Wolfsinstinkt - Lena Seidel - E-Book

Wolfsinstinkt E-Book

Lena Seidel

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Beschreibung

Auf der Flucht vor seinen inneren Dämonen und dem Alkohol landet Comiczeichner Ricky Coleman ausgerechnet in Alaska. Bereits kurz nach seiner Ankunft findet er einen verletzten Wolf im Schnee und pflegt ihn gesund. Seltsam enttäuscht stellt Ricky eines Tages fest, dass der Wolf verschwunden ist. Doch er kehrt bald zurück - in Gestalt eines atemberaubenden Mannes, der sich auf eine ganz spezielle Weise bei Ricky bedanken will. Denn beide Männer verbindet mehr als der Zufall.

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Lena Seidel & Toni Kuklik

Wolfsinstinkt

Impressum

© dead soft verlag, Mettingen 2012

http://www.deadsoft.de

© die Autoren

Cover: T. Kuklik und M. Hanke

Bilder:

Wolf: © Petra Kohlstädt – fotolia.com

Mann: © 1911 – Fotolia.com

1. Auflage

ISBN 978-3-943678-47-5 (print)

ISBN 978-3-943678-48-2 (epub)

Romanfiguren können darauf verzichten: Im richtigen Leben gilt safer sex!

Widmung

Für Stefanie, zum Dank für eine 2500 km lange Odyssee.

Lena

Ricky Coleman erreichte das Ziel seiner Reise an einem sonnigen Nachmittag. Der Schnee um ihn herum glitzerte wie Millionen Diamantensplitter und die Luft, so kalt sie auch war, schien ihm bis ins Hirn zu dringen und jeden Mief aus New York innerhalb weniger Sekunden zu vertreiben. Es hatte zwei Flugzeuge gebraucht, um ihn von New York nach Anchorage zu bringen, einen Charterflug nach Cordova im Osten des Landes, wo er auf einem winzigen Flugplatz mit dem einfallsreichen Namen ‚Smith Airport‘ gelandet war. Von dort begann eine mehrstündige Fahrt in einem Bus, der allem Anschein nach nur noch mit Draht und Gebeten zusammengehalten wurde, bis er hier angekommen war, in einer kleinen Stadt im Süden, die Katalla hieß. In den Dimensionen dieses Landes lag der Beringsee nordöstlich verhältnismäßig nahe, gleich dahinter reckte sich unter anderem der Mount Hamilton in den Himmel. Ein Taxi brachte ihn von dort aus zu einem Dorf, dessen Namen er sich nicht merken konnte. Danach stand ihm noch eine Wanderung bevor, die ihn zu seinem Haus bringen sollte. Nun hatte er es endlich geschafft. Alaska.

Der Schweiß, der sich während des anstrengenden Fußmarsches vom Dorf hinauf zu seinem Domizil auf seiner Stirn gebildet hatte, begann zu gefrieren. Trotzdem blieb Ricky noch einen Moment stehen und ließ den Anblick des Hauses auf sich wirken. Es war klein und hatte vermeintlich wenig Grundfläche, Ricky hoffte allerdings, dass die Maklerin ihm nicht zu viel versprochen hatte. Angeblich gab es rund 70m² Wohnfläche, aufgeteilt auf zwei Etagen. Ganz für ihn alleine.

Als Ricky klar wurde, dass er seine Zehen in den schweren Stiefeln nicht länger spüren konnte, stapfte er den zugeschneiten Weg hoch bis auf die Veranda. Sie knarrte unter jedem seiner Schritte. Ricky störte sich nicht daran. Ein Knarren wie dieses gehörte einfach in solche Häuser. Mühsam kämpfte er sich aus einem seiner Handschuhe und fischte einen Schlüssel aus der Tasche. Beladen mit Rucksack, Reisetasche und einem Koffer, der eine schöne Spur vom Dorf aus hier hoch gezogen hatte, trat er ein.

„Meine Fresse, ist das kalt hier!“ Leise fluchend strampelte Ricky sich die Stiefel von den Füßen.

Im Haus war es nicht viel wärmer als draußen. Hastig sah er sich um und entdeckte den Kamin. Er ließ sein Gepäck zunächst achtlos zurück, warf die Handschuhe beiseite und schaffte es mit einiger Anstrengung, ein Feuer im Kamin zu entfachen. Gott sei Dank hatte er der Maklerin einiges an Geld zukommen lassen, damit bei seiner Ankunft das Meiste fertig war. Gutes Feuerholz gehörte in dieser Gegend eindeutig dazu.

Allerdings musste Ricky feststellen, dass es dauerte, bis so ein Feuer ein Haus aufwärmen konnte. Es war wohl besser, wenn er etwas in Bewegung blieb. Er warf einen zusätzlichen Scheit ins Feuer, rieb die Hände aneinander und wandte sich dann endlich seiner Unterkunft zu. Zunächst galt es, erst einmal alles zu erkunden.

Neugierig verließ er das, was anscheinend das Wohnzimmer darstellen sollte, und stand gleich darauf in der Küche, die ihm ein lautes Lachen entlockte. In einer Ecke stand ein wahres Monster von einem Herd, das ebenfalls mit Holz beheizt wurde. Die restliche Einrichtung war im Landhausstil gehalten – äußerst passend, wie er fand. Das Einzige, das den romantischen Look ein wenig schmälerte, waren die Kisten und Kartons, die neben einem massiven Holztisch aufgestapelt waren.

Ricky seufzte. Darin befanden sich einige seiner Habseligkeiten, die er vor ein paar Wochen vorausgeschickt hatte. Wahrscheinlich würde er die nächsten Tage erst einmal damit verbringen, die Kartons auszuräumen und für alles einen geeigneten Platz zu finden. Hoffentlich gelang ihm das, immerhin war er sich nichtmal sicher, für sich selbst einen passenden Platz gefunden zu haben. Kopfschüttelnd wandte er sich von der anstehenden Arbeit ab. Erst wollte er sich den Rest des Hauses ansehen.

Vom Wohnzimmer führte eine weitere Tür in das Bad, das, wie er feststellte, überraschend modern war. Hier konnte man vergessen, dass es draußen eisige Minustemperaturen hatte.

Ricky nickte zufrieden, schloss die Tür und stieg über knarzende Treppenstufen in den ersten Stock. Schlafzimmer und ein helles Atelier hatte die Maklerin ihm im Obergeschoss angepriesen, und genau das fand er vor. Das Schlafzimmer war nicht groß, aber er brauchte nicht viel Platz für sein Bett. Das Atelier dagegen, in dem er arbeiten wollte, war umso größer und vor allem lichtdurchflutet.

Ricky stellte sich vor eines der großen Fenster und sah auf die schneebedeckte Wildnis hinaus, die ihn hier umgab. Kein Lärm, keine Menschen, kein hektischer Trubel, keine Ablenkung. Stattdessen Einsamkeit und fast unberührte Natur. Hier wollte er den Teil in sich wiederentdecken, der ihm im Großstadtdschungel von New York verloren gegangen war. Diese Idee war ihm vor einer Weile gekommen, urplötzlich, als würde ihn etwas Seltsames in diese Einöde rufen. Der Ruf in seinem Inneren war immer lauter geworden, bis er ihm nachgegeben hatte.

Seine Agentin hatte ihn für verrückt gehalten, seine Mutter hatte ihn nicht für voll genommen und seine Schwester hatte angedroht, ihn sofort zu besuchen, wenn er sich nicht regelmäßig bei ihr meldete. Wahrscheinlich hatte sie tatsächlich Sorge, dass er von einer Lawine verschüttet oder von einem Bären gefressen werden könnte. Tatsächlich vermutete Ricky allerdings, dass sie alle froh darüber waren, dass er nun hier war.

Ihm war durchaus bewusst, dass er in den letzten Monaten keine angenehme Gesellschaft gewesen war, und die neunundzwanzig Tage, die er wegen Alkohol am Steuer in einer Entzugsklinik hatte verbringen müssen, um nicht in den Knast zu wandern, hatten ihm letzten Endes die Augen geöffnet.

Er atmete tief ein und wandte sich von der traumhaften Aussicht ab. Auch in diesem Zimmer gab es einen kleinen Ofen in der Ecke. Lange nicht so schick wie der Kamin im Wohnzimmer, doch sicher gut genug, um das Schlafzimmer für die Nacht zu heizen.

Mit ein paar Handgriffen schaffte er es, ein zweites Feuer zu entfachen. Ein weiterer Blick aus dem Fenster verriet ihm, dass die Tage hieranscheinend früher endeten, denn es wurde allmählich dunkel. Ricky beschloss, dass er sich die Gegend noch ein wenig ansehen wollte, bevor die Nacht vollkommen hereinbrach. Außerdem brauchte es sicher etwas Zeit, bis das Haus warm wurde.

Er tauschte die nasse Hose gegen eine trockene, stellte ein Eisengitter vor den Kamin, damit das Haus nicht vollkommen ausgebrannt war, wenn er zurückkehrte, und verließ schließlich sein neues Heim.

Wie er ausgerechnet darauf gekommen war nach Alaska zu ziehen, statt sich einen wärmeren Ort auszusuchen, war ihm nach wie vor schleierhaft. Doch irgendetwas hatte ihn hierher gezogen. Etwas hatte ihm eingeflüstert, dass dies der richtige Ort für ihn wäre und dass er hier seine Antworten finden würde. Auf welche Fragen auch immer. Blieb nur zu hoffen, dass es nicht der Alkohol gewesen war, der ihm diesen Floh ins Ohr gesetzt hatte. Doch es fühlte sich nicht so an, im Gegenteil, jetzt, da er über das verschneite Land schaute, hatte er das Empfinden, dass ein Teil in seinem Inneren freudig aufjaulte.

Wie zuvor knirschte der Schnee unter seinen Stiefeln und machte das Laufen schwer, aber Ricky genoss diese Art Anstrengung. Es hatte etwas Ursprüngliches an sich, so durch den kniehohen Schnee zu stapfen, der unberührt wie ein frisches Leintuch über der Erde lag. Einen winzigen Augenblick schoss ihm der Vergleich mit einem Leichentuch durch den Kopf, und er ärgerte sich über diese Assoziation. Verdammt, er musste aufhören, in so morbiden und makaberen Bahnen zu denken! Das wirkte sich sogar bis in seine Arbeit aus und war mit ein Grund dafür gewesen, warum er lange Zeit der Meinung gewesen war, das Leben ohne Alkohol nicht ertragen zu können.

Plötzlich stand er am Waldrand und konnte sich nicht erklären, wie er hierhin gekommen war. Ihm war nicht bewusst gewesen, so weit gegangen zu sein, doch als er sich zu seinem Haus umdrehte, war es nur noch ein schwarzer Schatten in der zunehmenden Dunkelheit. Einzig ein unregelmäßiges Flackern durch die unteren Fenster erhellte das Bild. Ricky brummte unwillig und machte sich an den Rückweg. Hoffentlich erreichte er das Haus, bevor die Nacht ganz über ihn hereinbrach. Langsam wurde er müde, jeder Schritt fiel ihm schwerer alsder vorangegangene, und er war heilfroh, als er endlich die Veranda erreichte und schon von hier aus das Knistern des Feuers im Kamin hörte.

Es dauerte nicht lange und Ricky hatte sich aus der dicken Jacke und den nassen Stiefeln befreit. Inzwischen war es fast richtig warm im Haus. Dennoch nahm er sich zur Sicherheit eine Wolldecke aus einer seiner Kisten und setzte sich damit vor den Kamin. Das Feuer bot die einzige Lichtquelle hier unten. Draußen herrschte inzwischen vollkommene Dunkelheit. Er reckte sich ein Stück, zog seinen Rucksack zu sich und fummelte den Verschluss auf. Gleich darauf hatte er seinen Zeichenblock und den Bleistift auf dem Schoß. Doch statt loszulegen, starrte er eine Weile auf das weiße Blatt und lenkte den Blick dann zurück zu dem Bild der tanzenden Flammen.

Seine Gedanken kreisten wie grauer Nebel und er schaffte es nicht, einen von ihnen zu erfassen und sich näher mit ihm zu beschäftigen. Vielleicht war es die frische Luft, die er einfach nicht gewohnt war, oder er war lediglich komplett übermüdet. Aber egal, was ihn davon abhielt, zu denken oder gar zu arbeiten, es sorgte für eine angenehme Entspannung. So angenehm, dass er das Zeichenmaterial irgendwann einfach beiseiteschob und sich auf dem Teppich vor dem Kamin einrollte wie ein Hund.

Morgen musste er einkaufen. Seine Schwester anrufen. Seine Kartons auspacken. Sich bei der Agentin melden. Den Weg freischaufeln. Mit diesen wirren Gedanken, die er nicht mehr zuordnen konnte, schlief er schließlich einfach ein.

Zusammen mit Dave stand er vor seinem Lieblingsclub im Regen und fauchte den Türsteher an, der sie nicht einlassen wollte. Angeblich waren sie nicht passend gekleidet. Was bildete der Kerl sich eigentlich ein? Wusste er denn nicht, wen er vor sich hatte? Er war immerhin der aufstrebende Stern am Comic-Himmel, der neue Star, dessen gezeichnete Geschichten verkauft wurden wie warme Semmeln! Daves Hand, die sich beschwichtigend auf seinen Arm legte, schüttelte er genervt ab. Er wusste, dass Daveso ein Aufstand peinlich war, vor allem weil sich hinter ihnen eine Schlange bildete, in der die Wartenden zunehmend ungeduldiger wurden. Aus dem Streit wurde eine Handgreiflichkeit, in deren Verlauf der Türsteher ihn einfach aus der Schlange und auf den Gehweg zurückschubste. Ricky wollte auf den Mann losgehen, doch Dave hielt ihn fest. Seine Wut richtete sich nun auf seinen besten Freund aus Kindertagen.

 „Was ist mit dir nur passiert?“, fragte Dave vorwurfsvoll, was Ricky nur noch mehr erzürnte. „Ist dir der Erfolg so sehr zu Kopf gestiegen? Ich erkenne dich gar nicht wieder!“

„Wenn dir mein Verhalten nicht gefällt, dann geh doch!“, schrie er Dave an. „Verpiss dich! Mit solchen Spießern will ich nichts mehr zu tun haben!“ Um seine Worte zu unterstreichen, stieß erihm so kräftig vor die Brust, dass Dave überrascht nach hinten taumelte.

„Du hast dich echt zu einem Arschloch entwickelt, Ricky!“, erwiderte Dave leise, doch selbst die fehlende Lautstärke konnte seine Enttäuschung nicht verbergen.

Dave drehte sich um und lief zu seinem Auto, das er am Straßenrand geparkt hatte.

Ricky war zu stolz, um ihn aufzuhalten. Wütend sah er zu, wie Dave in seinen Wagen stieg und mit quietschenden Reifen losfuhr. Die Straße glänzte vor Nässe, der Regen hatte sich zu einem Wolkenbruch entwickelt. An der Kreuzung sprang die Ampel von Rot auf Grün, Dave gab Gas. Aus der kreuzenden Straße schoss ein Mustang auf die Kreuzung.

Ein Knall, das Kreischen von Blech, das sich ineinanderschob, helles Bersten von Glas. Menschen schrien auf, einige rannten auf die beiden Autos zu, viele zückten ihre Handys. Wahrscheinlich, um die Polizei und den Notarzt zu rufen. Eine kurze Weile später heulten entfernt Sirenen auf.

Wie Ricky zur Unfallstelle gekommen war, wusste er nicht, doch er stand an Daves altem Suzuki, der auf einmal nur noch halb so lang war. Panisch versuchte er etwas zu erkennen, doch da waren lediglich seltsame gelbliche Schlieren, durchsetzt mit roten Fäden, ein Spinnwebenmuster an der Seitenscheibe. Er wurde weggezogen, fremde Stimmen redeten auf ihn ein, doch er verstand kein Wort von dem, was sie sagten.

Krankenwagen und Feuerwehrautos mit wirr blinkenden Lichtern trafen ein, er wurde von Männern in Uniformen noch weiter zurückgedrängt. Mit einem seltsamen Gerät wurde die komplett demolierte Fahrertür von Daves Kleinwagen aufgeschnitten, wie in Zeitlupe zerrte einer der Feuerwehrmänner eine lebensgroße Puppe vom Fahrersitz aus ins Freie. Es musste eine Puppe sein, etwas anderes war gar nicht möglich, denn sie bewegte sich nicht mehr und ihr Gesicht … Ihr Gesicht fehlte.

„Er ist tot!“, hörte er den Mann sagen, der die Dave-Puppe auf den Armen hielt.

Ein wilder Aufschrei zerriss die Nacht.

Ricky wachte jäh auf. Der Schweiß stand ihm auf der Stirn. Er bekam keine Luft mehr und seine Ohren schmerzten von dem Krach. Es dauerte einige Sekunden bis ihm klar wurde, dass er es war, der den Krach verursachte. Hastig schlug er sich die Hand vor den Mund, um den Schrei zu ersticken.

Er rang nach Atem. Noch immer flackerten die Lichter in seiner Erinnerung, als würde es gerade passieren, und das Bild des gesichtslosen Freundes hatte sich auf ein Neues in sein Gehirn gebrannt.

„Dave“, flüsterte er in die Dunkelheit.

Dave. Sie hatten sich im Kindergarten kennengelernt und waren von da an unzertrennlich gewesen. Alles hatten sie gemeinsam gemacht und durchgestanden. Die Schulen. Die ersten Beziehungen, verbunden mit seinem Coming-out. Familiendramen. Sie waren immer füreinander da gewesen. Und dann diese Nacht.

Ricky fuhr sich mit zitternden Fingern übers Gesicht. Es war nicht nur Schweiß, der seine Wangen benetzte. Tränen flossen unaufhaltsam hinab, bahnten sich ihren Weg über seine Haut und tropften ihm vom Kinn. Je mehr Ricky wegwischte, desto mehr folgten. Er erinnerte sich noch sehr genau an diese schrecklichen Minuten. So sehr er auch versucht hatte sie zu vergessen und in Alkohol zu ertränken. Daves Tod hatte ihn trotzdem jedes Mal aufs Neue eingeholt.

Instinktiv sah Ricky sich im Zimmer um. Nein. Er befand sich nicht in seinem Loft in New York. Er war in Alaska. Hier würde er seinen neuen besten Freund, Jack, sicher nicht finden. Kein Jack Daniels. Deswegen war er hier. Daves Tod hatte ihn in einen bodenlosen Abgrund gezogen. Zerfressen von Selbstvorwürfen und den Erinnerungen an jedes Detail des Unfalls war er immer weiter abgerutscht. Nun war er hier – um wieder auf die Beine zu kommen.

Am ganzen Leib zitternd erhob Ricky sich und ging ins Badezimmer.Ein schmales, viel zu blasses Gesicht starrte ihm aus dem Spiegel über dem Waschbecken entgegen. Die kurzen schwarzen Haare standen wild in alle Himmelsrichtungen ab und die dunklen Ringe unter den fiebrig glänzenden braunen Augen betonten die eingefallenen Wangen. Ricky riss sich von seinem Spiegelbild los.

Kaltes klares Wasser spülte den Schweiß und die Tränen von seinem Gesicht und endlich schaffte er es, sich wieder zu beruhigen. Viel zu viele dieser Nächte hatte er durchgestanden. Würde das je ein Ende nehmen? Sein Blick glitt zum Fenster. Es war stockdunkel draußen. Lange konnte er also nicht geschlafen haben. Ricky war sich sicher, dass er jetzt keinen Schlaf mehr finden würde. Trotzdem löschte er das Licht und tastete sich die Treppe empor bis ins Schlafzimmer. Er pellte sich mühsam aus den verschwitzten Klamotten und sank in die weichen Kissen.

„Dave“, flüsterte er ein zweites Mal. „Du fehlst mir so sehr.“

Als er zum zweiten Mal erwachte, schien fahles Tageslicht ins Zimmer.

Ricky setzte sich in seinem Bett auf. Es war kälter im Zimmer geworden, aber er störte sich nicht daran. Die Luft war klar und das Licht versprach einen schönen Tag. Sein erster Tag in dem neuen Haus. Wie sollte er den nicht genießen?

In die Decke gewickelt wankte er zu dem schwarzen Ofen und entfachte das Feuer aus der Restglut neu. An diese Art der Beheizung musste er sich in der Tat erst einmal gewöhnen. Der Vorteil war allerdings, dass seine Hände etwas zu tun hatten, was laut seines Betreuers in der Klinik das A und O war.

Als das Feuer wieder brannte, stellte er sich ans Fenster und genoss den Ausblick. Jetzt, wo es taghell hell war, konnte er sehen, was ihm in der Dämmerung am Vortag entgangen war. Ein weitläufiges Gebirge am Horizont und kleine Waldableger überall in der Ferne. Er hörte Vögel zwitschern und sonst gar nichts. Nicht einmal das Leben im Dorf. Über Nacht hatte es nicht wieder geschneit, seine Fußspuren vom abendlichen Spaziergang waren immer noch zu erkennen. Er schmunzelte leise. Dann bemerkte er allerdings etwas, was seine Gesichtszüge wieder erstarren ließ. Dort unten im Schnee, weit weg zwischen Haus und Waldrand, bewegte sich etwas nahe seiner Spuren. Ein braungelbes Bündel schien sich durch den Schnee zu schleppen. Ein verletztes Tier? Was sonst konnte es sein?

Ohne darüber nachzudenken, warf er die Decke ab und schlüpfte in seine Schuhe. Im nächsten Moment war er auch schon draußen und folgte mit zitternden Muskeln und wachen Augen seiner eigenen Fußspur auf der Suche nach dem Etwas, das vom Fenster aus deutlich zu sehen gewesen war.

Stirnrunzelnd schaute er sich um, als er den Bäumen näher kam und das Tier noch immer nicht gefunden hatte. Zwei Schritte weiter blieb er wie erstarrt stehen, als er Blutspuren im Schnee entdeckte. Sein Herz pochte vor Aufregung hart und schnell gegen seine Rippen. Auf dem reinen Schnee erschienen die Blutspritzer unnatürlich und gefährlich.

Ricky folgte den Tropfen und fragte sich dabei, was das für ein Tier sein mochte und was ihm wohl zugestoßen war. Ob es eine Art Reh war, das einem Bärenangriff ausgesetzt gewesen war? Oder hatte ein unglücklicher Jäger den tödlichen Schuss verrissen und das Tier nur schwer verletzt?

Die Vögel sangen nicht mehr, fiel ihm auf. Um ihn herum herrschte unheimliche Stille. Bis er auf einmal ein leises Fiepen hörte, gar nicht so weit entfernt. Ricky rannte auf das Geräusch zu und wäre dabei fast über den großen, beigefarbenen Hund gestolpert, der im Schnee lag und mit den Pfoten zuckte. Mit Dreien zumindest, die Vierte verunzierte ein nicht zu ignorierender Riss im Fell, aus dem hässlich offenes Fleisch in einem übelkeitserregenden Rot schimmerte. Ricky zog scharf die Luft zwischen den Zähnen durch. Das sah nicht gut aus! Er musste das arme Tier in sein Haus bringen, um festzustellen, ob er ihm helfen konnte. Er kniete sich neben den Hund und streichelte ihm sanft über den Kopf.

„Ganz ruhig, Großer, es kommt alles wieder in Ordnung. Ich helfe dir. Hab keine Angst“, murmelte er wie ein Mantra, um den Hund, der ihn nun aus haselnussbraunen Augen Hilfe suchend anschaute, zu beruhigen. Es würde gerade noch fehlen, dass er ihn aus Angst biss ...

Doch es schien fast, als würde der Hund ihn verstehen. Das klägliche Winseln verebbte, und Ricky hätte schwören können, dass das Tier für eine Sekunde dankbar die Augen schloss.

Er warf einen Blick zurück zum Haus und schätzte den Weg ab, dann blickte er den Hund an und überlegte, wie viel der wohl wiegen mochte. Ein so großer Hund war ihm nie zuvor untergekommen, dementsprechend schwer würde er wahrscheinlich auch sein. Also konnte er vergessen, dass er ihn zurück zum Haus trug. Aber ziehen würde er ihn können – auf einer Decke.

„Warte hier!“, sagte er, strich ein weiteres Mal über das überraschend weiche Fell, und stemmte sich in die Höhe. „Ich bin gleich zurück. Ich hole nur etwas, mit dem ich dich zum Haus bringen kann.“

Mit wild pochendem Herzen rannte Ricky so schnell zum Haus zurück, wie der Schnee und seine frierenden Beine es eben zuließen. Die kalte Luft brannte in seinen Lungen, aber er konnte nicht zulassen, dass dieser Hund dort im Schnee liegen blieb und womöglich erfror. Schon als kleiner Junge hatte er es nicht ertragen können, wenn ein Tier leiden musste. Erst recht kein Hund. Es gab wohl kaum ein Tier, das er mehr liebte als Hunde.

Eilig stolperte er die Treppe zur Veranda empor und ins Haus. Dass er dabei jede Menge Schnee mit ins Haus trug, war ihm vollkommen egal. Hier musste ohnehin noch einiges getan werden. Er schnappte sich die Decke vor dem Kamin, in der er sich letzte Nacht eingewickelt hatte, und machte sich eilends auf den Rückweg. Um seine Kondition stand es wirklich nicht gut, doch die Kälte und der Gedanke an den leidenden Hund spornten ihn an.

Als er schließlich wieder bei dem Tier war, ließ Ricky sich auf die Knie sinken und strich ihm beruhigend über den großen Kopf, bis die braunen Augen sich öffneten und abermals zu ihm aufblickten. Ein weiteres leises Winseln folgte, das Ricky das Herz brechen wollte.

„Keine Sorge. Ich bring dich gleich ins Warme.“

Er breitete die Decke aus und machte sich ganz vorsichtig daran, den Hund zu bewegen. Wieso hatte er nie einen Erste-Hilfe-Kurs für Tiere gemacht? Die Chance, diesem armen Geschöpf nicht wehzutun, wäre sicher um einiges höher gewesen. Behutsam und Stück für Stück schob er die Decke unter den Hund. Der Schnee machte ihm die Sache zum Glück etwas leichter.

Ricky spürte seine Finger nicht mehr, als er es endlich geschafft hatte. Fahrig knotete er drei der Ecken zusammen und hüllte den Vierbeiner damit schon mal schützend in die Decke ein. An der vierten Ecke fing er an zu ziehen. Mühsam hievte er sich durch die entstandene Laufspur empor zum Haus. Entweder war er tatsächlich vollkommen außer Form, oder dieser Hund wog mehr als er selbst.

Ricky schnappte röchelnd nach Luft, als er es geschafft hatte, die Decke samt Hund zum Haus zu ziehen. Schweiß lief ihm in breiten Bächen über den ganzen Körper, jeder einzelne Muskel zitterte protestierend. Schwer ließ er sich auf die Stufen der Veranda fallen und hoffte, nicht jeden Moment mit einem Herzinfarkt neben dem Hund zu liegen.

Nach und nach fiel ihm das Atmen leichter, auch sein Herzschlag normalisierte sich, was Ricky hoffen ließ, diese Anstrengung zu überleben. Er wäre gerne länger reglos auf der Treppe sitzen geblieben, doch das erneute Winseln des Hundes brachte neues Leben ihn.

„Wir haben es gleich geschafft, Großer!“Mühsam richtete er sich wieder auf und kniete sich neben das Tier, um wieder zu Atem zu kommen. Frustriert warf er einen Blick auf die drei Stufen, die sie von der schützenden Wärme und Trockenheit des Hauses trennten. Über die Treppe konnte er den Hund nicht ziehen, er würde ihn tragen müssen.

„Beiß die Zähne zusammen“, murmelte er, wobei ihm nicht ganz klar war, ob er das zu dem Hund oder zu sich selbst sagte. Er atmete ein weiteres Mal tief durch, schob ganz behutsam die Arme zwischen Decke und Hund hindurch und hob sich das Tier mit einem angestrengten Ächzen auf die Arme.

Mit zitternden Beinen und kaum in der Lage Luft zu holen, trug er den Hund Stufe für Stufe empor. Er wusste nicht, wie er es letzten Endes geschafft hatte, doch schließlich sank er zusammen mit dem Hund auf den Boden vor dem Kamin. Erneut schnappte er nach Luft und schaute angestrengt in das müde Gesicht des Tieres, das dalag und zu ihm aufsah, ohne sich zu rühren. Lediglich der flache Atem verriet, dasses anscheinend schreckliche Schmerzen hatte. Fast glaubte Ricky, dass der Hund extra für ihn still blieb, um ihm keine weiteren Umstände zu machen.

„Du bist ein braves Tier“, stellte er fest, als er seiner Stimme wieder trauen konnte. Noch einmal streichelte er durch das feuchte Fell und dann fiel sein Blick abermals auf das zerrissene Bein. Wie um alles in der Welt sollte er das richten? Er hatte Eichhörnchen versorgt und Vögel mit gebrochenen Flügeln aufgepäppelt, doch das hier war wirklich eine ganz andere Liga.

„In Ordnung, Großer ... Wir bekommen das schon irgendwie hin. Erst mal machen wir es dir gemütlich und warm.“

Er griff nach einem der Sofakissen und schob es dem Hund unter den Kopf. Das Feuer im Kamin brannte inzwischen hell und spendete angenehme Wärme. Jetzt galt es, Verbandszeug zusammen zu suchen. Er stürmte in die Küche. Irgendwo in diesen Kisten musste sich der Kram schließlich befinden. Nur wo?

Hektisch durchwühlte er die Kartons, die in seiner Reichweite standen. Bald türmten sich unnütze Sachen auf dem Fußboden, bis er endlich den Verbandskasten in der Hand hielt. Rasch kehrte Ricky mit Kompressen und Mullwickeln ins Wohnzimmer zurück und setzte sich neben das Tier, das ganz ruhig liegen geblieben war. Er tätschelte ihm sanft die Flanke und kraulte ihn hinter den Ohren, dann machte er sich daran, das verletzte Bein zu verbinden. Der Hund gab lediglich ab und zu ein kurzes Winseln von sich.

„Du bist ein guter Hund!“, wiederholte er, als der Verband fertig war. „Ein ganz braver Hund!“

Wirklich stolz konnte er auf das Ergebnis nicht sein, trotzdem war es auf jeden Fall besser als nichts. Kurz dachte er an einen Tierarzt, nur wollte er sich und dem Hund diese Strapaze erst auferlegen, wenn er merkte, dass seine Hilfe nicht ausreichte. Zuerst musste er allerdings überlegen, wie er dem armen Tier die Schmerzen nehmen konnte, die es sicherlich hatte.

Ricky löste ein Schmerzmittel in einer Schüssel Wasser auf und stellte sie dem Hund vor die Schnauze. Eine andere Idee hatte er nicht und er hoffte, dass dieser anscheinend schlaue Hund merken würde, dass er ihm mit der bitteren Flüssigkeit etwas Gutes tun wollte. Zu seiner Überraschung hob der Hund tatsächlich den zotteligen Kopf und begann das Wasser langsam aus der Schüssel zu lecken.

Erleichtertbeobachtete Ricky das Tier weiter, bis die Schüssel schließlich leer war. Lächelnd setzte er sich zu ihm und begann erneut über das Fell zu streicheln. Inzwischen war es fast trocken und hatte sich am Feuer aufgewärmt.

„Alles wird gut ... ruh dich schön aus.“ Er machte es sich etwas bequemer und strich weiter durch das weiche Fell. Der Hund beobachtete ihn und Ricky bildete sich einmal mehr ein, Dankbarkeit in seinem Blick erkennen zu können.

„Schlaf ein bisschen. Ich kümmere mich um dich, und wenn du gesund bist, werden wir herausfinden, wo du hingehörst. In Ordnung?“

Ein kurzes Blinzeln war die Antwort, und Ricky musste leise lachen. Froh darüber, dass sein Herzschlag sich inzwischen normalisiert und die Situation sich beruhigt hatte, beobachtete er, wie der Hund tatsächlich nach einer Weile die haselnussbraunen Augen schloss und sein Atem ruhiger wurde. Er saß noch eine ganze Weile da und streichelte das verletzte Tier. Irgendwann stand er auf und ging auf die Veranda hinaus. Es hatte angefangen zu schneien. Mit einem leisen Seufzer nahm Ricky die blutige Decke aus dem Schnee, mit der er den Hund transportiert hatte, kam zurück ins Haus und verschloss schnell die Tür.

Schnee hin oder her; er musste heute auf jeden Fall ins Dorf und wenigstens etwas zu Essen kaufen. Immerhin galt es jetzt nicht mehr einzig, seinen Magen zu füllen.

So leise er eben konnte, begann er ein bisschen aufzuräumen und den geschmolzenen Schnee aufzuwischen. Er fand sogar eine weitere Decke, die er so um den Hund drapierte, dass der es weich und gemütlich hatte und nicht aus Versehen wegrutschte. Irgendwann fand er keine Ausrede mehr, um im Haus zu bleiben. Mit einem wehleidigen Seufzen Richtung Schneegestöber griff er zu seiner Jacke. Das Feuer noch einmal angefacht und sich selbst dick eingepackt, verließ er das Haus. Er hatte eigentlich nichts gegen Schnee, aber hier kannte er sich einfach nicht sonderlich gut aus, einen Wagen hatte er obendrein nicht – ganz zu schweigen von dem Führerschein, den sie ihm entzogen hatten –, und die Rettung des Hundes hatte ihn ziemlich viel Kraft gekostet. Die Aussicht auf einen Fußmarsch ins Dorf und den Rückweg mit vollem Rucksack war nicht sonderlich verlockend.

Es dauerte über eine Stunde, bis er das Dorf erreichte, wobei er froh war, sich nicht verlaufen zu haben. Er betrat den kleinen Laden und wurde sofort von den Anwesenden neugierig beäugt. Natürlich, es sprach sich herum, wenn man neu in eine solche Gegend zog. Ricky hatte gedacht, mit Argwohn und Skepsis betrachtet zu werden; die Verkäuferin, die auf ihn zukam, war allerdings freundlich und half ihm, sich bei der kleinen Auswahl, die der Dorfladen zu bieten hatte, zurechtzufinden.

Als er eine Packung Hundefutter mit zu den Waren in den Wagen legte, schaute ihn das Mädchen erstaunt an.

„Sie haben einen Hund?“, fragte sie mit einer angenehm hellen Stimme, die Ricky zum Lächeln brachte.

„Mir ist einer zugelaufen“, antwortete er wahrheitsgemäß.

Einen Augenblick lang runzelte die Verkäuferin die Stirn, und Ricky fragte sich, was das wohl für einen Grund haben mochte. War es denn so ungewöhnlich, wenn einem hier in der Wildnis ein Hund zulief?

„Zugelaufen, sagen Sie?“ Die Verkäuferin schien sich wirklich zu wundern.

„Ja“, sagte Ricky, stapelte drei weitere Schachteln in den Wagen und sah anschließend zu ihr auf. „Wissen Sie vielleicht, wo er hingehört?“

Inzwischen hatten die anderen Kunden im Laden die Ohren gespitzt und gafften zu ihnenherüber. Ricky hob überrascht die Brauen. Hoffentlich hatte er nicht gegen irgendwelche Dorfregeln verstoßen, indem er einen verletzten Streuner bei sich aufgenommen hatte.

„Nein. Soweit ich weiß, wird hier im Dorf keiner vermisst, und andere Siedlungen sind zu weit entfernt“, sagte sie und lächelte kurz. „Entschuldigen Sie mich bitte, Sie kommen zurecht?“

Ohne eine Antwort abzuwarten, verschwand sie zwischen den Regalen. Ricky war vollkommen verwirrt. Er blinzelte in die neugierigen Gesichter, und immer, wenn sein Blick den eines anderen traf, taten auf einmal alle beschäftigt.

Ricky atmete tief durch und schob den kleinen Einkaufswagen weiter. Die Augen starr geradeaus gerichtet, passierte er ein Weinregal, warf ein paar Knabbereien in den Wagen, bevor er ihn unsicher in Richtung Kasse lenkte. Die Verkäuferin wartete dort bereits auf ihn. Ob er ihr nicht noch ein paar Informationen abringen konnte?

Während er seine Waren auf das kurze Band legte, glaubte er, hinter sich gemurmelte Worte wie ein Rauschen von Wind in den Bäumen zu hören, zu dumpf und undeutlich, um sie sicher zu verstehen. Wenn er sich umdrehte, verstummte das Raunen abrupt. Eine Gänsehaut lief ihm über den Rücken. Das war unheimlich ... So unheimlich, dass er zuletzt froh war, wieder in der Kälte auf der Straße zu stehen. Richtige Informationen hatte er nicht mehr erfahren, doch das war zweitrangig. Trotz seiner überstürzten Flucht aus dem Geschäft war er stolz auf sich: Er hatte nicht einen Tropfen Alkohol gekauft.

Ein Schrei sorgte dafür, dass er vollkommen aus den Gedanken gerissen wurde. Er sah sich um. Im nächsten Moment kam eine junge Frau um die Ecke gerannt. Sie ruderte wild mit den Armen und schrie immer wieder wild auf.

„Hilfe! Basta ist los!“, rief sie. „Basta ist los! Er hat sich befreit!“

Ein paar Männer eilten herbei, um sie zu empfangen und zu beruhigen. Auch Ricky zog es nun in ihre Richtung. Er eilte den Menschen nach und lauschte der aufgeregten Frau.

„Ich weiß nicht, wie es passiert ist. Als ich nach Hause kam, stand er in meinem Garten und ich … ich muss doch ins Haus. Meine Tochter.“

„Keine Sorge.“ Ein älterer Mann legte ihr die Hände auf die Schultern. „Das kriegen wir schon hin. Wir locken den Köter einfach mit etwas Fleisch.“

„Locken?“ Ein anderer trat vor. Er war groß und kräftig und Ricky entging nicht, dass er sauer war. „So ein Unsinn. Wir beenden das Thema jetzt einfach! Ich knall das Mistvieh ab!“

Ricky zuckte zusammen, als der Kerl davon stampfte, zweifellos um sein Gewehr zu holen.

„Nein!“, rief er, ohne lange darüber nachzudenken. Die Köpfe wandten sich ihm zu. Er schluckte und lächelte verlegen. „Ihr könnt ihn doch nicht erschießen.“

Die Frau, die eben noch so panisch gewesen war, stemmte die Fäuste in die Seiten und sah ihn herablassend an.

„Ach nein? Dann sag mir doch mal, wie ich an diesem Monster vorbei in mein Haus kommen soll. Der terrorisiert uns jetzt schon seit einer Ewigkeit und es ist noch schlimmer geworden, seit sein Herrchen im Krankenhaus ist.“

Ricky rieb sich die eigenen Daumen und kaute nervös auf seiner Unterlippe herum.

Er atmete tief durch. „Ich werde ihn aus Ihrem Garten holen.“

Ein leises Murmeln kam auf. Ricky spürte förmlich, dass sie ihm das nicht zutrauten, aber das war ihm egal. Wie sollten sie ihn auch einschätzen können? Sie kannten ihn nicht.

„Also gut. Wenn du meinst, dass du das schaffst“, sagte die Frau. Sie deutete in die Richtung, aus der sie gekommen war. „Aber wenn du es nicht schaffst, dann wird er erschossen.“

Ricky rümpfte die Nase und nickte. Das würden sie dann ja sehen. Erst einmal wollte er sein Glück versuchen und dem armen Tier so vielleicht das Leben retten.

Er lehnte die Tasche mit den Einkäufen an einen Zaun und marschierte in die angegebene Richtung los. Hinter sich hörte er die Schritte der Frau und des älteren Mannes. Nach nur wenigen Metern stand er vor einem hübschen weißen Gartenzaun, hinter dem ein gepflegter Vorgarten zu einem kleinen Häuschen führte. Und in diesem Vorgarten stand ein zotteliger weißgrauer Hund, der aufmerksam den Kopf wandte, als er hinter sich Geräusche hörte. Zwei Sprünge reichten dem Tier, um zum Zaun zu gelangen. Er legte die Ohren an, knickte die Hinterläufe leicht ein und fletschte die Zähne. Bedrohliches Knurren drang an Rickys Ohren.

„Oh Gott!“, hörte er die junge Frau hinter sich, doch er drehte sich nicht mehr um. Ein kleines Lächeln huschte über seine Lippen, als er das Kinn anhob, den Hund fixierte und auf ihn zuging.

„Du bist ein guter Hund“, murmelte er, als er beobachtete, wie der Hund die Nüstern blähte und in seine Richtung witterte. Der Wind stand günstig und trug seinen Geruch direkt zu dem Tier.

Ohne Angst öffnete er die Gartentür und betrat das Grundstück. Kaum stand er dem Hund ohne Zaun dazwischen gegenüber, ging er in die Hocke, ließ das Tier dabei aber keine Sekunde aus den Augen.

Der Hund setzte sich, gab einen Laut von sich, eine Mischung aus Winseln und Bellen, und legte sich dann vor ihm ab. Aber damit nicht genug. Der Hund robbte auf ihn zu und rollte sich schließlich vor ihm auf den Rücken.

Ricky streckte die Hand aus, fasste ihm einen Moment um die Kehle, was den Hund noch jämmerlicher winseln ließ. Dann lockerte er den Griff wieder und kraulte dem Tier den Bauch. Na also, wo war der arme Kerl denn gefährlich? Ricky wollte lieber nicht wissen, wie oft dieser Hund schon mit Steinen oder Stöcken beworfen worden war, um ihn zu vertreiben. Kein Wunder, dass er den Menschen nicht traute.

Er stand auf und klopfte sich gegen den Oberschenkel.

„Na komm“, sagte er leise. „Ich bring dich nach Hause.“

Als er sich umdrehte, sah er die Frau und die beiden Männer, von denen der eine tatsächlich ein Jagdgewehr in den Händen hielt, mit großen Augen ungläubig auf die Szene starren.

„Wo gehört er hin?“, fragte Ricky, als sei es nichts Besonderes, dass ein an sich gefährlicher Hund bei ihm so unterwürfig reagierte.

„Da drüben ist sein Zwinger.“ Die Frau deutete auf das Nachbargrundstück.

Ricky seufzte und nickte, sagte aber nichts dazu.

Basta lief schwanzwedelnd neben ihm her, als er sich in Bewegung setzte, und ließ sich ohne Probleme zurück in seinen Zwinger bringen. Ricky streichelte den Hund, dann ging er zurück zu der Stelle, an der er den Rucksack mit den Einkäufen abgestellt hatte, schulterte ihn und machte sich auf den Weg.

Der Rückweg zu seiner Hütte dauerte länger als der ins Dorf, nichts anderes hatte Ricky erwartet. Mit einem gefüllten Rucksack marschierte es sich eben nicht so schnell. Obendrein bergauf.

Umso glücklicher war er, als er endlich die Haustür hinter sich schließen konnte. Leise stellte er den Rucksack ab. Sein neuer Mitbewohner lag noch genauso da, wie Ricky ihn verlassen hatte, und atmete ruhig und gleichmäßig. Nachdem Ricky seine Klamotten losgeworden war, trug er den Einkauf in die Küche. Nach einer kurzen Schrecksekunde stellte er erleichtert fest, dass die Maklerin sogar daran gedacht hatte, den Kühlschrank einzuschalten.Gerade im Winter war das hier eigentlich lachhaft, wenn man allerdings wie er so weit ab vom Dorf lebte, war es nicht schlau, seine Lebensmittel im Schnee zurückzulassen. Man wusste nie, welche Tiere davon angelockt wurden.

Er verstaute sein eigenes Essen im Kühlschrank und stellte die Dosen mit Hundefutter daneben auf die Anrichte. Blieb nur zu hoffen, dass sein Schützling diese Sorten tatsächlich mochte. Sonst würde er recht bald noch einmal ins Dorf müssen, und bei diesem Fußmarsch riss er sich nicht sonderlich darum.