Wolke, Burg, See - Vladimir Nabokov - E-Book

Wolke, Burg, See E-Book

Vladimir Nabokov

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Beschreibung

Erzählungen 1933-1951 Dieser Band enthält in chronologischer Reihenfolge die reifen Erzählungen Nabokovs, die während seiner wiederholten Flucht vor den Nationalsozialisten entstanden. Viele schrieb er noch immer auf Russisch, doch löste sich Nabokov von seiner Muttersprache, schrieb eine Erzählung auf Französisch und viele in englischer Sprache. Zusammen mit seinem Sohn Dmitri übersetzte er auch viele seiner eigenen Erzählungen ins Englische. Auf diesen Fassungen beruht die Mehrzahl der deutschen Übersetzungen.

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Seitenzahl: 707

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Vladimir Nabokov

Wolke, Burg, See

Sämtliche Erzählungen 1933 bis 1952

Aus dem Englischen von Renate Gerhardt, Jochen Neuberger und Dieter E.Zimmer

Herausgegeben von Dieter E. Zimmer

Über dieses Buch

«Eine Liebeserinnerung, als Wiese verkleidet. Wuschelige Wolken – Windspiele des Himmels.

Uns beide, Wassilij Iwanowitsch und mich, hat die Anonymität aller Teile einer Landschaft, die der Seele so gefährlich ist, immer beeindruckt, die Unmöglichkeit, jemals herauszufinden, wohin der Pfad führt, den man gerade sieht …» («Wolke, Burg, See»)

 

Eben jene flüchtigen Augenblicke des Lebens – vagabundierende Momente des Glücks, das kurze Erhaschen eines tieferen Sinns – sind es, die Nabokov in seiner Kurzprosa meisterhaft einfängt. Seine reifen Erzählungen aus den Jahren 1933–1952 entstanden während seiner wiederholten Flucht vor den Nationalsozialisten.

 

«Der Autor zeigt sich auch hier als unbeirrtes Genie. Ob er vor den russischen Revolutionären oder den Nazis floh: Stets war der Kosmos seiner Prosa die Mitte seines Lebens.» (NZZ am Sonntag)

Vita

Vladimir Nabokov ist einer der wichtigsten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts.

Er entstammte einer großbürgerlichen russischen Familie, die nach der Oktoberrevolution von 1917 emigrierte. Nach Jahren in Cambridge, Berlin und Paris verließ Nabokov 1940 Europa und siedelte in die USA über, wo er an verschiedenen Universitäten arbeitete.

In den USA begann er, seine Romane auf Englisch zu verfassen, «Lolita» war Nabokovs Liebeserklärung an die englische Sprache, wie er im Nachwort selber schrieb. Nach einer anfänglich schwierigen Publikationsgeschichte wurde «Lolita» zum Welterfolg, der es Nabokov ermöglichte, sich nur noch dem Schreiben zu widmen.

Nabokov zog in die Schweiz, wo er schrieb, Schmetterlinge fing und seine russischen Romane ins Englische übersetzte.

Er lebte in einem Hotel in Montreux, wo er am 2. Juli 1977 starb.

 

Der Herausgeber Dieter E. Zimmer, geboren 1934 in Berlin, war 1959 bis 1999 Redakteur der Wochenzeitung «Die Zeit», seit 2000 freier Autor. Zahlreiche Veröffentlichungen über Themen der Psychologie, Biologie und Anthropologie, literarische Übersetzungen (u. a. Nabokov, Joyce, Borges). Dieter E. Zimmer starb im Juni 2020.

 

Das Gesamtwerk von Vladimir Nabokov erscheint im Rowohlt Verlag.

Inhalt

Die Admiralitätsnadel (1933)

Der neue Nachbar (1933)

Der Kreis (1934)

Die Benachrichtigung (1934)

Eine russische Schönheit 1934)

L.I. Schigajew zum Gedenken (1934)

Träger Rauch (1935)

Musterung (1935)

Aus dem vollen Menschenleben (1935)

Mademoiselle O (1936)

Frühling in Fialta (1936)

Wolke, Burg, See (1937)

Tyrannenvernichtung (1938)

Lik (1938)

Der Museumsbesuch (1939)

Wassilij Schischkow (1939)

Ultima Thule (1939/40)

Solus Rex (1939/40)

Der Regieassistent (1943)

«… dass in Aleppo einst …» (1943)

Ein vergessener Dichter (1944)

Zeit und Ebbe (1944)

Genrebild 1945 (1945)

Zeichen und Symbole (1947)

Erste Liebe (1948)

Szenen aus dem Leben eines Doppelmonsters (1950)

Die Schwestern Vane (1951)

Lance (1951)

ANHANG

Bibliographisches

Sämtliche Erzählungen in chronologischer Reihenfolge

Einzelnachweise

Anmerkungen

Die Admiralitätsnadel

SIE WERDEN VERZEIHEN, Gnädigste, aber ich bin ein ungehobelter Mensch und geradheraus und sage Ihnen daher ohne jede Umschweife: Geben Sie sich keinen falschen Hoffnungen hin, dies ist alles andere als ein Verehrerbrief. Es ist ganz im Gegenteil, wie Sie gleich feststellen werden, ein recht seltsames Epistelchen, das, wer weiß, nicht nur Ihnen, sondern auch anderen hemmungslos schriftstellernden Damen ein Denkzettel sein könnte. Zunächst jedoch eile ich, mich vorzustellen, damit meine äußere Erscheinung durchschimmere wie ein Wasserzeichen; das ist weit ehrlicher, als durch Schweigen jenen falschen Schlüssen Vorschub zu leisten, die das Auge unwillkürlich aus der Kalligraphie handgeschriebener Zeilen zieht. Nein, trotz meiner schlanken Schrift, trotz des jugendlichen Elans meiner Kommata bin ich dick und fortgeschrittenen Alters; allerdings ist diese Korpulenz nicht schlaff, sondern kernig, knackig, straff. Sie hat, Gnädigste, nicht das Geringste gemein mit den Umlegekragen des Poeten Apuchtin[1], dieses feisten Lieblings aller Damen. Doch genug davon. Diese wenigen Andeutungen werden Ihnen als Schriftstellerin genügen, um sich ein Bild von mir zu machen. Bonjour, Madame. Und nun zur Sache.

Vor kurzem nahm ich in einer russischen Leihbibliothek, die das analphabetische Schicksal in eine trübe Berliner Seitenstraße verbannt hat, drei oder vier Neuerwerbungen zur Hand, darunter auch Ihren Roman Die Admiralitätsnadel. Ein gefälliger Titel, und sei’s auch nur aus dem einzigen Grund, dass er, nicht wahr, im Russischen einen jambischen Tetrameter bildet – admiraltéjskaja iglá – und obendrein ein berühmter Vers Puschkins ist.[2] Aber es war ebenjene Gefälligkeit des Titels, die nichts Gutes verhieß. Dazu bin ich gewöhnlich sehr auf der Hut vor Büchern, die in den Hinterwäldern unseres Exils, in Riga oder Reval, erscheinen. Gleichwohl nahm ich, wie ich schon sagte, Ihren Roman mit.

Ach, meine teure Dame, ach, «Herr» Serge Solnzew, wie leicht errät man doch, dass der Autorenname ein Pseudonym, dass der Autor kein Mann ist! Jeder Ihrer Sätze wird links geknöpft. Ihre Vorliebe für Ausdrücke wie «die Zeit verging» oder «frileusement in Mutters Schal gekuschelt», das unvermeidliche Auftreten eines episodischen Fähnrichs (geradewegs aus den Imitationen von Krieg und Frieden), der das R wie ein G ausspricht, und schließlich Fußnoten mit der Übersetzung französischer Sprachklischees bieten ausreichende Hinweise auf Ihr literarisches Talent. Dies ist aber erst das halbe Ärgernis.

Stellen Sie sich Folgendes vor: Nehmen wir an, ich sei einmal durch eine wunderbare Landschaft gewandert, wo Wasserfälle tosten und Winden die Säulen einsamer Ruinen überwucherten, und es fiele mir nach Jahren im Hause eines Fremden eine Photographie in die Hände, auf der ich geckenhaft vor etwas posiere, das unverkennbar eine Pappmachéstele ist; im Hintergrund ist der weiße Schmierfleck eines hineingepfuschten Wasserfalls, und irgendjemand hat mir mit Tusche einen Schnurrbart verpasst. Wo stammt das Ding her? Aus meinen Augen mit dieser Scheußlichkeit! Die brausenden Wasser, an die ich mich erinnere, waren echt, und, was noch dazukommt, es hat mich dort niemand photographiert.

Muss ich Ihnen das Gleichnis auslegen? Muss ich Ihnen sagen, dass mich das gleiche Gefühl, widerlicher nur und abgeschmackter, beim Lesen Ihrer hingeschluderten Handarbeit, Ihrer fürchterlichen Nadel überkam? Mein Zeigefinger riss die ungeschnittenen Seiten auf, meine Augen hasteten die Zeilen entlang, und ich wusste nicht, ob ich ihnen trauen sollte, so verblüfft war ich.

Möchten Sie gern wissen, was los war? Zu Diensten. Als Sie schwergewichtig in Ihrer Hängematte lagen und unbekümmert mit ansahen, dass Ihre Feder die Tinte nicht halten konnte (fast ein Wortspiel), schrieben Sie, Gnädigste, die Geschichte meiner ersten Liebe. Ich sprach von Verblüffung, und da ich ebenfalls schwer von Gewicht bin, kommt zur Verblüffung die Atemnot. Jetzt ringen also Sie und ich nach Luft, denn ohne jeden Zweifel sind Sie nun auch wie vom Donner gerührt durch das Erscheinen des Helden, den Sie erfanden. Nein, Letzteres nehme ich zurück! Die Beilagen sind zugegebenermaßen Ihre, auch die Füllung und die Sauce, aber der Braten (den ich, um noch ein Wortspielchen zu wagen, gleich gerochen habe), der Braten, meine Teure, ist nicht Ihrer, sondern meiner und hat meine Schrotladung im Flügel. Ich staune: Wie und wo hätte eine mir unbekannte Dame mir meine Vergangenheit stehlen sollen? Ist es möglich, dass Sie Katja kennen – gar befreundet sind mit ihr, und dass sie Ihnen, der unersättlichen Schriftstellerin, in den Dämmerstunden unter baltischen Kiefern alles ausplauderte? Aber wie konnten Sie es wagen, woher nahmen Sie die Chuzpe, nicht nur Katjas Erzählung zu verwenden, sondern sie obendrein auch noch so hoffnungslos zu verschandeln?

Seit dem Tag, an dem wir uns das letzte Mal sahen, sind sechzehn Jahre vergangen – das Alter einer Braut, eines alten Hundes oder der Sowjetunion. Da wir von der Zeit sprechen, lassen Sie mich auf die erste, keineswegs aber schlimmste Ihrer zahllosen Schlampereien aufmerksam machen: Katja und ich waren nicht gleichaltrig. Ich war fast achtzehn, sie fast zwanzig. In altbewährter Manier lassen Sie die Heldin sich vor einem mannshohen Spiegel entkleiden, woraufhin Sie dann ihr aufgelöstes Haar, das natürlich aschblond ist, und ihre jungen Formen beschreiben. Ihnen zufolge wurden ihre kornblumenblauen Augen in Momenten der Nachdenklichkeit violett – ein botanisches Wunder! Sie ließen den Schatten schwarzer Wimpern auf sie fallen, die, wenn Sie mir einen eigenen Beitrag gestatten, gegen die äußeren Augenwinkel hin länger zu sein schienen, was ihren Augen eine ganz besondere, jedoch rein imaginäre Schräge verlieh. Katjas Figur war anmutig, sie hielt sich aber nicht gerade und zog jedes Mal, wenn sie ein Zimmer betrat, die Schultern hoch. Sie machen eine stramme Maid mit Alttönen in der Stimme aus ihr.

Es ist die schiere Folter. Ich hatte eigentlich vor, Ihre Bilder zu sammeln, die allesamt einen falschen Ton haben, und Ihnen vernichtend meine unfehlbaren Beobachtungen gegenüberzustellen, aber das Ergebnis wäre nur «albtraumartiger Unsinn» gewesen, wie die richtige Katja gesagt hätte, denn der Logos, der mir verliehen wurde, verfügt nicht über genug Kraft und Schärfe, um mich aus Ihren Verstrickungen zu lösen. Im Gegenteil, ich selber kann mich von den Leimruten Ihrer konventionellen Schilderungen einfach nicht befreien und finde auch die Stärke nicht mehr, Katja vor Ihrer Feder zu retten. Gleichwohl möchte ich, wie Hamlet, meine Argumente vorbringen und werde Sie letztlich in Grund und Boden argumentieren.

Das Thema Ihres Machwerks ist die Liebe, eine leicht dekadente Liebe vor dem Hintergrund der Februarrevolution, jedenfalls aber Liebe. Katja wurde in Olga umbenannt, und aus mir wurde Leonid. So weit, so gut! Unsere erste Begegnung am Weihnachtsabend im Haus von Freunden; unsere Rendezvous bei der Jusupow-Schlittschuhbahn; ihr Zimmer mit seiner indigoblauen Tapete, seinen Mahagonimöbeln und, als einzigem Schmuckstück, einer Porzellanballerina mit gehobenem Bein – das ist alles richtig, das alles stimmt. Nur dass Sie es geschafft haben, allem den Anstrich prätentiöser Erfindung zu geben. Wenn Leonid, Schüler am Kaiserlichen Gymnasium, sich im Parisiana, einem Kino auf dem Newskij-Prospekt, auf seinem Sitz niederlässt, verstaut er seine Handschuhe in seinem Dreispitz, während er ein paar Seiten später schon in Zivilkleidung steckt: Er nimmt seinen Bowler ab, und dem Leser steht ein eleganter junger Mann gegenüber, dessen Haar à l’anglaise genau in der Mitte seines schmalen, gelackt aussehenden Kopfes gescheitelt ist und dem ein purpurnes Tuch aus der Brusttasche hängt. Und in der Tat entsinne ich mich, dass ich mich wie der Filmschauspieler Max Linder kleidete und wie die recht großzügig aufgetragene Weshetal-Lotion mir den Skalp kühlte und wie Monsieur Pierre mit seinem Kamm maßnahm und meine Haare mit dem Schwung einer Linotype hin- und herüberschnellen ließ und wie er, wenn er mit einem Ruck den Umhang entfernt hatte, einem ältlichen Mann mit Schnurrbart zurief: «Junge! Bürste den ’errn ab!» Heute reagiert meine Erinnerung mit Ironie auf das Brusttüchlein und die weißen Gamaschen von damals, kann aber andererseits in keiner Weise jene unvergesslichen Qualen adoleszenter Rasur mit der «glatten und durchsichtigen Blässe» Ihres Leonid in Einklang bringen. Und wie Ihr Gewissen mit dessen Lermontow’schen glanzlosen Augen und aristokratischem Profil fertig wird, überlasse ich Ihnen, da davon heute wegen der nicht vorauszusehenden Verfettung ohnehin nicht mehr viel zu erkennen ist.

Großer Gott, lass mich nicht im Schlamm der Prosa dieser schriftstellernden Dame versinken, die ich nicht kenne und die ich nicht kennen will, die sich aber mit erstaunlicher Unverfrorenheit der Vergangenheit einer anderen Person bemächtigt hat! Wie können Sie es wagen zu schreiben: «Der hübsche Christbaum mit seinen chatoyant Lichtern schien Ihnen Freude, helle, jubelnde, zu verheißen»? Sie haben mit Ihrem Atem den ganzen Baum auf einmal ausgelöscht, denn ein um des innigen Tons willen nachgestelltes Adjektiv genügt, um auch der schönsten Erinnerung den Garaus zu machen. Bis zur Katastrophe, das heißt bis zum Erscheinen Ihres Buchs, war es für mich eine solche Erinnerung, wie das Licht sich in Katjas Augen kräuselte und brach und wie ein kirschroter Widerschein von dem glänzenden Puppenhäuschen aus plasmatischem Papier, das an einem Zweig hing, auf ihrer Wange erschien, als sie sich, das Nadelwerk beiseiteschiebend, aufreckte, um eine verrückt spielende Kerzenflamme auszudrücken. Was ist mir von alldem geblieben? Nichts – außer dem eklen Geruch eines literarischen Autodafés.

Ihre Version lässt den Eindruck entstehen, dass Katja und ich eine überaus kultivierte beau-monde bewohnten. Irgendetwas stimmt nicht mit Ihrer Parallaxe, Verehrteste. Jenes Oberklassenmilieu, dem Katja angehörte, die Kreise, die, wenn Sie so wollen, den Ton angaben, hatten, um es milde auszudrücken, einen vorgestrigen Geschmack. Tschechow galt als «Impressionist», der Reimeschmied der vornehmen Gesellschaft, Großfürst Konstantin[3], als bedeutender Dichter, und der Erz-Christ Alexander Blok als böser Jude, der futuristische Sonette über sterbende Schwäne und lila Liköre schrieb. Handgeschriebene Kopien von Versen aus Poesiealben in Französisch und Englisch machten die Runde, wurden nicht ohne Entstellungen kopiert, während der Name des Autors unversehens dahinschwand, sodass diese Herzensergießungen wie zufällig den Glamour der Anonymität annahmen; und es ist überhaupt recht amüsant, die mäandernden Wege dieser Kopien den heimlichen Abschriften aufrührerischer Reime gegenüberzustellen, wie sie in der Unterschicht gang und gäbe waren. Wie unverdient diese männlichen und weiblichen Monologe über die Liebe als jüngste Muster ausländischer Lyrik galten, ist daraus zu ersehen, dass das beliebteste Opus von Louis Bouilhet stammte, der in der Mitte des letzten Jahrhunderts schrieb. Schwelgend in wogenden Kadenzen trug Katja seine Alexandriner vor und schmollte mit mir, dass ich an einer höchst klangvollen Strophe Anstoß nahm, in welcher der Verfasser, nachdem er seine Leidenschaft als einen Geigenbogen bezeichnet hatte, seine Geliebte mit einer Gitarre vergleicht.

Apropos Gitarren, Verehrte, Sie schreiben, dass «am Abend die jungen Leute zusammenkamen und Olga an einem Tisch saß und in einem vollen Alt sang». Nun wohl – noch ein Tod, noch ein Opfer Ihrer überladenen Prosa. Doch wie teuer waren mir die Echos jener modischen zyganschtschina, die Olga zum Singen, mich zum Dichten verführten! Ich weiß sehr wohl, dass es sich nicht länger um echte Zigeunerkunst handelte wie die, die Puschkin und später Apollon Grigorjew bezaubert hatte, sondern eine kurzatmige, ausgelaugte und zum Tode verurteilte Muse; alles trug zu ihrem Untergang bei: das Grammophon, der Krieg und zahlreiche sogenannte tzigane-Lieder. Nicht umsonst hatte Blok in einer der ihm eigenen ahnungsvollen Phasen niedergeschrieben, was ihm an Zigeunerliedtexten in Erinnerung geblieben war, als wollte er rasch wenigstens dies noch retten, bevor es zu spät war.

Soll ich Ihnen sagen, was uns jenes kehlige Gurren und Klagen bedeutete? Soll ich Ihnen das Bild einer fernen, seltsamen Welt enthüllen, wo

Die schlummernden Zweige der Weide

Hinsinken auf das Wasser des Teichs

Wo tief in den Fliederbüschen

Die Nachtigall verschluchzt ihr Leid

und wo alle Sinne unter der Macht der Erinnerung an Liebesweh und -leid stehen, jener bösen Herrscherin falscher Zigeunerromantik? Auch Katja und ich hätten uns gerne erinnert; da wir jedoch nichts hatten, woran wir uns hätten erinnern können, schufen wir uns eine weit zurückliegende Zeit, in die wir unser gegenwärtiges Glück zurückverlegten. Alles, was wir sahen, wandelten wir um in Denkmäler unserer noch nicht bestehenden Vergangenheit, indem wir versuchten, einen Gartenweg, den Mond, die Trauerweiden mit den gleichen Augen zu sehen, mit denen wir jetzt – im Bewusstsein der Unersetzbarkeit der Verluste – das alte mit Wasser vollgesogene Floß, den Mond über dem schwarzen Kuhstall gesehen hätten. Ich meine sogar, dass wir uns dank einer undeutlichen Ahnung im voraus auf gewisse Dinge einstellten, indem wir uns im Erinnern übten, indem wir uns eine ferne Vergangenheit vorstellten und mit dem Sehnsuchtsschmerz umgehen lernten, sodass wir später, als es diese Vergangenheit für uns tatsächlich gab, wussten, wie wir mit ihr fertig werden konnten, ohne unter ihrer Last erdrückt zu werden.

Doch was kümmert Sie das alles? Wenn Sie meinen Sommeraufenthalt auf dem Familiengut beschreiben, das Sie «Glinskoje» taufen, jagen Sie mich in den Wald und zwingen mich dort, Verse zu schreiben, die «Jugend und Lebensfreude atmen». Aber das stimmt eben nicht. Während die anderen Tennis spielten (mit einem einzigen roten Ball und ein paar Doherty-Schlägern, schwer und lasch bespannt, die man im Speicher gefunden hatte) oder Krocket auf einem lächerlich verunkrauteten Rasen mit einem Löwenzahn vor jedem Tor, verdrückten wir, Katja und ich, uns in den Küchengarten, um uns dort, zwischen die Beete gekauert, an zwei Sorten von Erdbeeren gütlich zu tun – an der karmesinroten «Victoria» (sadowaja semljanika) und der russischen Fragaria moschata (klubnika), rotvioletten Früchten, die oft von Froschschleim überzogen waren; und dort gab es auch unsere Lieblingsart, «Ananas», die unreif aussah, jedoch von wunderbarer Süße war. Ohne uns aufzurichten, bewegten wir uns ächzend die Beete entlang, und die Sehnen in unseren Kniekehlen schmerzten, und unser Inneres füllte sich mit rubinfarbener Schwere. Die heiße Sonne lastete schwer, und diese Sonne, und die Erdbeeren, und Katjas Kleid aus Tussahseide mit dunkler werdenden Flecken unter den Armen und die Bräune in ihrem Nacken – all dies verschmolz zu einem überwältigenden Glücksgefühl; und welche Seligkeit bedeutete es, ohne sich zu erheben, immer noch Beeren pflückend, Katjas warme Schulter zu packen und ihr sanftes Lachen, die kleinen gierigen Grunzgeräusche, das Knacken ihrer Gelenke zu hören, wie sie unter den Blättern herumstöberte. Verzeihen Sie, wenn ich direkt von diesem Garten, der mit dem blendenden Glanz seiner Gewächshäuser und dem Wogen haariger Mohnblumen an seinen Wegrändern an mir vorbeizieht, zum Wasserklosett überwechsle, wo ich – in der Haltung von Rodins Denker – sitze und, den Kopf noch heiß von der Sonne, Gedichte schreibe; in ihnen waren die Triller der Nachtigallen aus den tzigane-Liedern, Brocken aus Blok und hilflose Nachklänge aus Verlaine: Souvenir, souvenir, que me veux-tu? L’automne … – obwohl doch der Herbst noch fern war und mein Glück mit seiner wunderbaren Stimme ganz nahe rief, wahrscheinlich dort drüben bei der Kegelbahn, hinter den alten Fliederbüschen, unter denen Haufen von Küchenabfällen lagen und Hühner herumspazierten. An den Abenden auf der Veranda verströmte der weit offene Mund des Grammophons, der so rot war wie das Futter im Mantel eines russischen Generals, unbezwingbare Zigeunerleidenschaft; oder eine bedrohliche Stimme äffte zur Melodie von Hinter der Wolke versteckt sich der Mond den Kaiser nach: «Her denn mit Feder und Halter, jetzt wird ’s Ultimatum gestellt.» Und auf der Gartenterrasse wurde eine Partie Gorodki (Städtchen) gespielt: Katjas Vater, dessen Hemdkragen geöffnet war und der einen Fuß in seinem weichen Hausstiefel vorgestellt hatte, visierte mit einem Stock, als ob er ein Gewehr abfeure, und schleuderte ihn dann mit voller Kraft (aber weit daneben) nach dem «Städtchen» aus Kegeln, während die sinkende Sonne mit der Spitze ihres letzten Strahls über die Palisade der Kiefernstämme hinstrich und auf jedem ein feuriges Band hinterließ. Und wenn die Nacht schließlich herabsank und das Haus schlief, sahen Katja und ich vom Park aus, wo wir uns auf einer harten, kalten, unsichtbaren Bank aneinanderkauerten, bis unsere Knochen schmerzten, auf das dunkle Haus, und es schien uns alles wie etwas längst Vergangenes: die Umrisse des Hauses gegen den fahlgrünen Himmel, die verschlafenen Bewegungen des Laubs, unsere langen, blinden Küsse.

In Ihrer eleganten, mit Pünktchen reichlich versehenen Beschreibung jenes Sommers vergessen Sie natürlich nicht eine Minute lang – was wir ständig vergaßen –, dass seit Februar jenes Jahres das Land «unter der Herrschaft einer Provisorischen Regierung stand», und Sie nötigen Katja und mich, den revolutionären Vorgängen mit gespannter Aufmerksamkeit zu folgen, das heißt (über Dutzende von Seiten) politische und mystische Gespräche zu führen, die, ich versichere Sie, uns nie in den Sinn gekommen wären. Zunächst einmal wäre es mir peinlich vorgekommen, mit diesem Pathos der Rechtschaffenheit, das Sie mir verleihen, über Russlands Geschick zu sprechen, zum Zweiten waren Katja und ich viel zu sehr voneinander in Anspruch genommen, um der Revolution viel Aufmerksamkeit zu widmen. Es mag genügen, wenn ich sage, dass mein lebhaftester Eindruck in dieser Beziehung in einer winzigen Nebensächlichkeit bestand: Eines Tages machte auf der Million-Straße in St. Petersburg ein mit fidelen Revoluzzern vollgepackter Lastwagen einen schwerfälligen, aber zielgenauen Schlenker, um mit voller Absicht eine vorbeistreunende Katze zu überfahren, die dort als völlig faltenloser, säuberlich geplätteter schwarzer Lappen liegen blieb (nur der Schwanz gehörte immer noch zu einer Katze – er stand aufrecht, und seine Spitze, glaube ich, bewegte sich noch). Zur damaligen Zeit sah ich in dem Vorfall eine tiefe, verborgene Bedeutung, hatte aber seither Gelegenheit zuzusehen, wie ein Bus in einem bukolischen spanischen Dorf auf genau gleiche Weise eine genau gleiche Katze plattwalzte, sodass ich auf geheime Bedeutungen nichts mehr gebe. Sie andererseits haben nicht nur meine dichterischen Talente bis zur Unkenntlichkeit übertrieben, sondern zusätzlich einen Propheten aus mir gemacht, denn nur ein Prophet hätte im Herbst 1917 über den grünen Hirnbrei des dahingegangenen Lenin oder die «innere» Emigration von Intellektuellen in Russland sprechen können.

Nein, während jenes Herbstes und Winters sprachen wir über andere Dinge. Ich litt. Die fürchterlichsten Dinge passierten mit unserer Liebe. Sie haben eine einfache Erklärung parat: «Olga begriff langsam, dass sie eher sinnlich als leidenschaftlich war, während bei Leonid das Gegenteil der Fall war. Ihre gewagten Liebkosungen versetzten sie verständlicherweise in einen Rausch, aber tief in ihrem Innern war stets noch ein Stück, das nicht dahinschmolz» – und so weiter und so fort, in stets demselben vulgären, prätentiösen Ton. Was verstehen Sie von unserer Liebe? Bislang habe ich es bewusst vermieden, direkt von ihr zu sprechen. Wenn ich keine Angst hätte, von Ihrem Stil angesteckt zu werden, würde ich jetzt gerne ihr Feuer und ihre unterschwellige Melancholie in größerem Detail beschreiben. Ja, da waren der Sommer und das allgegenwärtige Rauschen des Laubs und wilde Fahrradjagden über die verschlungenen Pfade im alten Park, wenn jeder von uns, aus verschiedenen Richtungen kommend, schneller am Rondell sein wollte, wo der rote Sand von den verschlungenen Schlangenlinien unserer steinharten Reifen bedeckt war und jedes Stückchen Leben, jede Kleinigkeit jenes letzten russischen Sommers uns voller Verzweiflung zuschrie: «Ich bin wirklich! Ich bin jetzt!» Solange sich all diese sonnige Glückseligkeit noch an der Oberfläche hielt, ging die Traurigkeit, mit der unsere Liebe schon zur Welt gekommen war, nicht über die Hingabe an eine nicht vorhandene Vergangenheit hinaus. Als aber Katja und ich wieder in Petersburg waren, es schon mehr als einmal geschneit hatte und das Holzpflaster bereits unter jener gelblichen Schicht lag, einer Mischung aus Schnee und Pferdedung, ohne die ich mir eine russische Stadt nicht vorstellen kann, da trat der Geburtsfehler zutage, und alles, was uns blieb, war Qual.

Ich sehe sie jetzt in ihrem schwarzen Sealskinmantel mit einem großen, flachen Muff und in grauen, pelzbesetzten Stiefeln auf schlanken Beinen wie auf Stelzen einen rutschigen Bürgersteig entlanggehen; oder in einem dunklen, sehr hochgeschlossenen Kleid auf einem blauen Diwan sitzen, mit einem nach den vielen Tränen stark gepuderten Gesicht. Wenn ich am Abend zu ihr ging und nach Mitternacht zurückkehrte, erkannte ich jedes Mal in der granitenen Nacht, unter einem frostigen, vom Sternenlicht taubengrauen Himmel, die unerschütterlichen und unwandelbaren Orientierungspunkte meines Weges – immer die gleichen Petersburger Objekte, einsame Gebäude aus legendären Zeiten, die die nächtliche Öde verschönen und sich halb vom Wanderer abwenden, wie es die Schönheit immer zu tun pflegt: Sie sieht einen nicht, sie ist gedankenversunken und teilnahmslos, ihr Geist ist irgendwo anders. Ich sprach dann mit mir selber, redete auf das Schicksal ein, auf Katja, die Sterne, die Säulen einer riesigen, stummen, geistesabwesenden Kathedrale; und wenn es ganz ohne Zusammenhang in den dunklen Straßen zu einem Schusswechsel kam, dann fiel mir beiläufig und nicht ohne ein Gefühl von Freude ein, dass mich eine verirrte Kugel treffen und ich gerade an dieser Stelle sterben könnte, auf dem Rücken im dunklen Schnee liegend, in meinem eleganten Pelzmantel, den Bowler schräg auf dem Kopf, mitten unter den verstreuten weißen Taschenbüchern mit Gumiljows oder Mandelstams eben erschienenen gesammelten Gedichten, die ich hatte fallen lassen und die sich kaum vom Schnee abhoben. Oder wenn ich schluchzend und stöhnend vor mich hin ging, versuchte ich mich davon zu überzeugen, dass ich Katja nicht länger liebe, und sammelte eilig alles, was ich mir von ihrer Unaufrichtigkeit, ihrer Dünkelhaftigkeit, ihrer Hohlheit ins Gedächtnis zurückrufen konnte, das Schönheitspflaster, das einen Pickel verbarg, das künstliche grasseyement[4], das in ihrer Sprache auftauchte, wenn sie ohne Not ins Französische überwechselte, ihre unerschütterliche Schwäche für adlige Poetaster und der übellaunige, teilnahmslose Ausdruck ihrer Augen, wenn ich zum hundertsten Mal aus ihr herauszuholen versuchte, mit wem sie den vergangenen Abend verbracht habe. Und wenn ich alles gesammelt und gewogen hatte, nahm ich unter Schmerzen wahr, dass meine Liebe, auf die all dieser Schund geladen worden war, nur noch tiefer eingesunken war und festsaß und dass auch Zugpferde mit eisernen Muskeln sie nicht aus dem Schlamm herausbekämen. Und am folgenden Abend bahnte ich mir wieder meinen Weg durch all die matrosenbemannten Personenkontrollen an den Straßenecken (man verlangte Papiere, die Zugang gewährten bis zur Schwelle von Katjas Seele und darüber hinaus wertlos waren); wieder also war ich unterwegs, um Katja anzustarren, die auf mein erstes erbärmliches Wort hin zu einer großen, steifen Puppe wurde, die ihre konvexen Augenlider niederschlug und in der Sprache von Porzellanfigürchen antwortete. Als ich eines unvergesslichen Abends bat, sie möge mir eine abschließende, allerwahrhaftigste Antwort geben, sagte Katja ganz einfach gar nichts und blieb stattdessen regungslos auf der Couch liegen, während in ihren spiegelgleichen Augen die Kerzenflamme aufleuchtete, die in jener Nacht historischen Aufruhrs das elektrische Licht ersetzte, und nachdem ich mir ihr Schweigen bis zum Ende angehört hatte, stand ich auf und ging. Drei Tage später ließ ich ihr durch meinen Burschen die Nachricht überbringen, dass ich Selbstmord beginge, wenn ich sie nicht noch ein einziges Mal wiedersehen könne. So trafen wir uns denn an einem herrlichen Morgen mit rosiger runder Sonne und knirschendem Schnee auf der Poststraße; ich küsste schweigend ihre Hand, und wir schritten eine Viertelstunde lang, ohne dass auch nur ein einziges Wort unser Schweigen unterbrochen hätte, auf und ab, während in der Nähe, an der Ecke des Gardekavallerie-Boulevards, mit gespielter Gleichgültigkeit ein ganz und gar respektabel aussehender Mann mit einer Astrachan-Mütze stand und rauchte. Als wir schweigend auf und ab gingen, kam ein kleiner Junge vorbei, der einen mit Boi bespannten Schlitten mit zerfranstem Saum an einer Schnur zog, und eine Traufe gab plötzlich ein Gerassel von sich und spie einen Eisklotz aus, während der Mann an der Ecke weiterrauchte; dann küsste ich ihr an der gleichen Stelle, wo wir uns getroffen hatten, ebenso schweigend die Hand, die auf immer zurück in ihren Muff schlüpfte.

Adieu, mein Bangen und mein Verlangen,

Adieu, mein Traum, adieu, meine Qual,

Die verschlungenen Pfade im alten Park,

Wir gehen sie nun zum letzten Mal.

Ja, ja: Adieu, wie es in dem tzigane-Lied heißt. Trotz allem warst Du schön, undurchdringlich schön, und so allerliebst, dass ich weinen könnte, trotz Deiner myopischen Seele, der Trivialität Deiner Ansichten und der tausend kleinen Unehrlichkeiten; ich aber mit meinen überanstrengten Gedichten, mit dem schweren und wirren Aufgebot meiner Gefühle und mit meinem atemlosen, stotternden Gerede, ich muss trotz all meiner Liebe verächtlich und abstoßend gewesen sein. Es ist überflüssig, Dir zu erzählen, welche Qualen ich danach durchmachte, wie ich mir immer und immer wieder das Photo anschaute, auf dem Du mit einem Schimmer auf der Lippe und einem Glanz im Haar an mir vorbeisiehst. Katja, warum hast Du aus alldem einen solchen Kitsch gemacht.

Komm, lass uns in aller Ruhe und Offenheit über die Sache sprechen. Mit klagendem Zischen ist jetzt die Luft aus dem arroganten Gummifettsack heraus, der, stramm aufgeblasen, am Beginn dieses Briefes herumalberte; und Du, meine Liebe, bist in Wirklichkeit gar keine korpulente Romanschriftstellerin in ihrer Romanhängematte, sondern die gleiche, alte Katja, mit Katjas kalkulierter Forschheit des Auftretens, Katja mit den schmalen Schultern, eine anmutige, dezent geschminkte Dame, die aus alberner Koketterie ein wertloses Buch zusammengeschrieben hat. Man denke, dass Du noch nicht einmal unsere Trennung ausgespart hast! Leonids Brief, in dem er droht, Olga zu erschießen, und den sie mit ihrem zukünftigen Ehemann durchspricht; der zukünftige Ehemann in der Rolle des Agenten, der an der Straßenecke steht und sich bereithält, zu Hilfe zu eilen, sollte Leonid den Revolver ziehen, den er in seiner Manteltasche umklammert, während er leidenschaftlich auf Olga einredet, nicht zu gehen, und ihre nüchternen Worte mit seinem Schluchzen unterbricht: was für eine widerwärtige, sinnlose Erdichtung! Und am Ende des Buches muss ich nach Deinem Willen zur Weißen Armee gehen, von den Roten während eines Spähtruppunternehmens gefangen werden und mit den Namen zweier Verräterinnen – Mutter Russland, Olga – auf den Lippen tapfer sterben, gefällt von der Kugel eines «hebräisch-dunklen» Kommissars. Wie sehr muss ich Dich geliebt haben, wenn ich Dich noch immer so sehe, wie Du vor sechzehn Jahren warst, wenn ich qualvolle Anstrengungen unternehme, unsere Vergangenheit aus ihrer erniedrigenden Gefangenschaft zu befreien und Dein Bild schütze vor der Misshandlung und Schändung durch Deine eigene Feder! Ich weiß allerdings nicht, ob es mir gelingen wird. Mein Brief klingt seltsam nach jenen Versepisteln, die Du auswendig herunterrasseln konntest, erinnerst Du Dich?

Sie werden sicher mit Erstaunen

Den Brief von meiner Hand erblicken

– aber ich möchte nicht wie Apuchtin mit einer Einladung enden:

Das Meer erwartet dich, weit wie die Liebe,

Und Liebe so weit wie das Meer!

– ich möchte es nicht, weil es erstens hier kein Meer gibt und ich zweitens nicht die geringste Lust habe, Dich zu sehen. Denn nach diesem Buch, Katja, fürchte ich mich vor Dir. Es war doch, seien wir ehrlich, sinnlos, sich zu freuen und zu leiden, wie wir uns gefreut und gelitten haben, nur um seine Vergangenheit dann besudelt in einem Frauenroman wiederzufinden. Hör auf mich – lass das Schreiben! Lass Dir wenigstens dieses Fiasko zur Lehre dienen. «Wenigstens», denn ich habe das Recht zu wünschen, dass Du von Entsetzen gepackt wirst, wenn Dir klar wird, was Du angerichtet hast. Und weißt Du, wonach ich mich noch sehne? Vielleicht, vielleicht (das ist ein ganz kleines und kränkliches «Vielleicht», aber ich halte mich an ihm fest und unterschreibe daher meinen Brief auch nicht) – vielleicht, Katja, handelt es sich trotz allem um einen raren Zufall, und es bist gar nicht Du, die diesen Schund geschrieben hat, und Dein zweideutiges, aber bezauberndes Bild ist unversehrt geblieben. In diesem Falle verzeihen Sie mir bitte, Kollege Solnzew.

Der neue Nachbar

VON VERSCHIEDENEN ORTEN HERBEIZITIERT, kommen die Dinge, sich hier zu versammeln; dabei haben einige nicht nur die räumliche, sondern auch die zeitliche Entfernung zu überwinden: Mit welchem Nomaden, so fragt es sich, hat man die größere Mühe, diesem oder jenem, etwa der jungen Pappel, die einmal hier in der Nähe stand, aber vor langem gefällt wurde, oder mit dem herausgegriffenen Hinterhof, der noch heute existiert, aber weit weg von hier? Bitte Beeilung.

Da kommt sie ja, die ovale kleine Pappel, über und über mit Aprillaub betupft, und nimmt Aufstellung, wo es ihr geheißen wird, nämlich an der hohen Ziegelmauer, die aus einer anderen Stadt herbeigeschafft wurde. Ihr gegenüber wächst ein tristes und schmutziges Mietshaus mit gemeinen kleinen Balkons empor, die einer wie der andere wie Schubfächer herausgezogen sind. Andere Requisiten werden über den Hof verteilt: eine Tonne, noch eine Tonne, ein zarter Laubschatten, eine Art Urne sowie ein Steinkreuz, das am Fuß der Mauer lehnt. Alles dies ist nur eine Skizze, und vieles bliebe zu ergänzen und fertigzustellen, und dennoch treten schon zwei lebendige Menschen auf ihren winzigen Balkon hinaus – Gustav und sein Bruder Anton –, und auch ein neuer Untermieter betritt bereits den Hof, Romantowski, einen Schubkarren mit einem Koffer und einem Stapel Bücher vor sich her rollend.

Vom Hof aus gesehen und ganz besonders an einem hellen Tag scheinen die Zimmer des Hauses mit dichtem Schwarz gefüllt (die Nacht ist hier oder dort immer bei uns, drinnen während des einen Teils der vierundzwanzig Stunden, draußen während des anderen). Romantowski blickte zu den schwarzen Fensteröffnungen hinauf, zu den beiden froschgesichtigen Männern, die ihn von ihrem Balkon aus beobachteten, schulterte seinen Koffer – wobei er nach vorne taumelte, als hätte ihm jemand einen Schlag auf den Kopf versetzt – und verschwand im Hausflur. Zurück blieben im Sonnenschein: der Schiebkarren mit den Büchern, eine Tonne, die andere Tonne, die blinzelnde junge Pappel sowie eine Teerinschrift auf der Ziegelmauer: Wählt Liste (unleserlich). Vermutlich hatten vor den Wahlen die Brüder das hingepinselt.

Folgendermaßen also wollen wir die Welt einrichten: Jeder soll schuften, jeder soll was zu essen haben. Es gibt Arbeit und was in den Bauch und wird eine richtig saubere, warme, sonnige …

(Romantowski zog nebenan ein. Das war noch schäbiger als ihres. Doch unterm Bett entdeckte er eine kleine Gummipuppe. Er schloss daraus, dass sein Vorgänger Familie gehabt haben musste.)

Obwohl die Welt immer noch nicht endgültig und vollständig zu fester Materie geworden war und verschiedene Gegenden ungreifbarer und geweihter Art enthielt, fühlten sich die Brüder behaglich und zuversichtlich. Der ältere, Gustav, arbeitete als Möbelpacker; der jüngere war im Moment arbeitslos, aber unverzagt. Gustav hatte eine gleichmäßig gerötete Haut, borstige, blonde Augenbrauen und einen mächtigen, schrankartigen Brustkorb, der immer in einem groben, grauen Wollpullover steckte. Er trug Gummibänder, die seine Hemdsärmel an den Gelenken seiner fetten Arme hochhielten, um die Hände frei zu behalten und weil Ordnung sein muss. Antons Gesicht war voller Pockennarben, seinen Schnurrbart stutzte er in Form eines dunklen Trapezoids, und über seinem hageren, drahtigen Skelett trug er einen dunkelroten Pullover. Doch wenn sie beide ihre Ellenbogen auf die Balkonbrüstung stemmten, dann waren ihre Hinterteile völlig gleich, groß und triumphierend, und der nämliche karierte Stoff umspannte eng ihre vorragenden Gesäße.

Noch mal: Die Welt soll schwitzen und satt werden. Nichtstuer, Parasiten und Musikanten haben keinen Zutritt. Solange das Herz Blut pumpt, muss man leben, verdammt noch mal! Zwei Jahre lang hatte Gustav jetzt gespart, um Anna zu ehelichen, ein Büfett zu kaufen, einen Teppich.

Sie kam jeden zweiten Abend, diese dralle Person mit den fetten Armen, mit Sommersprossen auf dem breiten Nasenrücken, einem bleiernen Schatten unter den Augen und auseinanderstehenden Zähnen, von denen außerdem noch einer ausgeschlagen war. Die Brüder und sie kippten Bier in sich hinein. Sie hatte die Angewohnheit, die nackten Arme im Nacken zu verschränken und so die nass glänzenden roten Haarbüschel in den Achselhöhlen zur Besichtigung darzubieten. Den Kopf zurückgeworfen, riss sie den Mund so weit auf, dass man ihren ganzen Gaumen und das Rachenzäpfchen in Augenschein nehmen konnte, das dem Sterz eines Brathuhns ähnelte. Die Anatomie ihres Frohsinns sagte den Brüdern sehr zu. Sie kitzelten sie mit Eifer.

Tagsüber, wenn sein Bruder arbeitete, saß Anton in einer gemütlichen Kneipe oder rekelte sich inmitten der Pusteblumen auf dem kühlen, noch lebhaft grünen Gras am Kanalufer und sah voller Neid den übermütigen Rabauken zu, die einen Kahn mit Kohle beluden, oder er starrte stumpfsinnig in das leere Blau des schläfrig machenden Himmels. Doch jetzt gab es ein Hindernis in dem gut geölten Leben der Brüder.

Von dem Augenblick an, da Romantowski mit seiner Schubkarre im Hof erschienen war, hatte er bei den beiden Brüdern eine Mischung von Gereiztheit und Neugier hervorgerufen. Ihr unfehlbares Flair ließ sie spüren, dass da jemand war, der anders war als die Leute sonst. Bei einem flüchtigen Blick hätte man normalerweise nichts Besonderes an ihm bemerken können, aber die Brüder sahen es. Zum Beispiel ging er anders: Bei jedem Schritt erhob er sich auf eigentümliche Art schwungvoll auf einen Zeh und federte in die Höhe, als gewähre ihm der bloße Akt des Gehens die Gelegenheit, über den gewöhnlichen Köpfen etwas Ungewöhnliches wahrzunehmen. Er war, was man schlank nennt, sehr mager, hatte ein bleiches Gesicht mit spitzer Nase und erschreckend ruhelosen Augen. Aus den viel zu kurzen Ärmeln seiner zweireihigen Jacke staken seine langen Hände mit einer Art ärgerlicher und unsinniger Offensichtlichkeit hervor («Da wären wir: Was sollen wir anfangen?»). Er ging und kam zu unvorhersehbaren Zeiten. An einem der ersten Vormittage sichtete Anton ihn an einem Bücherstand: Er erkundigte sich nach dem Preis oder hatte tatsächlich etwas gekauft, denn der Verkäufer schlug behände zwei staubige Bände aneinander und nahm sie mit in seine Nische hinter dem Stand. Weitere Exzentrizitäten wurden bemerkt: Sein Licht brannte praktisch bis zum Morgengrauen; er war seltsam ungesellig.

Wir vernehmen Antons Stimme:

«Dieser feine Pinkel ist ein Angeber. Den sollten wir uns mal näher besehen.»

«Ich verkauf ihm die Pfeife», sagte Gustav.

Die nebelhaften Ursprünge der Pfeife. Anna hatte sie eines Tages mitgebracht, doch die Brüder akzeptierten nur Zigarillos. Eine teure Pfeife, noch gar nicht geschwärzt. In ihren Holm war ein kleines Stahlrohr eingelassen. Ein Wildlederbeutel gehörte auch dazu.

«Wer ist da? Was wollen Sie?», fragte Romantowski durch die Tür.

«Nachbarn, Nachbarn», antwortete Gustav mit tiefer Stimme

Und die Nachbarn traten ein und sahen sich gierig um. Ein Ende Wurst lag auf dem Tisch neben einem schiefen Bücherstapel; ein Buch war bei einem Schiff mit zahlreichen Segeln und einem oben in einer Ecke einherfliegenden Säugling mit aufgeblasenen Backen aufgeschlagen.

«Wir wollten uns mal bekannt machen», grummelten die Brüder. «Da wohnt man sozusagen Seite an Seite, aber irgendwie lernt man sich nie kennen.»

Die Deckplatte der Kommode teilten sich ein Spirituskocher und eine Apfelsine.

«Sehr erfreut», sagte Romantowski leise. Er setzte sich auf die Bettkante und begann, die Stirn mit entzündeter V-Ader gebeugt, die Schuhe zuzuschnüren.

«Sie haben geruht», sagte Gustav mit unheildrohender Höflichkeit. «Da kommen wir wohl ungelegen?»

Kein Wort, kein einziges Wort entgegnete der Untermieter darauf; stattdessen richtete er sich plötzlich auf, wandte sich zum Fenster, hob den Finger und erstarrte.

Die Brüder sahen hin, bemerkten am Fenster aber nichts Ungewöhnliches; es rahmte eine Wolke, den Wipfel einer Pappel und einen Teil der Ziegelmauer.

«Wieso, sehen Sie es denn nicht?», fragte Romantowski.

Der rote Pullover und der graue begaben sich zum Fenster und lehnten sich tatsächlich hinaus, nunmehr eineiige Zwillinge. Nichts. Und beide hatten plötzlich das Gefühl, dass etwas nicht stimmte, ganz und gar nicht stimmte! Sie drehten sich um. Er stand in eigenartiger Haltung neben der Kommode.

«Da muss ich mich geirrt haben», sagte Romantowski und sah sie nicht an. «Mir war, als ob was vorbeigeflogen wäre. Einmal habe ich einen Flugzeugabsturz mit angesehen.»

«So was kommt vor», pflichtete Gustav ihm bei. «Hören Sie, wir schauen nicht umsonst bei Ihnen vorbei. Möchten Sie die kaufen? Nagelneu. Ein hübsches Futteral gehört auch dazu.»

«Futteral? Ach so? Nur ich rauche kaum, müssen Sie wissen.»

«Na, dann rauchen Sie von jetzt an öfter. Wir verkaufen sie billig. Drei fünfzig.»

«Drei fünfzig. Aha.»

Er nahm die Pfeife in die Hand, biss sich auf die Unterlippe und dachte über etwas nach. Seine Augen sahen die Pfeife nicht wirklich an, sondern wanderten hin und her.

Unterdessen begannen die Brüder anzuschwellen, anzuwachsen, füllten schon das ganze Zimmer, das ganze Haus und wuchsen dann darüber hinaus. Verglichen mit ihnen war die junge Pappel inzwischen nicht größer als eines dieser Spielzeugbäumchen aus gefärbter Watte, die so wacklig auf ihren runden, grünen Füßen stehen. Das Puppenhaus, eine Angelegenheit aus staubiger Pappe mit Fensterscheiben aus Mica, reichte den Brüdern kaum an die Knie. Riesenhaft, gebieterisch nach Schweiß und Bier stinkend, mit bulliger Stimme und sinnlosem Gerede und Fäkalmasse anstelle eines menschlichen Gehirns, flößen sie einen Schauder schändlicher Furcht ein. Ich weiß nicht, warum sie mich bedrängen; ich flehe Sie an, lassen Sie mich in Ruhe. Ich fasse Sie nicht an, also fassen auch Sie mich nicht an; ich gebe ja nach, nur lassen Sie mich in Ruhe.

«Na schön, aber ich habe nicht genug Kleingeld», sagte Romantowski leise. «Wenn Sie mir also sechs fünfzig …»

Sie konnten herausgeben und gingen grinsend von dannen. Gustav hielt den Zehnmarkschein prüfend gegen das Licht und schloss ihn dann in eine eiserne Sparbüchse ein.

Trotzdem ließen sie ihren Zimmernachbarn nicht in Frieden. Es machte sie geradezu verrückt, dass jemand so unzugänglich blieb wie zuvor, obwohl sie doch jetzt mit ihm bekannt waren. Er vermied es, ihnen zu begegnen: Man musste ihm auflauern und ihm eine Falle stellen, um ihm flüchtig in die ausweichenden Augen zu sehen. Als er das nächtliche Leben von Romantowskis Lampe entdeckt hatte, hielt Anton es nicht länger aus. Er schlich barfuß an die Tür (unter der ein straffer Faden goldenen Lichts hervorsah) und klopfte.

Romantowski antwortete nicht.

«Schlafen, schlafen», sagte Anton und schlug mit der flachen Hand an die Tür.

Still drang das Licht aus der Ritze. Anton rüttelte an der Klinke. Der goldene Faden riss.

Daraufhin organisierten beide Brüder (aber vor allem Anton, der ja keine Arbeit hatte) die Bewachung der Schlaflosigkeit ihres Nachbarn. Der Feind jedoch war schlau und mit einem feinen Gehör ausgestattet. Egal, wie leise man sich der Tür auch näherte, sein Licht erlosch auf der Stelle, als wäre es nie da gewesen; und nur wenn man eine ganze Weile im kalten Korridor stehen blieb und den Atem anhielt, konnte man hoffen, die Rückkehr des hellhörigen Strahls zu erleben. So fallen Käfer in Ohnmacht und kommen wieder zu sich.

Die Aufgabe der Überwachung erwies sich als überaus anstrengend. Endlich gelang es den Brüdern, ihn auf der Treppe zu erwischen und zu stellen.

«Angenommen, ich habe die Angewohnheit, nachts zu lesen. Was geht Sie das an? Lassen Sie mich bitte vorbei.»

Als er sich wegwandte, schlug ihm Gustav aus Spaß den Hut vom Kopf. Romantowski hob ihn wortlos wieder auf.

Ein paar Tage später bei Nachtanbruch – er kam gerade vom Klosett und schaffte es nicht, schnell genug in sein Zimmer zurückzuhuschen – rotteten sich die Brüder um ihn zusammen. Obwohl nur zu zweit, brachten sie es dennoch zuwege, eine Rotte zu bilden. Sie luden ihn in ihr Zimmer ein.

«Es gibt auch Bier», sagte Gustav augenzwinkernd.

Er versuchte abzulehnen.

«Na, kommen Sie schon!», riefen die Brüder; sie fassten ihn unter den Armen und schleppten ihn fort (dabei fühlten sie, wie dünn er war – diese Schwäche, diese Magerkeit unter den Achseln war eine unwiderstehliche Versuchung … ja, ordentlich zudrücken, dass es knirscht, ja, schwer sich zu beherrschen, da wollen wir wenigstens im Gehen mal zulangen, nur einmal, ein bisschen …).

«Sie tun mir weh», sagte Romantowski. «Lassen Sie mich in Ruhe, ich kann allein gehen.»

Das verheißene Bier, der große Mund von Gustavs Braut, ein schwerer Geruch im Zimmer. Sie suchten ihn betrunken zu machen. Ohne Kragen, mit einem kupfernen Kragenknopf unter dem auffälligen und schutzlosen Adamsapfel, das Gesicht lang und bleich, die Wimpern zuckend – so saß er in verwinkelter Haltung da, teils zusammengefaltet, teils auseinandergebogen, und als er sich vom Stuhl erhob, schien er sich wie eine Spirale abzuwickeln. Sie zwangen ihn jedoch, sich wieder zusammenzurollen, und auf ihr Geheiß setzte sich Anna auf seinen Schoß. Immer wieder schielte er auf ihren geschwollenen Spann im Harnisch eines engen Schuhs, bezwang seine dumpfe Qual jedoch, so gut er konnte, da er nicht wagte, das träge rothaarige Weibsstück abzuschütteln.

Es kam ein Moment, als es ihnen so schien, als sei er gebrochen, als sei er einer der Ihren geworden. Tatsächlich sagte Gustav: «Siehst du, es war albern von dir, auf uns herabzusehen. Wir finden es kränkend, dass du alles für dich behältst. Was liest du denn so die ganze Nacht?»

«Alte, alte Geschichten», erwiderte Romantowski in einem Ton, dass die Brüder plötzlich große Langeweile überkam. Es war eine erstickende und gehässige Langeweile, aber das Bier verhinderte, dass das Gewitter sich entlud, und machte im Gegenteil die Augenlider schwer. Anna glitt von Romantowskis Knie und stieß mit einer beschwipsten Hüfte gegen den Tisch; leere Flaschen schwankten wie Kegel, eine fiel um. Die Brüder bückten sich, torkelten, gähnten und sahen mit schläfrigen Augen immer noch zu ihrem Gast hin. Vibrierend und Strahlen aussendend, dehnte er sich, wurde immer dünner und verschwand allmählich.

So geht das nicht weiter. Er vergällt anständigen Leuten das Leben. Schließlich kommt es noch so weit, dass er Ende des Monats auszieht – intakt, heil, niemals auseinandergenommen, eingebildet umherstolzierend. Nicht genug, dass er sich anders als andere Leute bewegt und atmet; das Vertrackte ist, dass wir den Unterschied einfach nicht zu fassen bekommen, dass wir die Ohrenspitze nicht packen können, an der man das Kaninchen hervorziehen kann. Ein Gräuel ist alles, was sich nicht berühren, messen, zählen lässt.

Eine Reihe trivialer Foltern begann. Am Montag gelang es ihnen, sein Bettlaken mit Kartoffelmehl zu bestreuen, das angeblich wahnsinnig juckt. Am Dienstag lauerten sie ihm an der Ecke ihrer Straße auf (er hatte Bücher bei sich, die er an die Brust gepresst hielt) und rempelten ihn so gekonnt an, dass seine Last in der von ihnen ausgesuchten Pfütze landete. Am Mittwoch bestrichen sie den Klosettsitz mit Tischlerleim. Am Donnerstag war ihre Phantasie versiegt.

Er sagte nichts, gar nichts. Am Freitag holte er mit seinem fliegenden Gang Anton am Hoftor ein und bot ihm eine Illustrierte an – wollen Sie sich die vielleicht mal anschauen? Diese unerwartete Höflichkeit verwirrte die Brüder und trieb sie nur noch mehr zur Weißglut.

Gustav trug seiner Braut auf, Romantowski anzumachen, was einem Gelegenheit gäbe, einen Streit mit ihm vom Zaun zu brechen. Unwillkürlich bringt man einen Fußball ins Rollen, ehe man zutritt. Übermütigen Tieren ist etwas Bewegliches auch lieber. Und obwohl Anna mit ihren käferbraunen Sommersprossen auf der milchweißen Haut, dem leeren Blick ihrer hellen Augen und den kleinen, nassen Fleischvorgebirgen zwischen den Zähnen Romantowski zweifellos höchst zuwider war, hielt er es für angezeigt, seinen Widerwillen zu verbergen, denn er befürchtete, Annas Liebhaber zu kränken, wenn er sie verschmähte.

Da er trotz allem einmal in der Woche ins Kino ging, nahm er sie am Sonnabend mit, in der Hoffnung, diese Aufmerksamkeit werde reichen. Unbemerkt schlichen die Brüder in diskretem Abstand hinter dem Paar her, beide mit neuen Mützen und orangeroten Schuhen angetan, und in dieser staubigen Dämmerung gab es Hunderte ihresgleichen, aber nur einen Romantowski.

Im kleinen, länglichen Kino hatte das Geflimmer der Nacht begonnen, einer selbstgemachten Mondnacht, als die Brüder verstohlen geduckt in der letzten Reihe Platz nahmen. Irgendwo vor sich spürten sie die dunkel köstliche Anwesenheit Romantowskis. Auf dem Weg zum Kino war es Anna nicht gelungen, ihrem unangenehmen Begleiter irgendetwas zu entlocken, und es war ihr auch nicht ganz klar, was Gustav eigentlich von ihm wollte. Unterwegs hätte sie beim bloßen Anblick seiner mageren Figur und seines melancholischen Profils am liebsten gegähnt. Doch als dann der Film begann, vergaß sie ihn völlig und drückte eine empfindungslose Schulter an ihn. Auf der neumodischen Tonleinwand konversierten Gespenster in Trompetentönen. Der Baron kostete seinen Wein und setzte vorsichtig das Glas ab – mit dem Geräusch einer zu Boden fallenden Kanonenkugel.

Und nach einer Weile verfolgten die Detektive den Baron. Wer hätte in ihm den Meisterschurken erkannt? Er wurde leidenschaftlich, hektisch gejagt. Automobile sausten mit Donnergetöse. In einem Nachtclub schlugen sie sich mit Flaschen, Stühlen, Tischen. Eine Mutter brachte ein süßes Kind zu Bett.

Als alles zu Ende war und Romantowski ihr leicht stolpernd in die kühle Dunkelheit hinaus folgte, rief Anna: «Ach, war das wunderbar!»

Er räusperte sich und sagte nach einer Pause: «Wir wollen nicht übertreiben. Im wirklichen Leben ist alles viel langweiliger.»

«Sie sind selber langweilig», gab sie verärgert zurück, lachte aber gleich darauf leise in sich hinein, da sie an das hübsche Kind denken musste.

Die Brüder gingen im gleichen Abstand wie zuvor hinter ihnen her. Beide waren finster. Beide pumpten sich mit finsterer Gewalt auf. Finster sagte Anton: «So was gehört sich schließlich nicht – mit der Verlobten von jemand anders auszugehen.»

«Und dann auch noch am Sonnabendabend», sagte Gustav.

Ein Fußgänger, der an ihnen vorüberkam, sah ihnen zufällig ins Gesicht – und ging unwillkürlich schneller.

Der Nachtwind trieb raschelnden Müll an den Zäunen entlang. Es war eine dunkle und öde Gegend Berlins. Zur Linken blinzelten weit von der Straße verstreute Lichter über dem Kanal. Zur Rechten befand sich ein unbebautes Gelände, dem ein paar hastig silhouettierte Häuser den schwarzen Rücken zuwandten. Nach einer Weile beschleunigten die Brüder den Schritt.

«Meine Mutter und Schwester wohnen auf dem Land», erzählte ihm Anna mit recht gemütlichem Unterton inmitten der samtenen Nacht. «Wenn ich verheiratet bin, dann fahre ich mit ihm hoffentlich zu ihnen auf Besuch. Vorigen Sommer hat meine Schwester …» Romantowski blickte sich plötzlich um.

«… in der Lotterie gewonnen», fuhr Anna fort und sah sich mechanisch ebenfalls um.

Gustav stieß einen klangvollen Pfiff aus.

«Ach so, die sind das!», rief Anna und brach in freudiges Lachen aus. «Das sind vielleicht Schlingel.»

«’n Abend, ’n Abend», sagte Gustav hastig und außer Atem. «Was tust du hier mit meiner Braut, du Esel?»

«Ich tue gar nichts. Wir waren gerade …»

«Soso», sagte Anton, holte mit dem Ellbogen aus und schlug Romantowski forsch in die Rippen.

«Bitte, nicht die Fäuste. Sie wissen ganz genau …»

«Lasst ihn in Ruhe, Jungs», sagte Anna mit leisem Kichern.

«Der muss eine Lektion kriegen», sagte Gustav, der warm wurde und mit glühender Vorfreude schon jetzt fühlte, wie er dem Beispiel seines Bruders folgen und diese Knorpel, dieses zerbrechliche Rückgrat zwischen den Fingern spüren würde.

«Übrigens ist mir neulich was Komisches passiert», hob Romantowski rasch an, doch da begann Gustav die gewaltigen Klumpen seiner Pranken in die Flanken seines Opfers zu rammen und zu bohren und ihm ganz unbeschreibliche Schmerzen zuzufügen. Beim Zurücktorkeln rutschte Romantowski aus und wäre beinahe hingefallen: Ein Sturz hätte den augenblicklichen Tod bedeutet.

«Lasst ihn doch», sagte Anna.

Er machte kehrt und ging, den Arm in die Seite gepresst, an den dunklen raschelnden Zäunen entlang. Die Brüder folgten ihm dicht auf den Fersen. In Gustav grollte die Qual des Blutdurstes, und jeden Moment konnte aus diesem Grollen ein Schlag werden.

In der Ferne vor ihm versprach ein helles Flimmern Sicherheit; es bedeutete eine erleuchtete Straße, und obwohl wahrscheinlich nur eine einzige, einsame Laterne dort brannte, schien dieser Schlitz in der Schwärze eine wunderbare, festliche Lichterpracht, eine strahlende Gegend der Seligkeit voller geretteter Menschen. Er wusste, wenn er losliefe, wäre das das Ende, denn er konnte nicht schnell genug dorthin gelangen; er musste ruhig und gleichmäßig gehen, den Mund halten und die Hand nicht gegen die brennenden Rippen zu pressen versuchen, dann konnte er es vielleicht schaffen. So ging er mit seinem gewöhnlichen federnden Schritt und erweckte den Eindruck, er tue es absichtlich, um sich über Nichtflieger lustig zu machen, und würde im nächsten Augenblick abheben.

Annas Stimme: «Gustav, lass die Finger von ihm. Du weißt genau, du kannst dann nicht wieder aufhören. Denk dran, was du damals mit diesem Maurer gemacht hast.»

«Halt die Schnauze, Alte, schreib ihm nicht vor, was er zu tun hat.» (Das ist Antons Stimme.) Endlich, jetzt war die Gegend des Lichts – wo schon das Laub einer Kastanie auszumachen war und etwas, das wie eine Litfaßsäule aussah, und links ein Stück weiter weg eine Brücke –, dieses atemlos wartenden, flehenden Lichts endlich, endlich nicht mehr gar so fern … Und trotzdem durfte man nicht rennen. Und obwohl ihm bewusst war, dass er einen verhängnisvollen Fehler beging, flog er plötzlich unwillkürlich auf und schoss aufstöhnend davon.

Er rannte und schien beim Rennen triumphierend zu lachen. Gustav holte ihn mit ein paar Sätzen ein. Beide stürzten, und in das wütende Ratschen und Knirschen mischte sich ein besonderer Laut – glatt und feucht, einmal, ein zweites Mal, bis ans Heft –, und dann floh Anna schleunigst ins Dunkel, den Hut in der Hand.

Gustav stand auf. Romantowski lag auf dem Boden und sprach Polnisch. Plötzlich brach seine Stimme ab.

«Und jetzt nichts wie weg», sagte Gustav. «Ich hab ihn fertiggemacht.»

«Zieh es raus», sagte Anton, «zieh es aus ihm raus.»

«Hab ich schon», sagte Gustav. «Mann, hab ich den fertiggemacht.»

Sie eilten davon, aber nicht auf das Licht zu, sondern über das dunkle Ödgelände. Als sie am Friedhof vorbei waren, kamen sie zu einem Gehweg, sahen sich an und verlangsamten den Schritt zu einer normalen Gangart.

Als sie nach Hause kamen, schliefen sie sofort ein. Anton träumte, er säße im Gras und sähe einen Kahn vorüberziehen. Gustav träumte nichts.

Früh am nächsten Morgen erschienen Polizisten; sie durchsuchten das Zimmer des Ermordeten und stellten Anton, der in den Flur herausgekommen war, kurz ein paar Fragen. Gustav blieb satt und schläfrig im Bett, sein Gesicht die Farbe westfälischen Schinkens, im Gegensatz zu den weißlichen Büscheln seiner Augenbrauen.

Bald ging die Polizei, und Anton kam wieder herein. Er war ungewohnt aufgekratzt, prustete vor Lachen, ging immer wieder in die Knie und schlug geräuschlos eine Faust in den Handteller.

«Ein Witz!», sagte er. «Weißt du, was der Kerl war? Ein Blütenmacher!»

Und Anton erzählte, was er in Erfahrung gebracht hatte: Der Kerl gehörte zu einer Bande und war gerade aus dem Gefängnis entlassen worden. Davor hatte er Banknoten gefälscht; zweifellos hatte ihn ein Komplize erstochen.

Auch Gustav schüttelte sich vor Heiterkeit, doch dann änderte sich plötzlich sein Gesichtsausdruck.

«Er hat uns seine Blüte angedreht, der Gauner!», rief Gustav und lief nackt zum Schrank, wo er seine Sparbüchse verwahrte.

«Macht nichts, wir werden sie schon los», sagte sein Bruder. «Wer nichts davon versteht, merkt es nicht.»

«Ja, aber was für ein Gauner!», sagte Gustav immer wieder.

Mein armer Romantowski! Und da habe ich wie sie gemeint, du wärest wirklich etwas Besonderes. Ich gestehe es, ich habe gemeint, du wärest ein bemerkenswerter Dichter, den die Armut genötigt hatte, in diesem finsteren Viertel zu wohnen. Ich habe kraft gewisser Anzeichen gemeint, dass du Nacht für Nacht einen unanfechtbaren Sieg über die Brüder feiertest, indem du an einer Verszeile arbeitetest oder einer anwachsenden Idee nachsannst. Mein armer Romantowski! Jetzt ist alles aus. Die Dinge, die ich versammelt hatte, machen sich leider wieder davon. Die junge Pappel verschwimmt und hebt ab – um dorthin zurückzukehren, wo sie hergeholt worden war. Die Ziegelmauer löst sich auf. Das Haus zieht seine kleinen Balkons einen um den anderen ein, macht kehrt und schwebt von dannen. Alles schwebt von dannen. Harmonie und Bedeutung zerrinnen. Wieder verdrießt mich die Welt mit ihrer bunten Leere.

Der Kreis

ZWEITENS, weil ihn jäh ein wahnsinniges Verlangen nach Russland gepackt hatte. Drittens schließlich, weil er jenen Jugendjahren nachtrauerte und allem, was mit ihnen zusammenhing – dem wilden Groll, der Ungeschlachtheit, der Inbrunst und den blendend grünen Morgenfrühen, wenn einem das Unterholz mit seinen Goldamseln betäubend in den Ohren lag. Während er so in dem Café saß und die blasser werdende Süße seines Cassis mit Sodawasser aus dem Siphon immer weiter verdünnte, erinnerte er sich der Vergangenheit mit Herzbeklemmen, mit Wehmut – welcher Art Wehmut? Nun, einer bisher nicht ausreichend erforschten Wehmut. Von einem Seufzer emporgebracht, hob sich diese ferne Vergangenheit mit seiner Brust, und langsam stand sein Vater aus dem Grabe auf und straffte die Schultern: Ilja Iljitsch Bytschkow, le maître d’école chez nous au village[1], mit vorgeplusterter schwarzer Krawatte, die zu einem pittoresken Knoten gebunden war, und einer Pongéjacke, deren Knöpfe nach alter Art hoch oben am Brustbein begannen, aber auch weit oben endeten, sodass die auseinanderweichenden Jackenschöße die Uhrkette über der Weste frei ließen; seine Gesichtsfarbe war rötlich, sein Kopf kahl, aber mit einem zarten Flaum bedeckt, der an das samtige Frühlingsgeweih eines Hirschs erinnerte; auf seinen Wangen waren eine Menge Fältchen und neben der Nase eine fleischige Warze, die wirkte, als beschreibe der Nasenflügel eine weitere Volute. In seiner Gymnasial- und Universitätszeit fuhr Innokentij an Feiertagen zu seinem Vater nach Leschino hinaus. Wenn er noch tiefer tauchte, konnte er sich an den Abriss der alten Schule am Ende des Dorfs erinnern, die Bereitung des Bodens für ihre Nachfolgerin, die Grundsteinlegung, den Gottesdienst im Wind, daran, wie Graf Konstantin Godunow-Tscherdynzew die traditionelle Goldmünze geworfen hatte und diese hochkant im Lehm stecken geblieben war. Das neue Gebäude war außen von einem körnigen, granitenen Grau; drinnen roch es für mehrere Jahre und dann über eine weitere lange Zeit hin (als es nämlich in die Belegschaft der Erinnerung eintrat) sonnig nach Kleister; die Klassen zierten glänzende pädagogische Hilfsmittel wie die vergrößerten Porträts von Insekten, die in Flur und Wald Schaden anrichteten; doch Innokentij fand die ausgestopften Vögel, die Godunow-Tscherdynzew zur Verfügung gestellt hatte, noch irritierender. Mit dem gemeinen Volk anzubändeln! Doch, er sah sich selber als gestrengen Plebejer: Hass (so schien es zumindest) würgte ihn, wenn er über den Fluss hinweg in den großen, herrschaftlichen Park spähte, der schwer war von uralten Privilegien und kaiserlichen Vergünstigungen und das Spiegelbild seiner schwarzen Massen (mit dem Sahnefleck eines Traubengewächses, das hier und da zwischen den Tannen blühte) auf das grüne Wasser warf.

Die neue Schule wurde an der Schwelle dieses Jahrhunderts gebaut, zu einer Zeit, als Godunow-Tscherdynzew von seiner fünften Expedition nach Mittelasien zurückgekehrt war und mit seiner jungen Frau (mit vierzig war er doppelt so alt wie sie) den Sommer in Leschino verbrachte, seinem Landsitz im Gouvernement St. Petersburg. In welche Tiefen war man geraten, gütiger Himmel! In einem schmelzenden kristallklaren Dunst, so, als begebe sich alles unter Wasser, sah sich Innokentij als Junge von drei oder vier Jahren das Herrenhaus betreten und durch prachtvolle Räume schweben, während sein Vater auf Zehenspitzen ging, einen feuchten Maiglöckchenstrauß so fest in der Hand, dass der quietschte – und auch um sie her schien alles feucht, ein leuchtender, quietschender, zittriger Dunst, der alles war, was sich ausmachen ließ –, doch in späteren Jahren verwandelte es sich in eine beschämende Erinnerung, die Blumen seines Vaters, die Zehenspitzenschritte und die schwitzenden Schläfen wurden dunkel zu einem Symbol dankbarer Knechtschaft, besonders nachdem Innokentij von einem alten Bauern erfahren hatte, dass Ilja Iljitsch von «unserm guten Herrn» aus einer trivialen, aber klebrigen politischen Affäre herausgelöst worden war, für die er ohne die Intervention des Grafen in die entlegenste Provinz des Reiches verbannt worden wäre.

Tanja sagte immer, sie hätten nicht nur im Tierreich, sondern auch unter den Pflanzen und Mineralien Verwandte. Und tatsächlich hatten russische und ausländische Naturforscher unter dem Artnamen «godunovi» einen neuen Fasan, eine neue Antilope, einen neuen Rhododendron beschrieben, und es gab sogar ein ganzes Godunow-Gebirge (er selber beschrieb nur Insekten). Diese seine Entdeckungen, seine herausragenden Beiträge zur Zoologie und die tausend Gefahren, für deren Nichtachtung er berühmt war, bewogen die Leute indessen nicht dazu, nachsichtig über seine hohe Abkunft und seinen großen Reichtum hinwegzusehen. Außerdem wollen wir nicht vergessen, dass gewisse Teile unserer Intelligenzija immer verachtungsvoll auf alle nichtangewandte wissenschaftliche Forschung herabgesehen hatten, und darum wurde Godunow getadelt, dass er sich mehr für «Sinkiang-Käfer» als für die Not der russischen Bauern interessiere. Bereitwillig schenkte der junge Innokentij den (in Wahrheit idiotischen) Geschichten über die Reisekonkubinen des Grafen Glauben, seine chinesisch anmutende Unmenschlichkeit und die Geheimaufträge, die er angeblich für den Zaren erledigte – um den Engländern eins auszuwischen. Die Wirklichkeit seines Bildes blieb undeutlich: eine nackte Hand, die ein Goldstück warf (und in der noch früheren Erinnerung jener Besuch im Herrenhaus, dessen Herrn das Kind mit einem himmelblau gekleideten Kalmücken verwechselte, dem man auf dem Weg durch einen Empfangssaal begegnet war). Dann brach Godunow aufs neue auf, nach Samarkand oder Wernyj[2] (Städte, in denen seine märchenhaften Wanderungen üblicherweise ihren Ausgang nahmen), und blieb lange fort. Inzwischen verbrachte seine Familie, die den Landsitz auf der Krim offenbar dem petropolitanischen vorzog, den Sommer im Süden. Die Winter über hielten sie sich in der Hauptstadt auf. Dort auf dem Kai stand ihr Haus, eine zweistöckige, oliv gestrichene Privatresidenz. Manchmal kam Innokentij zufällig vorbei; sein Gedächtnis behielt die femininen Formen einer Statue, deren gedelltes, zuckerweißes Gesäß durch die gemusterte Gaze hinter einer großen Glasfensterscheibe zu sehen war. Olivbraune Atlanten mit stark gewölbten Rippen trugen einen Balkon: Die Anspannung ihrer steinernen Muskeln und ihre qualvoll verdrehten Münder kamen unserem stürmischen Oberklässler wie eine Allegorie des versklavten Proletariats vor. Ein paarmal erhaschte er auf jenem Kai im böigen Newa-Frühling einen Blick auf das kleine Godunow-Mädchen mit seinem Foxterrier und seiner Gouvernante; sie wirbelten geradezu vorüber und waren doch so lebhaft umrissen: Tanja trug bis zum Knie geschnürte Stiefel und einen kurzen, marineblauen Mantel mit knaufartigen Messingknöpfen, und als sie rasch vorbeimarschierte, schlug sie auf die Falten ihres kurzen, marineblauen Rocks ein – womit? ich glaube, mit der Hundeleine, die sie bei sich trug –, und der Ladoga-Wind zauste an den Bändern ihrer Matrosenmütze, und ein Stück hinter ihr drein kam ihre Gouvernante geeilt, mit einer Persianerjacke angetan, in der Taille geknickt, einen Arm vorgestreckt, die Hand in einem Muff aus dichtgelocktem schwarzem Fell.

Er wohnte bei seiner Tante, einer Näherin, in einer Wohnung in Ochta. Er war mürrisch, ungesellig, verwendete gewichtige, stöhnende Mühe auf seine Schularbeiten, während er seinen Ehrgeiz auf ein gerade noch ausreichendes Zeugnis beschränkte, machte aber zu jedermanns Erstaunen einen brillanten Schulabschluss und begann mit achtzehn an der Petersburger Universität Medizin zu studieren – ein Punkt, an dem seines Vaters Verehrung für Godunow-Tscherdynzew geheimnisvoll zunahm. Einen Sommer verbrachte er als Privatlehrer bei einer Familie in Twer. Im Mai des folgenden Jahres, 1914, war er im Dorf Leschino zurück – und entdeckte nicht ohne Bestürzung, dass das Herrenhaus jenseits des Flusses zum Leben erwacht war.