Zorn - Zahltag - Stephan Ludwig - E-Book
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Zorn - Zahltag E-Book

Stephan Ludwig

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Beschreibung

Jubiläum: Der zehnte Fall für Hauptkommissar Claudius Zorn und den dicken Schröder – ein neuer Band der Kult-Thriller-Serie von Bestsellerautor Stephan Ludwig Endlich! Hauptkommissar Claudius Zorn und seine Freundin, Oberstaatsanwältin Frieda Borck, sind zusammengezogen. Trautes Heim, Glück allein. Doch ein heikler Fall verlangt Frieda vor Gericht alles ab. Und auch Zorn und Schröder werden ins Landgericht gerufen, zur Leiche einer Frau, die seit drei Tagen in einer Toilettenkabine lag. Wie konnte ihr Tod so lange unbemerkt bleiben? In einem öffentlichen Gebäude? Noch dazu, da die Frau eine wichtige Zeugin in Friedas Prozess war? Als sich die Anzeichen häufen, dass es sich entgegen der ersten Annahme nicht um eine natürliche Todesursache handelt, werden Zorn und Schröder hellhörig. Doch noch bevor sie die offizielle Ermittlung aufnehmen können, gerät Schröder in höchste Alarmbereitschaft: Zorn erleidet im Büro einen Krampfanfall und kommt unter Lebensgefahr ins Krankenhaus ...

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Stephan Ludwig

ZORN10 - Zahltag

THRILLER

FISCHER E-Books

Inhalt

ERSTER TEILEinsZweiDreiVierFünfSechsSiebenAchtZWEITER TEILNeunZehnElfZwölfDreizehnDRITTER TEILVierzehnFünfzehnSechzehnSiebzehnAchtzehnNeunzehnZwanzigEinundzwanzigZweiundzwanzigDreiundzwanzigVierundzwanzigFünfundzwanzigSechsundzwanzigSiebenundzwanzigVIERTER TEILAchtundzwanzigNeunundzwanzigDreißigEinunddreißigZweiunddreißigDreiunddreißigVierunddreißigFünfunddreißigSechsunddreißigFÜNFTER TEILSiebenunddreißigAchtunddreißigNeununddreißigVierzigEinundvierzigZweiundvierzigDreiundvierzigVierundvierzigFünfundvierzigSechsundvierzigSiebenundvierzigAchtundvierzigNeunundvierzigFünfzigEinundfünfzigZweiundfünfzigDreiundfünfzigVierundfünfzigFünfundfünfzigSECHSTER TEILSechsundfünfzigSiebenundfünfzigAchtundfünfzigNeunundfünfzigSechzigEinundsechzigZweiundsechzigDreiundsechzigVierundsechzigFünfundsechzigSechsundsechzigSiebenundsechzigAchtundsechzigNeunundsechzigSiebzigEinundsiebzigFragen an Hauptkommissar Zorn und Hauptkommissar Schröder

ERSTER TEIL

Die Frau im gelben Kleid

Eins

Sie war in Eile.

Was völlig unnötig war, denn als die Frau im gelben Kleid aus dem Taxi stieg, hatte sie exakt noch einundzwanzig Minuten zu leben. Diese Tatsache war ihr natürlich nicht bewusst, und so reichte sie dem Fahrer wortlos einen Geldschein durch das offene Fenster und verschwand im Landgericht, ohne zu ahnen, dass hinter dem imposanten Eingangsportal der Tod auf sie wartete.

Den Beamten an der Sicherheitsschleuse würdigte sie keines Blickes, hielt ihm nur stumm ihren Ausweis entgegen, eine attraktive Frau in einem gelben, ärmellosen Kleid mit der Konfektionsgröße achtunddreißig, die sie seit ihrer Teenagerzeit trug. Ungeduldig presste sie die Lippen aufeinander, als sie aufgefordert wurde, ihre Handtasche zu öffnen, lief dann durch die kreisrunde, über zwanzig Meter hohe Eingangshalle und stoppte vor einer Anzeigetafel. Sie spürte den Blick des Beamten im Rücken, achtete jedoch nicht darauf. Schließlich wusste sie nicht, dass dies der letzte von zahllosen Männerblicken war, die ihr in ihrem zweiundvierzigjährigen Leben gefolgt waren.

Draußen herrschte hochsommerliche Hitze, doch unter der reich verzierten Kuppel war es kühl wie in einer Kathedrale. Geschäftiges Gemurmel war zu hören, Männer in Anzügen liefen umher, Frauen in Businesskostümen, die einen trugen schwere Aktentaschen, andere Ledermappen unter dem Arm.

Mit gerunzelter Stirn überflog die Frau im gelben Kleid die Tafel, fand schließlich, wonach sie gesucht hatte und lief über eine geschwungene Treppe hinauf ins erste Stockwerk. Ihre hohen Absätze hallten von den bunten, in Gold und allen erdenklichen Pastellfarben gestrichenen Wänden wider. Sie verstaute den Ausweis im Gehen in ihrer Handtasche, blieb neben einer stuckverzierten Säule stehen, sah sich einen Moment ratlos um, wandte sich dann nach links in einen Korridor und erreichte nach ein paar Metern eine hohe, geschwungene Tür, neben der zwei Polizisten auf gepolsterten Stühlen saßen. Sie las die Saalnummer, registrierte, dass sie ihr Ziel erreicht hatte, und blieb unschlüssig stehen.

»Sie sind als Zeugin geladen?«

Der Polizist, ein breitschultriger junger Mann, lächelte sie freundlich an.

»Ja.« Die Frau im gelben Kleid sah auf ihre Uhr, das goldene Armband blitzte auf. »Um neun Uhr dreißig.«

Sechs Minuten waren vergangen, seit sie das Landgericht betreten hatte.

»Sie werden aufgerufen«, sagte der Polizist. »Am besten, Sie setzen sich.«

Er wies auf die links und rechts aufgereihten Stühle. Die meisten waren frei, nur in ein paar Metern Entfernung saßen zwei Männer, die mit ihren Handys beschäftigt waren.

»Es kann eine Weile dauern«, fuhr der Polizist fort. Er schien deutlich gesprächiger zu sein als seine Kollegin, eine zierliche junge Frau, die still, fast schüchtern neben ihm saß, die Hände im Schoß der Uniformhose gefaltet.

Die Frau, deren Lebenserwartung jetzt knapp unterhalb der Länge der 20-Uhr-Ausgabe der Tagesschau lag, nahm schräg gegenüber Platz. Der Polizist langte neben sich, holte eine Thermoskanne aus einem Rucksack, goss Kaffee ein und bot ihn seiner Kollegin an. Diese wehrte kopfschüttelnd ab, er trank selbst, flüsterte ihr etwas ins Ohr. Sie gab eine kurze, ebenso leise Erwiderung.

Stuhlbeine scharrten, einer der beiden Männer legte sein Handy beiseite und kam herbeigeschlendert. Eine verspiegelte Sonnenbrille baumelte im Ausschnitt seines Polohemds, die Gummisohlen seiner weißen Sneakers quietschten auf den Steinfliesen. Die Frau im gelben Kleid versteifte sich, als er wie selbstverständlich neben ihr Platz nahm und sich mit unterdrückter Stimme als Mitarbeiter der örtlichen Boulevardzeitung vorstellte.

»Dürfte ich Sie …«

»Nein«, presste die Frau hervor.

»In welchem Verhältnis stehen Sie zu den Angeklagten?« Der Reporter ließ nicht locker. »Die Staatsanwaltschaft hat Sie als Zeugin einbestellt, was genau werden Sie …«

»Ich will nicht mit Ihnen reden!«

Die Stimme der Frau wurde schrill. Ihre Finger umklammerten die Handtasche. Die grellrot lackierten Nägel gruben sich in das beigefarbene Leder.

»Wenn Sie wünschen«, fuhr der Reporter unbeirrt fort, »werden wir Ihre Informationen vertraulich behandeln. Wir …«

»Sie haben’s doch gehört«, unterbrach der Polizist sanft. »Die Dame möchte nicht mit Ihnen reden. Und fotografiert werden«, er hob die Stimme, »will sie auch nicht!«

Die letzten Worte galten dem zweiten Mann, der unbemerkt näher gekommen war und jetzt an Stelle des Handys eine klobige Kamera in den Händen hielt.

Der Reporter berief sich wortreich auf die Pressefreiheit und das Recht der Öffentlichkeit auf Information, während das Blitzlicht der Kamera durch den Flur flackerte, unterlegt mit dem nähmaschinenartigen Klackern des Auslösers. Die Frau im gelben Kleid erbleichte, wandte den Kopf ab. Der Fotograf kam näher, ging vor ihr in die Knie, das lange Objektiv wie ein Kanonenrohr auf ihr Gesicht gerichtet.

»Es reicht.«

Der junge Polizist stellte den Kaffeebecher neben sich auf den Boden und stand auf. Das Hemd spannte über seiner breiten Brust. Seine Uniform war neu, er trug sie offensichtlich erst seit kurzem. Ebenso wie seine Begleiterin schien er noch nicht lange im Dienst zu sein, im Gegensatz zu ihm wirkte die Uniform bei ihr allerdings viel zu groß um die schmalen Schultern.

Freundlich, aber bestimmt wiederholte der Polizist seine Forderung. Das folgende Wortgefecht beendete er mit der knappen Ankündigung, den beiden einen Platzverweis zu erteilen, allerdings erst, nachdem er die Kamera eingezogen habe.

»Die können Sie später im Präsidium abholen«, erklärte er. »Bei der Gelegenheit dürfen Sie sich gern über mich beschweren, meine Herren. Mein Name ist Vaatz, Polizeimeister Hendryk Vaatz.«

Der Reporter setzte zu einer heftigen Erwiderung an, doch in diesem Moment öffnete sich die schwere Saaltür und seine Aufmerksamkeit richtete sich auf eine junge Frau in fliederfarbenem Kostüm, die in den Flur trat, nachdem sie die Tür hinter sich geschlossen hatte.

»Frau Borck!« Der Reporter sprang auf. »Gibt es neue Erkenntnisse der Staatsanwaltschaft? Wann ist mit der Urteilsverkündigung zu …«

»Der Prozess«, unterbrach die Staatsanwältin knapp, »ist auf zwanzig Tage angesetzt. Heute ist der vierte Verhandlungstag. Wann das Urteil verkündet wird, sollten selbst Sie sich ausrechnen können.«

Der Reporter bombardierte sie mit weiteren Fragen, unterstützt von seinem Kollegen, der die Kamera herumgerissen hatte und hektisch ein Foto nach dem anderen schoss. Die Staatsanwältin ertrug das Blitzlichtgewitter mit stoischer Miene, offensichtlich war sie die Prozedur gewohnt, ebenso wie die Fragen, die mit der Geschwindigkeit eines Schnellfeuergewehrs auf sie einprasselten. Der junge Polizist machte Anstalten, ihr beizuspringen, doch sie hielt ihn mit einem knappen Kopfschütteln zurück.

»Wir sind mitten in der Beweisaufnahme«, erklärte sie dem Reporter. »Ich weiß nicht, wie oft ich’s Ihnen schon gesagt habe, aber ich wiederhol’s gern noch mal: Wenn Sie Fragen haben, wenden Sie sich an die Pressestelle.« Die Verhandlung, fügte sie hinzu, sei für heute unterbrochen worden, die Angeklagten hätten den Saal durch einen anderen Ausgang verlassen und seien bereits auf dem Rückweg zum Untersuchungsgefängnis. »Sie können mich gern noch stundenlang weiterknipsen, meine Herren. Das sind allerdings die einzigen Bilder, die Sie heute bekommen werden.«

Die beiden zogen murrend ab. Die Staatsanwältin wartete, bis sie um die Ecke verschwunden waren, dann wandte sie sich an die Frau im gelben Kleid.

»Sie haben’s gehört, die Verhandlung ist unterbrochen. Tut mir leid, dass Sie sich umsonst herbemüht haben. Ich würde Sie morgen um zehn in den Zeugenstand rufen, das passt Ihnen hoffentlich?«

Die Frau im gelben Kleid nickte. Auch die Frage, ob sie bei ihrer Aussage bleibe, bejahte sie, das Angebot, ihre Anfahrtskosten zu erstatten, lehnte sie allerdings ab. Eine richtige, wenn auch unbewusst getroffene Entscheidung, denn jetzt blieben ihr nur noch drei Minuten, eine Zeitspanne, die nicht einmal ausgereicht hätte, das Antragsformular auszufüllen.

»Geht es Ihnen gut?«

Die Staatsanwältin sah sie forschend an.

»Ja«, erwiderte die Frau im gelben Kleid, steif auf der Stuhlkante sitzend. »Ich würde mich gern ein wenig frisch machen.«

Zwanzig Meter den Gang hinunter, erklärte die Staatsanwältin, sei eine Toilette. Sie nickte erst der Frau, dann den beiden Polizisten zu und verschwand wieder im Verhandlungssaal.

Die Frau im gelben Kleid lief über den Flur zur Damentoilette, trat ein und lehnte sich an die geflieste Wand. Sie schloss kurz die Augen, dann beugte sich über das Waschbecken, trank einen Schluck Wasser, richtete sich wieder auf und betrachtete ihr Gesicht im Spiegel. Stirnrunzelnd spitzte sie die Lippen, öffnete ihre Handtasche. Als die Tür hinter ihr geöffnet wurde, stand sie gebeugt über dem Waschbecken und zog sich mit routinierten, tausendfach ausgeführten Bewegungen die Lippen nach.

Schritte erklangen, am Waschbecken neben ihr wurde ein Wasserhahn geöffnet. Die Frau im gelben Kleid, noch immer auf ihr Spiegelbild konzentriert, hörte ein Klappern, als ein großer Ring auf die Ablage über dem Waschbecken gelegt wurde, und sah aus den Augenwinkeln, wie die junge Polizistin sich neben ihr die Hände wusch.

»Ihr Kollege hätte mir vorhin nicht helfen müssen.« Ein letzter, prüfender Blick, dann verstaute die Frau den Lippenstift wieder in der Handtasche. »Trotzdem, es war nett. Richten Sie ihm Grüße aus.«

»Natürlich.«

Der Wasserhahn schloss sich, die Polizistin trocknete die Hände. Ihre Blicke trafen sich im Spiegel. Sie ist jung, dachte die Frau im gelben Kleid, fast noch ein Kind.

»Dürfen Sie so was überhaupt tragen? Im Dienst, meine ich.«

Sie wies auf den Ring auf der Ablage. Zwei funkelnde grüne Steine, jeder in etwa so groß wie ein Fünfzig-Cent-Stück, eingerahmt von winzigen Perlen. Modeschmuck natürlich, billiger Strass, viel zu klobig für den Geschmack der Frau im gelben Kleid, die dezenteren, echten Schmuck bevorzugte. Doch er gefiel ihr irgendwie.

»Nein.« Die Polizistin griff nach dem Ring. »Eigentlich nur nach Dienstschluss.«

»Der ist schön.«

Die Frau im gelben Kleid wandte sich um, betrachtete die Kabinen und erinnerte sich, warum sie eigentlich hergekommen war.

»Er ist nicht nur schön«, sagte die Polizistin hinter ihr. »Er ist auch nützlich.«

Das, fand die Frau im gelben Kleid, war eine merkwürdige Aussage. Sie sollte allerdings nie eine Erklärung bekommen, denn die letzten Sekunden waren abgelaufen und ihr irdisches Dasein fand ein abruptes, doch immerhin nahezu schmerzfreies Ende.

Zwei

»Ist das … Pflaumenmus?«

Zorn nahm die Füße vom Schreibtisch, schob die Brille auf die Stirn, damit seine emporgezogenen Brauen besser zur Geltung kamen und bedachte erst Schröder, dann den gefüllten Berliner mit einem Blick, der Abscheu und Entsetzen zugleich ausdrücken sollte.

»Die mit Marmelade waren ausverkauft«, erklärte Schröder.

»Ich hasse Pflaumenmus«, knurrte Zorn und schob den Teller mit den Fingerspitzen der gesunden Hand neben die Tastatur seines Rechners. »Den kannst du jedenfalls selbst essen.«

»Vielleicht ist’s dir ja entfallen, aber ich bin Diabetiker.«

»Du hast für alles ’ne Ausrede, was?«

Schröder nahm achselzuckend gegenüber Platz, zog eine Schublade auf und begann, einen Bleistift zu spitzen, während Zorn sich wieder seiner Lektüre der Morgenzeitung widmete.

Vor knapp zwei Jahren hatte Zorn die Leitung der Abteilung übernehmen müssen, nachdem Schröder einem Verdächtigen mit der Dienstwaffe die Kniescheibe zertrümmert hatte. Später hatte man Schröder angeboten, in seine alte Stellung zurückzukehren, doch dieser hatte abgelehnt, worauf Zorn auf dem verhassten Posten sitzengeblieben war. Er hatte alles versucht, Schröder umzustimmen, doch dieser war (ebenso wie Zorn) ein Dickkopf. Er selbst, hatte Schröder gesagt, werde entscheiden, ob und wann er die Leitung wieder übernehme. Zorns einzige Möglichkeit war, seine Drohungen (ich werde dir das Leben zur Hölle machen, verlass dich drauf!) wahr zu machen, jedenfalls in einem gewissen Rahmen. Heute Morgen zum Beispiel hatte er seinen Untergebenen in die Kantine geschickt, da ihn, wie er sich ausgedrückt hatte, nach etwas Süßem gelüste.

Schröder schloss die Schublade mit einem leisen Knall. Zorn seufzte pikiert ob der frechen Störung, blätterte geräuschvoll um und überflog einen Artikel, in dem über angebliche Mauscheleien beim Bau einer Brücke für die neue Westumfahrung der Autobahn spekuliert wurde.

Die letzten Monate waren ruhig verlaufen. Abgesehen von einer anonymen Morddrohung gegen den Intendanten des Opernhauses (die sich später als Racheakt eines betrunkenen Cellisten herausgestellt hatte), war kaum etwas zu tun gewesen. Was den phlegmatischen Claudius Zorn betraf, konnte das natürlich in alle Ewigkeit so bleiben, schließlich bedeutete dies auch, dass es im Endeffekt egal war, wer von ihnen beiden der Chef war. Mehr noch, Zorn hatte die Möglichkeit, die Sonnenseiten seiner Position zu genießen, musste keine Verantwortung übernehmen und konnte Schröder herumscheuchen, wie es ihm beliebte. Angesichts der Situation war das eigentlich nicht nötig, Zorn hatte alles, was er brauchte (seine Ruhe). Doch Claudius Zorn war nicht der Mensch, der eine einmal ausgestoßene Drohung einfach im Sande verlaufen ließ.

»Gab’s Zimtschnecken?«

Schröder hob den Kopf. »Wie meinen?«

»In der Kantine. Gab’s da Zimtschnecken?«

»Ich kann mich nicht erinnern«, sagte Schröder, nachdem er einen Moment nachgedacht hatte.

»Bist du so lieb und schaust nach?« Zorn ließ die Zeitung sinken. »Vielleicht findest du ja auch was anderes. Ohne Pflaumenmus.«

Schröders Augen verengten sich unmerklich. Er spielte das Spielchen mit, aus Zeitvertreib. Es gab Grenzen, das wusste Zorn. Ebenso war ihm bewusst, dass er sich auf dünnem Eis bewegte. Um nichts in der Welt hätte er Schröder wieder verlieren wollen, eher hätte er sich zwei weitere Finger abgehackt.

»Ach komm, Schröder. Ein bisschen Bewegung sollte dir nicht schaden.«

»Findest du?«

Schröder stand auf, strich das karierte Hemd über dem Bauch glatt. Er hatte abgenommen, fünf, wenn nicht sieben Kilo. Sicherlich, sein gutmütiges Gesicht war rund und rosig wie eh und je, doch das Doppelkinn war merklich zurückgegangen, der Gürtel der abgetragenen Cordhose mindestens zwei Löcher enger geschnallt. Kein Wunder, schließlich kam Schröder seit ein paar Monaten jeden Morgen ins Präsidium geradelt, auf einem nagelneuen, rosafarbenen Rennrad, das er sich zugelegt hatte, nachdem seine geliebte Schwalbe im letzten Winter endgültig den Geist aufgegeben hatte.

Schröder sah gut aus, fand Zorn, doch er würde den Teufel tun, dies zuzugeben. Komplimente bekam Schröder von Frieda und das, fand Zorn, musste reichen.

»Ja«, nickte Zorn, der seinem fünfzigsten Geburtstag entgegensah und mittlerweile froh war, wenn er die zwanzig Meter über den Parkplatz zu seinem Volvo ohne einen Herzanfall überstand. »Finde ich.«

Schröder sah Zorn stirnrunzelnd an.

»Ich würde ja selbst gehen.« Zorn richtete sich auf, streckte theatralisch den Rücken. »Aber ich muss mich schonen. Der Umzug steckt mir immer noch in den Knochen, eine ätzende Plackerei.«

Eine schamlose Lüge, die wie immer locker die Lippen des Hauptkommissars verließ. Er wohnte jetzt seit einer knappen Woche mit Frieda zusammen, den Umzug hatte Frieda organisiert und ein Transportunternehmen angeheuert. Das Schwerste, was Zorn persönlich getragen hatte, war eine Kiste mit den Legosteinen seines kleinen Sohnes gewesen.

Zorn schlug Schröder vor, das Treppenhaus hinunter in die Kantine zu nehmen, dozierte über die Kalorien, die er dabei verbrennen würde und den Muskelaufbau, der gerade für Männer in Schröders Alter besonders wichtig sei.

»Nichts gegen dich, Schröder, aber ein übergewichtiger Körper hat besonders hohe Fettanteile, und die … was ist denn?«

Schröder war plötzlich aufgesprungen, hatte den Papierkorb neben dem Garderobenständer gegriffen, stellte ihn vor Zorn auf den Boden und musterte seinen verdutzten Vorgesetzten mit besorgter Miene.

»Vorsichtsmaßnahme. Falls du dich übergeben musst, Chef.«

Erst jetzt wurde Zorn bewusst, dass er die letzten Worte kauend hervorgebracht hatte und registrierte den Berliner in seiner verstümmelten Hand, den er, in seine medizinischen Ausführungen vertieft, bereits halb aufgegessen hatte.

»Du brauchst frische Luft.« Schröder riss das Fenster auf. »Wir dürfen deine Abneigung gegen Pflaumenmus nicht unterschätzen. Ein Signal deines Körpers und deutliches Zeichen einer Unverträglichkeit.« Er nahm eine Akte vom Schreibtisch, ging vor Zorn in die Hocke und fächelte ihm Luft zu. »Wie fühlst du dich?«

»Lass den Quatsch, Schröder, ich …«

»Du bist ganz blass! Herrje!« Schröder riss entsetzt die Augen auf. »Und Schaum vorm Mund hast du auch! Das ist ein … anaphylaktischer Schock! Nein«, korrigierte er sich dann, »kein Schaum, das ist Puderzucker, aber wir sollten trotzdem den Notarzt rufen, findest du nicht?«

Nun, das fand Claudius Zorn ganz und gar nicht. Er murmelte verlegen, dass es sich überhaupt nicht um Pflaumenmus, sondern um etwas anderes handele (was gelogen war), Himbeergelee vielleicht (nächste Lüge), das eigentlich gar nicht so übel sei (Lüge Nummer drei), vertilgte den Berliner unter Schröders argwöhnischen Augen und stellte wieder einmal fest, dass es sinnlos war, sich mit Schröder messen zu wollen. Er, Claudius Zorn, war diesem kleinen Mann in allen, wirklich allen Belangen hoffnungslos unterlegen.

Drei

»Willst du noch Wein?«

Frieda nickte, also goss Zorn nach. Seit sechs Tagen wohnten sie jetzt zusammen, doch es war der erste Abend, den sie gemeinsam auf dem neuen Ledersofa verbrachten. Frieda war mit ihrem Prozess beschäftigt, dem ersten, bei dem sie als frischgebackene Oberstaatsanwältin die Anklage führte. Wenn sie die Wohnung um halb sieben Uhr morgens verließ, lag Zorn noch in seligem Schlummer, und wenn sie am späten Abend nach Hause kam, war sie zu erschöpft, um mehr als ein paar zusammenhängende Sätze hervorzubringen.

Auch jetzt sah sie müde aus. Sie hockte mit angewinkelten Beinen auf dem Sofa, ein Handtuch um das noch feuchte Haar geschlungen. Nachdem sie sich abgeschminkt hatte, waren die dunklen Ringe um ihre Augen unübersehbar, doch sie sah schön aus, fand Zorn, in ihrem leicht abgeschabten Frotteebademantel gefiel sie ihm weit besser als in einem ihrer Businesskostüme (was er ihr bisher allerdings wohlweislich verschwiegen hatte).

Sie nippte an ihrem Wein, fragte, wie es im Präsidium gewesen sei. Wie immer in letzter Zeit, erwiderte Zorn wahrheitsgemäß, langweilig. Er stellte keine Gegenfrage. Zum einen, weil er überzeugt war, dass sie tagsüber mehr als genug mit ihrer Arbeit zu tun hatte. Zum anderen wusste er, womit sie sich beschäftigte.

Er selbst hatte vor Jahren mit Schröder in einer Mordserie ermittelt. Damals war eine Gruppe Teenager nach und nach regelrecht abgeschlachtet worden. Alle waren als Kinder missbraucht worden, auch der Mörder, der, selbst fast noch ein Kind, zum Schluss vor ihren Augen vom Dach eines Hochhauses gesprungen war. Der Fall hatte Zorn gehörig aus der Bahn geworfen, doch diesmal, fand er, war es schlimmer, denn es ging nicht um Opfer, sondern um Täter.

Ein Kinderpornoring. Die Hauptangeklagten waren zwei Brüder, einer hatte die Filme aufgenommen, der andere eine Plattform im Darknet betrieben. Die beiden schwiegen beharrlich, und so war man ausschließlich auf Indizien angewiesen, auf Chatverläufe, Zeugenaussagen und natürlich auf die Filme selbst, von denen hunderte, wenn nicht tausende sichergestellt worden waren. Zorn war damals nicht in der Lage gewesen, sich etwas davon anzusehen, auch Schröder hatte sich geweigert (aus gutem Grund, wie sich später herausstellte), doch das, was Zorn damals mitbekommen hatte, verfolgte ihn bis heute.

Er fragte, ob sie etwas Musik hören wolle.

Sie schüttelte den Kopf. »Lass uns einfach hier sitzen. Nur kurz, okay?«

Zorn betrachtete ihre schmale, müde Gestalt und fragte sich, wie sie das alles schaffte. Der Fall war zu groß, zu spektakulär, als dass man die lokale Polizei einbezogen hätte, der stellvertretende Bundesjustizminister persönlich hatte eine Sondereinheit des Bundeskriminalamtes mit den Ermittlungen betraut. Was gut war, sehr gut sogar, jedenfalls für den sensiblen Claudius Zorn, der das alles nur aus der Ferne betrachten musste, gleichzeitig aber ein schlechtes Gewissen hatte.

»Irgendwie ist das ungerecht«, sagte er. »Ich meine, du wühlst den ganzen Tag in diesem … Dreck, und was mache ich? Ich drehe Däumchen.« Er hob die gesunde Hand, bewegte den Daumen. »So’n Quatsch, geht ja gar nicht. Ich hab ja nur noch einen.«

Frieda lächelte. Ein müdes Lächeln, passend zu einem müden Scherz.

»Die Bücher.« Sie seufzte, bedachte die Umzugskisten neben der Balkontür mit einem lustlosen Blick. »Die wollte ich noch auspacken.«

»Das machen wir morgen.«

»Und die Gardinen in Edgars Kinderzimmer, die …«

»… hab ich vorhin aufgehängt.«

»Ach.«

»Sein Regal hab ich auch eingeräumt«, fügte Zorn stolz hinzu. »Und ’ne neue Lampe gekauft, die hängen wir über sein Bett. Spiderman, er wird ausflippen.«

»Du bist so … fleißig.«

»Das bin ich«, nickte er ernst.

Frieda unterdrückte ein Gähnen, leerte ihr Weinglas. Er deutete fragend auf die halbvolle Flasche. Sie lehnte kopfschüttelnd ab, also nahm er ihr Glas, stellte es auf den Tisch, legte einen Arm um ihre Schulter und zog sie an sich.

»Dieser Kadelberg«, murmelte sie, »ist ein verdammtes Arschloch.«

Zorn wusste, von wem sie sprach, dem Verteidiger eines der Angeklagten. In der Presse wurde ausführlich über den Prozess berichtet, selbst im Spiegel war ein Artikel über den mit allen Wassern gewaschenen Staranwalt aus der Hauptstadt erschienen, der das Gericht mit immer neuen Beweisanträgen bombardierte, um den Prozess so weit wie möglich in die Länge zu ziehen. Der Sinn hinter dem Ganzen war klar: Je komplizierter eine Verhandlung wurde, desto wahrscheinlicher war ein Verfahrensfehler, und dann würde der Prozess neu aufgerollt werden müssen.

»Gestern hat er einen Befangenheitsantrag gegen die Richterin gestellt.« Sie rückte näher, kuschelte sich an ihn. »Die Verhandlung ist unterbrochen worden, ich musste eine Zeugin nach Hause schicken. Und heute …«, ein weiteres, herzhaftes Gähnen, »ist sie nicht erschienen. Ich stand da wie ’ne Bekloppte. Du hättest sein Gesicht sehen sollen. Dieses Grinsen. Am liebsten hätte ich ihm in seine parfümierte Fresse gehauen.«

»Na, na, na.« Zorn tätschelte ihre Schulter. »Nicht so vulgär, Frau Staatsanwältin.«

»Oberstaatsanwältin, wenn ich bitten darf.«

Friedas Stimme wurde schwer. Zorn konnte ihr Gesicht nicht sehen, doch er spürte, wie ihr die Augen zufielen.

»Ich muss aufpassen«, murmelte sie. »Ich bin jung.«

»Das bist du«, nickte Zorn, ohne den geringsten Schimmer zu haben, was sie meinte. »Sehr jung.«

»Ich bin ’ne Frau.«

»Allerdings.«

»Die warten nur darauf, dass ich Mist baue.«

Jetzt dämmerte Zorn, dass Frieda noch immer vom Prozess sprach, wen genau sie mit die meinte, war ihm allerdings nicht klar. Den gegnerischen Anwalt womöglich, vielleicht auch die Presse oder missgünstige Kollegen. Es stimmte, Frieda war jung, sie war eine Frau (wunderschön, wie Zorn fand), und es war davon auszugehen, dass angesichts ihrer steilen Karriere nicht jeder ihr den Erfolg gönnte. Was Zorn betraf, war das nur schwer nachvollziehbar, ihm selbst war sein beruflicher Aufstieg herzlich egal, doch Missgunst, hatte er in seinem nun fast fünf Jahrzehnte dauernden Leben erkannt, war Teil der menschlichen Natur. (Niemand, hatte Schröder einmal gesagt, kann sich dagegen wehren. Neid gehört zu uns, wie Ananas auf eine Pizza Hawaii. Wir Menschen sind nun einmal so, ob es uns gefällt oder nicht.)

»Du kriegst das hin, Frieda.«

»Klar«, nuschelte sie. »Klar krieg ich das hin.«

Ihre Finger schlossen sich um seine verstümmelte Hand. Er lauschte ihrem ruhiger werdenden Atem und dem leisen Verkehrsrauschen, das durch die gekippte Balkontür hereindrang. Irgendwo im Haus gegenüber wurde ein Fenster geöffnet, die Titelmelodie der Tagesthemen wehte heran.

Tja, dachte er. Da bin ich also, in meinem neuen Zuhause.

Eigentlich hatte er nicht mehr damit gerechnet gehabt, jemals mit Frieda zusammenzuziehen. Sicherlich, er hatte es sich gewünscht, doch es war eine unkonkrete, nebelhafte Vorstellung gewesen, wie damals, als er als Sechsjähriger seine erste Lassie-Folge gesehen hatte und alles, wirklich alles dafür gegeben hätte, einen Hund (einen Collie natürlich) zu bekommen. Die Konsequenzen hatten ihn nicht interessiert (wie auch?, er war ein Kind, wollte einfach nur diesen Hund), und auch über ein gemeinsames Leben mit Frieda hatte er bisher nicht weiter nachgedacht. Er hatte es sich einfach nur gewünscht, und nachdem er es ein paarmal zaghaft (sehr zaghaft) angesprochen und keine Reaktion erhalten hatte, da hatte er sich damit abgefunden gehabt. Bis Frieda vor drei Monaten eher beiläufig verkündet hatte, eine passende Wohnung gefunden zu haben: sanierter Altbau, Balkon, achtundneunzig Quadratmeter, direkt am Fluss, trotzdem nur einen Katzensprung vom Marktplatz entfernt. Vergleichsweise teuer, doch zwei Beamte in ihren Gehaltsklassen (unkündbar und mit Pensionsanspruch) waren der Traum eines jeden Vermieters, und knapp tausend Euro Kaltmiete waren ein Klacks.

Kurz waren die Zweifel gekommen (schließlich hatte sich der Traum von einem Hund schnell als naives, kindliches Wunschdenken entpuppt, und allein der Gedanke, mit einem hechelnden, sabbernden Vierbeiner zweimal täglich Gassi gehen zu müssen, erschien mittlerweile mehr als absurd), doch dafür war keine Zeit gewesen. Sie hatten sich schnell entscheiden müssen und ehe Zorn sich’s versah, war der Mietvertrag unterschrieben.

Frieda zuckte im Schlaf. Behutsam löste er das Handtuch von ihrem Kopf, ließ es neben dem Sofa zu Boden sinken. Er mochte das auf Hochglanz polierte Eichenparkett nicht besonders, es knarrte bei jedem Schritt, ebenso wie die hohen, mit Schnitzereien verzierten Zimmertüren. Den Stuck an den Decken fand er ziemlich kitschig, das marmorgeflieste Bad mit den blitzenden Armaturen und der freistehenden Wanne war ihm schon bei der Besichtigung zu protzig gewesen, doch er hatte nicht viel gesagt. Begeisterung hatte er nicht vorgetäuscht (das hätte Frieda sofort misstrauisch gemacht), also hatte er kurz über den fehlenden Fahrstuhl genörgelt und dann erklärt, dass die Wohnung ganz nett sei: Groß genug, dass sie einander aus dem Weg gehen konnten, ein Zimmer für Edgar gab es auch, wenn er bei seinem Vater übernachtete, und Zorn hatte einen Balkon, auf dem er rauchen konnte. Das alles stimmte, doch im Endeffekt war es egal. Zorn wäre auf einen Zeltplatz oder unter die nächste Brücke gezogen, solange er mit Frieda zusammen war (was er, wie vieles andere auch, natürlich niemals zugegeben hätte).

Er spürte ihren warmen Atem am Bauch. Ihr Haar, noch immer feucht, kitzelte an seinem Kinn. Irgendwann, überlegte er, würde der Farbgeruch verschwunden, die Kisten ausgeräumt, die Wäsche in den Schränken verteilt und die Bilder, die überall an den Wänden lehnten, aufgehängt sein. Friedas Bilder, genauer gesagt. Zorn selbst hatte keine besessen, ausgenommen ein Pixies-Poster, das er im Flur seiner kleinen Wohnung mit Reißzwecken befestigt hatte. Das Poster, hatte Frieda kurz nach dem Einzug erklärt, würde sich hervorragend in der Küche machen, allerdings erst, nachdem es gerahmt sei.

Sie begann, leise zu schnarchen.

Und? Bin ich jetzt glücklich?

Das bin ich, entschied Zorn. Schließlich hab ich alles, was ich wollte. Ich sitze hier auf einem großen, nagelneuen Ledersofa, die Farbe gefällt mir zwar nicht, aber Frieda hat gemeint, dass macchiatofarben hervorragend zum Parkett passt. Ja, ich will nirgendwo anders sein als hier, mit dieser schnarchenden Frau auf dem Schoß, die mir allmählich den Bauch vollsabbert. Bald wird Edgar hier rumtoben, Schröder wird uns besuchen. Was will ich mehr?

So saß er noch eine Weile da, bis auch er irgendwann eindöste. Weit nach Mitternacht wachte er auf, trug Frieda ins Schlafzimmer, und als er sie behutsam ins Bett legte, murmelte sie in ihr Kissen, dass sie diesem geschniegelten Anwaltsheini zeigen würde, wo der Hammer hänge. Zorn deckte sie zu, strich das Laken glatt und gab ihr einen Kuss, so, wie er’s immer bei Edgar tat.

»Träum schön.«

Das tat sie nicht. Frieda redete im Schlaf, warf sich unruhig von einer Seite auf die andere, und als er am nächsten Morgen erwachte, war sie schon gegangen.

Vier

Punkt sieben Uhr betrat Frieda das Landgericht. Die majestätischen Schläge des Glockenspiels wehten vom Marktplatz herüber, sie grüßte den verschlafenen Beamten an der Sicherheitsschleuse mit einem freundlichen Nicken und lief über die Treppe hinauf ins Obergeschoss. Sie hatte keinen Blick für die prunkvollen Säulen, die geschmiedeten Geländer und das Morgenlicht, das durch die bunten Bleiglasfenster schräg in die Halle fiel. In Gedanken war sie mit dem Prozess beschäftigt, abgesehen davon hielt sie nicht viel von all dem Stuck, dem Gold und den Farben, die den Eindruck erweckten, als wäre dieses Justizgebäude vor über hundert Jahren nicht von einem Architekten, sondern einem bekifften Zuckerbäcker entworfen worden.

Die nächsten anderthalb Stunden verbrachte sie in dem Büro, das man ihr für die Dauer des Prozesses für ihre Vorbereitungen zugewiesen hatte, einem kleinen, vergleichsweise spartanisch eingerichteten Raum, der kaum Platz für den Schreibtisch, einen schiefstehenden Garderobenständer und den gepolsterten Bürosessel bot. Wie jeden Morgen ging sie den Verhandlungstag in Gedanken durch, las Gutachten, Protokolle, Berichte, obwohl sie die Akten oft genug durchgesehen hatte, manche davon kannte sie auswendig. Doch das, was sie am Vorabend im Halbschlaf zu Zorn gesagt hatte (ich darf keinen Mist bauen), war ihr Ernst gewesen, und Voraussetzung dafür war, dass sie sich jedes noch so kleinste Detail genau einprägte, um es bei Bedarf abrufen zu können.

Die Sonne stieg höher, die Luft wurde stickig unter dem Dach des protzigen Baus, und als sie das Büro verließ, kündigte ein leichtes Pochen zwischen den Schläfen aufkommende Kopfschmerzen an. Sie ging eine Etage tiefer, wollte in den Flur zum Verhandlungssaal abbiegen und wurde angesprochen.

»Guten Morgen, Frau Kollegin.«

Kadelberg, der Verteidiger eines der beiden Angeklagten, stand neben einer Säule. Ebenso wie Frieda hielt er seine gefaltete Robe über dem angewinkelten Arm, in der freien Hand trug er eine prall gefüllte Ledertasche. Ein Mann in den Fünfzigern, der für Friedas Geschmack eindeutig zu viel Wert auf sein Äußeres legte: Der Maßanzug saß perfekt, das kurze eisgraue Haar war leicht gegelt, die Lederslipper glänzten, selbst die Krawattennadel schien frisch poliert.

Frieda mochte den Anwalt nicht, die Bemerkung, dass er ein Arschloch sei, war durchaus ernst gemeint gewesen. Das ließ sie sich natürlich nicht anmerken, schließlich lag sie nicht im Frotteebademantel auf dem Sofa, sondern stand hier im Landgericht, dezent geschminkt, in grauem Hosenanzug und hochgeschlossener Bluse, wie es sich für eine Oberstaatsanwältin gehörte.

Sie erwiderte den Gruß, knapp, ein wenig kühl. Ihre Abneigung, das war ihr bewusst, war rein persönlicher Natur. Kadelberg war ein eingebildeter Pfau, seine herablassende, arrogante Art ging ihr gehörig auf die Nerven, doch er tat hier seinen Job. Jeder Mörder, jeder Vergewaltiger, selbst ein Kinderschänder hatte das Recht auf einen fairen Prozess. Die Presse hatte Kadelbergs Mandanten als skrupelloses Monster bezeichnet. Das mochte stimmen, doch seine Aufgabe war, die Interessen dieses Monsters zu vertreten. Und das, musste Frieda zugeben, tat er hervorragend.

»Vielleicht«, fragte Kadelberg in sanftem Bariton, »hätten Sie heute Nachmittag Zeit für einen Kaffee?«

Sein Lächeln entblößte zwei Zahnreihen, die ein wenig zu weiß, zu gleichmäßig waren, um echt zu sein. Frieda hörte in ihrem Hinterkopf leise Alarmglocken läuten, während sie blitzschnell darüber nachdachte, was Kadelberg mit seiner Einladung wohl im Schilde führte.

Die Angeklagten schwiegen bisher. Das war ihr gutes Recht, und sie taten es, weil ihre Anwälte ihnen dazu geraten hatten. Der jüngere der beiden Brüder war selbst auf einigen der Filme zu sehen, der ältere, Kadelbergs Mandant, hatte sich im Hintergrund gehalten, doch auch gegen ihn war die Beweislage klar. Man hatte seine Spuren im Darknet akribisch verfolgt, das System, mit dem er Kontakt zu den Kunden (Friedas Verstand wehrte sich gegen den Begriff, doch ein anderer fiel ihr nicht ein) gehalten und die Zahlungen organisiert hatte, offengelegt. Es gab abgehörte Telefonate, Chatprotokolle, Beweise, dass er die Ausrüstung im Internet besorgt hatte.

»Beim Italiener am Markt? Fünfzehn Uhr, würde das passen?« Kadelbergs Lächeln wurde breiter. »Ich würde Sie natürlich gern einladen, aber das könnte als Bestechungsversuch gewertet werden.«

Das war ein billiger Scherz, doch das Läuten in Friedas Kopf wurde lauter. Was wollte Kadelberg? Einen Deal?

»Wird Ihr Mandant aussagen?«

»Nein.«

Mehr hatte Kadelberg nicht zu bieten. Man vermutete, dass hinter den Brüdern eine weitaus größere Organisation stecken musste, nach Einschätzung der Ermittler waren die beiden zwar skrupellos, aber nicht clever genug, ein solches Netzwerk aufzubauen. Doch Beweise gab es dafür nicht.

»Dann«, Frieda raffte die Robe unter dem Arm, »sehe ich keinen Grund für ein Treffen.«

»Vielleicht ein anderes Mal.«

Frieda, die sich bereits zum Gehen gewandt hatte, antwortete nicht. Das Läuten hatte sich zu einem dissonanten Schrillen verstärkt, das Pochen zwischen den Schläfen war einem dumpfen Wummern gewichen. Die Kopfschmerzen näherten sich, unaufhaltsam wie ein heranrasender D-Zug. Sie massierte im Laufen die Schläfen, überlegte weiter, was Kadelberg bezweckte, ohne zu einem Ergebnis zu kommen.

Die Tür zum Verhandlungssaal war noch geschlossen. Erleichtert registrierte Frieda, dass weder der hartnäckige Reporter noch der Fotograf im Flur warteten. Nur die beiden Polizisten saßen wie immer auf ihren Stühlen. Die junge Frau murmelte eine lautlose Begrüßung, ihr Kollege stand auf, strich verlegen das Uniformhemd glatt.

»Guten Morgen, Frau Borck.«

Frieda erwiderte den Gruß, freundlich, doch distanziert. Sie kannte den jungen Mann, erst vor zwei Wochen hatten sie gemeinsam auf Schröders Terrasse gesessen. Hendryk Vaatz hatte seine letzte Prüfung im Frühjahr bestanden, er war einer von Schröders Lieblingsschülern gewesen. Vor einem Jahr noch hatte er seine Ausbildung abbrechen wollen, nachdem er erst die Leiche seiner ermordeten Mutter gefunden und später mit angesehen hatte, wie sein Vater bei lebendigem Leibe verbrannte. Schröder hatte ihn schließlich überredet weiterzumachen. Wie genau er das angestellt hatte, war Frieda nicht klar, doch im Gegensatz zu Schröders Körpergröße war seine Überzeugungskraft gewaltig.

»Geht es Ihnen gut, Hendryk?«

Sie siezten einander. Hier, in den verzweigten Fluren des Landesgerichts war ihr Verhältnis ein anderes: Auf der einen Seite eine Oberstaatsanwältin, die (mit mittlerweile rasenden Kopfschmerzen) auf dem Weg zu einem weiteren, zermürbenden Verhandlungstag war; auf der anderen Seite ein junger Polizist, den seine Vorgesetzten zur Überwachung eines Prozesses abgestellt hatten.

Hendryk nickte, noch immer ein wenig verlegen. Frieda warf einen Blick auf die gusseiserne, verschnörkelte Wanduhr über der Saaltür und stellte fest, dass sie noch ein paar Minuten Zeit hatte.

»Halten Sie das mal bitte.«

Sie drückte Hendryk ihre Robe in die Hand und lief in Richtung Toiletten. Kurz, bevor sie um die Ecke bog, kam ihr erneut Kadelberg entgegen, mit zügigen, federnden Schritten. Er nickte ihr wortlos zu, ein feines Lächeln spielte um seine schmalen Lippen. Die Toilettentür fiel hinter Frieda ins Schloss, die schwere Tasche landete mit einem dumpfen Aufprall auf den Fliesen, sie ging zum Waschbecken, öffnete den Hahn, wartete einen Moment und ließ das kalte Wasser über die Handgelenke laufen.

Ich darf keinen Mist bauen.

Vielleicht, überlegte sie, hatte Kadelberg ja doch etwas zu bieten. Abgesehen von den Hintermännern musste es noch eine dritte Person geben, jemanden, der ihnen die Kinder zugeführt hatte. War das die Information? Aber es war klar, was Kadelberg dann erwarten würde. Strafminderung.

Frieda ging in die Hocke, kramte ihre Tabletten aus der Tasche. Drückte erst eine, dann eine weitere aus der Packung und spülte sie hinunter, indem sie das Wasser aus den gewölbten Händen trank.

Der jüngere der beiden Angeklagten war pädophil. Sein Handeln war zumindest nachvollziehbar, er war seinen Trieben gefolgt, so krank diese auch sein mochten. Der ältere hingegen war laut Gutachten ein kühl kalkulierender, rational denkender Mensch. Kadelbergs Mandant war keinem Verlangen gefolgt, gegen das er sich nicht hatte wehren können, sondern etwas anderem. Seiner Gier.

Frieda richtete sich auf, drehte das Wasser ab.

Nein. Kein Deal. Keine Absprachen.

Sie hatte die Höchststrafe gefordert, danach lebenslange Sicherungsverwahrung. Alles, was im Rahmen der Gesetze möglich war. Dabei würde es bleiben.

Die Kinder, die sie auf den Filmen identifiziert hatten (bisher waren es zwölf, doch das war erst der Anfang), würde sie nicht vorladen. Das jüngste war ein vierjähriges Mädchen, alle waren in psychologischer Betreuung, doch Frieda war fest entschlossen, ihnen eine Aussage vor Gericht zu ersparen. Und Kunden, die das Material (zwei aus der Not geborene, trotzdem unpassende Begriffe) gekauft und teilweise weiter vertrieben hatten, würden in einem gesonderten Prozess angeklagt werden.

Blieben die Hintermänner. Falls es sie gab.

Doch es war nicht Friedas Aufgabe, das herauszufinden.

Sie musterte ihr Spiegelbild über dem Waschbecken. Die Falten zwischen Nasenflügeln und Mundwinkeln waren in den letzten Monaten tiefer geworden. Wenn sie die Augen zusammenkniff, waren die Krähenfüße nicht zu übersehen. Trotzdem wirkte Frieda deutlich jünger als sechsunddreißig, was wohl auch an ihrem Haarschnitt lag. Sie war beim Friseur gewesen, trug das Haar jetzt kürzer als Claudius. Er mochte den Bubikopf (wie er es nannte), doch vor allem sparte es Zeit, wenn sie morgens im Bad war. Ein paar Striche mit der Bürste und die Frisur war fertig.

Sie zog ein Papierhandtuch aus dem Spender, trocknete die Hände. Bückte sich nach ihrer Tasche, zögerte. Eigentlich musste sie nicht auf die Toilette, doch es konnte Stunden dauern, bis sie die nächste Gelegenheit bekam.

Es gab acht Zellen in dem weiß gefliesten Raum. Automatisch wandte sie sich der linken, am weitesten von der Tür entfernten, zu. Diese war besetzt, also öffnete Frieda die Nachbarzelle, hielt stirnrunzelnd inne.

Sie hatte das deutliche Gefühl gehabt, allein zu sein, und sie konnte sich nicht erinnern, auch nur das geringste Geräusch gehört zu haben. Das musste allerdings nichts bedeuten, schließlich war sie kaum länger als eine Minute hier. Als sie die Tür hinter sich zuzog, fiel ihr ein, dass die Toilette neben ihr auch gestern schon besetzt gewesen war, aus irgendeinem Instinkt heraus hatte sie sich auch da schon für die äußere entschieden.

Frieda dachte nicht weiter darüber nach. Die Sanitärräume hier oben wurden zwar selten frequentiert, doch es war wohl kaum verwunderlich, eine Toilette in einem öffentlichen Gebäude mehrmals versperrt vorzufinden.

Als sie sich kurz darauf zum zweiten Mal die Hände wusch, kam Hendryks Kollegin herein. Frieda sah im Spiegel, wie die Polizistin hinter ihr vorbeiging, und überlegte kurz, dass die unscheinbare junge Frau durchaus attraktiv wirken könnte, mit etwas Schminke vielleicht, und – wichtiger noch – ohne die schlecht geschnittene Uniform.

Eine Tür wurde geöffnet, fiel klappernd wieder zu. Frieda wandte sich um und bemerkte, dass Hendryks Kollegin nicht die linke, sondern die ganz rechts gelegene Zelle gewählt hatte.

Tja, dachte Oberstaatsanwältin Borck, jeder Mensch entscheidet sich anders.

Sie verließ die Damentoilette, registrierte erleichtert, dass die Kopfschmerzen bereits nachließen, und als die schwere Eichentür des Verhandlungssaals donnernd hinter ihr ins Schloss fiel, waren ihre Gedanken klar und auf ein einziges Ziel fokussiert:

Ich darf keinen Mist bauen.

Fünf

Claudius Zorn hockte hinter dem Schreibtisch und langweilte sich. Der Morgen war sonnig gewesen, ein weiterer strahlender Sommertag hatte sich angekündigt, doch jetzt, kurz nach Mittag, herrschte eintöniges Grau vor dem Bürofenster, passend zu Zorns lethargischer Stimmung. Das, hatte Schröder vor einer dreiviertel Stunde gesagt, sei hervorragend, ein wenig Regen könne dem Garten nicht schaden. Klar, hatte Zorn abwesend erwidert, ein bisschen Regen wäre bestimmt gut. Für den Rasen. Und die Blumen. Und das andere Zeug, was da so wuchs.

Seitdem saßen sie schweigend vor ihren Rechnern. Zorn starrte aus leeren Augen auf das sternförmige Polizeilogo, das als Bildschirmschoner im Zeitlupentempo über den Monitor wanderte, während Schröder mit einschläfernder Monotonie seine Tastatur bearbeitete. Natürlich, der hatte immer etwas zu tun, Schröder langweilte sich nie. Zorn lauschte dem leisen Klappern, bis es plötzlich verstummte.

»Was hältst du von einem Spiel, Chef?«

»Von mir aus.« Zorn zuckte die Achseln. »Was schwebt dir denn vor? Halma?«

»Nein.« Schröder schüttelte den kahlen Kopf. »Ich dachte …«

»Stimmt, das ist Blödsinn. Wir haben weder Hütchen noch ein Brett. Und Würfel haben wir auch nicht.«

»Halma wird ohne Würfel gespielt.«

»Wie wär’s dann mit … blinde Kuh?«

Schröder setzte zu einer Erwiderung an.

»Nee.« Zorn ließ ihn nicht zu Wort kommen. »Bei aller Liebe, Schröder, was ist, wenn jemand hier reinkommt und uns erwischt? Dir kann das ja egal sein, aber ich als dein Vorgesetzter bin schließlich ’ne Respektsperson und hab keine Lust, mich hier zum Horst zu machen. Abgesehen davon müssen wir an dein Grünzeug denken.« Er deutete zum Fensterbrett, wo sich neben der Kaffeemaschine Schröders Topfpflanzen reihten. »Nicht, dass einer von uns deine Geranien umschubst.«

»Hier gibt’s keine Geranien«, verkündete Schröder leicht pikiert. »Links stehen Gladiolen, daneben eine Begonie. Das mit den weißen Blüten ist eine Kapländische Zimmerlinde und ganz rechts …«

»Ich hab’s!« Zorns Augen weiteten sich hinter der Brille. »Wir spielen …«, er ließ eine bedeutungsvolle Pause einfließen, »Ich sehe was, was du nicht siehst!«

Schröder musterte seinen Vorgesetzten ausdruckslos über den Schreibtisch. Dieser sah sich bereits suchend im Büro um.

»Hm.« Zorn kratzte sich mit dem Daumenstummel am Kinn. »Ich sehe was, was du nicht siehst«, murmelte er, »und das ist …«

Pause.

»Rot.«

Sie sahen sich an.

»Kleiner Tipp, der Hibiskus ist es nicht«, sagte Zorn.

»Begonie«, korrigierte Schröder knapp.

Ein paar Sekunden vergingen.

»Kommst du nie drauf, Schröder. Nie im Leben.«

Schweigend verschränkte Schröder die Arme vor dem karierten Hemd.

»Ich hab nämlich ’nen Trick«, grinste Zorn. »Ich gucke niemals in die Richtung, wo ich mir was ausgesucht habe. Dann würdest du’s nämlich an meinen Augen erkennen. Nee, nee, Freundchen.« Er tippte sich an die Schläfe. »Das mache ich alles aus dem Gedächtnis.«

»Aha.«

»Und?«

Schröder antwortete nicht.

»Na gut.« Zorn sank gönnerhaft in den Sessel. »Ich verrat’s dir. Es ist …«

»Das ist albern, Chef.«

»Wie jetzt?« Zorn runzelte die Stirn. »Du wolltest doch unbedingt spielen! Klar ist das albern, aber es war deine Idee! Das hat man also davon«, murmelte er kopfschüttelnd und zog beleidigt eine Schublade auf, »man tut dem Personal einen Gefallen, und was ist der Dank? Man wird beschimpft. Nur, weil man eine lockere Arbeitsatmosphäre schaffen will.«

»Ich meinte, nach Feierabend.«

»Ach.« Zorn hob den Kopf. »Und was wollte der feine Herr nach Feierabend spielen?«

»Skat.«

»Wo?«

»Bei mir. Auf der Terrasse.«

Es dauerte einen Moment, bis Zorn die Information verdaut hatte.

»Ich hab das jahrelang nicht gespielt«, sagte er dann. »Aber wenn ich mich richtig erinnere, spielt man Skat zu dritt. Frieda müssen wir nicht fragen, die hasst Kartenspiele. Abgesehen davon wird sie nicht vor neun nach Hause kommen.«

»Es war Hendryks Idee. Er hat gefragt …«

Schröders Handy vibrierte.

»Guck an«, murmelte er, nachdem er den Namen des Anrufers vom Display abgelesen hatte, »wenn man vom Teufel spricht.«

Das Telefonat war kurz.

»Hendryk möchte jemanden mitbringen«, beschied Schröder dann. »Skatrunde fällt also aus.«

»Schade«, sagte Zorn und hoffte, dass ihm die Erleichterung nicht anzusehen war. Schließlich war er ein schlechter, ein sehr schlechter Verlierer, und beim Skatspiel, soviel war klar, war eine krachende Niederlage unvermeidbar, schon beim Reizen hätte Zorn kleinlaut zugeben müssen, dass er längst vergessen hatte, wie das Spiel funktionierte.

Sie widmeten sich wieder ihren Computern. Erneut vertiefte sich Zorn in das einschläfernde auf und ab, mit dem das Polizeilogo über seinen Monitor wanderte, bis er nach ein paar Minuten registrierte, dass Schröders Tastatur wieder verstummt war. Das Gefühl, beobachtet zu werden, stellte sich ein, verstärkte sich, und als er den Kopf hob, bemerkte er, dass Schröder ihn ansah.

»Sie ist nicht rot, Chef.«

»Wer«, fragte Zorn, »ist nicht rot?«

»Meine Glatze.« Schröder strich mit der flachen Hand über den rasierten Schädel. »Rosa vielleicht, aber nicht rot. Der Sinn von Ich sehe was, was du nicht siehst besteht darin, etwas zu erraten, und zwar auf Grundlage eines einzigen Hinweises. Wenn dieser Hinweis inkorrekt ist, wird das Spiel ad absurdum geführt.«

»Ach.« Zorn richtete sich auf. »Woher willst du wissen, dass ich …«

»Deine Bemerkung«, unterbrach Schröder, »dass man sich durch seine Blicke verrät, war vollkommen richtig. Du hast dir solche Mühe gegeben, nicht hinzugucken, dass selbst Edgar sofort drauf gekommen wäre.«

»Klar doch.« Zorn schob das Kinn vor. »Mister Superschlau weiß natürlich wieder ganz genau Bescheid! Und was ist, wenn ich was anderes hatte?«

»Und was?«

»Na …«

Zorns Blick flackerte hektisch durch das Büro. Zunächst zum Regal hinter Schröder: weiß. Die Rücken der Aktenordner: grau. Der Kugelschreiber in Schröders pummeligen Fingern: blau. Seine Teedose auf dem Fensterbrett: grünes Emaille und Messing. Seine Gießkanne: orange. Weiter zur Kaffeemaschine: grau. Ha! Der Knopf! Nee. Durchsichtiges Plastik, nur rot, wenn er eingeschaltet wurde. Dann also …

»Die Begonie«, lächelte Schröder, »hattest du ausgeschlossen.«

»Die meinte ich gar nicht!«

»Stimmt. Weil du meine Glatze gemeint hast.«

»Hab ich nicht!«

»Und die ist rosa.«

»Vorhin war sie aber noch rot!«

Zorn, der halb aufgesprungen war, sank ertappt zurück in seinen Stuhl.

»Ich«, erklärte Schröder spitz, »sehe jetzt übrigens auch was, was du nicht siehst. Dein Gesicht, Chef. Das ist nicht nur rot, sondern knallrot, wenn die Bemerkung gestattet ist.«

Zorns Reaktion bestand darin, Schröder mit eisigem Schweigen zu strafen. Dies hielt er immerhin eine knappe halbe Stunde durch, und als sie nach Feierabend in Zorns Volvo stiegen, redeten sie wieder miteinander. Die Fahrt zu Schröders Haus führte am Landgericht vorbei, und während sie im Schritttempo neben der prunkvollen Fassade durch den Stau zuckelten, stand Frieda leichenblass im ersten Obergeschoss am Waschbecken der Damentoilette, um eine weitere Tablette zu nehmen. Kadelberg hatte einen neuen Beweisantrag nach dem anderen gestellt, doch alle waren von der Richterin abgelehnt worden. Im Moment lief also alles nach Plan, abgesehen von den Kopfschmerzen. Kurz nach Verhandlungsschluss waren sie mit doppelter Wucht zurückgekehrt, und jetzt, da sie sich mit zitternden Fingern das kalte Wasser ins Gesicht spritzte, war sie kaum zu einem klaren Gedanken fähig. Kein Wunder also, dass sie den Toilettentüren keine weitere Beachtung schenkte, von denen eine – die linke ganz außen – noch immer verschlossen war.

Sechs

Die junge Frau fühlte sich nicht wohl. Selbst Zorn, der alles andere als ein guter Menschenkenner war, registrierte es auf den ersten Blick. Hendryk hatte sie als Hannah, seine Kollegin vorgestellt, doch seine Blicke, seine Verlegenheit und die Röte, die seine Wangen immer wieder überzog, machten deutlich, dass er in der schweigsamen jungen Frau wesentlich mehr als eine Kollegin sah.

Sie saßen auf Schröders Terrasse. Ein Sonnensegel flatterte über ihnen im lauen Wind. Der Himmel war noch immer bedeckt, doch Regen, hatte Schröder missmutig festgestellt, würde es wohl nicht geben.

Hannah, erklärte Hendryk gerade, lebte erst seit ein paar Monaten in der Stadt. Sie hatte ihre Ausbildung an der Polizeiakademie in Oldenburg beendet, im Frühjahr war sie hergezogen. »Oldenburg«, fügte er hinzu, »ist ja nicht unbedingt der Nabel der Welt.«

»Na dann«, Zorn nippte an seinem Bier, »hat sie ja alles richtig gemacht. Hier steppt nämlich der Bär.«

Die junge Frau überhörte Zorns Sarkasmus. Sie saß ein wenig steif neben Hendryk in ihrem Korbstuhl, die Hände im Schoß gefaltet. Trotz der sommerlichen Wärme trug sie Jeans und eine graue Seidenbluse mit langen Ärmeln. Sie hatte eine zierliche Statur wie Frieda, auch das dunkle, kurz geschnittene Haar trug sie ähnlich. Von weitem hätte man die beiden durchaus verwechseln können, obwohl Hendryks Begleiterin deutlich jünger war. Und ihre Augen, groß und rehbraun in dem blassen Gesicht, erinnerten Zorn an eine amerikanische Schauspielerin, deren Name ihm nicht einfiel.

Zurzeit, erzählte Hendryk, seien sie beide ins Landgericht abgestellt worden, eine ziemlich öde Angelegenheit.

»Ich weiß«, nickte Zorn. »Frieda hat erzählt, dass sie dich getroffen hat.«

»Im Kühlschrank sind Steaks.« Schröder deutete durch die Verandafenster ins Haus. »Ich könnte nachher den Grill anmachen.«

Zorn gab ein Brummen von sich, das mit etwas gutem Willen als Zustimmung zu deuten war.

»Gern«, stimmte Hendryk zu. »Hannah ist allerdings Vegetarierin.«

Zorn, seit knapp fünf Jahrzehnten überzeugter Fleischfresser, öffnete den Mund. Erst im letzten Moment verkniff er sich eine abfällige Bemerkung. Schröder erklärte indessen, dass er einen Salat machen könne, mit gerösteten Pinienkernen, wenn es gewünscht sei.

»Und einen Grillkäse sollte ich auch noch haben.«

»Sehr gut«, nickte Hendryk.

Zorn fand es albern, dass Hendryk sich offensichtlich entschlossen hatte, für Hannah zu sprechen. Sie selbst schien sich nicht daran zu stören (vielleicht bemerkte sie es auch nicht). Schweigend sah sie hinunter zum See, als zähle sie die zwischen den Stämmen der Kiefern umhertanzenden Mücken. Auch ihr Profil mit den geschwungenen Lippen und der kleinen, etwas nach oben gebogenen Nase erinnerte an diese Schauspielerin, deren Name ihm partout nicht einfallen wollte. Er wusste nur, dass er sie mochte. Und dass sie vor Jahrzehnten mit Johnny Depp liiert gewesen war. In einem seiner frühen Filme hatte sie mitgespielt, Edward mit den Scherenhänden, den Film mochte Zorn ebenfalls.

»Hannah war Jahrgangsbeste«, sagte Hendryk.

»Respekt«, murmelte Zorn.

Hannah runzelte die Stirn. Kurz nur, kaum wahrnehmbar, doch Hendryks Bemerkung war ihr unangenehm.

»Das warst du doch auch«, lächelte Schröder.

»Zweitbester«, wehrte Hendryk ab.

Das klang bescheiden, aber das hauchzarte Rosa auf seinen Wangen bewies, wie sehr Schröders Lob ihn freute.

Sie nippten an ihren Getränken, lauschten dem entfernten Lachen der Badenden am anderen Seeufer. Hendryk, dem das Schweigen unangenehm wurde, erzählte, dass er mit dem Gedanken spiele, sich für eine höhere Laufbahn zu bewerben.

»Dann könnte ich vielleicht irgendwann bei der Kripo arbeiten.«

»Eine gute Idee«, lobte Schröder. »Das Zeug hättest du jedenfalls dazu.«

Hendryk Gesicht färbte sich purpurrot vor Stolz. Er warf Hannah einen Blick zu, als wolle er sichergehen, ob sie Schröders Worte gehört habe, nestelte dabei am Kragen seines weißen Hemdes. Die oberen beiden Knöpfe standen offen, er hoffte wohl, überlegte Zorn, dass so sein kräftiger Brustkorb besser zur Geltung komme. Sein kurzes, rotblondes Haar war ein wenig zu sehr gegelt, auch beim Rasierwasser hatte Hendryk eindeutig übertrieben.

Er ist in die Kleine verknallt, überlegte Zorn. Und zwar bis über beide Ohren. Das erklärt auch, warum er sich so rausgeputzt hat. Keine Ahnung, wie er sie überredet hat, aber er hat sie mitgenommen, weil er vor ihr angeben wollte. Er dachte, sie wäre beeindruckt, schließlich kennt er zwei Hauptkommissare, wird sogar zum Bier eingeladen. Nun, da hat er sich ganz schön verrechnet, denn es ist ihr absolut schnuppe.

Das, fand Zorn, war ein äußerst sympathischer Charakterzug, obwohl ihm die junge Frau eindeutig zu schweigsam war. Sie schien nicht verlegen zu sein, eher … abwesend. Als seien ihre Gedanken weit weg, in einer Lichtjahre entfernten Galaxie.

Die Wolkendecke brach auf. Hannah schloss die Augen, wandte das blasse Gesicht der tiefstehenden Sonne zu. Zorn betrachtete die hohen Wangenknochen, die langen Wimpern, den halb geöffneten Mund.

»Winona Ryder.«

»Wie meinen?«

Schröder sah ihn verwundert an, auch Hendryk hob die Brauen.

»Nichts weiter«, murmelte Zorn, dem erst jetzt bewusst wurde, dass er den Namen der Schauspielerin laut ausgesprochen hatte. Er kramte verlegen eine Zigarette aus der Schachtel, entzündete sie umständlich und blaffte Schröder an, gefälligst einen Aschenbecher zu besorgen.

Schröder ging ins Haus, allerdings nicht, um Zorns Anweisung zu befolgen. Zorn wisse ja, wo der Aschenbecher sei, erklärte er freundlich, im Regal neben der Stereoanlage. Er selbst müsse jetzt das Essen vorbereiten.

Hannah bot an, Schröder zu helfen, dieser nahm dankend an. Der Grund, vermutete Zorn, lag auf der Hand. Sie langweilte sich hier draußen auf der Terrasse, wahrscheinlich bereute sie längst, ihren Verehrer begleitet zu haben.

Die Sonne näherte sich dem Horizont, verschwand hinter den Wipfeln der Kiefern. Geschirrklappern drang aus dem Haus, dazu Schröders und Hannahs Stimmen.