Schulter.
Zorn horchte auf. Reden müssen? Das klang nicht gut. Das Hochgefühl verschwand, als habe jemand eine Tür zugeschlagen. Fast glaubte er, einen leisen Knall zu hören.
Nein, er wollte nicht wissen, was sie zu sagen hatte.
»Erzähl’s mir«, sagte er trotzdem und starrte auf seine Zigarette.
Malina drehte sich um, fuhr sich mit den feuchten Händen durchs Haar und überlegte.
»Nicht jetzt«, meinte sie dann. »Nicht heute.«
Er wusste, dass er jetzt nachhaken müsste. Fragen, worum es ihr ging. Ob sie ein Problem hatte, mit ihm vielleicht. Aber er tat es nicht.
»Okay«, brummte er stattdessen und hoffte, dass sie ihm die Anspannung nicht anhörte.
Sie warf ihm den Lappen zu.
»Ich geh jetzt schlafen.«
»Und ich?«
»Du machst den Abwasch.«
Später, als er im Bett lag und ihrem Atem lauschte, fragte er sich, wo diese Leichtigkeit geblieben war. Dieses Glück, das er vorhin beim Essen empfunden hatte.
Kam es zurück?
An diesem Abend jedenfalls sollte Zorn es nicht mehr herausfinden, denn kurz darauf war er eingeschlafen.
Aus der Luft betrachtet sah die Stadt gar nicht so schlimm aus wie die meisten behaupteten. Denn von oben waren zahlreiche grüne Flecken zu erkennen: der Stadtwald, die Pferderennbahn, der botanische Garten, die großen Friedhöfe und weiter oben über der Stadt, auf einem bewaldeten Hügel, der Tierpark.
Das Zoogelände wurde auf drei Seiten von Straßen begrenzt, die vierte, südliche, sicherte ein mannshoher, martialischer Zaun aus schwarzen, an den Enden zugespitzten Eisenpfählen.
Hier, in einer Senke, lag das alte Solbad. So ziemlich jeder in der Stadt kannte diesen großen, verwilderten Park (zumindest dem Namen nach), aber kaum einer, der jünger als dreißig war, hatte ihn jemals betreten. Als der Kurpark angelegt wurde, hatte er sich noch außerhalb der Stadt befunden. Jetzt, über hundertfünfzig Jahre später, lag er nördlich vom Zentrum, umgeben von herrschaftlichen Villen und engen, mit Kopfstein gepflasterten Gassen.
Es gab Legenden, die sich um das alte Kurbad rankten. Geschichten von einäugigen Zwergen und wahnsinnigen Gnomen, die nachts zwischen den überwucherten Promenaden ihr Unwesen trieben. Märchen, die besagten, dass die Solquelle vergiftet sei, dass jeder, der früher mit dem Wasser in Berührung gekommen war, verflucht wurde. Dass die Toten nicht verwesten und zurück an diesen morbiden Ort mussten, durchsichtige Gestalten, denen das Salz die Augen weggefressen hatte, Männer in altmodischen Zylindern, Frauen in großen Hüten und weiten weißen Röcken. Sie flanierten zwischen den verfallenen Kolonnaden, manche spielten Kricket, stumm, denn sie hatten keine Zungen, andere tanzten unter den Platanen Walzer, mit schwerelosen, gleitenden Bewegungen. Im Musikpavillon spielte ein Orchester, schief grinsende Kreaturen, die nur darauf warteten, ihre Geigen beiseite zu legen und den Lebenden, die sich hierhin verirrten, die dampfenden Gedärme aus dem Leib zu reißen. Widerliche, schmatzende Töne erfüllten dann die Luft, manchmal wechselte der Mond die Farbe, wurde blutrot, die Fliesen im Badehaus barsten, die Jugendstil-Ornamente flossen auseinander, die Wände öffneten sich, schlammiges Wasser drang hervor, Monster mit schwarzen Zähnen brachen sich Bahn und …
Nein. Das waren natürlich Märchen.
Schauergeschichten, die sich die Halbwüchsigen in der Umgebung hinter vorgehaltener Hand zuflüsterten. Spinnereien, der Phantasie wildgewordener Kinderhirne entsprungen.
Nein, hier spukte es nicht.
Dies war kein billiger Horrorfilm, sondern eine ganz normale Herbstnacht inmitten einer durchschnittlichen mitteldeutschen Stadt (nun ja, abgesehen vielleicht von den gruseligen Fernsehshows, die über die mitteldeutschen Flachbildschirme flimmerten). Der Mond stand wie immer am Himmel, die Platanen wiegten sich leise im Wind, still und verlassen schlief der alte Kurpark in der feuchten Oktobernacht.
Kein Zombie, kein Monster, so weit das Auge reichte. Und auch der Mann, der im alten Badehaus im Schein einer Kerze saß und schrieb, war kein Geist. Obwohl sein Schatten wie ein Gespenst über die hohen, bröckelnden Wände tanzte.
Nein, hier spukte es nicht.
Aber dieser Ort war gefährlich. Und diese Gefahr war real.
Es wusste nur niemand.
Noch nicht.
Als Claudius Zorn am nächsten Morgen im Büro erschien, war alles so wie immer. Schröder saß rotwangig und gut gelaunt hinter seinem Schreibtisch und tippte mit flinken Fingern einen Bericht, Zorn schlurfte grußlos an ihm vorbei, fuhr seinen Computer ebenfalls hoch und fragte gähnend, ob es etwas Neues gäbe.
»Wir haben zwei Fahrraddiebstähle, eine Anzeige wegen Körperverletzung und eine Vermisstenmeldung«, erklärte Schröder, ohne mit dem Schreiben aufzuhören.
»Wer wird vermisst?«, fragte Zorn nicht sonderlich interessiert.
»Wie ich schon sagte, Chef: Zwei Fahrräder.«
»Verarsch mich nicht, Schröder. Nicht um diese Zeit, ja?«
»Ach, du meinst die Vermisstenmeldung? Entschuldige, ich hatte nicht erwartet, dass du mir zuhörst, Chef.« Während Schröder sprach, starrte er konzentriert auf den Monitor und schrieb mit atemberaubender Geschwindigkeit weiter. »Es geht um einen pensionierten Richter. Die Meldung kam gestern Nachmittag, von seiner Schwägerin. Sie sagt, er sei seit vier Tagen verschwunden. Und die Anzeige wegen Körperverletzung hat der Türsteher vom Waldkater erstattet. Er behauptet, ein Gast habe ihn angegriffen, heute Morgen um zwei. Mit einem Korkenzieher.«
»Ach.«
Zorn gähnte herzhaft, malte mit dem Bleistift ein paar Kringel auf die Schreibtischunterlage und lauschte dem leisen, irgendwie einschläfernden Klappern von Schröders Computertastatur. So vergingen ein paar Minuten.
»Was schreibst du da eigentlich?«, fragte er dann.
»Der tote Bankangestellte, Meinolf Grünbein. Einen Bericht zum letzten Stand der Dinge.«
Zorn gähnte noch einmal.
»Kann es sein, dass du zwei Sachen gleichzeitig tun kannst, Schröder?«
»Wie meinst du das, Chef?«
»Du unterhältst dich mit mir über einen vermissten Richter und verfasst gleichzeitig einen Bericht über den Toten vom Fluss?«
Schröder tippte weiter.
»Das nennt man Multitasking. Ich kann viele Dinge gleichzeitig.«
»Was denn noch?«
»Zum Beispiel fernsehen und dabei schlafen.«
Während Zorn noch stirnrunzelnd überlegte, was damit gemeint sein könnte, begann der Drucker zu rattern. Schröder lehnte sich zurück.
»Fertig. Willst du’s lesen?«
»Nee, erzähl’s mir lieber.«
»Ich war gestern in der Wohnung«, begann Schröder. »Jemand war dort, entweder kurz vor oder nach Grünbeins Tod. Wahrscheinlich hat er etwas gesucht.«
»Wie kommst du darauf?«
»Meinolf Grünbein war kein ordentlicher Mensch. Das Einzige, worum er sich halbwegs gekümmert hat, waren seine Anzüge, die Sachen, die er in der Bank getragen hat. Ich habe mit seinem Vorgesetzten telefoniert, Grünbein war seit über zwanzig Jahren bei der Sparkasse und ist nie auffällig geworden. Ein kleiner Angestellter in der Kreditabteilung, pünktlich, korrekt, sauber. Das passt irgendwie nicht zu seinem chaotischen Privatleben.«
»Du meinst, er hat ein Doppelleben geführt?«
Schröder überlegte kurz.
»So weit würde ich nicht gehen. Die Wohnung war schmutzig, aber er ist nicht im Dreck erstickt. Wahrscheinlich leben viele Menschen so.«
Zorn schüttelte den Kopf.
»Ich versteh nicht, was du mir eigentlich sagen willst.«
»Sein Schreibtisch, Chef. Das war der einzige Ort, der aufgeräumt war.«
»Er war Bankangestellter. Die halten ihren Schreibtisch sauber.«
»Der Tisch war völlig verstaubt. Ich wette, Grünbein hat vor Wochen, wenn nicht vor Monaten zuletzt dort gesessen, aber die Sachen darauf – Schreibunterlage, Stifte, Briefumschläge – waren fein säuberlich angeordnet. Man sieht an den Staubspuren, dass das erst kürzlich passiert ist.« Schröder runzelte die Stirn, während er nachdachte. »Ich kann’s nicht genau erklären, Chef. Dieser Schreibtisch wirkte wie ein Fremdkörper. Vielleicht irre ich mich, aber ich denke, dass der, der sich dort zu schaffen gemacht hat, die Dinge zurechtrücken musste. Vielleicht eine Art Zwang. Ein Tick, ein Ordnungsfimmel.«
Zorn kannte Schröders Beobachtungsgabe. Seine Schlussfolgerungen gingen meist in die richtige Richtung. Er zog nun ebenfalls die Stirn in Falten.
»Wenn du recht hast, müssen wir nach Fingerabdrücken suchen.«
»Yes. Ist in Arbeit.«
Der Drucker gab ein erschöpftes Krächzen von sich und spuckte das letzte Blatt aus.
»Du meinst also«, sagte Zorn, »dass Grünbein verfolgt wurde?«
»Möglich.«
»Wer? Warum? Und was sollte er in der Wohnung gesucht haben?«
»Keine Ahnung, Chef. Soweit wir bisher wissen, war Grünbein ein Einzelgänger, er hatte keine Freunde. Sein Vorgesetzter sagt, er sei in den letzten Tagen wie immer gewesen, keinerlei Anzeichen von Angst, aber das muss nichts bedeuten.«
»Es sollte doch so etwas wie eine Kundenkartei in der Bank geben. Anfragen, Kredite, die Grünbein bearbeitet hat. Vielleicht findet sich da ein Hinweis. Jemand, der einen Grund hatte, Grünbein zu bedrohen.«
»Das wird gerade geprüft.«
Zorn trommelte mit den Fingern auf den Tisch.
»Trotzdem, ich verstehe das nicht«, meinte er kopfschüttelnd.
»Ich auch nicht, wenn ich ehrlich bin.« Schröder kramte ein großes Taschentuch hervor und schnäuzte sich umständlich. »Das Bett war benutzt. Grünbein hat sich abends hingelegt, früh um fünf ist er plötzlich aufgesprungen, zur Brücke gelaufen und hat sich umgebracht.«
»Es muss einen Grund geben, Schröder.«
»Jemand war hinter ihm her.«
»Wenn es diesen Jemand denn gibt. Bisher haben wir nur einen staubigen Schreibtisch, das ist ein bisschen wenig, oder?«
»Richtig.« Schröder faltete das Taschentuch zusammen und verstaute es sorgfältig in seiner Cordhose. »Vielleicht war dieser Unbekannte in der Wohnung, oder er hat Grünbein angerufen und bedroht. Grünbeins Handy haben wir allerdings nicht gefunden.«
»Hatte er denn eins?«
»Natürlich.«
»Vielleicht unter der Brücke, im Fluss?«
»Dort wird noch einmal gesucht.«
»Wissen wir, wie er zur Brücke gekommen ist?«
Plötzlich wurde Schröder puterrot im Gesicht. Seine Augen weiteten sich, er hielt die Luft an und während Zorn sich fragte, ob Schröder einen Herzanfall hatte, krachte ein Niesen durch das Büro, ein Donnern, als ob eine mittlere Atombombe gezündet würde. Zorn sah verständnisvoll zur Seite.
»Wohlsein, Schröder.«
»Gracias, Chef.«
»Werd mir bloß nicht krank, Freundchen.«
»Das habe ich nicht vor«, schniefte Schröder. »Nicht, bevor wir wissen, was hier passiert ist. Grünbein hatte kein Auto, und ein Taxi hat er auch nicht genommen. Jedenfalls erinnert sich niemand daran, im fraglichen Zeitraum einen älteren Herren im Pyjama zur Brücke kutschiert zu haben.«
»Dann ist er also gelaufen, er kann sich ja schlecht einen Tunnel gegraben haben. Erzähl mir, was du willst, Schröder. Aber jemand muss ihn gesehen haben. Auch wenn es früh am Morgen war.« Zorn schüttelte den Kopf. »Was für eine Stadt. Keine Sau kümmert sich um den anderen.«
»Das hat nichts mit dieser Stadt zu tun, Chef.«
»Sondern?«
»Es ist überall so. Die Menschen interessieren sich nicht sonderlich für andere.«
Zorn stand auf und ging zum Fenster. Der Tag war dunstig, dichte Nebelschwaden trieben über den Parkplatz vor dem Präsidium.
Schröder hat recht, dachte er. Wenn auf der Autobahn ein Unfall passiert, fahren die Menschen langsam, um ja nichts zu verpassen. Aussteigen würde kaum einer, weil alle davon ausgehen, dass jemand anderes hilft.
Und ich? Ich bin genauso.
»Wir müssen abwarten«, erklärte Schröder hinter ihm. »Vielleicht findet sich noch ein Zeuge, der ihn gesehen hat, die Befragungen sind noch längst nicht abgeschlossen. Und die Spurensicherung wird demnächst neue Ergebnisse haben, der endgültige Bericht der Pathologie fehlt auch noch. Grünbein könnte unter Drogen gestanden haben.«
»Vielleicht war er einfach nur verrückt.«
»Möglich, Chef. Aber ich glaube nicht daran.«
Ich auch nicht, dachte Zorn. Es muss einen anderen Grund geben.
Schröder griff die Aktentasche und nahm seinen abgewetzten Regenmantel vom Haken.
»Ich fahre jetzt zur Bank und rede mit Grünbeins Kollegen.«
»Lass dir keinen faulen Kredit andrehen.«
»Keine Sorge, ich mache keine Schulden.«
Schröder wandte sich zum Gehen. Da fiel Zorn noch etwas ein.
»Was machst du eigentlich heute Abend?«
»Wie meinen?«
Schröder stand in der Tür, die Klinke in der Hand. Ein kleiner Mann in einem großen Regenmantel. Seine Verblüffung war echt.
»Ich meine«, druckste Zorn auf der Suche nach den richtigen Worten herum, »was du heute so vorhast. Du könntest …«
»Ja?«
»… zum Essen kommen.«
Schröder legte den Kopf ein wenig schief und sah ihn nachdenklich an. Er schien noch immer nicht verstanden zu haben, was hier gespielt wurde.
»Oder so«, fügte Zorn ein wenig hilflos hinzu.
»Zu dir?«
Zorn nickte.
Ein leises Lächeln huschte über Schröders Gesicht.
»Du meinst das ernst, oder?«
Wieder nickte Zorn.
Schröder öffnete die Tür.
»Das ist wirklich nett, Chef.«
»Aber?«
»Ich hab schon was vor.«
»Na gut.«
Immerhin, ich hab’s versucht, dachte Zorn und schämte sich ein wenig über seine Erleichterung. Er konnte beim besten Willen nicht erklären, woher dieses Gefühl kam, schließlich war Schröder neben Malina der wichtigste Mensch in seinem Leben. Aber was hatte Malina gestern gesagt? Du bist ein fauler Mensch, Claudius Zorn. Und noch etwas hatte sie verlangt: Er sollte nachhaken.
Das tat Zorn dann auch.
»Bist du sicher?«, fragte er.
Schröder nickte, dabei ordnete er mit den Handflächen den spärlichen Scheitel.
»Ja, Chef. Danke für die Einladung, ein anderes Mal gern.«
»Ich komm drauf zurück.«
Die Atmosphäre im Büro war plötzlich anders, es schien, als sei die Temperatur ein wenig gefallen. Zorn hoffte auf eine flapsige Bemerkung Schröders, etwas, das die Situation entspannen würde. Doch Schröder schwieg.
Stattdessen nickte er kurz und ging.
Später stand Zorn noch ein wenig am Fenster, starrte in den Nebel und dachte an Malina. Einen Vorwurf konnte sie ihm nicht machen.
Er hatte nachgehakt.
Zweimal sogar.
Wenig später saß Schröder im Auto und war unterwegs in Richtung westliche Neustadt. Er hatte lange überlegt, ob er sich einen Wagen zulegen sollte, schließlich war er fast zwanzig Jahre lang ausschließlich mit dem Fahrrad oder dem Bus unterwegs gewesen. Doch dann, zu seinem vierzigsten Geburtstag, hatte er beschlossen, sich etwas Besonderes zu gönnen: einen nagelneuen, quietschgelben VW Beetle. Das war vor drei Wochen gewesen, wie immer hatte ihm außer seinen Eltern niemand gratuliert (ein Geschenk hatte er natürlich auch bekommen, einen Satz Flanellbettwäsche von seiner Mutter).
Schröder, der so gut wie keine Fahrpraxis hatte, fuhr vorsichtig. Hoch aufgerichtet saß er hinter dem Lenkrad, den Sitz hatte er bis ganz nach vorn schieben müssen, um die Pedale mit seinen kurzen Beinen erreichen zu können.
Aber er hatte Spaß. Er mochte den Wagen, den Geruch nach Leder und Plastik, die Stereoanlage war hervorragend, und wenn die Fenster hochgekurbelt waren, klangen seine Klassik-CDs fast so gut wie daheim.
Jetzt allerdings hörte er keine Musik. Es war neblig, die Sicht war schlecht, er musste sich auf den Verkehr konzentrieren. Schröder liebte technische Spielereien, aus einer Laune heraus hatte er das Navigationsgerät eingeschaltet und die Adresse der Sparkasse eingegeben.
Er näherte sich der Hochstraße. Der Verkehr war dicht, die Autos drängten sich auf der dreispurigen Fahrbahn. Es war elf Uhr vormittags, trotzdem fuhren alle mit Licht. Rechts tauchten die protzigen Mauern des Kongresszentrums im Nebel auf, dahinter ging es hinab zum alten Wachturm.
Halten Sie sich links!, flötete das Navigationsgerät mit verführerischer Frauenstimme.
Schröder bremste ab, blinkte und ordnete sich ein. Ein weißer Audi röhrte auf der rechten Spur vorbei. Schröder beachtete ihn nicht, ebenso wenig den Stinkefinger, den ihm der Fahrer, ein achtzehnjähriger Knirps mit umgedrehter Baseballkappe, entgegenstreckte.
Oben auf der Hochstraße wurde die Sicht schlechter, zehn, höchstens zwanzig Meter vielleicht. Schröder kniff die Augen zusammen und umklammerte das Lenkrad fester. Die Scheiben beschlugen, er schaltete das Gebläse eine Stufe höher. Schräg vor ihm hätten jetzt die Türme der Marktkirche erscheinen müssen, doch sie verschwammen im Nebel, der wie eine verdreckte Gardine über der nassen Fahrbahn hing.
Nach achthundert Metern nehmen Sie die Ausfahrt, befahl das Navigationsgerät.
Zu Befehl, murmelte Schröder und ging in Gedanken das geplante Gespräch mit dem Filialleiter der Sparkasse durch. Die Rücklichter eines Lkw tauchten vor ihm auf, er bremste ab, um den vorschriftsmäßigen Sicherheitsabstand einzuhalten. Dunst wurde aufgewirbelt, er schaltete die Scheibenwischer ein.
Leise begann er vor sich hinzupfeifen, eine Sarabande von Erik Satie.
Auf dem Beifahrersitz vibrierte sein Handy, er hörte es nicht.
Das war nicht schlimm, denn nie im Leben wäre Schröder auf den Gedanken gekommen, während des Autofahrens zu telefonieren.
Schlimm war, dass er nicht mitbekam, wie fünfzig Meter vor ihm der Fahrer eines Mitsubishi die Kontrolle über seinen Wagen verlor und mit sechzig Stundenkilometern auf die Leitplanke zuraste. Der Wagen streifte die Begrenzung, drehte sich mehrfach um die eigene Achse, überschlug sich und blieb dann quer zur Fahrbahn liegen. Schröder hörte das Kreischen des Metalls, Aufprall für Aufprall, als sich die nachfolgenden Autos ineinander bohrten, sah den aufsteigenden Rauch und registrierte, wie der Lkw vor ihm nach rechts ausscherte und zuerst die Leitplanke und dann das Geländer durchschlug, als wäre es aus Butter.
Dahinter ging es fünfzehn Meter in die Tiefe.
Der dicke Schröder trat mit aller Kraft auf die Bremse, der Beetle blockierte, doch obwohl er das Lenkrad nach links zog, folgte sein Auto dem Laster wie ein kleiner, störrischer Esel.
Den Bruchteil einer Sekunde später raste der Beetle durch das Loch in der Leitplanke, hob ab und flog in einem eleganten Bogen durch die Luft.
Mein schönes Auto, stöhnte Schröder.
Bitte wenden Sie jetzt!, befahl das Navigationsgerät barsch.
Metall splitterte, Plastik barst.
Doch das hörte Hauptkommissar Schröder nicht mehr.
»Was?!«
Zorn war aufgesprungen.
»Eine Massenkarambolage auf der Hochstraße«, wiederholte der uniformierte Beamte. »Insgesamt sind zwölf Fahrzeuge betroffen. Eines davon war der Wagen von Hauptkommissar Schröder. Mehr kann ich Ihnen im Augenblick …«
»Was ist mit Schröder?«
»Das wissen wir noch nicht.«
Zorn wurde blass. Rote Flecken erschienen auf seinen Wangen, seine Augen weiteten sich, als habe er einen Schlag in den Magen erhalten.
»Ich will wissen, wie es ihm geht, verdammt!«
Der Beamte, ein stiernackiger Wachtmeister um die vierzig, wich einen Schritt zurück.
»Es gibt siebzehn Verletzte, einige davon wahrscheinlich schwer. Ein Lkw hat die Leitplanke durchbrochen und ist fünfzehn Meter tief auf die darunterliegende Fahrbahn gekracht, direkt auf die Kreuzung am unteren Knoten. So, wie es aussieht, hat Hauptkommissar Schröder die Kontrolle über seinen Wagen verloren und ist ebenfalls abgestürzt. Alle verfügbaren Kräfte sind vor Ort, beziehungsweise unterwegs.«
»Was ist mit Schröder?«, wiederholte Zorn leise. Langsam, als rede er mit einem Kleinkind.
»Wir haben noch keine Information. Auf der Hochstraße herrscht totales Chaos.«
Zorn hieb mit der Faust auf den Tisch. Ein Becher mit Schreibutensilien fiel um, die Stifte rollten über die Tischplatte und fielen, einer nach dem anderen, zu Boden.
»Was auf der Hochstraße abläuft, ist mir scheißegal!«
»Die Meldung ist um vier Minuten nach elf reingekommen«, der Beamte sah auf seine Armbanduhr, »also vor gerade mal sechs Minuten.«
»Das interessiert mich nicht!«, brüllte Zorn, seine Stimme überschlug sich. Ein dünner Speichelregen ergoss sich über seinen Monitor. Der Wachtmeister wich einen weiteren Schritt zurück, er stand jetzt buchstäblich mit dem Rücken zur Wand.
»Jetzt hören Sie mal«, verteidigte er sich. »Sie können nicht erwarten, dass …«
»Nein«, unterbrach Zorn, »Sie hören mir jetzt zu, Kollege …«
Zorn wedelte hilflos mit der Hand durch die Luft. Er kannte den Wachtmeister, aber sein Name wollte ihm ums Verrecken nicht einfallen. In seinem Kopf war nichts als Leere. Und die Angst um Schröder.
»Grützner«, half der Wachtmeister.
»Wie auch immer.«
Plötzlich hielt Zorn eine brennende Zigarette in den Fingern, wann er sie angezündet hatte, wusste er nicht. Weit hinten tauchte der Gedanke an die Bürofenster auf, die sich wegen der Klimaanlage nicht öffnen ließen. Und an die Rauchmelder an der Decke.
Egal. Das war jetzt nicht wichtig.