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Hauptkommissar Claudius Zorn wehrt sich verzweifelt gegen die Wahrheit im »Fall Schröder« – der vierzehnte Band der Kult-Thriller-Serie von Bestsellerautor Stephan Ludwig Hauptkommissar Claudius Zorn wundert sich. So hat er seinen Kollegen Schröder noch nie erlebt. Schröder ist der hellste Kopf, den er kennt. Aber in diesem Sommer wirkt er teilnahmslos und zerstreut. Selbst als sich bei einem neuen Fall herausstellt, dass Schröder das Todesopfer gekannt haben muss, erwacht er nicht zu gewohnter Form. Zorn versteht die Welt nicht mehr und fürchtet, dass jetzt alle Arbeit an ihm hängen bleibt, zumal es einen weiteren Toten gibt. Und wieder eine Verbindung zu Schröder. Als Zorn kurz darauf etwas Ungeheuerliches erfährt, wird ihm schlagartig klar, dass er die Wahrheit nie kennen wollte. Und dass dieser Fall ihrer beider Leben zerstören wird. »Das Erscheinen eines neuen ›Zorns‹ stellt ein absolutes Highlight im Bücherjahr dar, obwohl das Lesevergnügen immer wieder schon nach kürzester Zeit vorbei ist. Nur wenige deutsche Krimi-Autoren im Hier und Jetzt besitzen die Gabe eines Stephan Ludwig, den Leser derart zu paralysieren und seine gesamte Aufmerksamkeit auf das vor ihm liegende Buch zu richten. Möge diese spannende Reihe mit den wunderbaren Charakteren noch viele Fortsetzungen finden!« Literaturmarkt.info
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Seitenzahl: 367
Stephan Ludwig
Der Fall Schröder
Thriller
Der vierzehnte Fall
Hauptkommissar Claudius Zorn wundert sich. So hat er seinen Kollegen Schröder noch nie erlebt. Schröder ist der hellste Kopf, den er kennt. Aber in diesem Sommer wirkt er teilnahmslos und zerstreut. Selbst als sich bei einem neuen Fall herausstellt, dass Schröder das Todesopfer gekannt haben muss, erwacht er nicht zu gewohnter Form.
Zorn versteht die Welt nicht mehr und fürchtet, dass jetzt alle Arbeit an ihm hängen bleibt, zumal es einen weiteren Toten gibt. Und wieder eine Verbindung zu Schröder. Als Zorn kurz darauf etwas Ungeheuerliches erfährt, wird ihm schlagartig klar, dass er die Wahrheit nie kennen wollte. Und dass dieser Fall ihrer beider Leben zerstören wird.
»Das Erscheinen eines neuen ›Zorns‹ stellt ein absolutes Highlight im Bücherjahr dar.« Literaturmarkt.info
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Stephan Ludwig arbeitete als Theatertechniker, Musiker und Rundfunkproduzent. Er hat drei Töchter, einen Sohn und keine Katze. Zum Schreiben kam er durch eine zufällige Verkettung ungeplanter Umstände. Er lebt und raucht in Halle.
Außerdem bei FISCHER erschienen:
»Zorn – Tod und Regen«, »Zorn – Vom Lieben und Sterben«, »Zorn – Wo kein Licht«, »Zorn – Wie sie töten«, »Zorn – Kalter Rauch«, »Zorn – Wie du mir«, »Zorn – Lodernder Hass«, »Zorn – Blut und Strafe«, »Zorn – Tod um Tod«, »Zorn – Zahltag«, »Zorn – Opferlamm«, »Zorn – Ausgelöscht«, »Zorn – Schwarze Tage«, »Unter der Erde. Thriller«, »Der nette Herr Heinlein und die Leichen im Keller. Roman«
Die Bände 1-5 der Zorn-Reihe sind mit Stephan Luca und Axel Ranisch in den Hauptrollen fürs Fernsehen verfilmt.
Claudius Zorn ist auch auf Facebook und Instagram.
[Widmung]
MONTAG
Eins
Zwei
Drei
Vier
Fünf
Sechs
DIENSTAG
Sieben
Acht
Neun
Zehn
Elf
Zwölf
MITTWOCH
Dreizehn
Vierzehn
Fünfzehn
Sechzehn
Siebzehn
Achtzehn
Neunzehn
Zwanzig
Einundzwanzig
Zweiundzwanzig
DONNERSTAG
Dreiundzwanzig
Vierundzwanzig
Fünfundzwanzig
Sechsundzwanzig
Siebenundzwanzig
Achtundzwanzig
Neunundzwanzig
Dreißig
Einunddreißig
Zweiunddreißig
Dreiunddreißig
Vierunddreißig
Fünfunddreißig
Sechsunddreißig
FREITAG
Siebenunddreißig
Achtunddreißig
Neununddreißig
Vierzig
Einundvierzig
Zweiundvierzig
Dreiundvierzig
Vierundvierzig
SAMSTAG
Fünfundvierzig
Sechsundvierzig
Siebenundvierzig
Achtundvierzig
Neunundvierzig
Fünfzig
Einundfünfzig
Zweiundfünfzig
Dreiundfünfzig
Vierundfünfzig
Fünfundfünfzig
Sechsundfünfzig
Siebenundfünfzig
SONNTAG
Achtundfünfzig
Neunundfünfzig
Sechzig
Einundsechzig
Zweiundsechzig
Dreiundsechzig
Vierundsechzig
Fünfundsechzig
Sechsundsechzig
Siebenundsechzig
Achtundsechzig
Neunundsechzig
Siebzig
Einundsiebzig
Zweiundsiebzig
Dreiundsiebzig
Vierundsiebzig
Fünfundsiebzig
Sechsundsiebzig
Siebenundsiebzig
Achtundsiebzig
Neunundsiebzig
IMMER NOCH SONNTAG
Achtzig
Einundachtzig
Zweiundachtzig
Dreiundachtzig
Mittwoch
Vierundachtzig
Fünfundachtzig
Sechsundachtzig
Siebenundachtzig
Achtundachtzig
Neunundachtzig
Neunzig
Einundneunzig
Zweiundneunzig
Dreiundneunzig
Vierundneunzig
Fünfundneunzig
Schlussbemerkung
Für Peter Sodann
(Schlaf gut.)
Dumbos letzter Flug.
»Was wollen wir hier?«, fragte sie.
»Ich wollte dir die Aussicht zeigen.« Er breitete die Arme aus. »Ist doch toll, oder?«
Sie sah etwas beklommen in die Tiefe.
»Ja«, sagte sie, obwohl sie offensichtlich anderer Meinung war.
»Ich hab dir wohl zu viel versprochen.« Er klang enttäuscht. »Schade.«
Sie waren ein wenig außer Atem, nachdem sie die rostigen Stufen hinauf zum Schanzenturm gestiegen waren. Unter ihnen wogten die Baumwipfel in den Strahlen der aufgehenden Sonne, die den Himmel über den Hügeln im Osten in Flammen zu setzen schienen. Ein weiterer frühsommerlicher Tag brach an, doch die Nacht war kühl gewesen, und nachdem sie ihm den Berg hinauf durch das Unkraut hoch zur Schanze gefolgt war, waren ihre dünnen Sneaker vom Tau durchnässt, und sie ärgerte sich, dass sie nur ein kurzärmeliges T-Shirt trug.
»Ist dir kalt?«, fragte er besorgt, als sie sich fröstelnd die Arme rieb.
»Schon okay«, wehrte sie ab und warf einen unauffälligen Blick auf die Uhr, die er ihr vor drei Wochen zum fünfundzwanzigsten Geburtstag geschenkt hatte. Eigentlich konnte er sich ein solches Präsent nicht leisten, doch auf ihre Vorwürfe hin hatte er behauptet, die Uhr sei längst nicht so teuer, wie sie aussehe – eine Untertreibung, wenn nicht gar Lüge, denn als sie die Uhr in dem kleinen Juwelierladen am Hallmarkt prüfen ließ, wurde ihr bestätigt, dass das Armband aus massivem Silber und der Kranz um das Ziffernblatt aus echten Diamanten gefertigt war. Die Uhr war viel zu auffällig und eher für eine Frau seines Alters geeignet, weshalb sie das Ding nur trug, wenn sie ihn traf. Auch jetzt hatte sie es nicht vergessen, obwohl eine Jacke, wie sie zu ihrem Verdruss feststellte, wesentlich nützlicher gewesen wäre.
»Hast du’s eilig?«, fragte er.
»Nee«, versicherte sie und zwang sich zu einem Lächeln. »Du hast recht, es ist wirklich schön hier.«
»Ja, oder?« Sein Gesicht hellte sich auf. »Der Ausblick ist wirklich toll.«
Ihr Blick folgte seinem ausgestreckten Zeigefinger nach Süden, wo sich der Fluss zwischen bewaldeten Hügeln, Porphyrfelsen und Getreidefeldern majestätisch in Richtung Stadt schlängelte und zwischen Lagerhallen und Getreidesilos im nördlichen Industriegebiet verschwand.
»Schau mal«, sagte er. »Man sieht sogar das Chemiewerk.«
Die morschen Holzbohlen knarrten bedenklich, als sie an das Geländer trat und die dampfenden Kühltürme weit hinten am Horizont betrachtete, vor denen sich die Kirchtürme über den Dächern der Altstadt wie Scherenschnitte abzeichneten. Der Anblick war weder spektakulär noch außergewöhnlich und definitiv kein Grund, zu nachtschlafender Zeit eine verlassene Skisprunganlage aufzusuchen, die noch dazu baupolizeilich gesperrt war – und das schon seit geraumer Zeit, selbst die Absperrkette unten am Turm war bereits verrostet und die Warnschilder rund um das Gelände so verblichen, dass sie teilweise kaum noch zu entziffern waren.
»Dein Büro sieht man auch«, sagte er und deutete auf einen Gebäudeklotz, dessen verspiegelte Fassade auf einem Hügel links von der Altstadt in der Sonne blitzte. »Wie läuft’s eigentlich auf Arbeit?«
»Ganz gut.«
Sie hatte den Job bei der Wohnungsverwaltung seit einem halben Jahr. In der Stellenausschreibung war von der stellvertretenden Leitung des Kundendienstes die Rede gewesen, was in Wahrheit bedeutete, nicht nur den ganzen Tag in einer stickigen Abstellkammer in der zwölften Etage am Telefon zu sitzen, sondern auch nach Feierabend über Handy erreichbar zu sein, um empörte Mieter zu beschwichtigen, die sich über tropfende Wasserhähne, undichte Fenster und lärmende Kinder beschwerten.
»Das freut mich.« Er lächelte.
Warum sind wir hier?, überlegte sie erneut. Um über meinen dämlichen Job zu sprechen?
Ein Windstoß rauschte über die Baumkronen heran und wehte ihr das Haar aus der Stirn. Die Plattform war kaum größer als das schlauchförmige Badezimmer ihrer kleinen Mansardenwohnung, allerdings nicht umgeben von massiven Betonwänden, sondern auf drei Seiten begrenzt von einem hüfthohen, schiefen Geländer und auf der vierten von einer Stahlkette mit einem im Wind schwankenden Blechschild (BETR TEN STRENG TENS VERBOTEN), hinter dem die Anlaufspur in die Tiefe führte.
»Keine Sorge«, sagte er, als habe er ihre Gedanken erraten. »So schnell bricht der alte Kasten nicht zusammen. Siehst du?«
Als er mit dem Fuß aufstampfte, bebte die mächtige Stahlkonstruktion unter ihnen bis in die Fundamente. Sie stieß einen leisen Schrei aus, ihre Finger klammerten sich um das verbogene Geländer, während das grollende Dröhnen der vibrierenden Pfeiler über die Ebene hallte.
»Tut mir leid«, entschuldigte er sich unbeholfen. »Ich wollte dich nicht …«
»Schon gut.«
Er machte Anstalten, ihr einen Arm um die Schultern zu legen, doch sie rückte von ihm ab.
»Sei nicht sauer«, bat er.
»Bin ich nicht«, gab sie knapp zurück.
»Wirklich nicht?«
»Nein.«
Sie trat einen Schritt zurück, ohne ihren Griff um den Handlauf zu lockern.
»Tut mir leid«, wiederholte er. »Aber das Geländer ist stabil. Es ist damals repariert worden, nachdem …«
»Ja?«
Er schüttelte schweigend den Kopf.
Die Sonne war höher gestiegen und spiegelte sich auf der Frontscheibe des alten Passats, der am Fuße des Berges neben einem windschiefen Holzschuppen parkte. Nachdem sie den Wagen verlassen hatten, waren sie schweigend bergauf gegangen. Am Turm hatte er sie kurz gebeten, auf die Stufen zu achten. Dass sie sich bereits dort unwohl fühlte, hatte er wohl nicht bemerkt. Vielleicht, überlegte sie nun, hatte er es ja nicht bemerken wollen? Er war vorausgegangen in der Gewissheit, dass sie ihm folgen würde. Was sie wie immer getan hatte.
»Ich war dumm«, entschuldigte er sich nun zum dritten Mal. »Du hast es gleich überstanden. Ich …«
»Was meinst du damit?«
Er hielt ihrem Blick nicht lange stand.
»Nichts weiter«, murmelte er achselzuckend. »Sagt man das nicht so?«
Letzten Winter war er fünfzig geworden, doch er sah älter aus. In den vergangenen Monaten war er merklich ergraut, das dünne Haar schimmerte im Morgenlicht wie Zuckerwatte. Gebeugt stand er vor ihr wie ein großer, zerzauster Vogel, das Hemd schlotterte um die magere Brust, die Jeans schienen mindestens zwei Nummern zu groß, und der Wildledergürtel, den sie ihm zu Weihnachten geschenkt hatte, ließ die knochige Taille noch schmaler wirken. Im Gegensatz zu ihr hatte er sich ehrlich über das Geschenk gefreut, und sie war sicher, dass er den Gürtel nicht nur in ihrem Beisein trug.
Warum, dachte sie, warum, verdammt nochmal, sind wir hier?
Sie öffnete den Mund, um die Frage zu wiederholen, doch er kam ihr zuvor.
»Damals kam es mir viel höher vor. Ich hab mich nicht mal getraut, von der Babyschanze zu springen. Die war direkt hier daneben.« Er deutete über das Geländer nach unten. »Aber die Natur holt sich alles zurück.«
Er wandte sich um und ging zur Absperrkette vor dem Anlaufpunkt. Obwohl er nicht viel wog, ächzten die Bodenbretter und bogen sich unter seinem Gewicht. Die Stahlkonstruktion mochte noch einige Zeit halten, doch was war mit dem verwitterten Holz? Wie tief ging es hinab? Zwanzig Meter? Fünfundzwanzig? Oder mehr?
»Der kritische Punkt liegt bei etwas über dreißig Metern«, sagte er. »Eigentlich ist es nur ein Katzensprung, im Vergleich zu anderen Schanzen ein Witz. Dort«, er wies hinunter ins Tal auf einen verwitterten Blechschuppen mit vernagelten Fenstern, »haben wir uns umgezogen. Wo die Birken sind, waren die Zuschauertribünen. Und … langweile ich dich?«
»Nein.«
»Wirklich nicht?«
»Nein, aber … könntest du mir das nicht unten erzählen?«
Er sah sie an. Wandte den Blick wieder ins Tal. Flüsterte etwas.
Ich fürchte, das wird nicht möglich sein.
Sie war nicht sicher, ob sie richtig verstanden hatte. Ihr Magen hob sich, sie fixierte die Windräder auf der Hügelkette am anderen Flussufer, worauf sich die Übelkeit etwas legte.
»Ich war ein Angsthase«, fuhr er fort. »Sie nannten mich Dumbo. Du weißt schon«, sie hörte das Lächeln in seiner Stimme, »wegen meiner Ohren. Alle haben mich ausgelacht, bis auf einen. Der hat den Schanzenrekord aufgestellt, er … er war mein bester Freund. Na ja, eigentlich war’s der einzige, den ich jemals …«
Er verstummte.
»Warum sind wir hier?«, fragte sie.
Erneut sah er sie an. Aus dunklen, vertrauten Augen und mit einem wehmütigen, ebenso vertrauten Lächeln, das wegen der gespaltenen Oberlippe immer etwas verrutschtund irgendwie fehl am Platz wirkte.
»Ich wollte dich um Verzeihung bitten«, sagte er.
»Es gibt nichts zu verzeihen.«
»Noch nicht.«
»Ich … ich verstehe nicht, was du …«
Ihr wurde schwarz vor Augen.
»Ich habe immer behauptet, dass es besser wird«, sagte er. »Dass die Therapie helfen würde.«
Morsches Holz knarrte, er kam näher.
»Aber das war gelogen. Ich habe dagegen angekämpft, fast vierzig Jahre lang. Es ist wie ein Jucken. Es geht niemals weg, man kann sich nicht kratzen, weil …«
Sie sah verschwommen, wie er den Arm hob und sich an die Schläfe tippte.
»Es ist hier drin, verstehst du?«
Er stand so dicht vor ihr, dass sie die Wärme seines Atems auf den Wangen spürte. Die Welt begann sich zu drehen, sein Gesicht verschwamm, während seine Augen größer wurden und sie – erst langsam, dann immer schneller werdend – umkreisten wie dunkle Monde eine erloschene Sonne.
»Es tut mir furchtbar leid.« Er nahm sie in die Arme. »Es tut mir so leid, dass ich dir das antun muss.«
Etwas rastete ruckartig ein, und sie begriff, was geschehen würde. Ihr Blick klärte sich kurz, bevor die Welt sich im nächsten Moment weiterdrehte und hinter einem Tränenschleier verschwamm.
»Bitte.« Sie klammerte sich an ihn. »Tu das nicht.«
»Es gibt keinen anderen Weg«, murmelte er und ging mit ihr zum Geländer. »Ich wünschte es, aber …«
»Bitte.«
»Es tut mir leid.«
»Bitte!«
Er mochte dünn sein, doch er war kräftig. Es gelang ihm mühelos, ihre ineinander verkrampften Finger in seinem Rücken zu lösen und sich aus der Umklammerung zu befreien.
»Es wird schnell gehen«, sagte er. »Das Monster ist damals auch schnell gestorben.«
Irgendwo in den Wäldern heulte eine Kettensäge auf.
»Bitte nicht«, schluchzte sie, »bitte, bitte nicht.«
Er griff nach dem Geländer.
»Ich liebe dich, Merle.«
»Ich liebe dich auch, Papa.«
»Alles ist gut«, tröstete er sie. »Ich hätte es nur früher wissen müssen.«
»Was?«
»Dass es erst vorbei ist, wenn ich dem Monster in den Tod folge«, sagte er.
Und sprang.
Zorn brummte etwas, das man nur mit sehr viel gutem Willen als morgendlichen Gruß auffassen konnte, stieß die Bürotür mit der Hacke hinter sich zu, streifte die Lederjacke ab und warf sie auf dem Weg zum Schreibtisch in Richtung Garderobenständer, den er wie üblich verfehlte.
»Guten Morgen, Chef.« Schröder bedachte ihn mit einem Blick über die Schulter und widmete sich wieder seinen Blumentöpfen auf dem Fensterbrett. »Gut geschlafen?«
»Nee.« Zorn ließ sich gähnend in seinen Bürostuhl fallen. »Schönen Gruß von Frieda.«
»Wie geht’s ihr?«
»Sie ist genervt.«
»Wann wird sie entlassen?«
»Frühestens in drei Wochen. Ihr Bein muss noch mal operiert werden, das Knie hat sich entzündet, weil eine Schraube nicht richtig sitzt. Am liebsten würde sie dem Chirurgen den Hals umdrehen, aber das geht ja nicht. Also lässt sie ihre Wut an mir aus.«
»An wem sonst? Du bist ihr Ehemann.«
»Die braucht was zu tun, sonst dreht sie durch«, seufzte Zorn. »Sie hat mich heute schon dreimal angerufen. Zuerst, weil sie mich wecken wollte. Danach über FaceTime. Um zu kontrollieren, ob ich mich ordentlich rasiert hab. Und beim dritten Mal, als ich im Auto saß. Da hat sie mir ’nen Vortrag gehalten, dass ich meinen Job gefälligst ernst nehmen soll. Meine Zigaretten sind alle, aber ich durfte nicht mal an der Tankstelle halten, weil ich sonst zwei Minuten zu spät gekommen wär.«
»Frieda braucht ihre Arbeit«, sagte Schröder, nahm seine Gießkanne und ging zum Waschbecken. »Sie ist es gewohnt, ständig in Bewegung zu sein. Solange sie in der Klinik ist, wird sie …«
»Schröder?«
»Ja?«
»Ist alles okay?«
»Selbstverständlich. Was soll sein?«
»Du siehst beschissen aus.«
»Tatsächlich?« Schröder blieb stehen. »Danke, gleichfalls, Chef.«
Ihre Blicke trafen sich kurz, dann wandte Schröder sich ab.
»Ich habe kaum geschlafen«, sagte er und drehte das Wasser auf.
»Warum?«
»Weil ich Kopfschmerzen habe.«
»Das ist ’ne Erklärung.«
»Wofür?«
»Dass du beschissen aussiehst.«
Schröder zwängte sich mit der Gießkanne an seinem Bürostuhl vorbei und ging wieder zum Fenster.
»Aber was ist mit mir?«, fragte Zorn.
»Mit dir?«
»Du hast danke, gleichfalls gesagt. Ich interpretiere das so, dass ich ebenfalls beschissen aussehe.«
»Nicht doch«, wehrte Schröder müde ab. »Das war einfach nur so dahingesagt.«
»Du sagst nie etwas einfach nur so dahin, Schröder.«
Schröder beugte sich über eine seiner Begonien.
»Du meinst meine Mütze.« Zorn tippte an den Schirm seines Basecaps. »Die findest du bescheuert.«
»Du kannst anziehen, was du willst, Chef. Ich habe keine Lust, deinen Kleidungsstil zu beurteilen.«
»Ist auch besser so. Wer im Glashaus sitzt …« Zorn reckte den Hals und betrachtete die Boxershorts, die über den Bund von Schröders Cordhose ragten. »Sind das Hubschrauber?«
»Wie meinen?«
»Das Muster.«
»Das geht niemanden etwas …«
»Nee, das sind Frösche. Oder …«, Zorn kniff die Augen hinter der Brille zusammen, »Butterblümchen?«
Schröder zog hastig die Hose hoch.
»Ich sagte, das geht niemanden …«
»… was an, genau. Und wenn ich beschließe, ’ne Mütze aufzusetzen, dann ist das meine Sache.«
»Das hat niemand bestritten.«
Bisher hatte Schröder das neue Outfit nicht kommentiert, obwohl Zorn das Basecap bereits seit drei Tagen trug, nachdem er bei der morgendlichen Körperpflege und der folgenden routinemäßigen Prüfung seines Aussehens beschlossen hatte, etwas gegen den rapide zunehmenden Haarausfall zu unternehmen. Die Geheimratsecken ließen sich zwar notdürftig unter den langen, deutlich ergrauten Strähnen kaschieren, doch als er die verspiegelten Türen des Badezimmerschranks aufklappte, musste er bei der Inspektion seines Hinterkopfs erschrocken registrieren, dass die kahle Stelle mittlerweile größer als ein Tennisball und im Begriff war, die Ausmaße einer Untertasse zu erreichen. Schröder war bereits in seiner Jugend mit diesem Problem konfrontiert gewesen, jahrelang hatte er das Haar über dem rechten Ohr wachsen lassen und die Strähnen quer über die Glatze gekämmt, um sich den Kopf dann schließlich komplett zu rasieren – was ihm deutlich besser, eigentlich sogar hervorragend stand. Für Claudius Zorn allerdings kam weder das eine noch das andere in Frage, und da ihm Edgars Mützen zu klein waren, hatte er zunächst mit Friedas Wintermützen experimentiert, bis ihm auf der Suche nach Alternativen in einer Schublade mit ausrangierten Socken, Hosenträgern und anderem Kram das alte Basecap in die Hände fiel, das ihm sein Bruder Cornelius Anfang der Neunziger von einem Genesis-Konzert mitgebracht hatte.
»Das ist ’n ganz normales Basecap, Schröder.«
Zorn hatte die Musik nach Peter Gabriels Ausstieg nie gemocht, doch die verblasste Aufschrift – We can’t dance – passte zu ihm und war irgendwie cool.
Vermutete er zumindest.
Sicher war er nicht.
»Irgendwie muss ich mich ja vor der Sonne schützen.«
»Im Büro?«, gab Schröder spitz zurück.
»Ach!« Zorn richtete sich auf und deutete auf das grüne Reflektorband um Schröders linke Wade. »Und was ist damit?«
»Das hat mir Edgar geschenkt!«
»Das ist mir klar. Ich dachte immer, das braucht man zum Fahrradfahren. Um die Hose zu schützen. Und damit man auf der Straße besser gesehen wird. Aber …«, Zorn kratzte sich an der Schläfe, »im Büro? Beim Blumengießen? Ich wusste gar nicht, dass das so gefährlich …«
»Ich hab’s vergessen!«
Die Gießkanne landete mit einem leisen Knall auf dem Fensterbrett. Als Schröder sich bückte, um das Band abzustreifen, erhaschte Zorn einen weiteren Blick auf den Rand der Boxershorts. Diesmal glaubte er, kleine Feuerwehrautos zu erkennen. Womöglich auch Raketen, überlegte er und beschloss, demnächst einen Sehtest zu machen – es war offensichtlich Zeit für eine neue Brille.
Schröder sank gegenüber in seinen Sessel und vergrub das Gesicht in den Händen.
»Schröder?«
»Hm?«
»Du siehst wirklich beschissen aus.«
»Der Insulinspiegel.«
»Warst du beim Arzt?«
»Vorgestern.«
»Und?«
»Er hat mir was verschrieben.« Als Schröder den Rücken streckte, spannte sich das karierte Hemd über dem Kugelbauch. »Wird bald besser.«
Ein junger Uniformierter kam herein, reichte Schröder eine dünne Mappe und verschwand ebenso schnell, wie er gekommen war.
»Was ist das?«, fragte Zorn.
»Eine Akte.«
»Was du nicht sagst.«
Schröder blätterte vor und zurück, überflog ein paar Seiten und klappte die Mappe wieder zu.
»Und?«, hakte Zorn nach. »Worum geht’s?«
»Suizid.«
»Ach, und wann?«
»Der Notruf kam um fünf Uhr dreißig.«
»Und warum haben die uns nicht …«
»Sie haben mich informiert.«
Zorn blinzelte irritiert. »Aber …«
»Ich wiederum habe die Sache Kollegen Brettschneider übergeben. Er ist seit um sechs vor Ort, die Spurensicherung ebenfalls. Das hier«, Schröder verstaute die Mappe in einer Schublade, »ist ein erster Bericht. Wir können …«
»Moment mal«, unterbrach Zorn. »Verstehe ich das richtig? Es gibt einen Toten, und du schickst jemand anderen hin? Nichts gegen Brettschneider, aber …«
»Es handelt sich um Suizid.«
»Da kann man nie sicher sein, Schröder.«
»Es gibt eine Zeugin, die Tochter des Toten. Sie hat den Notruf gewählt. Wir haben seine Identität. Und die Spurensicherung sieht im Moment keine Anzeichen, die der Aussage der Zeugin widersprechen. Es ist …«
»Noch mal, Schröder. Es gibt ’nen Toten. Und du hakst das einfach so ab? Nach …«, Zorn las die Uhrzeit von seinem Handy ab, »zwei Stunden? Du hast dich noch nie auf andere verlassen.«
»Es ist Suizid.« Schröder klang erschöpft. »Und wenn … Wo willst du hin?«
Zorn war aufgestanden und streifte seine Jacke über.
»Ich? Wir«, korrigierte er und zog den Reißverschluss zu. »Wir wollen zu einer Leiche. Frieda hat gesagt, dass ich meinen Job ernst nehmen soll. Nach Ihnen, Chef.«
Er öffnete die Tür und deutete einladend in den Flur.
»Außerdem brauche ich Zigaretten.«
»Du hast bestimmt recht«, sagte Zorn. »Das hast du schließlich immer.«
Sie passierten das Ortsausgangsschild und fuhren weiter nach Norden, vorbei an Tankstellen, Autohäusern und flachen, größtenteils leer stehenden Lagerhallen.
»Aber ich muss Frieda was erzählen. Und wenn ich ihr nachher sagen kann, dass ich nicht nur rumgesessen hab, sondern an 'nem Tatort war, dann … na ja, wenn sie denkt, dass ich zu tun hab, lässt sie mich vielleicht ein bisschen in Ruhe.«
Seit sie vor dem Präsidium in den Volvo gestiegen waren, hatte Schröder kein Wort gesagt. Stumm, die Hände im Schoß gefaltet, den Rücken kerzengerade, saß er auf dem Beifahrersitz und regte sich – abgesehen von den einander umkreisenden Daumen – keinen Millimeter.
»Ich weiß, das klingt bekloppt, Schröder. Und völlig anders, als ich’s meine. Ich vermisse sie total, wirklich, aber sie ist dermaßen genervt, und wenn sie nicht bald was zu tun kriegt, dann …«
Zorn gab kopfschüttelnd Gas.
»Sie hat sich damit abgefunden, dass sie nie wieder richtig laufen wird. Aber sie kann ihre Arbeit machen, das ist die Hauptsache. Frieda hat einen Plan, aber du weißt ja, wie sie manchmal ist. Vor allem wenn irgendwas schiefläuft. Der Plan war, dass sie nach der Hochzeit drei Monate in die Reha geht. Jetzt sind’s fast vier, und es wird wohl noch einer werden.«
Die Straße verlief schnurgerade durch verblühte Rapsfelder. Auf den Hügeln im Hintergrund verteilten sich holzverblendete Bungalows und weiß getünchte Wochenendhäuser.
»Na ja«, seufzte Zorn. »Irgendwann wird’s wieder besser. Spätestens, wenn sie wieder arbeiten kann. Hast du ja auch gesagt.«
Er warf Schröder einen Seitenblick zu.
»Oder?«
Keine Reaktion.
»Hallo…?«
Zorn stupste Schröder in die Seite.
»Jemand zu Hause? Könntest du vielleicht auch mal was sagen, oder bist du … fuck!«
Zorn trat mit aller Kraft in die Eisen, der Volvo kam ins Schlingern und bremste nur wenige Zentimeter hinter einem Traktor ab, der vor ihnen von einem Feldweg auf die Straße eingebogen war. Leere Flaschen klapperten im Heck, ein Kaffeebecher rollte aus der Mittelkonsole, fiel auf die verdreckte Fußmatte und gesellte sich zu dem Chaos aus zerknüllten Strafzetteln, Kekskrümeln, Kaugummiresten und klebrigem Bonbonpapier, das sich überall im Wagen verteilte – ein Anblick, bei dem Frieda ihrem Ehemann die Hölle heißmachen würde. Der Volvo musste dringend in die Waschanlage, doch das hatte zum Glück noch mindestens drei Wochen Zeit, tröstete sich Zorn, um sich im nächsten Moment für diesen schmutzigen Gedanken in Grund und Boden zu schämen.
Er blinkte, um an dem Traktor vorbeizuziehen.
»Überholverbot«, sagte Schröder.
»Oha!«, rief Zorn in schlecht geheuchelter Überraschung aus. »Es spricht!«
Schröder, der bei Zorns waghalsigem Bremsmanöver haltsuchend nach dem Griff in der Beifahrertür gelangt hatte, faltete die Hände wieder im Schoß.
»Und ich dachte schon«, Zorn bremste wieder ab, »die Diabetes hätte dir auf die Stimmbänder geschlagen.«
Eine Weile zuckelten sie in einer Staubwolke hinter dem Traktor dahin und erreichten einen kleinen Vorort. Einfamilienhäuser flankierten die Straße, dazwischen ein Fliesenmarkt, eine Autowerkstatt und die ausgebrannte Ruine der ehemaligen Dorfkneipe.
»Wir haben’s ja nicht eilig«, sagte Zorn und trommelte mit den verbliebenen Fingern auf das Lenkrad. »Die Leiche läuft schließlich nicht weg, und …«
»Da vorn links.«
»Sehr wohl, Chef.«
Zorn stoppte an einer verwahrlosten Bushaltestelle. GULASCHKANONE IN HUNDERT METERN!, verkündete ein handgemaltes Schild an einem schiefen Holzpfahl. Ecki’s original NVA–Erbsensuppe! Kaffee nur 50 Pfennig!
»Wann ist der Notruf eingegangen?«, fragte Zorn und bog auf eine geteerte Seitenstraße ein, die sich zwischen Obstplantagen, Getreidefeldern und Pferdekoppeln zu den felsigen Hügeln am Fluss wand. »Halb sechs, oder?«
»Fünf Uhr zweiunddreißig.«
»Und die haben dich sofort angerufen.«
»Ja.«
»Quasi mitten in der Nacht. Kein Wunder, dass du so miesepetrig bist.«
Schröder sah stur geradeaus.
»Und du«, hakte Zorn nach, »hast gleich Brettschneider angerufen?«
»Ja.«
»Und dann?«, griente Zorn. »Hast du dich wieder hingelegt?«
Erneut begannen Schröders Daumen zu kreisen.
»Ich versteh’s ja.« Zorn klappte die Sonnenblende herunter. »Wir sind beide nicht mehr die Jüngsten. Aber du musst zugeben: Wenn’s ’ne Leiche gab, hast du dich bisher immer persönlich überzeugt. Egal, wie eindeutig es aussah.«
»Das war es.«
»Was?«
»Eindeutig.«
»Aber …« Zorn dachte kurz nach. »Du hattest doch nur den Namen des Toten. Und den Ort, an dem er sich umgebracht haben sollte. Angeblich«, fügte er hinzu, »denn es hätte ja einer von diesen dämlichen Telefonstreichen sein können. Oder wieder mal irgendein Spinner, der den Notruf wählt, um sich …«
»Ich wusste es.«
»Du wusstest, dass es tatsächlich Suizid ist?«
»Ja.«
»Woher?«
Schweigen.
»Ich will dich nicht nerven, Schröder. Aber wie konntest du da so sicher sein?«
Schröders Daumen rotierten schneller.
»War es wieder mal«, Zorn tippte sich an die Schläfe, »dein Gefühl? Oder …«
»Weil es so ist!«
Zorn fuhr erschrocken zusammen und erklärte beleidigt, der feine Herr solle schleunigst seinen Insulinspiegel wieder unter Kontrolle bringen und sich bis dahin gefälligst jemand anderen suchen, an dem er seinen Frust ausließ.
Sie hatten die Hügelkuppe erreicht und fuhren parallel zum Fluss, der im Tal links neben ihnen in der Sonne blitzte. Der Asphalt wich uraltem, von Schlaglöchern durchzogenem Kopfsteinpflaster, die Straße wurde schmaler und führte zwischen knorrigen Apfelbäumen an der Hügelflanke wieder bergab.
»Jetzt links«, sagte Schröder.
»Weiß ich selbst.«
Zorn steuerte den Volvo auf einer Schotterpiste durch eine schmale Schneise in Richtung Fluss. Kies knirschte unter den Reifen, Staub wirbelte auf, sie erreichten ein kleines Tal und stoppten vor einem rot-weißen Absperrband.
»Können wir uns wieder vertragen?«, bat Zorn und zog die Handbremse an.
»Warum?« Schröders hellblaue Augen weiteten sich überrascht. »Haben wir uns denn gestritten?«
Ein Uniformierter, der rauchend an einer Tanne gelehnt hatte, trat seine Kippe aus und kam näher. Zorn ließ das Seitenfenster herunter, zeigte seinen Dienstausweis und gab dem Beamten mit einer Handbewegung zu verstehen, er möge gefälligst wieder verschwinden.
»Dann wollen wir mal.«
Er löste den Gurt, stieß die Tür auf und stemmte sich ungelenk aus dem Wagen. Streckte den Rücken, lüpfte das Basecap, strich das strähnige Haar aus der Stirn und sah nach oben, wo die Schanze auf dem Hügel wie ein absurder Fremdkörper in den wolkenlosen Himmel ragte.
»Ich dachte, das Ding wäre längst eingestürzt.«
Die jungen Birken, die auf dem Schanzentisch wuchsen, und das kniehohe, von Mohnblumen und Löwenzahn gesprenkelte Gras auf dem Auslaufberg ließen das Bild noch bizarrer erscheinen.
»Eine Sprungschanze«, überlegte Zorn kopfschüttelnd und kramte seine Zigaretten aus der Lederjacke. »Gibt es was Dämlicheres, als hier ’ne Sprungschanze hinzubauen? Mitten in die Pampa?«
Er zündete die Zigarette an, zog die Jeans am Gürtel hoch und betrachtete die Gestalten in weißen Tyvek-Anzügen, die oben auf dem Hügel die Spuren sicherten.
»Wieso gibt’s hier eigentlich keinen Lift?«
Seine Stimme hallte von den Porphyrfelsen wider.
»Brettschneider soll gefälligst runterkommen«, brummte er. »Ich hab keinen Bock, da hochzukraxeln. Du etwa?«
Er wandte sich um. Stutzte, da niemand zu sehen war, öffnete die Fahrertür, beugte sich hinab und sah in den verstaubten Volvo.
»Schröder?«
»Ja?«
»Würdest du vielleicht …«
»Ja?«
»… aussteigen?«
»Ich denke«, sagte Schröder, der noch immer angeschnallt auf seinem Platz saß, »ich bleibe noch ein bisschen sitzen.«
Zorn schlug die Tür so heftig zu, dass der Volvo schwankte. Schröder zuckte mit keiner Wimper und beobachtete durch die verschmierte Frontscheibe, wie Zorn breitbeinig auf einen jungen Uniformierten zusteuerte und diesen anblaffte, er wolle Kommissar Brettschneider sprechen, und zwar pronto, worauf sich der Uniformierte umgehend auf den Weg machte.
Die Sonne stand hoch über der Schanze und tauchte das kleine Tal in grelles Licht. Nach und nach heizte sich der Volvo auf, doch Schröder schien sich nicht daran zu stören. Still saß er da, das karierte Hemd bis zum obersten Knopf geschlossen, die Hände im Schoß, während Zorn draußen unschlüssig zwischen den Streifenwagen herumlief und schließlich einen weiteren Beamten anwies, gefälligst einen Kaffee zu besorgen – ein Befehl, der zunächst ignoriert und schließlich, als Hauptkommissar Zorn zusätzlich nach Milch und Zucker verlangte, mit einem heimlich gestreckten Mittelfinger quittiert wurde.
Ein Leichenwagen näherte sich von hinten, holperte, rötlichen Staub aufwirbelnd, vorbei und parkte neben einem Krankenwagen. Zwischen den geöffneten Hecktüren saß eine junge Frau mit kurz geschnittenem rotem Haar und einer Decke um die schmalen Schultern und sah mit gesenktem Kopf zu Boden.
Schröder beobachtete, wie die Staubwolke träge den Hügel hinaufzog und schließlich zwischen den Tannen verschwand. Er betrachtete die morsche Treppe, die neben dem Auslaufberg hoch zur Schanze führte, die rostigen Flutlichtmasten und die schiefe Wellblechbaracke mit den vernagelten Fenstern. Seine Miene blieb unbewegt, nur die Sehnen vibrierten unter der rosigen Haut über den Wangenknochen, und als er die Hände im Schoß bewegte, hatten die Nägel seiner ineinander verkrampften Finger halbmondförmige Abdrücke auf der Haut hinterlassen.
Zorn drohte lauthals, dem feinen Herrn Brettschneider persönlich Beine zu machen, wenn dieser nicht in spätestens einer Minute zum Rapport erscheine, erkundigte sich, ob jemand die Typen von der Rechtsmedizin aus den Federn geholt habe, und verschwand gestikulierend hinter einem Kleintransporter der Spurensicherung.
Von alldem schien Schröder nichts mitzubekommen. Reglos, wie in tiefer Trance versunken, starrte er auf irgendeinen Punkt in der Ferne.
Nur seine Daumen kreisten umeinander.
Langsam zunächst, dann immer schneller werdend.
»Du hattest recht.« Die Federung des Volvos ächzte, als Zorn sich keuchend in den Sitz fallen ließ. »Brettschneider meint … sag mal, hab ich dich geweckt?«
Schröder sah ihn verwundert an. »Was?«
»Hast du vielleicht ein kleines Nickerchen …«
»Ich habe nicht geschlafen.«
»Den Weg hätten wir uns jedenfalls sparen können. Immerhin haben wir ein bisschen frische Luft geschnappt.«
Zorn schnallte sich umständlich an und straffte den Gurt über der Schulter.
»Es handelt sich tatsächlich um Rainer Vanger. Wie’s aussieht …«
»Raimund«, korrigierte Schröder. »Nicht Rainer.«
»Du hattest schon immer das bessere Gedächtnis.«
Schröder murmelte etwas vor sich hin.
»Jedenfalls …«, Zorn räusperte sich, »vom Gesicht ist zwar nicht viel übrig, aber er hatte ja seine Papiere dabei. Außerdem haben wir die Aussage seiner Tochter.«
Zorn deutete auf die rothaarige junge Frau im Heck des Krankenwagens. Ein Sanitäter ordnete die Decke um ihre mageren Schultern und sagte etwas, worauf sie abwehrend die Hände hob.
»Merle Vanger will hierbleiben, bis ihr Vater …«, Zorn suchte nach dem passenden Begriff, »abtransportiert ist. Brettschneider ist sicher, dass ihre Aussage stimmt. Bisher hat sich jedenfalls alles bestätigt, sie haben keine Anzeichen auf Fremdeinwirkung gefunden. Es könnte natürlich sein, dass sie ihn gestoßen hat, aber das wissen wir, wenn die hier fertig sind. Und wenn wir den Obduktionsbericht …«
»Sie hat ihn nicht gestoßen.«
»Ich kann’s mir auch nicht vorstellen. Sie ist ja noch dünner als Frieda.«
Zorn startete den Motor.
»Sie steht unter Schock«, sagte er. »Wir sollten sie später befragen. Morgen vielleicht?«
»Das kann Brettschneider übernehmen.«
Zorns Brauen hoben sich.
»Wie du meinst«, stellte er achselzuckend fest und legte den Rückwärtsgang ein. »Du bist hier der Chef.«
»Ich hab nie verstanden, warum die ausgerechnet da ’ne Schanze hingebaut haben«, sagte Zorn, als sie wieder auf die Hauptstraße einbogen. »So was macht man doch im Gebirge und nicht im Flachland, und noch dazu direkt an 'nem Fluss.«
Schröder beugte sich vor und kramte in der Aktentasche zwischen seinen Beinen.
»Wie weit sind die gesprungen? Zwanzig Meter?« Zorn stieß prustend die Luft aus. »Was für ’n Schwachsinn. Ich meine, welcher Vollidiot kommt auf die Idee … Brauchst du was zum Runterspülen?«
Schröder, der ein Glasfläschchen aufgeschraubt und sich zwei Tabletten in die flache Hand geschüttet hatte, schüttelte den Kopf.
»Da hinten«, Zorn deutete über die Schulter zur Rückbank, »müsste irgendwo ’ne angefangene Cola sein. Die liegt da schon seit über 'ner Woche, Edgar hat sie nach dem Basketballtraining … Na ja«, sagte er, als Schröder die Tabletten in den Mund stopfte, »ist vielleicht besser so. Wegen deiner Diabetes.«
Zorn bremste hinter einem Mähdrescher, gab unvermittelt Vollgas und scherte im letzten Moment vor einem entgegenkommenden LKW wieder ein, der mit dröhnender Hupe an ihnen vorbeibrauste.
»Überholverbot, ich weiß. Aber wir sind Bullen, wir dürfen das.«
Schröder verstaute die Tabletten wieder in seiner Aktentasche.
»Wir könnten dich morgen besuchen«, schlug Zorn vor.
Schröder sah ihn fragend an.
»Edgar und ich.«
»Gern«, nickte Schröder, der Zorns mittlerweile zwölfjährigen Sohn wie sein eigenes Kind liebte. Seine Miene hellte sich kurz auf.
»Wir könnten im See baden gehen«, sagte Zorn. »Und danach schmeißen wir den Grill an. Hast du Ketchup?«
»Was?«
»Ketchup. So’n rotes Zeug, das wird aus Tomaten …«
»Ich denke, Ketchup habe ich im Haus.«
»Ohne Ketchup isst Edgar die Würstchen nicht. Die bringen wir mit. Was ist mit Senf? Das ist dieses gelbe Zeug, nicht aus Tomaten, sondern aus …«
»Senf sollte ebenfalls da sein.«
»Von mir aus kannst du ’nen Salat machen, aber den musst du dann alleine essen. Du weißt ja, Edgar hasst das Grünzeug. Das hat er von seinem Vater.«
Da Schröder keine Miene verzog, versuchte Zorn, ihn mit einem der angestaubten Wortspiele aufzumuntern, mit denen er Schröder nach dem Verlust seiner rechten Hand seit Jahren auf die Nerven ging. Doch weder sein Angebot, beim morgigen Besuch den Grill zu bedienen (mache ich mit links – geht ja nicht anders, haha), noch seine Bemerkung über einen alten Bud-Spencer-Film (da hätte ich gern mitgespielt, aber dann hätte es »Drei Fäuste für ein Halleluja« heißen müssen) erzeugten eine Reaktion, weshalb sie die folgende Viertelstunde schweigend weiterfuhren. Erst als Zorn auf dem Parkplatz vor dem Präsidium den Motor abstellte, meldete sich Schröder überraschend zu Wort.
»Einunddreißigeinhalb«, sagte er.
»Wie meinen …?«
»Meter.«
Zorn legte die Stirn in Falten.
»Könnte es sein, dass dein Insulinspiegel …«
»Du meintest vorhin, man könne von der Schanze höchstens zwanzig Meter springen«, sagte Schröder, hievte seine Aktentasche auf den Schoß und öffnete die Beifahrertür. »Aber der Rekord liegt bei einunddreißigeinhalb.«
»Aha.«
»Offiziell jedenfalls.«
Schröder stieg aus.
»Entschuldige?«, rief Zorn ihm nach.
»Ja?«
»Darf man fragen, woher du das weißt?«
»Ich bin selbst gesprungen.«
»Ach.« Zorn stieg ebenfalls aus. »Und wann?«
»Das ist lange her.«
»Ich dachte, du warst Ringer.«
»Das war ich.«
»Und Turmspringer.«
»War ich ebenfalls.«
»Skispringer warst du also auch?«
»Ja«, sagte Schröder knapp und lief mit seinem typischen, tippelnden Gang mit kurzen Schritten zwischen den Streifenwagen auf das Präsidium zu.
»Ich hätte da mal ’ne Frage, Schröder.«
Schröder wandte sich um.
»Ja?«
»Wie lange kennen wir uns? Zwanzig Jahre?«
»Es dürften einige mehr sein, Chef.«
Zorn entzündete eine Kippe. »Aber man wird immer wieder überrascht.«
»Wundert dich das?«
Zorns Handy vibrierte in der Lederjacke.
»Dich nicht?«, fragte er, griff in die Innentasche und betrachtete Friedas Foto auf dem Display, früher als Liebstes abgespeichert und seit der Hochzeit als Gemahlin. »Ich weiß schließlich ’ne Menge über dich.«
»Tatsächlich?«
»Natürlich nicht alles, aber …«
»Chef?«
»Ja?«
»Du weißt gar nichts über mich«, lächelte Schröder. »Absolut nichts.«
»Hallo, Ehefrau.«
»Hallo, Ehemann«, gab Frieda wie üblich zurück. »Was macht die Arbeit?«
Zorn berichtete von den Ereignissen des Vormittags und steuerte seinen Stammplatz auf der verwitterten Bank unter der alten Kastanie an, während Schröder über den Parkplatz zum Präsidium lief.
»Sieht eindeutig aus. Morgen kriegen wir den Obduktionsbericht, danach wird’s wieder so langweilig wie vorher. Aber das ist besser als …«
»Rauch nicht so viel.«
»Aber ich rauche doch gar …«
»Ich kann’s hören, Schatz.«
Zorn trat die Zigarette im Kies aus.
»Und?«, fragte er, um vom Thema abzulenken. »Wie läuft’s bei dir?«
»Ich komme gerade vom Mittagessen. Nudelsuppe, zum Nachtisch ein Apfel. Das muss man sich mal vorstellen.« Frieda hob die Stimme. »Ich hab kaum noch ’nen heilen Knochen im Leib, das Einzige, was funktioniert, ist mein Magen. Und die setzen mich auf Diät!«
Schröder hatte die Eingangstreppen erreicht. Er stoppte, hielt kurz inne, wandte sich nach rechts und verschwand um die Ecke, offensichtlich unterwegs zu den überdachten Fahrradständern hinter dem Präsidium.
»Heute Vormittag hatte ich Wassergymnastik«, erzählte Frieda. »Wir waren zu sechst, die anderen sind mindestens zwanzig Jahre älter als ich. Ich musste ’ne Badekappe aufsetzen«, presste sie hervor. »Und Bälle hin und her werfen. Mit Frau Bohrmann, die ist fast siebzig. Die hat ’ne neue Hüfte, früher war sie Sekretärin bei der SED-Bezirksleitung. Wir hatten ein nettes Gespräch, ich hab ’ne Menge gelernt. Über künstliche Darmausgänge. Und dass im Osten die Brötchen viel besser waren.«
Zorn klemmte das Handy zwischen Schulter und Ohr, fischte eine weitere Kippe aus der Schachtel und übertönte das Klicken des Feuerzeugs mit einem Husten.
»Wie geht’s Edgar?«, wollte Frieda wissen.
»Der kommt langsam in die Pubertät.« Zorn blies den Rauch so geräuschlos wie möglich in die laue Sommerluft. »Ich darf nicht mehr ins Bad, wenn er auf dem Klo ist. Vorgestern hat er sich sogar eingeschlossen, kannst du dir das vorstellen?«
»Allerdings.«
Schröder schob sein neues Rennrad um die Ecke, ein neongrünes, chromblitzendes Gefährt, das er in wochenlanger Arbeit aus allen erdenklichen Einzelteilen in seiner Werkstatt zusammengeschraubt hatte.
»Kuscheln will Edgar auch nicht mehr«, seufzte Zorn bekümmert.
»Man kann ihn nicht dazu zwingen.«
»Leider.«
Schröder rückte den Helm auf der Glatze zurecht, bückte sich schnaufend, schloss das Reflektorband um die Wade und stieg auf sein Rad.
»Du fehlst mir, Frieda.«
»Du mir auch. Lange halte ich das nicht mehr …«
»Warte mal kurz.« Zorn schirmte das Handy am Unterarm ab. »Na, Chef?«, rief er dem vorbeiradelnden Schröder zu. »Darf man fragen, wo’s hingeht?«
Schröder gab eine knappe Erwiderung, erhob sich aus dem Sattel und trat in die Pedale. Zorn sah ihm mit offenem Mund nach, und erst als Schröder um die Ecke verschwunden war, nahm er das Handy wieder ans Ohr.
»Wie spät ist es, Frieda?«
»Kurz nach eins.«
»Krass.«
»Wieso?«
»Schröder macht Feierabend.«
»Echt? Das ist wirklich krass.«
»Ich fasse es nicht. Es ist Mittag, und der haut einfach ab.«
»Du rauchst schon wieder, Claudius.«
»Es ist erst die Dritte!«
»Das kannst du deiner Großmutter …«
»Frieda«, bat Zorn. »Ich will mich nicht streiten.«
»Ich auch nicht.«
Zorn schnippte die halb aufgerauchte Kippe in Richtung Papierkorb, den er zu seiner eigenen Überraschung ausnahmsweise einmal nicht verfehlte.
»Vielleicht hat Schröder einfach keinen Bock mehr.«
»Kann ich mir kaum vorstellen«, sagte Frieda.
»Er hat sich jahrelang den Arsch aufgerissen. Warum sollte er sich noch den ganzen Stress machen? Er hat’s schließlich von Anfang an gewusst.«
»Was?«
»Dass es Suizid ist. Keine Ahnung, wie er das macht. Intuition vielleicht oder dieses … Gefühl, von dem er manchmal spricht. Ich weiß nicht … er tickt irgendwie auf 'ner anderen Ebene.«
»Fast jeder zweite Notruf ist ein Fake, Claudius.«
»Das habe ich ihm auch gesagt.«
»Er hatte nur einen Namen und einen Ort?«
»Ja.«
»Trotzdem hat er Brettschneider sofort losgeschickt?«
»Weil er überzeugt war, dass es Suizid ist.«
»Bevor jemand vor Ort war? Nee, das konnte er nicht wissen.«
»Es war aber so.«
Sie schwiegen einen Moment.
»Er ist kein Hellseher, Claudius.«
»Wer weiß?«, überlegte Zorn laut. »Skispringer ist er schließlich auch.«
In dem großen geschwungenen Ohrensessel wirkte Schröder noch kleiner, als er eigentlich war. Die Nacht war sommerlich warm, trotzdem brannte im Kamin ein Feuer. Still saß er da und sah in die Flammen.
Auf dem Esstisch schräg hinter ihm stand sein Abendessen. Drei Scheiben Schwarzbrot in einem geflochtenen Korb, ein Holzbrett mit Käse, etwas Aufschnitt und einem Stück Butter. Daneben ein Gläschen mit französischem Senf. Die in der Obstschale zwischen Paprikastücken und geviertelten Möhren sternförmig angerichteten Apfelschnitze wurden bereits braun. In einem Messingständer flackerte eine halb heruntergebrannte Kerze auf der weißen Tischdecke, die beiden Rosen in der kleinen Kristallvase ließen die Köpfe hängen.
Ein Scheit knackte. Schröder stand auf, holte ein Porzellankännchen und eine Blechdose mit japanischem Grüntee aus dem Wandschränkchen über der Spüle, setzte Wasser auf und nahm wieder Platz.
Saß einfach nur da.
Als ein Pfeifen ihn hochschrecken ließ, schien er im ersten Moment nicht zu wissen, wo er sich befand. Sein Blick fiel auf den brodelnden Wasserkessel. Er stand auf und nahm den Kessel vom Herd. Stellte die Teedose wieder in den Wandschrank.
Und sah sich unschlüssig um.
Er lief zum Esstisch und blies die Kerze aus. Begann, das Geschirr abzuräumen, und trug es einzeln zum Küchentresen. Teller. Besteck. Senf. Obstschale. Schwarzbrot. Die geschliffenen Holzdielen knarrten unter seinen Schritten, in der Fensterfront zur Terrasse spiegelte sich seine gedrungene Gestalt. Als er das Holzbrett zum Tresen brachte, schwankte er kurz und stützte sich am Kamin ab.
Er räumte das Geschirr in die Schubladen. Verstaute den Senf im Gewürzregal. Zögerte. Leerte erst die Obstschale, dann das Brettchen mit Käse, Aufschnitt und Butter im Mülleimer.
Und nahm wieder Platz.
Er legte ein Scheit nach. Sah ins Feuer. Schreckte erneut hoch, als sein Handy in der Hosentasche vibrierte.
Die Nummer des Anrufers war unterdrückt.
»Schröder.«
»Merle Vanger hier.«
Seine Finger pressten sich um das Handy.
»Woher haben Sie diese Nummer?«
Die junge Frau ging nicht auf die Frage ein.
»Ich möchte mit Ihnen über meinen Vater reden.«
»Sie haben bereits mit meinem Kollegen gesprochen.« Schröder klang müde. »Wenn Sie sich also morgen im Präsidium …«
»Ich möchte mit Ihnen sprechen.«
Zehn Sekunden Schweigen.
»Sie wissen, warum.«
Zehn weitere Sekunden vergingen.
»Ich habe Kopfschmerzen«, sagte Schröder.
Und legte auf.
Von einem, der auszog, ein Mörder zu werden.
»Alles okay?« Zorn musterte das Pflaster auf Schröders linker Wange. »Hast du dich geschnitten?«
»Ja.«
»Wobei?«
»Beim Rasieren.« Schröder öffnete eine Schublade, kramte geräuschvoll herum und begann, den Inhalt vor sich auf dem Schreibtisch auszubreiten. »Wobei sonst?«
Es war kurz vor halb zehn. Zorn konnte sich nicht erinnern, dass Schröder jemals ohne triftigen Grund erst zu dieser Zeit im Büro erschienen war, doch es erschien ihm besser, weder nach dem Anlass seines gestrigen Verschwindens noch nach der heutigen Verspätung zu fragen.
»Die Spurensicherung hat keine Hinweise auf eine dritte Person gefunden«, sagte er. »Und auch der Obduktionsbericht bestätigt die Aussage von Merle Vanger. Der Schädel ihres Vaters ist nahezu vollständig zertrümmert, aber die haben ’nen Gebissabgleich gemacht. Außerdem hatte Raimund Vanger ’ne Hasenscharte, die wohl nie richtig behandelt wurde. Die wurde ebenfalls … Darf man fragen, was du da machst?«
»Ordnung«, brummte Schröder und betrachtete seine Bleistifte, Kugelschreiber und Textmarker, die er neben einem Häufchen loser Büroklammern vor sich aufgereiht hatte.
»Aha«, sagte Zorn.
Schröder langte in die Schublade, kramte eine weitere Büroklammer hervor und legte sie zu den anderen.
»Langweile ich dich, Schröder?«
»Wie meinen?«
»Ob ich dich …«
»Nein, du langweilst mich nicht.«
Schröder beugte sich wieder über seine Schublade.
»Soll ich weitererzählen?«, fragte Zorn.
»Selbstverständlich.«
Er räusperte sich.
»Laut Obduktionsbericht gibt es …«
»Kein Wunder.«
»Was«, fragte Zorn, »ist kein Wunder?«
Schröder hielt ein kleines, halb mit Büroklammern gefülltes Schraubglas in die Höhe.
»Der Deckel.«
»Ich sehe keinen …«
»Ich auch nicht.« Schröder langte nach unten und holte den Deckel aus der Schublade. »Er war ab. Kein Wunder also, dass die Büroklammern ausgekippt sind.«
»Gratuliere, du hast das Rätsel gelöst.«
Schröder wischte das Häufchen mit der flachen Hand in das Glas, schraubte den Deckel zu und hielt es prüfend gegen das Licht.
»Gute Arbeit«, sagte Zorn ernst. »Die werden nie wieder einfach so zwischen deinen Stiften rumliegen, diese hinterhältigen Büroklammern.«
Schröder drehte das Glas mit dem Deckel nach unten.
»Bombenfest, Schröder.«
»Ja«, sagte Schröder und schüttelte das Glas. »Das denke ich auch.«
Er begann, seine Utensilien wieder in die Schublade zu räumen.
»Stört es dich, wenn ich weiterrede?«, erkundigte sich Zorn. »Oder soll ich lieber warten, bis du fertig bist?«
»Mach nur.«
»Wo war ich eigentlich?«
Schröder zuckte die Achseln, nahm einen Kugelschreiber, wischte ihn am Hemdsärmel ab und ließ ihn in der Schublade verschwinden.
»Der Obduktionsbericht«, fiel Zorn ein. »Wie gesagt, vom Kopf ist nicht viel übrig, aber die Hände sind nahezu unverletzt. Wäre Vanger gestoßen worden, dann hätte er instinktiv versucht, seinen Kopf zu schützen. Hat er aber nicht. Der wollte sterben. Und nicht nur das. Rund um den Anlaufturm ist Waldboden. Nadeln und Moos, relativ weich also. Abgesehen von einem Betonfundament, da war früher ein Fahnenmast. Das Fundament ist nicht mal einen Quadratmeter groß, aber er ist genau dort aufgeprallt. Das war keine Kurzschlusshandlung oder so was. Der arme Kerl wollte sichergehen, Schröder. Ganz sicher. Und er …«
Es klopfte. Eine junge Frau öffnete die Tür.
»Guten Tag, Frau Vanger«, grüßte Zorn.
Sie nickte ihm kurz zu und wandte sich an Schröder, der im Begriff war, einen Bleistift in die Schublade zu legen, und mitten in der Bewegung erstarrte.
»Ich möchte Sie sprechen.«
»Wie …« Schröder schluckte. »Wie sind Sie hier reingekommen?«
»Ich hatte einen Termin bei Ihrem Kollegen.«
»Kommissar Brettschneider«, warf Zorn ein und deutete zur Tür, »sitzt im Büro schräg gegenüber.«
»Da komme ich her«, sagte Merle Vanger, die Schröder nicht aus den Augen ließ. »Er hat mir gesagt, wo ich Sie finde.«