Woodwalkers (6). Tag der Rache - Katja Brandis - E-Book

Woodwalkers (6). Tag der Rache E-Book

Katja Brandis

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Beschreibung

Es ist so weit! In den Rocky Mountains ist Sommer und für Carag und seine Freunde stehen die Abschlussprüfungen an. Doch das Lernen fällt dem Pumajungen schwer, denn inzwischen ist klar, dass Millings Großer Tag der Rache unmittelbar bevorsteht. Verzweifelt versuchen Carag und seine Verbündeten, die Menschen zu schützen und sich ihrem Widersacher entgegenzustellen. Doch dadurch ahnt auch Carags Pflegefamilie, wer er wirklich ist. Für ihn, seine Menschenfamilie und die Clearwater High steht alles auf dem Spiel. Wird es den Verteidigern rechtzeitig gelingen, hinter Millings Geheimnis zu kommen und die gefährlichen Gegner zu stoppen?

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Bücher von Katja Brandis im Arena Verlag:

Woodwalkers. Carags Verwandlung

Woodwalkers. Gefährliche Freundschaft

Woodwalkers. Hollys Geheimnis

Woodwalkers. Fremde Wildnis

Woodwalkers. Feindliche Spuren

Khyona – Im Bann des Silberfalken

Katja Brandis

Tag der Rache

Zeichnungen von Claudia Carls

Über dieses Buch

Es ist so weit! In den Rocky Mountains ist Sommer und für Carag und seine Freunde stehen die Abschlussprüfungen an. Doch das Lernen fällt dem Pumajungen schwer, denn inzwischen ist klar, dass Millings Großer Tag der Rache unmittelbar bevorsteht. Verzweifelt versuchen Carag und seine Verbündeten, die Menschen zu schützen und sich ihrem Widersacher entgegenzustellen. Doch dadurch ahnt auch Carags Pflegefamilie, wer er wirklich ist. Für ihn, seine Menschenfamilie und die Clearwater High steht alles auf dem Spiel. Wird es den Verteidigern rechtzeitig gelingen, hinter Millings Geheimnis zu kommen und die gefährlichen Gegner zu stoppen?

Für Julia

Unser Secret-Ranger-Club ist ein voller Erfolg! Meine Freunde, ich und Woodwalker im ganzen Land verteidigen die Menschen gegen Andrew Millings zunehmende Angriffe. Doch wie gut haben uns unsere Praktika auf Millings Großen Tag der Rache vorbereitet, der bestimmt bald bevorsteht? Und was muss ich noch alles in meinen Kopf reinbekommen, um die Abschlussprüfung des ersten Schuljahres zu schaffen? Denn die steht vor der Tür, bevor wir in die großen Ferien dürfen. Und leider beginnt nun auch die Saison der Waldbrände in Yellowstone …

Buschfeuer

Ein Revier zu erobern, ist die eine Sache – es zu behalten, eine andere. Während mein Vater entlang der Grenzen unseres Gebiets im Süden patrouillierte, nahmen unsere Mutter, Mia und ich uns in diesem Sommer den Norden vor. Revier markieren war immer eine lustige Sache, ich liebte es, meine Krallen an Bäumen zu schärfen. Rindenstücke flogen in alle Richtungen, als ich einen Stamm begeistert mit den Vorderpranken bearbeitete, und der Duft nach frischem Harz und Kiefernnadeln stieg mir in die Nase.

Gut so, sagte meine Mutter nach einem kritischen Blick. Jetzt geht mal ein Stück zurück.

Sie produzierte eine große, gelbe Pfütze voller »Hau ab, hier wohne ich«-Botschaften für andere Pumas.

Darf ich auch? Ich kann den Baum richtig gut einsprühen, bettelte ich.

Doch Nimca zuckte nur mit den Schnurrhaaren. Willst du, dass die benachbarten Pumas denken, dass hier ein Jungtier die Stellung hält? Dann lungern sie ein paar Tage später in unserem besten Jagdgebiet herum!

Stimmt, gab ich zu.

Mia duckte sich zum Sprung, sie peilte eine Drehkiefer an. Wer als Erster oben ist!

Ich natürlich!, gab ich zurück. Fast gleichzeitig sprangen wir den Baum an, krallten uns im Holz fest und liefen die Kiefer förmlich nach oben, Mia auf der einen Seite, ich auf der anderen. Meine Schwester hatte einen kleinen Vorsprung, weil sie größer und älter war, aber ich war gelenkiger. Die dünne Spitze der Kiefer schwankte unter unserem Gewicht, als würde ein Sturmwind sie schütteln. Zwei junge Raubkatzen waren ein bisschen viel für sie, vor allem, wenn sie auch noch miteinander rangelten. Achtung, Menschen nähern sich auf dem Wanderweg, warnte unsere Mutter.

Mia und ich erschraken so sehr, dass wir beide gleichzeitig versuchten, von dieser Kiefer herunterzukommen. Leider brach dadurch die Spitze ab und wir waren sehr viel schneller unten als erwartet. Zum Glück federten die Äste der benachbarten Bäume unseren Sturz ab, Kiefernnadeln peitschten gegen meinen Rücken. Noch im Fallen drehte sich mein Körper und ich kam geduckt auf allen vier Pfoten auf. Mia dagegen prallte gegen einen Ast und purzelte neben mir nicht sehr elegant auf den Boden, eine Schande für jede Katze.

Aua, beschwerte sie sich.

Das wollte ICH gerade sagen, motzte ich zurück und begann, mich zu putzen, um mir die Kiefernnadeln aus dem Fell zu holen.

Vermutlich hatten die Menschen uns gehört, denn ihre Geräusche verstummten kurz, dann erst kamen sie näher. Zu dritt zogen wir uns ins Unterholz zurück, das aus grauen, abgestorbenen Ästen, Gebüsch und grünem Gewucher bestand. Interessiert beobachtete ich, dass die beiden Wanderer, ein Mann und eine Frau, sich weiße Stäbchen in den Mund steckten und sie anzündeten, sodass widerlich riechender Rauch hervordrang. Freiwillig würden die so was bestimmt nicht einatmen, vielleicht hatten ihre Eltern es ihnen befohlen? Die Armen.

Eins der Stäbchen war sehr kurz geworden. Die Frau nahm es aus dem Mund und warf es weg, dann ging sie mit ihrem Begleiter plaudernd weiter. Wir nutzten die Chance, lautlos in der Gegenrichtung davonzuhuschen.

Doch weit kamen wir nicht, dann stutzte Mia. Riechst du das?

Ja, jetzt wo sie es sagte … Oh nein, ächzte ich, und wie von selbst legten sich meine Ohren zurück, ein Fauchen entwich meinem Maul. Es roch nach Rauch von brennendem Holz.

Die Zigarette, stöhnte unsere Mutter. Verdammte Idioten, wieso haben sie den Stummel einfach so weggeworfen? Ich hab so ein Ding auch mal probiert – echt eklig! –, aber ich habe es in den Sand gedrückt, damit es ausgeht.

Was, du hast so was auch mal probiert? Ich war entsetzt.

Ich habe alles Mögliche in der Menschenwelt mal ausprobiert, gab Nimca zurück. Du bist nicht der Einzige, der in unserer Familie neugierig ist.

Sie blieb stehen, blickte sich unschlüssig um. Dann führte sie uns zurück, um die Lage in Augenschein zu nehmen. Mit gesträubtem Fell beobachteten Mia und ich, wie sich das Feuer in das trockene Unterholz hineinfraß. Schon leckte eine gelborangefarbene Flamme eine Drehkiefer hoch und begann, sie zu fressen. Ihre Nadeln wurden schwarz und Hitze schlug mir entgegen. Der beißende Rauch stach mir in die Nase. Wir wichen ein paar Schritte zurück.

Können wir irgendetwas tun?, fragte Mia verunsichert. Vielleicht wenn wir uns verwandeln? In Menschengestalt?

Dafür ist es schon zu spät, erwiderte unsere Mutter grimmig. Lasst uns verschwinden, Feuer ist gefährlich.

Die Menschen könnten es löschen, oder?, fragte ich nachdenklich und zog mich noch weiter zurück, denn die Flammen krochen knisternd an Nachbarbäumen hoch und wurden immer größer. Der Anblick jagte mir Angst ein.

Ja, aber manchmal machen sie das nicht und lassen es brennen, erklärte Nimca, drehte sich um und lief los. Kommt, bloß weg hier!

Zum Glück bewegte sich das Feuer nicht sehr schnell, weil es windstill war, und wir konnten ihm leicht entkommen. Auch andere würden das schaffen – ich sah einen Hasen und ein wütend vor sich hin schnatterndes Hörnchen vor der Hitze fliehen. Doch langsamere Tiere hatten nun ein Problem. Fasziniert beobachtete ich, wie eine Welle von kleinen Krabbeltieren sich von dem Feuer wegbewegte. Käfer, gestreifte Heuschrecken, Spinnen, eine Natter, sie alle versuchten, sich in Sicherheit zu bringen … doch nur die wenigsten von ihnen würden es schaffen.

Andere Tiere nutzten die Gelegenheit zu einem Snack – seelenruhig trieb sich ein Waschbär zwischen den fliehenden Kleintieren herum und stopfte sich das Maul mit Heuschrecken voll.

So was könnten wir doch auch machen, wandte die ewig hungrige Mia ein und beobachtete eine panische Maus, die unter einem umgestürzten Baum hindurchhetzte.

Vergiss es – los jetzt, schneller!, trieb uns Nimca an.

Jaja, schon gut, gab Mia zurück und bequemte sich zu einem schnelleren Trab. Wie wohl geröstete Mäuse schmecken?

Eine Weile sah es so aus, als wären wir dem Feuer entkommen. Aber dann drehte der Wind und frischte auf.

Er trieb das Feuer vor sich her, fächelte ihm Luft zu und peitschte es voran. Genau in unsere Richtung! Die Flammen begannen, von Baum zu Baum zu springen und das trockene Holz immer schneller zu fressen. Und je mehr sie verschlangen, desto höher schlugen sie in den Himmel.

Beim großen Gewitter, murmelte meine Mutter und ich hörte die Angst in ihrer Stimme. Lauft! Lauft um euer Leben!

Wir rannten. Mein Atem ging schnell, aber es war eine Qual, die bittere Luft zu atmen, die der Qualm graugelb gefärbt hatte. Und so schnell unsere Pfoten uns auch trugen, das Feuer holte immer mehr auf. Wir sprinteten aus dem Wald heraus auf eine Wiese – hier fand das Feuer vielleicht nicht so viel Futter, Holz gab es keins, vielleicht waren wir hier sicher?

Nein, waren wir nicht. Der nächste Windstoß ließ die Flammen über das Gras huschen. Sie liefen so geschmeidig darüber, als seien sie fließendes Wasser … und hinterließen nur Schwarz, wo zuvor Grün gewesen war.

Als Funken aus einem brennenden Busch hochsegelten, landeten ein paar davon auf Mias Fell. Wütend wirbelte meine große Schwester herum und fauchte das Feuer an. Lass uns in Ruhe, du verdammter Baumfresser!

Hör auf, wir müssen weiter!, schrie unsere Mutter sie an.

Zornfunkelnd wandte sich Mia zu ihr um. Ach, und was bringt das, einfach nur weiterzulaufen? Wenn wir so weitermachen, sind wir bald tot! Wir müssen planen, wo wir hinwollen.

Es war selten, dass Mia unsere Mutter so herausforderte, meist war ich es, der auf ungewöhnliche Ideen kam. Verblüfft starrte ich meine große Schwester an.

Ich führe uns schon quer zur Windrichtung, stieß unsere immer so vernünftige Mutter hervor. Auf diese Art können wir vielleicht …

Das rettet uns nicht!, brüllte Mia uns an. Wir müssen zum Wasser! Gibt es hier irgendwo welches, Mama? Mia war die Einzige in der Familie, die Wasser mochte und in ihrer Menschengestalt sogar freiwillig schwamm.

Ich kenne einen Teich, aber er ist ein Stück weg, antwortete Nimca.

Nichts wie hin, sagte ich und miaute schmerzerfüllt auf, als ich auf ein glühendes Aststück trat. Aber das gewaltige Brausen des Feuers jagte mir eine solche Angst ein, dass ich den Schmerz vergaß und neben Nimca und Mia dahinjagte.

Vor uns erkannten wir ein graues, mit einem weißen Strich verziertes Band, das durch den Wald führte. Eine Straße. Obwohl meine Mutter die Dinger eigentlich nicht mochte, rannte sie diesmal freudig darauf zu. Das gibt uns einen Vorsprung, keuchte Nimca erleichtert und hielt auf der anderen Seite der Straße an. Das graue Zeug brennt nicht, und wenn wir Glück haben, kommt das Feuer da nicht rüber.

Ihre Flanken hoben und senkten sich, als sie versuchte, wieder zu Atem zu kommen.

Kannst du noch laufen?, fragte ich sie und schmiegte mich an sie.

Ja, geht gleich wieder. Sie warf mir einen besorgten Blick zu. Und was ist mit dir, Carag?

Nur ein bisschen Pfotenweh, log ich und schleckte mir die Tatze. Verdammt, auf dem Ballen hatte sich eine fette Brandblase gebildet.

Nervös warteten wir, ob die Straße das Feuer aufhalten konnte. Tatsächlich, dort stockten die Flammen, weil sie kein Futter fanden. Wir atmeten alle drei auf. Doch dann sah ich entsetzt, wie der Wind Funken und glühende Rindenstücke auf die andere Seite trug. Würden sie dort bald das trockene Unterholz entzünden? Nein, nein, bitte nicht, flehte meine Mutter, doch anscheinend hörte ihr der Wind nicht zu. Unsere Flucht war noch nicht zu Ende!

Wir zuckten alle zusammen, als aus dem Qualm ein Auto auftauchte. Darauf war jede Menge Kram gestapelt und innen war der Wagen voll besetzt mit Leuten, die Helme und gelbe Jacken trugen. Kurz darauf hörte ich auch noch das Knattern einer dieser Riesenlibellen, die man Hubschrauber nannte.

Jetzt kommen die Menschen mit ihrer Magie!, jubelte ich. Wetten, die helfen uns?

Mia schubste mich. Du immer mit deinen Menschen! Magie oder nicht, wir müssen jetzt zum Wasser, sonst …

Platsch! Da hatten wir unser Wasser, aber wir hätten nicht damit gerechnet, dass es von oben kommen würde. Einen Moment lang fühlte es sich so an, als würden wir unter einem Wasserfall stehen, dann war der Guss auch schon wieder vorbei. Völlig verblüfft, mit durchtränktem Fell und tropfenden Tasthaaren, blickten Nimca, Mia und ich uns an.

Das muss der Hubschrauber abgeworfen haben, sagte unsere Mutter und schüttelte sich. So was habe ich schon mal von Weitem gesehen.

Diese Art von Magie mag ich nicht so sehr, musste ich zugeben.

Sei nicht blöd, Carag, sie haben uns einen Gefallen getan, schimpfte Mia, und tatsächlich, das nasse Fell machte es ein wenig leichter, die Hitze zu ertragen. Leider hatte der Schwall nicht ausgereicht, um die lodernden Bäume zu löschen – und nun schafften es die Flammen, die Straße zu überwinden. Aus einem fliegenden Funken entstand ein Flämmchen auf unserer Seite, das rasend schnell zu einem ausgewachsenen Brand wurde. Mit dampfendem Pelz, der in der Hitze schneller trocknete, als uns lieb war, rannten wir wieder los.

Meine Pfote schmerzte immer fieser und schließlich konnte ich mein Hinken nicht mehr verbergen. Mia und Nimca blieben neben mir, aber ich spürte, wie nervös es sie machte, dass ich langsamer wurde. Nur noch ein kleines Stück, wir haben es gleich geschafft, feuerte Mia mich an.

Stimmt … falls der Teich nicht ausgetrocknet ist, meinte Nimca.

Ich erschrak. Was? Das Ding trocknet manchmal aus?

Ach, nur manchmal, wenn es lange nicht geregnet hat, fügte unsere Mutter schnell hinzu.

Ein letzter Sprint brachte uns auf eine sumpfige Lichtung und ich entdeckte den von Schilf umgebenen Weiher in ihrer Mitte sofort. Erleichert sah ich, dass noch Wasser darin war – Glück gehabt! Nur leider war der kleine See schon besetzt. Eine achtköpfige Wapitiherde hatte die gleiche Idee gehabt wie wir und war tief hineingewatet, um darin Schutz zu suchen. Misstrauisch starrten wir uns gegenseitig an. Dann bewegten die Wapitis sich zur einen Seite des Teichs und wir drei uns zur anderen. Appetit hatte ich in diesem Moment wirklich keinen!

Einen Moment lang belauerten wir uns noch gegenseitig, dann starrten wir wieder alle zum Rand der Lichtung und sahen beklommen zu, wie unser gemeinsamer Feind sich näherte.

Schlamm und Wasser kühlten meine Pfote. Oh, das fühlt sich wunderbar an, seufzte ich.

Davon kannst du gleich noch mehr haben, Carag, kündigte mir meine Mutter an. Wenn es zu heiß wird, müssen wir untertauchen.

Oh, toll, sagte ich schwach.

Immer näher kam das Feuer, sein Prasseln übertönte alle anderen Geräusche. Die sumpfige Wiese schien ihm nicht recht zu schmecken, aber schon bald stand der Wald um uns herum in Flammen und das Glühen kroch bis auf wenige Meter an uns heran. Die Luft war so heiß, dass sie mir bei jedem Atemzug fast die Lunge versengte. In Ufernähe wurde es zu heiß und die Wapitis schwammen in die Mitte des Teichs. Wir folgten ihnen. Ich roch versengtes Fell, war es mein eigenes?

Untertauchen!, schrie uns unsere Mutter zu und diesmal meckerte ich nicht herum. Ich hielt einfach die Luft an und zwang mich, meinen Kopf unter das Wasser zu senken. Immer wieder und wieder, bis das Feuer alles Fressbare in der Umgebung vertilgt hatte und weitergezogen war.

Wir blieben in diesem kleinen See, bis die Sonne unterging und das Feuer nur noch ein ferner rotgelber Schein am Horizont war. Dann schleppten wir uns mit zitternden Beinen und zur Abwechslung mal frierend an Land. Wäh, brachte Mia nur noch heraus.

Was ist, bist du auf einen Frosch getreten?, versuchte ich zu witzeln, aber niemand reagierte. Völlig erschöpft streckte sich meine nasse Mutter auf dem schwarzen Boden aus. Sie sah den schwarzfelligen Panthern, von denen sie uns mal erzählt hatte, täuschend ähnlich, als sie wieder auf die Beine kam.

Noch immer fühlte sich die verbrannte Erde warm an, aber immerhin nicht mehr heiß. Wir hatten es geschafft – und die Wapitis auch! Nach einer Weile wateten sie aus dem Wasser heraus, warfen uns einen letzten Blick zu und wanderten davon.

Einer von ihnen schnaubte einen leisen Abschiedsgruß.

Später hatten wir diese Wapitis noch einmal wiedergesehen, aber darauf verzichtet, sie zu jagen. Es verbindet irgendwie, wenn man mal im selben Teich gesessen hat.

Vielleicht würde ich Lou – die schließlich auch ein Wapiti war – mal davon erzählen, doch gerade war keine Zeit dafür. Wir hatten Verhalten in besonderen Fällen. Da mit dem Sommer auch die Saison der Buschfeuer nahte, übten wir in Zweiergruppen, wie man in der Wildnis ein Feuer ausbekommt, solange es noch klein ist. Und zwar ohne Feuerlöscher!

Lou und ich arbeiteten zusammen – sie in zweiter Gestalt als Wapiti, ich als blonder Junge mit grüngoldenen Augen. Noch vor Kurzem wäre mir schon beim Gedanken, mit Lou in einem Team zu sein, fast das Herz stehen geblieben, doch manche Dinge ändern sich.

Irgendeine Idee?, fragte sie mich und starrte ratlos auf die Flamme in der sandgefüllten Feuerschale. Ich könnte versuchen, sie auszusabbern …

Ich musste grinsen. »Falls deine Spucke dafür reicht. Schau mal, die Kräuter da vorne, läuft dir jetzt das Wasser im Maul zusammen?«

Mmmh ja, die sehen lecker aus, gab Lou zurück und versuchte es mit der Spucke. Es zischte ein bisschen, die Flamme flackerte, doch mehr passierte nicht. Wir brauchten eine andere Idee.

Ich kratzte mich am Kopf und ließ den Blick über die Gegenstände gleiten, die im Innenhof herumlagen. Darunter waren Steine und ein großer Ast. »Vielleicht können wir die Flammen totschlagen.«

Holla – mir war gar nicht klar, dass du SO brutal bist, witzelte Lou zurück.

»Nur an Donnerstagen«, sagte ich, schnappte mir den Ast und drosch damit auf die Flamme ein. Na also. Der Ast war zwar kaputt, aber dafür hatten wir die Flamme erledigt. Lou streckte den Vorderhuf aus, damit wir uns abklatschen konnten.

Holly und Brandon waren noch nicht ganz so weit.

»Weiter so!«, ermutigte Bridger unsere Freundin, die als Rothörnchen versuchte, mit ihren kleinen Pfoten ihr T-Shirt, das sie bei der Verwandlung abgelegt hatte, über die Schale mit der Flamme zu ziehen. »Manchmal kann man das Feuer tatsächlich ersticken, wenn man ihm den Sauerstoff abschnei…«

Das T-Shirt kohlte an den Rändern an und ging dann in Flammen auf. Wild herumtanzend versuchte Holly, Teile davon zu retten. Bei der wurmstichigen Nuss, hör sofort auf, du Scheißfeuer! Ich mach dich alle! Ich mach dir Sintflut!

Das Feuer war nicht beeindruckt.

»Lass mich lieber mal, Holly«, meinte Brandon ein bisschen gönnerhaft. »Schließlich hab ich mein Praktikum bei der Feuerwehr gemacht.« Mit Mr Bridgers Erlaubnis verwandelte er sich, bewegte seinen massigen Körper zur Feuerschale hin und stampfte die Flamme mit den Hufen aus.

James Bridger nickte ihm zu. »Hat diesmal funktioniert, aber wenn die Flamme zu groß ist und du dein Fell in Brand steckst, war’s das.«

Natürlich schielte ich immer wieder zu Tikaani hinüber, die nicht als Polarwölfin, sondern in Menschengestalt mit ihrem Rudelfreund Bo zusammenarbeitete. Tikaani, meine Gefährtin. Ich konnte es noch immer kaum glauben. Bisher wusste niemand davon – wie würden die anderen reagieren, wenn sie es erfuhren?

Auch Tikaani kam schließlich auf die Idee, die Flamme mit den Stiefeln auszutreten. Geschafft! Sie schaute zu mir her und schenkte mir ein heimliches Lächeln, das ich ebenso verstohlen erwiderte.

Die beiden aus dem anderen Wolfsteam taten so, als würde die ganze Übung sie furchtbar langweilen. Cliff als Wolf hob einfach das Bein in Richtung der Übungsflamme und Jeffrey öffnete als Mensch in gleicher Absicht den Reißverschluss seiner Hose. Leider zielten sie beide nicht besonders genau, weil sie Angst hatten, sich gegenseitig zu treffen. Das Feuer in ihrer Schale wurde größer und größer.

Katzendreck!, murmelte Jeffrey.

Oh, wie nett. Seit mein Vater an unserer Schule Tiersprachen unterrichtet hatte, mochte Jeffrey Pumas noch ein bisschen weniger, denn Xamber hatte sich nichts von ihm bieten lassen. Doch inzwischen war mein Vater trotz Lissa Clearwaters Vorschlag, noch zu bleiben, in sein Revier zurückgekehrt. Leider.

Darf ich euch helfen?, fragte Brandon die Wölfe und wartete nicht auf die Antwort. Er legte los und die Flamme kapitulierte vor seinem gewaltigen gelben Schwall. Mehrere Schüler johlten und applaudierten, obwohl ein ziemlicher Gestank vom Feuer aufstieg.

»Ihr wisst schon, dass ihr nachher hier aufräumen müsst?«, sagte James Bridger.

Die betroffenen Teammitglieder stöhnten auf und Jeffrey schimpfte in Brandons Richtung: »Du wolliger Klotz, was hast du verdammt noch mal angerichtet?«

Miro ging als Menschenjunge auf alle viere und schnupperte höchst interessiert an den Duftmarken. »Nee, nee, lass mal«, murmelte Cliff und zog ihn am Arm wieder hoch. »So was macht man als Mensch nicht, okay?«

»Okay«, sagte unser Jungwolf gehorsam und ging zurück zu seinem eigenen Team. Mit Leroy hatte er einen guten Partner erwischt. Unser Stinktier-Wandler scharrte mit seinen kurzen, aber kräftigen Beinchen einfach Sand auf das Feuer, schon war es aus. Erleichtert machten alle anderen, deren Feuer noch brannte, es ihm nach.

So richtig konnte ich mich über ihren Erfolg nicht freuen. Unser Feind war im Moment nicht nur das Feuer, sondern vor allem Andrew Milling. Den ganzen Monat lang hatten seine ihm treu ergebenen Woodwalker Anschläge gegen die Menschen verübt, was einige Verletzte und sogar Todesopfer gefordert hatte. Und das war leider nur der Anfang, dieser verdammte Puma-Wandler hatte etwas sehr viel Schlimmeres vor. Frankie hatte in einem von Millings Stützpunkten herausgefunden, dass der Große Tag der Rache im Juni stattfinden sollte. Vielleicht, weil Millings Tochter, die von einem Jäger getötet worden war, June geheißen hatte.

Und seit gestern hatten wir Juni.

Warten auf den Ernstfall

Auch die anderen hatten das Datum nicht vergessen. »Es könnte schon morgen so weit sein«, stöhnte Dorian beim Abendessen. »Was ist, wenn er schon heute Nacht losschlägt und wir es erst mal nicht merken? Vielleicht ist es dann zu spät, um was auch immer zu verhindern.«

»Mir wird schon beim Gedanken an diesen beknackten Großen Tag der Rache schlecht«, sagte Holly und schob ihren Teller weg, obwohl es Pilzomelette gab.

Auch mir war mulmig zumute, aber ich verputzte trotzdem den Rest meines Rühreis mit Speck. »Stimmt, wir brauchen einen Plan«, sagte ich.

Doch mit dem Plänemachen war uns zum Glück jemand zuvorgekommen. Wir sahen, wie Lissa Clearwater vom Lehrertisch aufstand, sie schlug den Löffel gegen ihr Glas. Als der klare Ton durch die Cafeteria hallte, verstummten alle Gespräche. »Ihr habt inzwischen alle von Mr Millings Racheplänen gehört«, begann sie. »Noch wissen wir nicht, was er an seinem Großen Tag plant. Aber der Rat konnte eine Botschaft abfangen, deren Echtheit inzwischen bestätigt ist. Durch sie wissen wir, dass seine Racheaktionen in ganz Nordamerika stattfinden werden, seine Pläne für Mittel- und Südamerika hat er anscheinend vorerst fallen lassen. Auch auf den anderen Kontinenten ist anscheinend nichts geplant.«

Wenigstens etwas, ging es mir durch den Kopf.

»Wir werden Sicherheitmaßnahmen ergreifen müssen«, fuhr Lissa Clearwater fort. »Um die Menschen vor dem Schlimmsten zu bewahren und um unsere Schule zu schützen. Milling weiß längst, dass viele Schüler, mein Kollegium und ich nicht mehr auf seiner Seite sind. Vielleicht versucht er, uns an der Verteidigung der Menschen zu hindern.«

Gespannt warteten wir.

»Ab heute Nacht beginnen wir mit Patrouillen, jeweils zwei einzeln agierende Lehrer und zwei Schülerteams werden auf ungewöhnliche Aktivitäten in Jackson Hole achten. Rund um die Uhr wird außerdem mindestens ein Schülerteam die Umgebung der Clearwater High durchstreifen, dazu werden zwei Wachtposten im und auf dem Gebäude postiert. Die Einteilung für diese Dienste gebe ich heute noch bekannt.«

Ich wartete darauf, dass Miss Clearwater fragte, wer sich freiwillig für diese Patrouillen und Wachen meldete, doch sie tat es nicht.

Schüchtern hob Nimble, unser Kaninchen-Wandler, die Hand. »Sichern wir die Schule irgendwie? Ich meine, äh, vielleicht mit Sandsäcken oder so?«

Frankie, der Otter-Wandler, grinste. »Hm, ich glaube nicht, dass Andrew Milling eine Überschwemmung plant.«

»In der Tat, wir werden die Schule auf einen Ernstfall vorbereiten«, bestätigte Lissa Clearwater. »Allerdings will ich, dass der Unterricht vorerst weiterläuft, das heißt, wir werden einiges am kommenden Wochenende erledigen. Die Details spreche ich mit den Lehrern ab, wir haben nachher noch eine Sitzung.«

Heute war Donnerstag. Mir wäre es lieber gewesen, sie hätte sofort begonnen, die Schule in eine Festung zu verwandeln. Doch obwohl ich unserer Schulleiterin gerade erst das Leben gerettet hatte, wartete sie sicher nicht auf bahnbrechende Tipps von einem nicht mal ausgewachsenen Puma-Wandler.

»Das ist die größte Herausforderung, vor der wir jemals gestanden haben«, fügte mein Lieblingslehrer James Bridger hinzu, er wirkte besorgt, aber entschlossen. »Zum Glück haben wir viele verschiedene Wandler an dieser Schule, jeder mit anderen Talenten. Ich bin überzeugt, gemeinsam schaffen wir das!« Sein Blick wanderte zu mir und ich sah die Wärme in seinen Augen. Ich lächelte mit den Augen zurück. Ja, auf mich konnte er sich verlassen, und das wusste er.

Ein Fichtenmarder-Wandler aus dem dritten Schuljahr hob die Hand. »Wieso vertrauen Sie nicht einfach darauf, dass Andrew Milling das Richtige tut?«, fragte er laut und deutlich.

Ups. Das mit dem »gemeinsam schaffen« war wohl eher Wunschdenken gewesen. Mir wurde klar, warum Miss Clearwater nicht um Freiwillige für die Patrouillen gebeten hatte.

»Ja, genau, das wollte ich auch gerade fragen«, erhob Bo aus dem Wolfsrudel empört die Stimme. »Er will, dass Menschen aufhören, Tiere zu jagen, was ist daran denn schlecht? Leute wie Sie verhindern, dass es in unserem Land einmal gerechter zugeht!«

Das war ganz schön dreist. Ich war gespannt, wie Lissa Clearwater reagieren würde. Doch nicht sie war es, die antwortete, sondern Sarah Calloway, unsere Menschenkundelehrerin. Sie trug hochhackige Schuhe, in denen ich keinen Schritt hätte laufen können, und ihre langen, rötlich braunen Haare schimmerten fast so seidig wie ihr grünes Kleid. »Denkt bitte nach, Leute … mit seinem Großen Tag kann er nicht verhindern, dass weiterhin Tiere gejagt werden«, sagte sie. »Er ist voller Hass und will Rache … ich fürchte, nur darum geht es ihm gerade.«

Manche nickten, andere verzogen keine Miene. Miss Calloway wandte sich wieder ihrem Kaffee zu, und ich sah, wie Bill Brighteye ihre Hand nahm und ihr verliebt in die Augen blickte.

Das Gleiche wollte ich mit Tikaani tun, doch sie hing wie immer mit ihrem verdammten Rudel herum. Ich war nicht sicher, wie lange ich das noch aushalten würde!

Eine Weile diskutierte ich mit den anderen hitzig darüber, ob Miss Clearwater Waffen bestellen sollte, wen sie besser nicht auf Patrouille schickte und wie man die Schule gegen fliegende Wandler sichern konnte. Doch als ich sah, dass Tikaani aufstand und in Richtung Toilette strebte, verabschiedete ich mich und tat so, als würde ich zu meinem Zimmer gehen.

Als mich die Polarwölfin sah, reichte ein Blick, um sich abzusprechen. Vor der Toilette bogen wir ab und checkten, ob einer der Computerräume in der Nähe frei war. Ja, im kleineren war gerade niemand. Wir gingen hinein und lehnten uns von drinnen gegen die Tür, damit uns niemand überraschen konnte. Von innen abschließen konnte man den Raum nämlich nicht. »Und, sind wir ein Patrouillenteam?«, fragte ich Tikaani, während fünf dunkle Bildschirme uns beobachteten. Unsere Arme berührten sich und das fühlte sich verdammt gut an.

»Klar doch«, sagte Tikaani und in ihren indianisch schwarzen Augen schien ein Funke zu glühen.

»Aber bevor wir damit loslegen, rufen wir erst mal Sierra an«, sagte ich und spürte die Unruhe im ganzen Körper. »Sie hat ja gesagt, sie hat irgendwo in Kalifornien eine Spur zu dieser Arula gefunden.«

Tikaani nickte. »Hoffentlich beeilt sie sich mit der verdammten Suche! Wenn Arula wirklich etwas weiß, was Millings Großen Tag noch verhindern kann …«

Hier drin konnte uns keiner von Millings Fans belauschen, deshalb zog ich mein Handy hervor und ließ es die Nummer der jungen Wolfs-Wandlerin wählen.

»Hey, Carag«, begrüßte mich Sierra. »Du willst bestimmt nicht wissen, wie es mir geht, was ich zum Frühstück hatte oder wie meine Eltern es finden, dass ich gerade die Schule schwänze?«

»Ähm, ja, am meisten würde mich interessieren, wo du gerade bist«, sagte ich. »Und ob du diese Luchs-Wandlerin schon gefunden hast.«

»Nein, aber ich bin dicht an ihr dran. Glaube ich.«

Aufgeregt blickten Tikaani und ich uns an.

»Ach ja, wo ich bin … San Francisco. Du glaubst nicht, was ich meinem Dad alles dafür versprechen musste, dass er mir das erlaubt hat.« Sierra seufzte. »Also, ganz kurz, warum ich hier bin – ein Dachs, der Arula früher gekannt hat, hat mir verraten, sie sei in einer großen Stadt und hätte dort angeblich einen älteren Woodwalker kennengelernt, der ihr beibringt, was man in der Menschwelt wissen muss. Mehr wusste er auch nicht.«

»Aber wie bist du auf San Francisco gekommen?«, mischte sich Tikaani ein.

»Ich musste mehrere Städte abchecken, Los Angeles hat mich echt aufgehalten, das könnt ihr mir glauben! Überall Fehlanzeige. Aber hier in San Francisco hat mir Connie, ein Grauhörnchen, davon erzählt, dass mit einem Waldkauz-Wandler namens Mike Federlich etwas nicht stimmt. Er arbeitet als Fotograf, sie trifft ihn immer beim Einkaufen und beim Bingo.«

»Ja, und?« Am liebsten hätte ich meine Finger teilverwandelt und die Krallen vor Ungeduld in irgendwas hineingegraben.

»Aber in den letzten Monaten hat er sich verändert, auf einmal wirkt er vorsichtig, geht allen Bekannten aus dem Weg und kauft Sachen ein, die er selbst gar nicht mag. Als Connie ihn zum Spaß gefragt hat, ob er einen Gast hat, ist er zusammengezuckt und hatte es plötzlich eilig.«

»Das kann alle möglichen Gründe haben.« Tikaani wirkte skeptisch.

»Ja, schon. Aber als ich ihm inkognito gefolgt bin, hab ich gemerkt, dass an seinen Klamotten eine ganz leichte Witterung nach Luchs hängt.«

Ich stieß mich von der Wand ab, meine Hand krampfte sich um das Gerät und ich merkte, dass mein Atem schneller ging. »Du meinst, er versteckt Arula vor Andrew Milling?«

»Kann sein.« Sierra klang vorsichtig. »Eins ist sicher, sie muss seit Monaten in irgendeinem Versteck leben. Anscheinend weiß sie, dass Mister M sie von Scharen seiner Leute suchen lässt.«

Arula musste etwas verdammt Wichtiges über Andrew Milling wissen!

»Falls er sie nicht versteckt, weiß er vielleicht, wo sie ist«, fuhr Sierra fort, sie klang entschlossen. »Deshalb werde ich den Kerl ab jetzt Tag und Nacht beschatten.«

»Vielleicht könntest du ihn direkt auf Arula ansprechen«, schlug Tikaani vor.

»Lieber nicht, zu riskant«, gab Sierra zurück. »Was ist, wenn ihn das verschreckt? Hier kommt es darauf an, der Beute aufzulauern, finde ich.«

»Stimmt… und sei bitte vorsichtig«, antwortete ich.

Sierra rief noch: »Jaja, das sagt meine Mom auch immer. Muss los!«, und schon war die Verbindung weg.

Wir schwiegen einen Moment lang.

»Und falls das eine falsche Fährte ist?«, fragte Tikaani.

»Es ist keine«, sagte ich fest und hoffte von ganzem Herzen, dass es so war. Diese geheimnisvolle Arula war vielleicht unsere einzige Möglichkeit, Andrew Milling zu stoppen und seinen Großen Tag zu verhindern. Ohne sie hatten wir sehr bald ein Riesenproblem, denn wie sollten wir paar Woodwalker es schaffen, die Menschen gegen ihn und seine Leute zu verteidigen? Und uns selbst noch dazu?

Tikaani unterbrach meine Gedanken. »Mal ganz was anderes. Ich hab einen Vorschlag. Hast du auch genug davon, geheim zu halten, dass wir uns mögen?«

»Oh ja«, bestätigte ich.

Tikaani grinste noch breiter. »Wie wäre es, wenn wir morgen den ganzen Tag Händchen halten? Dann weiß es jeder und wir müssen nichts mehr groß erklären.«

Vor Schreck bekam ich einen Moment lang keine Luft und peinlicherweise sprossen mir Tasthaare an den Wangen. Schnell sorgte ich dafür, dass sie verschwanden, dann schaffte ich ein Nicken und ein etwas erstickt klingendes »Gute Idee«.

»Na dann machen wir das«, meinte Tikaani und ich bekam tatsächlich einen zärtlichen Blick ab. Yeah. »Schließlich sind wir bald Zweitjahres-Schüler. So gut wie erwachsen. Hast du eigentlich schon gehört, dass sich gerade eine neue Erstjahres-Klasse bildet? Unsere Nachfolger sozusagen, weil wir ja bald ins zweite Jahr kommen. Gestern habe ich schon zwei neue Schüler gesehen.«

»Was für Gestalten haben sie?«

»Soweit ich mitbekommen habe, sind es eine Maulwurf-Wandlerin aus Tennessee und ein Assel-Wandler hier aus Jackson. Beide wollten unbedingt Zimmer im Kellergeschoss.«

Einen Moment lang lachten wir zusammen, dann blickten wir uns in die Augen und Tikaani strich über meine Hand, ganz langsam und mit den Fingerspitzen. Leider versuchte ausgerechnet jetzt jemand, die Tür zu öffnen. Aus dem romantischen Moment wurde übergangslos ein peinlicher Moment, als die Elster-Wandlerin Zoey sich hereindrängte und uns verdutzt beäugte. »Hm … ihr lernt hier gerade zusammen, oder?«

»Ja, genau«, sagte ich, dann drängten Tikaani und ich uns durch die Tür und flohen in verschiedene Richtungen. Hoffentlich brauchten wir uns bald nicht mehr heimlich zu treffen!

Aufgeregt erzählte ich Holly und Brandon von dem, was Sierra erzählt hatte.

»Es ist schon der Hammer, dass der Rat nicht etwas mehr tut«, regte Brandon sich auf. »Wenn du Sierra nicht gesagt hättest, sie soll nach dieser Arula suchen …«

»Ja, das ist irgendwie seltsam.« Ich saß auf der Kante meines Bettes und starrte zum Fenster hinaus. »Aber wir erfahren natürlich nicht alles, was der Rat macht, wahrscheinlich laufen längst die Abwehrplanungen.«

»Was ist, wenn Sierra diese Arula findet, aber sie zu viel Angst hat, um uns zu helfen?« Rastlos ging Holly im Raum hin und her. »Oh Mann, ich halte das nicht aus! Ich brauche jetzt ein paar Kiefernzapfen. Man sieht sich.« Sie riss unser großes, rundes Fenster auf, verwandelte sich und hüpfte als Rothörnchen über die Granitblöcke davon.

Nachdem ich und Brandon eine Weile weiterdiskutiert hatten, brauchten wir ebenfalls eine Pause. Nur dauerte die nicht sehr lange, weil kurz darauf Lissa Clearwater bei uns klopfte. Sie hob die Augenbrauen, als sie Hollys Sachen mitten auf unserem Zimmerboden liegen sah, meinte aber nur: »Auf euch kann ich mich verlassen, das weiß ich. Carag, könntest du schon in dieser Nacht auf Patrouille gehen? Ich weiß, das ist viel verlangt, denn schließlich müsst ihr für die Abschlussprüfung lernen …«

Brandon entfernte unauffällig eine Musikzeitschrift von seinem Kopfkissen. Ich ließ meine rechte Hand inklusive Brandons Handy in meiner Hosentasche verschwinden. Blöderweise lief das Spiel darauf trotzdem weiter. Netterweise tat Miss Clearwater so, als würde sie nicht bemerken, dass meine Hose blinkte und piepte.

»… aber wir werden als Ausgleich bis zur Prüfung keine Noten mehr vergeben und euch mehr durchgehen lassen als sonst«, fuhr sie fort. »Ehrlich gesagt denke ich sogar darüber nach, die Prüfungen wegen dieser Bedrohung erst mal abzusagen. Aber die Drittjahres-Schüler sind dagegen, sie wollen schließlich im Herbst auf die normale Highschool wechseln.«

»Vielleicht schaffen wir es noch, den Großen Tag zu verhindern«, platzte Brandon heraus.

»Wie bitte?« Lissa Clearwater starrte uns an. »Sagt mir sofort, was los ist!«

Es hatte keinen Sinn, es geheim zu halten. Ich erzählte ihr alles, was Sierra uns berichtet hatte. »Arula ist der Schlüssel«, sagte ich. »Wenn wir erfahren, was sie über Andrew Milling weiß, dann haben wir eine Chance, dass es gar nicht erst zum Blutvergießen kommt.«

Lissa Clearwater atmete tief durch, ihre bernsteinfarbenen Augen leuchteten. »Du musst mir sofort berichten, wenn es etwas Neues gibt, Carag. Ich sage dem Vorsitzenden des Rates Bescheid. Braucht Sierra Unterstützung, sollen wir weitere Leute zu ihr schicken?«

»Vielleicht braucht sie Hilfe bei der Beschattung«, meinte ich zögernd. »Aber wenn auf einmal Horden von Woodwalkern in San Francisco bei diesem Waldkauz-Wandler auftauchen, wird er vielleicht nervös und haut mit Arula ab.«

»Gut möglich.« Nachdenklich blickte Miss Clearwater durch unser Fenster in die Ferne. »Na gut. Wir bewahren Ruhe, lassen unsere Schule nicht lahmlegen und bereiten uns auf mögliche Angriffe vor. Also, was ist nun mit dieser Patrouille?«

So kam es, dass ich kurz vor Mitternacht mit Tikaani durch den dunklen Sommerwald streifte, der vom würzigen Duft der Goldjohannisbeere erfüllt war. Wir wussten beide, wie wichtig unser Auftrag war, deshalb redeten wir wenig.

Angespannt und auf der Hut, hielten Tikaani und ich mit unseren scharfen Sinnen Ausschau nach allem, was irgendwie ungewöhnlich und verdächtig war.

Aber wir hätten nie damit gerechnet, was wir vorfinden würden.

Sehr verdächtig

Plötzlich blieb Tikaani mit gesträubtem Nackenfell stehen und sofort folgte ich ihrem Beispiel. Hier in der Nähe ist jemand, flüsterte sie und wir lauschten.

Kurz darauf hörte ich ein winziges Geräusch, ein Knacken im Unterholz. So klang es, wenn ein bloßer menschlicher Fuß einen Zweig knickte. Ja, stimmt, erwiderte ich. Ziemlich verdächtig, um diese Zeit draußen im Wald. Keiner von unseren Leuten. Meinst du, das könnte ein Spion sein?

Tikaani hob witternd die Schnauze. Gut möglich, wieso sollte er sonst so herumschleichen? Und jetzt bleibt er stehen, wahrscheinlich will er kein Geräusch machen.

Der entkommt uns nicht, sagte ich grimmig.

Als wir näher kamen, spürte ich, dass wir es mit einem fremden Woodwalker zu tun hatten. Er hatte keine besonders starke Ausstrahlung, das konnte darauf hindeuten, dass einer seiner Eltern ein Mensch gewesen war.

Wir nehmen ihn von zwei Seiten in die Zange. Tikaanis Stimme war nur ein Hauch in meinem Kopf, sie wollte nicht, dass der Fremde gewarnt wurde.

Alles klar, ich nähere mich von diesen Felsen dort, schlug ich vor. Tikaani schlich in die eine Richtung davon, ich pirschte auf meinen breiten, weichen Pranken in die andere.

Jetzt waren wir so nahe herangekommen, dass wir sehen konnten, mit wem wir es zu tun hatten. Ich stutzte. Man sieht nicht alle Tage einen riesigen Kerl, der nur mit Shorts bekleidet im Wald steht, den Kopf in den Nacken gelegt hat und irgendwas am Himmel beobachtet. Das war ausgesprochen verdächtig. Zum Glück war es keiner der miesen Bären-Wandler in Millings Diensten, aber anscheinend war der Fremde ein großes Tier und möglicherweise gefährlich.

Jetzt, signalisierte mir Tikaani, ich sprang und landete keine Menschenlänge von dem Unbekannten entfernt. Gleichzeitig stürmte Tikaani mit gesträubtem Fell und geblecktem Gebiss von der anderen Seite heran. Der junge Mann zuckte zusammen.

»Na, das ist ja ein heißer Empfang«, sagte er. »Wer seid ihr beiden?«

Wir stellen hier die Fragen, sagte Tikaani. Wer sind Sie und was machen Sie hier?

Sie befinden sich auf dem Gebiet der Clearwater High, falls Sie das noch nicht gemerkt haben, fügte ich hinzu.

Der Mann zog die Augenbrauen hoch und strich sich mit der Hand durch die Haare, die so hellblond waren, dass sie im Mondlicht förmlich zu leuchten schienen. »Mir war nicht klar, dass hier seit Neustem das Betreten verboten ist. Wenn ihr nichts dagegen habt, dann gehe ich jetzt mal weiter. Macht’s gut, Leute.«

Er war offenbar nicht bereit, uns Fragen zu beantworten, und seine Gedanken hatte er gründlich abgeschottet. Noch verdächtiger!

Ohne uns weiter zu beachten, ging der Fremde weiter. Meine Gefährtin und ich blickten uns an. Sollten wir ihn einfach so gehen lassen? Obwohl er wahrscheinlich hier spioniert hatte? No way! Mit einem gezielten Sprung brachte ich mich vor ihn und drohte ihm fauchend und mit zurückgelegten Ohren. Tikaani achtete darauf, dass er nicht zur Seite entkommen konnte.

»Na, das war aber jetzt nicht nett, beinahe wäre ich über dich gestolpert«, wandte der Fremde ein und versuchte tatsächlich, um mich herumzugehen.

Bitte kommen Sie mit!, befahl ich dem Fremden und schnitt ihm zum zweiten Mal den Weg ab. Sie haben sicher nichts dagegen, dass Lissa Clearwater Ihnen ein paar Fragen stellt. Danach können Sie wieder gehen.

Der Fremde blickte auf mich und Tikaani herab … und lachte.

Na wunderbar. Wenn er den Anblick einer angriffslustigen Polarwölfin und einer Raubkatze mit gebleckten Fangzähnen erheiternd fand, musste er selbst ein wirklich gefährliches Tier sein.

Hier entlang, teilte ihm Tikaani mit.

Immerhin, der Fremde begleitete uns ohne weitere Proteste und wir steuerten die Clearwater High an. Per Fernruf gab ich Lissa Clearwater Bescheid, dass wir einen Eindringling gestellt hatten. Sehr gut – bringt ihn in mein Büro, antwortete sie sofort, anscheinend schlief auch sie gerade wenig.

Diese Nacht hielt noch weitere Überraschungen für uns bereit. Wir konnten es kaum glauben, als wir keinen Kilometer von der Schule entfernt einen weiteren fremden Woodwalker identifizierten, deutlich jünger als den ersten. Ich schätzte ihn auf gerade erst ausgewachsen. Auch er war in seiner Menschengestalt, trug aber mehr Kleidung – Jeans, T-Shirt und Sneaker. Auch sonst hatte er wenig mit unserem anderen Neuankömmling zu tun. Dieser Verdächtige machte so viel Lärm wie eine ganze Bisonherde, während er sich durch den Wald bewegte. Er fluchte, als er in ein Loch im Boden trat; und als er einen Kiefernzweig ins Gesicht bekam, brach er ihn kurzerhand ab.

Puh, der benimmt sich wie ein Mensch, flüsterte Tikaani.

Und zwar wie einer, der noch nie im Wald war und am liebsten auf einer Couch vor dem Fernseher liegt, gab ich zurück. Doch Chips gegessen hatte er auf dieser Couch anscheinend nicht, denn er war nicht nur hochgewachsen, sondern auch dünn wie eine junge Pappel.

Alarmiert sahen ich und Tikaani, dass er auf die Clearwater High zumarschierte. He, he, Moment mal!, sagte Tikaani und rannte los, um ihn abzufangen. Ich drängte unseren hellblonden Gefangenen in die gleiche Richtung, und immerhin begleitete er mich, ohne Widerstand zu leisten.

Der fremde Junge schenkte uns nur einen flüchtigen Blick. »Lasst mich durch, ihr blöden Viecher!«, meinte er und versuchte, an uns vorbeizukommen. Anscheinend war ihm klar, dass er selbst ein Wandler war, und er wusste, dass er es nicht mit Tieren zu tun hatte. Trotzdem war ich ein bisschen eingeschnappt. Hatte denn niemand mehr Angst vor Pumas?

Wir können dich nicht durchlassen, knurrte Tikaani den Jungen an und versperrte ihm den Weg. Sag uns erst, was du hier willst, Fremder.

»Das geht dich gar nichts an«, erwiderte er. Rasch hob er einen dicken Ast auf und hielt ihn quer vor sich, sodass Tikaani nicht mehr an ihn herankam. Schritt für Schritt schob er sie nach hinten. Ärgerlich schnappte meine Freundin nach ihm, aber er wehrte sie ab und hob einen zweiten Stock, als hätte er vor, sie zu schlagen.

Kurz darauf lag er platt auf dem Boden, weil ein Puma auf seinem Rücken hockte. Honigsüß teilte ich ihm mit: Klar geht uns das was an, wir sind hier als Patrouille eingeteilt und es ist unser Job, Leute wie dich abzufangen.

Mir fiel auf, dass er eine seltsame, unangenehme Witterung hatte. Den Geruch nach verbrannten Pflanzenteilen, der in seiner Kleidung hing, hatte ich noch nie wahrgenommen. Ein bisschen unheimlich fand ich auch seine Halskette mit einem kleinen weißen Schädel daran – sah aus wie von einer Maus. Um sein Handgelenk baumelte eine Kette aus silbernen Büroklammern.

Gehörst du zu Andrew Milling?, knurrte meine Gefährtin den Jungen an, doch zurück kam nur ein verständnisloser Blick.

»Zu wem?«

Tikaani und ich spürten beide, dass dieser Junge eben die Wahrheit gesagt hatte. Wir entspannten uns wieder etwas und ich ließ ihn aufstehen.

Wie heißt du?, fragte ich ihn etwas freundlicher, denn vielleicht war er ja ein Woodwalker, der sich uns anschließen wollte, um den Menschen zu helfen.

Der Junge murmelte etwas, das wie »Dscho« klang – ach so, »Joe« –, und musterte den Fremden, den wir vorher aufgelesen hatten, misstrauisch. Die ganze Zeit über hatte der große junge Mann in den Shorts abgewartet und uns schweigend beobachtet. Jetzt meldete er sich wieder zu Wort. »Also, Leute, wie wär’s, wenn wir jetzt rübergehen zur Schule? Ich bin schon lange unterwegs und allmählich könnte ich ein kaltes Bier oder so was gebrauchen.«

Bevor wir uns von unserer Überraschung erholt hatten, ging er mit langen Schritten voraus – direkt auf die Schule zu.

He!, rief ich ihm nach, aber er achtete nicht mehr auf mich. Damit es wenigstens so aussah, als würden wir ihn bewachen, nahmen wir ihn in die Mitte und liefen neben ihm entlang. Joe schlurfte hinter uns her und wurde dabei immer langsamer, wirkte immer zögerlicher, besonders als das Schulgebäude in Sicht kam. Hatte er aus irgendeinem Grund Angst vor der Clearwater High, und wenn ja, warum?

Zielgerichtet ging der große blonde junge Mann zum Haupteingang der Schule, der nachts geöffnet war. Verblüfft blickte unsere Eule Trudy, die als einer der Wachtposten eingeteilt worden war, auf uns herunter. Carag, wen hast du denn da mitgebracht?

Keine Ahnung – ich glaube, der Osterhase ist es nicht, gab ich zurück.

Inzwischen war mir klar, dass dieser Mann schon einmal hier gewesen war. Er wusste genau, wohin er wollte, und ging ohne jedes Zögern durch die Eingangshalle und die dunklen Flure direkt zu Lissa Clearwaters Büro.

Halt mal, wir …, versuchte Tikaani zu sagen, doch der junge Mann hatte schon die Tür geöffnet und ging hinein. Wir warfen uns hinterher und brachten ihn dabei halb versehentlich zu Fall. In einem großen, pelzigen Knäuel landeten wir gemeinsam im Büro unserer Schulleiterin.

Lissa Clearwater hatte offenbar eine Besprechung mit James Bridger, die beiden blickten erstaunt auf, als wir hereinplatzten. Doch dann verwandelte sich die Überraschung auf Lissas Gesicht in Freude, strahlend ging sie auf den blonden jungen Mann zu, der gerade aufstand, und schloss ihn in die Arme. »Jack, was für eine schöne Überraschung! Wieso hast du nicht Bescheid gesagt, dass du kommst?«

Lächelnd umarmte sie der junge Mann zurück. »Wir haben in Florida ziemlich viele Milling-Leute, kann sein, dass sie meine Mails mitlesen und mein Telefon abhören. Besser, sie wissen nicht, dass hier gerade Strategiebesprechungen stattfinden. Wir müssen dringend beraten, wie wir die Menschen in unserer Gegend schützen können.«

Oh, wie peinlich! Das war Jack Clearwater, Lissas Sohn, der Leiter der Blue Reef Highschool … und wir hatten ihn behandelt wie einen gefährlichen Eindringling! Ist vielleicht besser, dass man als Puma nicht rot werden kann.

Jack wandte sich zu Tikaani und mir um und warf uns einen freundlichen Blick zu. »War eine gute Gelegenheit, auszuprobieren, wie du die Schule bewachen lässt«, meinte er. »Deine Leute sind auf Zack – als ich gerade ein bisschen die Sterne bewunderte, haben sie mich abgefangen. Wenn ich Ärger gemacht hätte, wären die Fetzen geflogen, stimmt doch, oder?«

Tikaani senkte den pelzigen Kopf und versuchte ein Wedeln. Sorry, tut uns wirklich leid. Wir wussten ja nicht …

»Kein Thema – gut gemacht«, sagte unsere Schulleiterin und ihr Blick wanderte zum Eingang. »Wer ist eigentlich das?«

Hinter uns hatte sich der zweite fremde Woodwalker durch die Tür gedrückt und stand nun mit verschränkten Armen und abweisendem Blick da. Jetzt sah ich, dass er älter war als wir, vielleicht achtzehn. Mir fiel mir auf, dass sein schwarzes T-Shirt, auf dem ein langhaariger Mann mit Gitarre abgebildet war, voller Erde und Kiefernharzflecken war. Er hatte mindestens eine Nacht draußen geschlafen.

Mein Blick fiel auf James Bridger, der bisher noch nichts gesagt hatte, kein einziges Wort. Was war denn mit dem los? Er sah fassungslos aus. Ganz langsam erhob er sich, als würde er schlafwandeln, und ging auf den fremden Jungen zu.

»Joseph«, sagte er nur.

Ich brauchte einen Moment, bevor mir einfiel, wer dieser Joseph war, der sich Joe nannte. Mr Bridgers Sohn, der vor Jahren abgehauen war und sich nicht mehr gemeldet hatte! Ein Wandler, der nicht wusste, wer er war oder sein wollte.

Ein bisschen eingeschüchtert musterte ich ihn, und mir wurde klar, dass dieser fremde, bittere Geruch von Drogen stammte – in Menschenkunde hatten wir mal drüber gesprochen.

Gespannt wartete ich darauf, was Joe sagen oder tun würde. Sehr lange musste ich mich nicht gedulden.

»Hättest du mal ’n paar Dollar?«, fragte Joe seinen Vater.

Keine Gnade

Weil die Erwachsenen sich nun ihrer Strategiebesprechung zuwandten, wurden Tikaani und ich vor die Tür gesetzt. Aufgeregt flüsterten wir miteinander, als wir zu unseren Zimmern liefen. Beim großen Gewitter, ächzte ich, ich kann es noch nicht fassen – der verschollene Sohn von Mr Bridger? Wieso ist der auf einmal hier?

Hoffentlich nicht nur, um seinen Vater auszunehmen, antwortete Tikaani. Hast du gesehen, wie durcheinander Mr Bridger aussah? Der ist völlig fertig. Aber bestimmt glücklich.

Ja, bestimmt, meinte ich und spürte einen Stich im Herzen, als wäre eine Wespe durch meine Adern geschwommen. Mr Bridger und ich waren Freunde, doch eben hatte er keinen Blick für mich übrig gehabt.

Tikaani hechelte vor Aufregung, während wir in unserer Tiergestalt die Treppe hochliefen. Oh Mann, ich kann es noch nicht fassen, wie wir Jack Clearwater behandelt haben! Wieso hast du mich nicht gewarnt?

Ich knuffte sie gegen die pelzige Schulter. Wieso ich? DU hättest es kapieren müssen, immerhin hat er fast so helle Haare wie Miss Clearwater! Er ist ein Weißkopf-Seeadler, so wie sie.

Jaja, schon klar, ICH bin schuld. Tikaani schnappte nach meinem Ohr. Wir erzählen den anderen einfach, dass wir ihn gefunden und zur Schule gebracht haben.

Machen wir – und das mit dem Händchenhalten machen wir auch. Ich schleckte ihr kurz über den Kopf und genoss es, dass wir beieinander waren. Ich bin vor allem froh, dass es während unserer Patrouille noch nicht losging mit Millings Großem Tag.

Ein Zittern durchlief ihren Körper. Ja, ich auch. Versuch jetzt zu schlafen, okay?

Klar. Versuchen konnte ich es. Brachte aber nicht viel, denn kurz darauf lief eine Nachricht auf meinem Handy ein.

Carag,

du bist dabei, einen weiteren großen Fehler zu machen. Wenn du gewisse Erkenntnisse öffentlich machst, dann werden du und deine Kumpane – ihr alle! – büßen wie nie zuvor und es kann keine Gnade für euch geben. M.

Ein kaltes Kribbeln durchlief mich. Instinktiv drückte ich die Tastenkombination für einen Screenshot, so wie Frankie es mir gezeigt hatte. Dann las ich Millings Botschaft noch einmal in Ruhe, obwohl mir die Buchstaben vor den Augen flimmerten. Beim großen Gewitter, er schien zu denken, wir hätten schon erfahren, was Arula wusste! Was jetzt? Ihm versichern, dass wir bislang keine Ahnung hatten? Bluffen und behaupten, wir hätten die entscheidende Information schon?