Wondrak - Stefan Zweig - E-Book

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Zweig Stefan

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Beschreibung

Mit dem Autorenporträt aus dem Metzler Lexikon Weltliteratur. Mit Daten zu Leben und Werk, exklusiv verfasst von der Redaktion der Zeitschrift für Literatur TEXT + KRITIK. Ihr eigen Fleisch und Blut! Körperlich entstellt und von der Gesellschaft ausgestoßen, findet Ruzena Sedlak in dem Kind, das sie nach einer Vergewaltigung erwartet, endlich einen Halt und Sinn im Leben. Doch dann droht der erste Weltkrieg ihr den schönen Jungen zu entreißen … Auch wenn Stefan Zweig von Sonderlingen und Ausgestoßenen erzählt, ist ihr Schicksal doch exemplarische conditio humana. Doch ihr Leid gehört nicht zum Lauf der Welt, es resultiert ausnahmslos aus einem Versagen der Menschlichkeit.

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Stefan Zweig

Wondrak

[Fragment]

Fischer e-books

Mit dem Autorenporträt aus dem Metzler Lexikon Weltliteratur.

Mit Daten zu Leben und Werk, exklusiv verfasst von der Redaktion der Zeitschrift für Literatur TEXT + KRITIK.

Wondrak

[Fragment]

Daß die Ružena Sedlak, allbekannt im weitesten Umkreis unter dem Namen »Der Totenkopf«, daß dieses häßliche Gebilde mit einem Kinde niedergekommen sei, diese erst unglaubliche, unglaubwürdige Nachricht erweckte im Herbst des Jahres 1899 ausgiebigste Heiterkeit in der kleinen südböhmischen Stadt Dobitzan. Oft schon hatte ihre erschreckende, ja geradezu verstörende Häßlichkeit Anlaß zu mehr mitleidiger als boshafter Heiterkeit gegeben, aber dies hätte selbst der verwegenste Spaßmacher nicht zu erwarten gewagt, daß ein so schundriger und schmieriger Topf noch einmal seinen Deckel finden würde. Nun aber war dieses unappetitliche Wunder bezeugt durch einen Jägerburschen, der den schreienden Säugling im abgelegenen Forst, wo die Sedlak hauste, an ihrer Brust behaglich hatte schmatzen sehen, und hastig trugen die Mägde zugleich mit ihren Eimern diese bunte Neuigkeit in alle Kaufläden, Krämereien, Wirtsstuben und Wohnungen von Dobitzan. Den ganzen grauen Oktoberabend lang wurde von nichts anderem gesprochen als von diesem unerwarteten Sprößling und seinem mutmaßlichen Vater. Am Stammtisch stießen sich die biedern Trinker hämisch in die Seite, einer verdächtigte den andern prustend dieser unappetitlichen Urheberschaft, und der medizinisch geeichte Apotheker schilderte die vermutliche Liebesszene in so realistischen Farben, daß noch einige Schnäpse zur Erholung verbraucht werden mußten. Zum erstenmal seit acht- undzwanzig Jahren hatte dieses unselige Geschöpf seinen Mitbürgern einen knastrigen und ausgiebigen Spaß bereitet.

Den ersten Spaß freilich, einen unaustilgbar grausamen, hatte sich mit diesem armen Mißgebilde lange vordem die Natur selbst erlaubt, indem sie ihr, der unehelichen Tochter eines syphilitischen Brauknechtes, schon im Mutterleib die Nase eindrückte, und der Spottname, der grauenhaft ihr anhaftende, kam gleichzeitig mit ihr selber zur Welt. Denn kaum sie das neugeborene Kind betrachtete, schlug die Hebamme, die in vierzig Jahren reichlich viel Häßliches und Sonderbares gesehen, hastig das Kreuz und schrie unbeherrscht auf: »Ein Totenkopf!« Denn dort wo sonst in einem Menschengesicht klar und rein, um die Augen zu schützen und die Lippen zu schatten, der Nasenbogen sich hebt, Licht und Schatten im Antlitz bewegt verteilend, da gähnte bei diesem Kind ein leeres niedriges Nichts: nur zwei Atemlöcher, schwarz wie Schußwunden, standen gräßlich leer innerhalb der rosigen Fleischfläche und zwanghaft erinnerte dieser (nicht lang erträgliche) Anblick an einen Totenschädel, wo zwischen der beinernen Stirn und den weißen Zähnen gleichfalls ein solches Nichts liegt, eine solche schauerliche, verstörende Leere. Dann als die Hebamme, vom ersten Schreck sich erfangend, den Säugling weiter untersuchte, fand sie ihn wohlgestaltet, gut geformt und gesund. Nichts fehlte diesem unseligen Balg, um andern Kleinkindern gleich zu sein, als ein Zoll Knochen und Knorpel, als ein Fingerbreit Fleisch. Aber die Natur hat uns derart an Ebenmäßigkeit in ihren Gesetzen gewöhnt, daß die geringste Abweichung an ihrer erprobten Harmonie uns anwidert und erschreckt, daß – unlösbares Unrecht – jeder Irrtum des Bildners in uns Erbitterung gegen das mißlungene Gebilde erregt. Denn verhängnisvoller Weise wenden wir diesen Abscheu statt dem lässigen Zeichner dem unschuldig Gezeichneten entgegen: zu seiner eigenen Qual muß jeder Verstümmelte und Ungeformte noch das schlecht verhaltene Unbehagen des Wohlgeformten teuflisch erleiden. So wird ein schiefes Auge, eine verschobene Lippe, ein zerspaltener Mund aus einem einmaligen Irrtum der Natur zur fortwachsenden Qual eines Menschen, zu der unausrottbaren Not einer Seele – zu einer diabolischen Not, daß es um ihretwillen schon schwerfällt an Sinn und Gerechtigkeit innerhab unseres kreisenden Sternes, namens Erde, zu glauben.

Daß sie Totenkopf hieß, und mit Recht, wußte Ružena Sedlak schon als Kind: gleichzeitig mit der Sprache wurde ihr ihre Schande gelehrt, und jede Sekunde erinnerte sie von neuem, daß sie um dieses fehlenden Zoll Knochens willen unerbittlich aus unbefangener Gemeinschaft der Menschen ausgestoßen war. Schwangere Frauen machten hastig vor ihr kehrt, wenn sie ihr auf der Straße begegneten, fremde Bäuerinnen, die ihre Eier zu verkaufen auf den Markt kamen, bekreuzigten sich, denn die Einfältigen konnten es sich nicht anders ausdenken, als daß der Teufel diesem Kind die Nase eingedrückt habe. Und selbst die freundlich sich um sie bemühten hielten im Gespräch die Augen deutlich gesenkt: außer bei Tieren, die im Menschen das Häßliche nicht spüren und nur die Güte fühlen, konnte sie sich nie erinnern, jemals die Pupille eines Auges klar und von nahe gesehen zu haben. Ein Glück nur, daß sie dumpf und trägen Sinnes war: so litt sie nur dumpf bei den Menschen unter diesem Unrecht Gottes. Sie hatte keine Kraft sie zu hassen, aber auch nicht den Wunsch sie zu lieben, sie kümmerte sich wenig um die ganze fremdgebliebene Stadt und war darum höchlichst zufrieden, als der gute Pfarrer Nossal ihr durch seine Fürsprache die Haushälterstelle draußen im Forst verschaffte, acht Fußstunden weit von der Stadt und vollkommen abgelegen von jeder mensch lichen Begegnung. Mitten in seinen ausgedehnten Wäldern, die sich von Dobitzan bis weithin zu den Schwarzenberg’schen Forsten erstreckten, hatte der Graf R. sich ein Blockhaus nach ausländischer Art für seine Jagdgäste bauen lassen, das, außerhalb dieser wenigen Wochen im Herbst, immer unbewohnt blieb; dort wurde als Hüterin während der menschenfremden Zeit, in einem ebenerdigen Raum, die Ružena Sedlak gesetzt. Sie hatte keinen andern Dienst, als das Haus zu hüten und in harten Wintern die Hirsche und das kleine Wild zu füttern. Sonst konnte sie tun, was sie wollte mit ihrer Zeit, und sie tat es, indem sie sich Ziegen, Kaninchen, Hühner und sonstiges Kleingetier aufzog, einen Gemüsegarten bestellte und kleinen Handel mit Eiern, Hühnern und kleinen Zicklein trieb. Acht Jahre lebte sie so vollkommen im Walde und vergaß über die Tiere, die sie zärtlich liebte, die Menschen, und die Menschen [vergaßen] wiederum sie. Erst das Mirakel, daß irgendein blindes oder betrunkenes Mannsbild (anders konnten sie sich die Verirrung nicht erklären) sie gefunden, dem Totenkopf ein Kind zu zeugen, erst dieses Geschehnis lenkte nach Jahr und Tag wieder die heitere Aufmerksamkeit der Dobitzaner auf diese vergessene Kreatur Gottes.