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Du bist nicht du selbst, wenn du einen Zug erwischen musst ...
Das Irrenhaus Deutsche Bahn kennen wir als leidgeprüfte Zugreisende alle – doch wie ein Angestellter am Service Point die Chaoswirtschaft erlebt, darüber konnten wir bislang nur mutmaßen. Fakt ist, im Herzen des Bahnhofs treffen sie alle aufeinander: die Verrückten, die Verwöhnten, die Verzweifelten. Fußballfans, die am Wochenende die Bahnsteige zerlegen. Alte Damen, die Süßigkeiten vorbeibringen, seit ihnen 1998 der Koffer gerettet wurde. Hobbyjuristen, die ihre Fahrpreiserstattung bereits einklagen, bevor sie überhaupt in den Regional-Express steigen. In der zugigen Vorhalle ist Andreas Schorsch der Fels in der Brandung. Nur „der kleine Prinz“, sein durchsetzungsschwacher Chef, hat bei ihm niemals was zu lachen ...
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Seitenzahl: 271
Das Buch
Andreas Schorsch ist DB-Mitarbeiter aus Leidenschaft – und das seit dreieinhalb Jahrzehnten! Am Service Point des Düsseldorfer Hauptbahnhofs ist er der Fels in der Brandung. Er gerät niemals ins Schwanken, auch wenn der Wahnsinn unermüdlich um ihn herum tobt. Tag für Tag trifft er in der Bahnhofsvorhalle auf Menschen, die jede Frage der Welt an ihn richten – außer einer, die mit dem Bahnreisen zu tun hat. Schorsch erzählt von Fußballkohorten, die an den Wochenenden die Steige zerlegen, und alten Damen, die jeden Montag als Dankeschön Süßigkeiten vorbeibringen, seit ihnen im Jahre 1998 der Koffer gerettet wurde. Von Hooligans und Pfandsammlern, Lokaljournalisten und Müllnachsortierern. Von bürgerlichen Rechtsexperten, die sich die Fahrpreiserstattung bereits einklagen, bevor sie überhaupt in den Regionalexpress steigen, und von splitternackten Flitzern, die um drei Uhr morgens auf der Flucht »vor dem Teufel« durch die Gänge huschen und die Vorhalle zur Vorhölle umfunktionieren …
Skurrile und wahnwitzige Geschichten über das Irrenhaus Deutsche Bahn – wie sie ein Angestellter am Service Point erlebt hat!
Die Autoren
Andreas Schorsch, geboren 1960 in Düsseldorf, verbrachte nach der Hauptschule lässige 458 Tage beim Bund. Seine Ausbildung zum Fachverkäufer für Schuhmode fand ein abruptes Ende, als er eine Diskussion mit seinem Vorgesetzten nonverbal beendete. Es blieb bis heute sein einziger Sieg durch K.o. Seitdem setzt er sich als Mitarbeiter der Deutschen Bahn wortgewandt und hilfsbereit für die liebe Kundschaft ein.
Oliver Uschmann und Sylvia Witt haben mit der Romanreihe Hartmut und ich seit 2005 einen Kosmos geschaffen, der die Absurdität der real existierenden Welt pointiert überspitzt auf den Punkt bringt. Sie sind außerdem die Autoren zahlreicher weiterer erfolgreicher Bücher und privat sehr gut mit Andreas Schorsch befreundet.
Andreas Schorsch
Wofür sitzen Sie eigentlich hier?
Geschichten vom DB-Service-Point
Aufgeschrieben von Oliver Uschmann & Sylvia Witt
1. Auflage Originalausgabe April 2015Copyright © 2015 by Wilhelm Goldmann Verlag, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbHUmschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München, unter Verwendung von Motiven von bubingin, iStock Vectors/getty images; FinePic®, MünchenLektorat: Doreen Fröhlich DF ∙ Herstellung: Str.Satz: Uhl + Massopust, AalenISBN: 978-3-641-14496-8www.goldmann-verlag.deBesuchen Sie den Goldmann Verlag im Netz:
Inhalt
Vorwort
FRÜHSCHICHT
Bescheinigungen
Die verlorenen Dinge
Nicht über Köln
Nichts sehen, nichts sagen
Oskar allein am Gleis
Eine Reise nach Athen
Der Radschläger
SPÄTSCHICHT
Unter der Donnerkuppel
Die ganz große Last
A place of peace
Die Waggonruhe
Sparmaßnahmen
Die Waschmaschine
NACHTSCHICHT
Der Rheinschwimmer
Pinke Becher
Jahwe auf der Flucht
Das Pittermännchen
Nazis im Bahnhof
Schlüsselfragen
Vorwort
Der Mensch ist langsam im Denken. Und von Natur aus gemütlich. Er möchte es einfach, klar und griffig, und er möchte, dass immer alles so bleibt, wie es einmal war. Wobei einmal heißt: zu der Zeit, in der er es gelernt hat.
Nehmen wir zum Beispiel mal das Filmegucken. Kein Mensch gibt sich heute noch freiwillig mit Videokassetten ab. Niemand nestelt mehr klobige Klötze aus schwarzem Kunststoff in große Schlitze und sieht gütig darüber hinweg, dass die Bildqualität des Bandes, das damals angeblich mehr als tausend Überspielungen verlustfrei aushalten sollte, schon nach zehn Aufnahmen in Richtung Hinterhof-Überwachungskamera kippt. Alle sind froh und glücklich über digitale Recorder, auf deren Festplatten ein ganzer Regalmeter voller Videokassetten passt, oder über die unendlichen Weiten des Internets, in denen man alles einfach so abrufen kann – im Prinzip ein bisschen wie Captain Picard in Star Trek, wenn er sein Quartier betritt, einen Tee aus dem Replikator zieht und dem Computer befiehlt: »Chopin, die Nocturnes«, woraufhin das edle Klimpern beginnt.
Trotzdem schwärmen heute die Nostalgiker: Weißt du noch, wie das war, Andreas? Die guten, alten Videokassetten? Dieser satte Klang, wenn man sie in den Schacht schob? Und wir hatten ja nichts! Keine zweite Tonspur. Keinen Kommentar des Regisseurs! Wenn wir die englische Version gucken wollten, haben wir eine Extrakassette aus den USA importiert!
Die guten, alten Zeiten.
Telefone hatten noch Schnüre.
Das Fernsehen bestand aus drei Sendern plus RTL.
Und Twix hieß noch Raider.
Die Erinnerung daran wärmt das Herz.
Hat man sich aber irgendwann an das Neue gewöhnt oder sich selbst beigebracht, verblasst sogar sie.
Der Service Point im Foyer des Bahnhofs hieß jahrzehntelang einfach nur Information. In den Wohnzimmern standen Nierentische, und über den Eingängen kleiner Frisörsalons spannten sich süße rot-weiße Minimarkisen. Männer mit Ledertaschen schimpften über die langhaarigen Bombenleger, Franz Beckenbauer wurde Weltmeister als Spieler, und Helmut Kohl trat seine Regentschaft an, die laut Plan nicht hätte enden sollen, ehe die Befehlshaber von 642 Meter langen Raumschiffen mit der knappen Höhe des Kölner Doms ihrem Computer sagen, welche Musik sie gerne zum Tee hören möchten. Thomas Gottschalk moderierte Wetten, dass..? mit ebenfalls Kohl’schen Amtslängen-Absichten, und Franz Beckenbauer wurde Weltmeister als Trainer. Die Mauer fiel und bereicherte den Bahnverkehr um ein fein gesponnenes Streckennetz, dessen Verästelungen bis tief in die Buchten der Mecklenburgischen Seenplatte reichen. Und in all dieser Zeit, in der Imperien kamen und gingen, hieß die kleine Theke im Foyer eines Bahnhofs, an der man Informationen bekam: Information.
Nur weniges bleibt so lange dermaßen beständig und wenn, dann aus gutem Grund.
Persil.
Tempo.
4711.
Irgendeine Veranlassung, diese Namen zu ändern?
Vielleicht in:
Parsi?
Speed?
0815?
Nee.
Lass mal.
Manches brennt sich ein.
Das kriegt keiner so schnell weg.
In den Neunzigern kamen dann die Menschen, die dachten: Wir kriegen das weg! Alles weg aus den Köpfen! Marketing statt Maoismus, aber mit gleicher Absicht: Kulturrevolution! Adieu deutsche Sprache, hallo flotter Anglizismus. Wir alle kennen das Spiel. Es wurden Bücher drüber geschrieben, und noch heute erzählt man sich gerne, wie die Parfümerie Douglas an Kundschaft verlor, weil die Menschen dachten, der neue Slogan »Come in and find out« hieße: »Komm rein und mach, dass du schnell wieder rausfindest!« Den Altpatrioten schwoll angenehm der Kamm, denn sie sahen sich nun ihrerseits berechtigt, das Kind mit dem Bade auszuschütten und mit der Rücknahme des unmöglichen »Denglisch« auch gleich die Umstellung von T-Shirt auf T-Hemd oder von Walkman auf »tragbares Abspielgerät für Musikkassetten« zu fordern, was der verbissen sachlichen Benennung der Dinge in der ehemaligen DDR so nahekam, wie es einem konservativen Heimatwächter aus der Oberpfalz nun eigentlich auch wieder nicht recht sein konnte.
Die Information?
Sie verwandelte sich in jenen wilden Zeiten zum Service Point.
Also, das Wort verwandelte sich. Sonst blieb eigentlich alles beim Alten, denn freundlichen, von der Hochachtung gegenüber dem Kunden getragenen Service haben wir schließlich schon immer geboten und bieten ihn bis heute, wie dieses Buch im Folgenden beweisen wird.
Hö, hö.
Nun denn, ein kleiner Schritt für uns war ein großer Schritt für die Menschheit. Über Jahre hinweg lautete die fortan meistgestellte Frage an der Infor…, pardon, am Service Point: »Äh, Verzeihung? Wo finde ich denn hier die Information?«
Als wir schon dachten, dass es niemals aufhört, war eines Tages der Punkt überschritten, an dem die Menschen sich weigerten, den neuen Begriff zu akzeptieren oder ihn tatsächlich noch nie gehört hatten. Selbst Neunzigjährige arbeiteten sich nun zu uns durch und fragten ganz unverblümt: »Wie oft muss ich denn wohl umsteigen, wenn ich von hier nach Potsdam möchte?«
Es kam vor, dass wir dann unsererseits aus Gewohnheit die Frage überhörten und im Tonfall erfahrener Krankenschwestern antworteten, langsam und deutlich artikulierend: »Ja, richtig, genau. Das ist die Information.«
Das Ergebnis war eine Fortbildung in Sachen Altersdiskriminierung bei einer Dozentin namens Sibylle Rauchfuß-Gantenbein. Die hieß natürlich nicht wirklich so, aber sehr ähnlich.
Jedenfalls, irgendwann, nach langen, endlosen Mühen, war die Information im Bewusstsein der Menschen nun endlich der Service Point geworden. Und zwar so sehr, dass dieses Buch im Untertitel Geschichten vom DB-Service-Point heißt, obwohl der Service Point im Jahre 2015 schon seit der großen Sprachreinigungsaktion von Oberchef Rüdiger Grube vor fünf Jahren längst wieder DB Information heißt.
Nur: Gemerkt hat es bislang keiner.
Stattdessen fragen uns jetzt die Leute, ob sie hier am Service Point seien, denn da stünde ja »nur« DB Information.
Ich halte für diese Fälle immer eine Packung Minischokotäfelchen und einen Gratisstadtplan von Düsseldorf bereit, damit sie mir auch sofort glauben, dass ich nicht nur wie ein Automat Informationen raushaue, sondern auch ordentlichen Service biete. Ich trage sogar Koffer. Und stelle Bescheinigungen aus für alle Lebenslagen.
Außerdem sollen Sie, liebe Leserinnen und Leser, ja auch nicht unnötig verwirrt werden. Deswegen dachte ich mir, erklärst du das einfach mal, bevor es losgeht. Ich hätte ohnehin nie gedacht, dass ich mal ein Buch schreibe. Jetzt, wo ich es tue, muss ich an die braunen, weichen Taschenbuchausgaben denken, in denen wir damals in der Schule Schillers Räuber lasen. Hamburger Lesehefte hießen die. Da stand vorne immer kurz und knapp, wer mitspielt, was mir stets gut gefiel. Übersicht ist wichtig. Ich erläutere den Kunden, die mich nach einer Verbindung Richtung Stuttgart fragen, ja auch nicht zuerst die Legende von den Gebeinen der Heiligen Drei Könige oder die spannende Tatsache, dass sonst nur noch Limburg Süd der einzige Bahnhof ist, in dem ausschließlich Fernzüge halten, sondern sage ihnen erst einmal: Wenn Sie nach Stuttgart wollen, fahren Sie über Köln und Frankfurt Flughafen. Alles andere berichte ich vielleicht auch noch, das kommt auf die Situation und die Gemütslage des Kunden an.
Also sage ich jetzt: Die Figuren, mit denen Sie es in diesem Buch zu tun bekommen, sind meine Wenigkeit, meine Kollegin Annika und hin und wieder mein Chef, den wir nur den kleinen Prinzen nennen, weil er stets so viel möchte und alles für möglich hält. Der Gute. Die Annika ist eine ganz Liebe, und das ist nicht nur so dahergesagt. Sie hat eine unendliche Geduld mit den Menschen, zitiert gerne Lebensratgeber und achtet darauf, dass ich nicht »übertreibe«. Aber was heißt schon übertreiben? Ich gestalte meinen Beruf eben interessant aus. Auf dem Bahnhof ist sowieso jeder im Ausnahmezustand. Es gibt eine Werbung für diesen berühmten Schokoriegel mit Erdnüssen, dessen Marke Ihnen gerade bestimmt nicht einfällt, weil ich sie gewissenhaft verschweige, da lautet der Slogan: »Du bist nicht du selbst, wenn du Hunger hast.«
Nach mehreren Jahrzehnten Erfahrung mit den Menschen im Bahnhof kann ich guten Gewissens umdichten: »Du bist nicht du selbst, wenn du einen Zug erwischen musst.«
Die Kunden, von denen ich erzähle, hat es alle gegeben. Sollten Sie das Gefühl kriegen, der ein oder andere Dialog wäre heillos auf die Spitze getrieben worden, ist es wahrscheinlich der naturgetreueste. Das mag an mir und der bereits erwähnten kreativen Ausgestaltung meines Berufsprofils liegen, die immer dann besonders aufblüht, wenn die Menschen liebenswert verrückt sind oder anerkennenswert sportlich in ihrer Hartnäckigkeit.
Die liebe Annika und den kleinen Prinzen hingegen gab es zwar auch, doch sie sind nicht mehr bei der Bahn. Insofern handelt es sich hier tatsächlich noch um Geschichten vom Service Point. Die Kolleginnen und Kollegen, mit denen ich jetzt arbeite, möchten lieber erst in einer etwaigen Fortsetzung mit dem Titel Geschichten von der DB Information vorkommen. Und mein Chef, der zurzeit das Sagen hat, hat anders als damals der kleine Prinz tatsächlich was zu melden.
Gelesen, Chef?
So.
Jetzt kann’s losgehen.
Rote Mütze ist auf dem Kopf, Anzug sitzt, Zigaretten sind in der Brusttasche versteckt, und meine Geheimschublade ist noch geschlossen. Bevor das gute Stück Buch hier nun bald in allen Bahnhofsläden steht, Ingo Naujoks das Hörbuch spricht und Joko & Klaas sich eine neue Talkshow namens Bahndialektik ausdenken, möchte ich an dieser Stelle noch Sylvia Witt und Oliver Uschmann danken, meine Erzählungen so schön in Form gebürstet zu haben. Hut ab! Wenn Sie das nächste Mal in den Laden gehen, sollten Sie ein Buch von den beiden selbst kaufen. Egal welches, da können Sie nie etwas falsch machen. Bis dahin danke ich Ihnen schon jetzt für den Kauf dieses Exemplars.
Ab sofort fährt für Sie jeder Zug pünktlich.
Versprochen.
Ihr Andreas Schorsch
FRÜHSCHICHT
Bescheinigungen
»Guten Tag.«
Das ist schon mal ein solider Anfang. Doch ich spüre bereits, dass es mit dem jungen Mann nicht so freundlich weitergeht. Er trägt amerikanische Sneakers, eine schmal geschnittene Jeans über den Spargelbeinen und eine dunkelblaue Stoffjacke mit weißem Reißverschluss, aus deren Innentasche er einhändig seine Geldbörse zu lupfen versucht. Es gelingt nicht, da die Schlabberjacke sich mit nach oben zieht. Verärgert hält er sie mit der linken Hand stramm, um unfallfrei an seine Papiere zu kommen. Einen Augenblick später liegen sein Ausweis und sein Studententicket vor mir.
»Der Bruder einer Nachbarin, der Cousine meiner Kommilitonin, hat gesagt, dass sein Gemüsehändler gesagt hätte, ich darf mit dem Studententicket an Samstagen auch im ICE fahren.«
Da steht sie nun, diese Behauptung, haltlos wie eine Pappel im Sturm.
Ich warte ab.
Der Student schickt seine Pupillen für eine Sekunde auf eine Reise fernab ihrer Zentralposition, greift beiläufig mit der linken Hand nach dem Griff seines Reißverschlusses und zeigt schließlich mit der rechten auf seine zwei Ausweise, die meine Theke schmücken: »So. Und nun bescheinigen Sie mir das bitte!«
»Äh, nein?«
Man muss dazu sagen: Ich kann nichts dafür, dass ich eine so tiefe Stimme habe. Das liegt an meiner Körpergröße, für die ich ebenfalls nichts kann. Jede Menge Raum für Resonanz. Wenn eine junge Frau mit braunen Locken, die beim Sitzen ihre Knie aneinanderschmiegt und die Tasse mit beiden Händen hält, »Äh, nein?« sagt, hat das etwas Putziges. Kommt dieser Satz aus meinem Mund, fassen ihn die Menschen meistens als Anmaßung auf.
»Wie, äh, nein?«
»Das muss ein derbes Missverständnis sein.«
Der junge Mann tritt einen Schritt zurück und vollführt vor dem Tresen eine kleine theatralische Drehung, bei der seine Stoffjacke neckisch in Schwung gerät wie das Kleidchen einer Rock’n’Roll-Tänzerin. Seine Drehung endet punktgenau mit beiden Ellbogen auf meiner Theke. Jetzt flackern seine Augen in einer Mischung aus Angriffslust und Angst vor meiner väterlichen Autorität. Mit diesem Blick könnte er Aaron Paul aus der Fernsehserie Breaking Bad sein, in seiner Rolle als junger Kleinkrimineller Jesse Pinkman, dem ausgerechnet sein uncooler, ehemaliger Chemielehrer zeigen wird, wo im Drogenlabor der Hammer hängt.
»Ihr unfähiger Schaffner hat auch gesagt Äh, nein, also sinngemäß, und dann hat er mich auf der Fahrt hierher aufgeschrieben! Gibt es denn so was? Der hat doch keine Ahnung!«
»Das ist nicht mein Schaffner«, sage ich. »Wenn es mein Schaffner wäre, säße ich nicht hier, sondern in einem großen, dreieckigen Büro mit vollverglastem Ausblick über ganz Berlin. Ich würde mich nur fragen, was man mit der superspitzen Zimmerecke machen könnte. Eine Gummipalme? Ein Ficus? Oder einfach jeden Morgen mich selber reinstellen und über meine Stadt schauen wie Joh Fredersen im neuen Turm zu Babel?«
Jesse Pinkman schaut mich verdutzt an. Mist, die Anspielung auf Metropolis war zu alt. Dabei sind diese jungen Leute trainiert darauf, ironische Anspielungen grundsätzlich verstehen zu müssen oder zumindest so zu tun, als ob.
»Sie bescheinigen mir das jetzt!«
Pinkman tobt. Er muss stets seinen Willen durchsetzen wie ein trotziger kleiner Junge.
»Äh, nein?«
»Jetzt hören Sie doch mal auf mit Ihrem bescheuerten Äh, nein?! Wofür sitzen Sie hier eigentlich?«
Ich seufze und öffne die Schublade mit meinem dicken Block. Annika sieht es im Augenwinkel und schüttelt tadelnd den Kopf. Sie kennt meinen Block. Er enthält Bescheinigungen, die ich eigenhändig an meinem heimischen Computer gestaltet habe. Dazu gibt es einen passenden Stempel. Natürlich nicht von der Deutschen Bahn. Guckt man genauer hin, sieht man, dass ich lediglich meine Adresse samt einem lateinischen Zitat von Kant auf das Blatt ramme. Sapere aude. »Wage es, weise zu sein.« Üblicherweise übersetzt mit: »Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.« Mein Stempel sieht mächtig aus, ein ganz dicker Brummer aus Stahl, der den satten Klang unumgänglicher Autorität und Allmacht ausstrahlt, die mir junge Männer wie der Student in der Stoffjacke grundsätzlich unterstellen. Der Gute guckt auch schon ganz hoffnungsvoll.
»Eine Möglichkeit gibt es«, sage ich.
Glitzern in Pinkmans Augen.
»Wenn alle anderen Verbindungen ausfallen oder schwer gestört sind und dadurch der ganze Betriebsablauf durcheinanderkommt, dann gibt entweder der Schaffner oder ein freundlicher Servicemitarbeiter vor Ort auch mal einen ICE zur Fahrt für alle Nichtberechtigten frei. Wenn Sie also mit dem Studententicket unbedingt ICE fahren wollen, machen Sie es wie diese Autoverkehrsliebhaber, die den Polizeifunk abhören, um absichtlich in einen Stau zu geraten. Gucken Sie im Netz nach, wo der Bahnverkehr gerade zusammenbricht, fahren Sie dorthin und nutzen Sie die Sondererlaubnis.«
Pinkman ist nicht amüsiert.
Die Stoffjacke bebt.
»Sie bescheinigen mir das jetzt. Sofort!«
»Ich kann Ihnen vieles bescheinigen, wenn Sie wollen«, sage ich und rücke meine Formulare gerade. »Ich kann Ihnen bescheinigen, dass Sie Plattfüße haben, zum Beispiel.«
»Ich habe keine Plattfüße!«, empört sich Pinkman und guckt dabei hastig runter zu seinen Sneakers, als sollte er es doch lieber noch mal überprüfen.
»Dann bescheinige ich Ihnen, dass Sie unter einer Hamsterhaarallergie leiden. Das kann sehr praktisch werden, falls Sie mal nachts unerwartet mit Hamstern zu tun bekommen. Oder die kleine Schwester die Eltern darum anfleht, nun auch endlich einen Nager zu bekommen, und Sie wissen schon, dass Sie es sind, der sich nach 14 Tagen um das Vieh zu kümmern hat, weil es sonst bald platt und trocken im Heu liegt wie ein Waschlappen in der Mittagssonne. Ich meine, falls Sie noch zu Hause wohnen.«
Pinkman kratzt sich mit der rechten Hand am Kragen und knetet mit der linken erneut den Reißverschlussgriff. Er wohnt noch zu Hause. Ganz sicher. Daher auch seine Übung darin, vom großen Mann mit der tiefen Stimme stets Rettung zu erwarten und gleichzeitig sauer auf sich zu sein, dass er ihn überhaupt braucht.
Ich raschele mit den Blättern, da der Kleine langsam die Konzentration verliert. Zu viel YouTube.
»Hier waren wir, Bescheinigungen!«, sage ich.
Er reibt sein rechtes Auge mit dem Handrücken.
»Ich kann Ihnen eine schwere Arbeitsphobie bescheinigen. Das geht auf jeden Fall!«
Ich ernte einen vorwurfsvollen Blick seitens Annika. Sie ist seit einigen Minuten damit beschäftigt, einer Rentnerin zu erklären, wohin die laut den Notizen ihrer Tochter auf dem mitgebrachten Zettel eigentlich mit dem Zug fahren soll.
»Eine Arbeitsphobie?«, empört sich Pinkman. »Ich studiere!«
»Ich weiß«, sage ich, da wir schließlich über sein Studententicket diskutieren, und stelle die Gegenfrage: »Chemie?«
Er schüttelt den Kopf.
»Mathematik?«
»Nein.«
»Architektur?«
»Nein.«
»Garten- und Landschaftsbau?«
»Nein, Mann! Soziologie!«
»Hervorragend, das passt eins a, ich kann Ihnen die Phobie also bescheinigen!«
Pinkman schnaubt.
Die Rentnerin fragt Annika mit großen Augen: »Aber warum will meine Tochter denn, dass ich dahin fahre?«
Hinter Jesse Pinkman baut sich ein Geschäftsmann auf, der in allen Belangen das Gegenteil von ihm darstellt. Zwei Köpfe größer, schwarze Lederschuhe, Anzug, die Haut vor lauter Zorn so straff, dass er jeden Moment aufplatzen könnte. Er schaut auf seine Uhr, auf mich, auf den Studenten. Der Lautsprecher über unseren Köpfen verkündet: »Achtung, an Gleis 16, ICE 625 nach Frankfurt am Main Hauptbahnhof, planmäßige Abfahrt war 11:21 Uhr, dieser Zug hat voraussichtlich eine Verspätung von 20 Minuten!«
Wobei, der Lautsprecher verkündet gar nichts, das ist Uwe aus der Zentrale, der heute am Mikrofon sitzt.
Der Geschäftsmann verliert die Geduld, macht einen Schritt nach vorn, schiebt Pinkman wie ein Eishockeyspieler zur Seite und blafft mich ohne Einleitung an: »Was ist denn jetzt hier mit den Verbindungen nach Frankfurt! Keiner sagt einem was in diesem Sauladen!«
Der Student legt entsetzt die Ohren an. Jetzt hat er ein besseres Feindbild als mich. Annika sieht nicht mal vom Zettel auf, über dem sie mit der alten, leicht schwerhörigen Dame hängt und gemeinsam mit ihr behutsam herauszufinden versucht, was wohl in ihrer Tochter vorgeht. Einfache Fahrt nach Buxtehude ohne Rückfahroption? Was soll das?
»Überlegen Sie mal. Kennen Sie jemanden in Buxtehude? Wartet dort jemand auf Sie?«
Die Frau denkt tatsächlich scharf nach. Dann schaut sie Annika wieder mit ihren entwaffnenden, herzlichen, naiven Mädchenaugen unter schlohweißem Haar an und haucht: »Nein. Da kenne ich niemanden.«
Ich sehe dem Geschäftsmann in die Augen, deute auf Pinkman und sage: »Ich habe hier noch einen Kunden vor Ihnen.«
Oh, wie das Pinkman freut, der mir bis eben noch so zürnte!
Am liebsten würde er sich jetzt auf Brust und Schultern klopfen und dem arroganten Lackaffen sagen: »Guck hier! Ich, der Soziologiestudent, habe die gleichen Rechte wie du, du gieriger Weltenzerstörer! Ja, so sieht’s nämlich aus! Der Herr Schorsch, der hat noch einen Kunden vor dir!«
Der Geschäftsmann tobt.
»Die Bahn, der Sauladen, der gottverdammte! Das ist eine Unverschämtheit!« Er hebt seine rechte Hand samt Aktenkoffer und zeigt damit auf mich, die zwei Meter Unverschämtheit am Stück: »So Leute wie Sie, ja, so Leute wie Sie in der freien Wirtschaft, und unser Land ginge längst am Stock. Am Stock, das sage ich Ihnen!«
»Es gibt da jetzt ganz was Neues«, antworte ich, »die Deutsche Bahn heißt jetzt Deutsche Bahn AG. Ist eben erst verkündet worden. Gestern, glaube ich. Ich bin Angestellter einer AG.«
Der Geschäftsmann schürzt die Lippen wie der untalentierte Darsteller eines Rockerbösewichts und legt den Kopf schräg, die Aktenkofferhand weiter zitternd: »Ja, AG, Scheiße-AG. Ihr seid doch alle immer noch Beamte! Ihr kriegt ja nicht mal den Börsengang hin, den ihr 2006 beschlossen habt. Pah! Unsereins muss täglich blitzschnell schalten, und ihr kriegt nichts mit. Gar nichts kriegt ihr mit!«
Der Lautsprecher verkündet: »Achtung, erneute Durchsage für Gleis 16, ICE 625 nach Frankfurt am Main Hauptbahnhof, planmäßige Abfahrt war 11:21 Uhr, aufgrund eines Unfalls im Gleisbett hat dieser Zug nun eine voraussichtliche Verspätung von 30 Minuten und fährt abweichend auf Gleis 9.«
Annikas Rentnerin sagt, das Köpfchen auf die Hand gestützt: »Die Henriette, die hatte mal einen Schwager in Bremen, den Otto. Liegt Buxtehude nahe bei Bremen? Aber was soll ich denn beim Otto?«
Pinkman sagt zum Geschäftsmann: »Sehen Sie denn nicht, dass ich hier noch Bescheinigungen kriege?«
Der Geschäftsmann flucht: »Gut, wenn hier keiner bereit ist, einem zu sagen, was mit Frankfurt los ist, dann wird bei mir nur noch geflogen. Das sage ich euch! Dann sieht die sogenannte Bahn AG von mir keinen Cent mehr! Ihr mit euren grünen Tickets da, ihr CO2-Heinis, ihr! Das ist doch alles sowieso der letzte Schwachsinn! Mal ist es zu kalt. Mal ist es zu heiß. Und immer ist es Klima. Kerosin heißt es jetzt! Aber frag nicht nach Sonnenschein! Kerosin!!!«
Er zieht ab, die Hand samt Koffer erhoben, noch ein paar Mal skandierend: »Kerosin! Kerosin!«
Pinkman schüttelt den Kopf und lächelt mich an, als hätte sich alles verändert und wir beide wären nun gemeinsam durch dick und dünn gegangen. Er lehnt sich auf die Theke und zeigt mit dem Daumen hinter sich: »Dem hätten Sie Wahnsinn bescheinigen können.«
Ich brumme zustimmend.
Pinkman nickt immerfort mit dem Kopf wippend, als hätte er plötzlich Reggaemusik in den Ohren.
Annika fragt die Rentnerin: »Wollen Sie denn überhaupt nach Buxtehude? Oder irgendwohin?«
Die süße Dame legt Annika ihre Hand auf den Unterarm: »Eigentlich will ich heute nur zu der Edeltraud nebenan und wie jeden Donnerstag Rommé spielen.«
ENDE DER LESEPROBE