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Macht, Intrigen, Leidenschaft
Charlotta Kvist gehört zu den besten Anwältinnen bei Svärdh & Partner. Ihr größter Wunsch ist es, endlich Partnerin der Stockholmer Anwaltskanzlei zu werden. Und als eins der schwedischen Top-Unternehmen nach einem Unfall in einer Produktionsstätte angeklagt wird, ist das Charlottas Chance, ihrem Ziel ein großes Stück näher zu kommen. Sie vertritt die Seite der Kläger, hat aber nicht mit der überwältigenden Anziehungskraft zwischen ihr und Ignacio Vargas, dem CEO der Gegenseite, gerechnet. Charlotta weiß, dass sie alles verlieren könnte, und lässt sich für ihren Traum dennoch auf ein riskantes Spiel ein ...
"Drama, Leidenschaft und moderne Großstadtromantik. Ich liebe dieses Buch!" Simona Ahrnstedt
Band 1 der schwedischen Bestseller-Reihe von Helene Holmström
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Seitenzahl: 571
Titel
Zu diesem Buch
Leserhinweis
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Danksagung
Die Autorin
Die Romane von Helene Holmstöm bei LYX
Impressum
HELENE HOLMSTRÖM
WORKING LATE
Roman
Ins Deutsche übertragen von Corinna Roßbach
Charlotta Kvist ist eine der besten Anwältinnen bei Svärdh & Partner in Stockholm. Doch obwohl sie sich gegen millionenschwere Finanzmogule und CEOs der schwedischen Oberschicht behauptet wie keine Zweite, hat sie ihr größtes Ziel noch immer nicht erreicht: endlich Partnerin der Kanzlei zu werden. Als eine große schwedische Bekleidungskette nach einem Unfall in einer der Produktionsstätten verklagt wird, zögert Charlotta nicht, den Fall zu übernehmen – rückt ihr Traum dadurch doch in greifbare Nähe. Noch am selben Abend gönnt sie sich mit ihren Kollegen in einer Bar ein paar Gläser Rotwein zu viel – und ahnt nicht, dass der attraktive Fremde, den sie dort kennenlernt und der eine überwältigende Anziehungskraft auf sie ausübt, niemand anders als der CEO der Gegenseite ist. Ignacio Vargas ist jung und charismatisch; bei jeder Begegnung lässt er Charlotta sein Interesse an ihr spüren. Charlotta weiß, dass sie durch einen falschen Schritt alles verlieren könnte, was sie sich seit Jahren aufgebaut hat. Doch für ihren Traum lässt sie sich auf ein riskantes Spiel ein. Ein Spiel, dessen Regeln niemand besser beherrscht als Vargas!
Liebe Leser:innen,
dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte.
Deshalb findet ihr hier eine Triggerwarnung.
Achtung: Diese enthält Spoiler für das gesamte Buch!
Wir wünschen uns für euch alle das bestmögliche Leseerlebnis.
Euer LYX-Verlag
Für meine Großmutter Ingrid
Schon am ersten Tag bei Svärdh & Partner war Charlotta Kvist klargeworden, dass die Dozenten an der Uni nicht die Wahrheit gesagt hatten. Die Professoren und auch die Anwälte, die als Gastdozenten auftraten, hatten während ihres Jurastudiums in Lund immer wieder betont, dass Anwaltskanzleien keineswegs so seien wie in Fernsehserien. In der Realität dürfe man weder den Luxus noch die delikaten Intrigen erwarten. Doch die Spannungen zwischen den Anwälten waren ihr sofort aufgefallen. Sie glichen den winzigen Funken auf einer Oberleitung, die so kurz aufblitzen, dass man sich nicht sicher ist, ob man richtig gesehen hat. Aber sie waren deutlich spürbar. Und die Spannungen wiederum sorgten für Intrigen, die Charlotta an die Fernsehsoaps der Neunziger erinnerten, die sie immer nach der Schule mit ihrer Schwester gesehen hatte.
Mittlerweile war sie schon fünf Jahre in der Kanzlei Svärdh & Partner, und als sie außer Atem auf die Steinterrasse trat und auf das Meer aus schwarzen Anzügen, eng anliegenden Röcken und Seidenblusen blickte, erschienen ihr die Spannungen wie ein gewaltiges Feuerwerk. Die beiden Partner, die sich gegenseitig nicht ausstehen konnten, standen jeweils an einem Ende der Terrasse. Drei erst kürzlich eingestellte Juristen waren ins Gespräch mit einem der älteren Kollegen vertieft und offenbar bereit, sich in den Kampf um die Gunst des Platzhirschs zu begeben. Ein Partner, der im Übrigen seit dreißig Jahren verheiratet war, warf einer der neuen Assistentinnen schmachtende Blicke zu.
Sie selbst hielt sich im Hintergrund. Ihr Atem beruhigte sich langsam, als sie feststellte, dass man noch nicht angestoßen hatte. Niemand sollte sie für unhöflich halten. Von ihr als Anwältin für Zivilrecht erwartete man, dass sie anwesend war, wenn alle Angestellten auf den jüngsten Erfolg ihrer Abteilung anstießen – einen der größten Prozesserfolge in der Geschichte der Kanzlei. Sie hoffte, dass die Sache bald überstanden sein würde, damit sie sich wieder ihren eigenen Dingen widmen konnte.
Suchend blickte sie sich nach Carl-Adam um, entdeckte ihn in einer Ecke und steuerte ihre Schritte in seine Richtung, quer über die Terrasse mit der atemberaubenden Aussicht über die Dächer von Östermalm. Neben der langen Liste gewonnener Prozesse war die Terrasse der ganze Stolz der Kanzlei, was erklärte, warum die Siegesfeier trotz der Kälte draußen stattfand. Die Wärmelampen, die an den beiden Längsseiten aufgestellt worden waren und wie rote Feuerbälle den dunklen Märzabend erleuchteten, machten den Aufenthalt beinahe erträglich.
Sie ließ sich neben dem Freund nieder und bekam sofort ein volles Glas Champagner in die Hand gedrückt.
»Du siehst aus, als könntest du es gebrauchen«, meinte Carl-Adam.
Sie lächelte. »Danke. Ich brauche zwei Flaschen, um Oscars Geplänkel zu ertragen, wenn er die Lorbeeren für meine Arbeit einheimst.« Dank Charlottas Bemühungen im letzten Jahr war dem Mandanten der Kanzlei eine Geldstrafe in Millionenhöhe erspart geblieben. Doch Oscar Hult, ihr engster Kollege und größter Widersacher, hatte es wie immer nach außen so dargestellt, als sei alles sein Verdienst. Sie fühlte sich erbärmlich, weil sie ihn mal wieder hatte gewähren lassen, doch zum ersten Mal verspürte sie auch Bitterkeit. Oscar Hult würde das ganze Lob für den gewonnenen Prozess bekommen, obwohl es allein ihr Verdienst war.
Der Duft frischer Hamburger, zubereitet vom eigens für die Feier engagierten Sternekoch, zog zu ihnen herüber. »Ich versuche vorher noch etwas zu essen«, erklärte sie, nahm einen großen Schluck vom Champagner und verschwand in Richtung Grill, wo sie sich einen saftigen Hamburger holte, bevor sie wieder zurück zu Carl-Adam ging. Sie trank zwei weitere Schlucke, und ihr Freund schenkte ihr aufmerksam nach, während sie herzhaft in ihren Burger biss.
»Und, wie ist er?« Carl-Adam hob die Augenbrauen.
Charlotta blickte auf den Burger hinunter. »Sehr gut!«
Er sah sie erwartungsvoll an.
»Sorry, ich habe ihn nicht nach der Fleischmischung gefragt«, meinte Charlotta seufzend. »Das musst du schon selbst tun.« Inzwischen vermied sie es, mit Carl-Adam essen zu gehen, weil er ständig den Koch um eine Audienz bat.
»Aber wie war er?«
Charlotta betrachtete erneut ihren Burger. »Gut, sagte ich doch schon. Perfekt von der Größe her und saftig. Darf ich jetzt weiteressen?«
»Sehr gut beobachtet, sehr gut! Und das in so kurzer Zeit.« Carl-Adam blickte sie anerkennend an.
Es dauerte eine Weile, bis sie begriff, dass er auf ihr gemeinsames Ratespiel abzielte. Auf einer After-Work-Party vier Jahre zuvor hatten Carl-Adam und sie ihre gemeinsame Vorliebe für Countrymusik und rauchigen Whisky entdeckt. Am Ende hatten nur noch sie beide dagesessen, jeder mit einem Whiskyglas, und Johnny Cash gehört. Auf einmal hatte Carl-Adam gefragt, wie Charlotta die unteren Regionen des Sängers einschätzte – er sei nämlich überzeugt davon, dass Cash ziemlich gut bestückt gewesen sei. Erst fand Charlotta seine Überlegungen ein bisschen geschmacklos, doch dann konnte sie nicht anders, als darüber nachzudenken. Anschließend kamen sie schnell auf die Partner der Kanzlei zu sprechen und waren sich sofort einig, dass der brave Familienvater Måns der am besten Bestückte in der ganzen Kanzlei war. Im Gegensatz zu seinen Kollegen war er seiner Frau seit fünfzehn Jahren treu, was auf ein gesundes Selbstvertrauen schließen ließ, denn offenbar hatte er es nicht nötig, eine mangelnde Penislänge auf andere Weise zu kompensieren. Eine Woche danach bekam sie eine Mail von Carl-Adam. Måns ist heute in Fahrradhosen nach Hause geradelt. Stattlich. Ich glaube, er muss ihn zusammenfalten. Seitdem erstatteten sie sich gegenseitig Bericht, wenn sie das Glück (oder Unglück) gehabt hatten, einen Kollegen oder andere gemeinsame Bekannte in Lauftights oder Fahrradhosen zu sehen.
»Das konnte ich nicht erkennen. Der Grill stand doch im Weg«, sagte Charlotta und blickte hinüber zum Koch, der neue Burger für hungrige Juristen auf den Grill legte. Sie legte den Kopf schräg, um besser sehen zu können. »Außerdem trägt er eine Schürze.« Im selben Augenblick trocknete der Koch seine Hände an der Schürze ab, was ihr eine freie Sicht erlaubte. Charlotta hob die Augenbrauen. »Gut bestückt, glaube ich.«
»Mmm … In einem Internetforum habe ich gelesen, dass er der am besten ausgestattete Mann der Kochszene sein soll.« Carl-Adam schaute träumerisch zum Koch hinüber. »Ein Mann, der in der Küche und im Bett gut ist – was will man mehr?« Als der Koch in ihre Richtung sah, schien es Charlotta, als blickten sich Carl-Adam und er einen Moment zu lange in die Augen.
Sie klopfte ihrem Freund auf die Schulter. »Du brauchst doch wohl keine Fantasien … Du hast ja den schönsten Mann der Welt zu Hause.« Charlotta betrachtete Carl-Adams Verlobungsring. »Der äußerst gut bestückt ist, wie du mehr als einmal erwähnt hast.«
»Ja, das stimmt. Aber ich habe auch den am meisten beschäftigten Mann der Welt.« Seine Miene verdunkelte sich für einen kurzen Moment, hellte sich aber schnell wieder auf. »Apropos schönster Mann der Welt – Jack und ich treffen uns später unten im Riddaren«, sagte Carl-Adam dann. »Du bist doch dabei, oder?«
Oscar hatte es geschafft, sie in einen weiteren Fall einzubinden, zusätzlich zu ihren eigenen. Sie sollte aufhören, Wein zu trinken, sondern brav mit den anderen anstoßen und anschließend zurück ins Büro gehen.
»Ich muss mich in einen Fall einlesen, den ich morgen präsentieren soll. Außerdem helfe ich Oscar bei einer Sache, die …«
»Kommt gar nicht infrage.« Carl-Adam hielt seine Hand vor ihr Gesicht. »Weißt du was? Wir machen es so. Wir trinken noch etwas Wein und essen Hamburger, und dann entscheidest du dich. Okay?«
In diesem Moment wurde das Gemurmel von einem Klirren unterbrochen, jemand hatte mit dem Löffel gegen ein Glas geschlagen. Die Blicke aller richteten sich auf die breiten Glastüren. Im oberen Stockwerk des Gebäudes residierte der Gründer der Kanzlei, Sören Svärdh, der sich aus Anlass der Feier entschlossen hatte, sich unter die Normalsterblichen zu begeben. Ein Stück entfernt entdeckte Charlotta Oscar, der kerzengerade dastand und die Brust herausschob. Das enge Jackett sah aus, als würde es jeden Moment aus den Nähten platzen. Den Rest des Champagners kippte sie in drei großen Schlucken hinunter. Wenn sie schon aushalten musste, dass jemand anderes das Lob für ihre Arbeit einheimste, dann nur mit einer entsprechenden Menge Alkohol.
Dabei müsste sie es inzwischen eigentlich gewöhnt sein. Während sie den sanft perlenden Champagner hinunterschluckte, beschloss sie, Oscars Verhalten nicht mehr zu akzeptieren, und schwor sich, dass es das letzte Mal gewesen war.
Ignacio Vargas betrachtete die Wirtschaftsexperten, die vor ihm aufgereiht saßen. »Es geht also um CSR – Corporate Social Responsibility. Nachhaltigkeit.« Bestimmt zum zwanzigsten Mal suchte und fand er unter allen Gesichtern dieses bestimmte Paar blauer Augen. Die hübsche Brünette, der es gehörte, erwiderte seinen Blick. Ihrer äußeren Erscheinung nach zu urteilen – adrette Bluse und teuer aussehender Schmuck – gehörte sie vermutlich zu einer der größeren Wirtschaftsprüfungsgesellschaften. Aufgrund neuer Standards und des öffentlichen Interesses waren Nachhaltigkeitsfragen aktueller denn je.
Bevor sein Blick weiterwanderte, verweilten seine Augen auf ihr. Brauchte er vielleicht noch eine Verabredung fürs Wochenende? Er hatte beim Dating bewusst eine Pause eingelegt, weil er es nie über einen gewissen Punkt hinausgehen ließ. Allein der Gedanke, jemand könnte Erwartungen an ihn haben, wie er sich in einer Beziehung verhielt, verursachte ihm Übelkeit. Er musste zurück zu sich selbst finden, ohne einen anderen Menschen, der ihn zu jemandem verbog, der er gar nicht war.
»Zum Abschluss und als Zusammenfassung dieser Stunde möchte ich Ihnen gerne zeigen, wie das, über das wir heute gesprochen haben, tatsächlich ein Unternehmen beeinflusst.« Der Beamer projizierte die Geschäftszahlen von Gaia aus den letzten drei Jahren auf die Leinwand hinter ihm. Grafiken zeigten, wie schnell die Zahlen sich verändert hatten, seitdem er in der Firma arbeitete. Auf sein Betreiben hatte man das Thema Nachhaltigkeit endlich ernst genommen. Daraufhin hatten sich die roten Zahlen und die Abwärtsspirale ins Gegenteil verkehrt.
Ignacio genoss die bewundernden Blicke des Publikums. Einen verdammt guten Job hatte er bei Gaia gemacht, und darauf war er stolz. Seine Erfolge waren der Grund dafür, dass er hier stand und vor den führenden Wirtschaftsleuten Schwedens einen Vortrag hielt, ein ehrenvoller und prestigeträchtiger Auftrag.
»Wie Sie sehen, haben sich die Zahlen Ende 2015 verbessert, nachdem wir unser Label Fair Collection eingeführt haben.« Er brauchte Gaias weltberühmte Kollektion aus recycelten Materialien nicht näher zu erläutern, die von afrikanischen Kleinunternehmern hergestellt wurde. Niemandem in der schwedischen Wirtschaft war das Wunder entgangen. Ignacio verantwortete sowohl das Konzept als auch die Durchführung, und abgesehen von guten Zahlen hatte das Projekt auch gute Presse bekommen.
Eine Frau in der ersten Reihe mit klugem, beinahe altersweisem Blick hob ihre Hand. Schon bevor er sie zum Reden aufforderte, wusste er, was sie fragen würde, hoffte jedoch, dass er unrecht hatte.
»Was sagen Sie zur Stimmung unter den bolivianischen Arbeitern und zu Ihrer Verantwortung für den Brand? Ich nehme an, dass Sie als Nachhaltigkeitschef darüber im Bilde sind?«
Er erstarrte. Das Thema beschäftigte ihn Tag und Nacht. Er wollte, er durfte nicht darüber sprechen. Es war ein einziges Minenfeld.
Während er sich sammelte, nickte er langsam und trat ein paar Schritte nach vorn. Senkte den Kopf, um sich anschließend mit ernstem Gesichtsausdruck an sein Publikum zu wenden. »Die meisten von Ihnen wissen sicherlich vom Brand in der Fabrik einer unserer Zulieferer in Brasilien. Es betrifft Gaia Facile, unser niedrigpreisiges Modelabel. Die Arbeiter in der Fabrik haben uns verklagt.« Er räusperte sich. »Wie ich heute gezeigt habe, bemüht Gaia sich eingehend darum, solche Unfälle zu vermeiden. Wir nehmen die Katastrophe äußerst ernst. Sobald wir von dem Vorfall erfahren hatten, ist eine Abordnung unserer Mitarbeiter nach Brasilien gereist. Aber der Fehler ist in der Fabrik passiert und liegt daher in deren Verantwortung, nicht in unserer.«
»Sie haben also nicht vor, die Arbeiter zu entschädigen? Die Menschen sind doch schwer verletzt und traumatisiert worden.«
Er stand kurz davor, laut loszufluchen. Natürlich hatte die Frau recht. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätten sie sofort die Verantwortung übernommen und die Arbeiter längst entschädigt. Doch nach Meinung des Vorstands wäre es für Gaia rufschädigend gewesen, die Verantwortung für das Unglück zu übernehmen. Man war der Meinung, dass die bereits ausbezahlte symbolische Summe mehr als genug gewesen sei. Doch die Fabrik war pleitegegangen und der Besitzer außer Landes geflohen, sodass es nun allein Gaia oblag, Verantwortung zu übernehmen und eine angemessene Entschädigung zu zahlen. Wenn sie den Arbeitern gleich gezahlt hätten, was diese verlangten, wäre die Sache längst aus der Welt gewesen. Stattdessen musste sich Ignacio jetzt mit Fragen nach Gaias Mitverschulden an dem schrecklichen Ereignis auseinandersetzen.
»Wir haben bereits Geld in einen Hilfsfonds eingezahlt. Ich betone ausdrücklich, dass Gaia die Sache sehr ernst nimmt. Doch wie gesagt, das Unternehmen ist nicht für den Vorfall verantwortlich, sondern die Fabrik. Wir waren nur der Auftraggeber. Die Konsequenz ist natürlich, dass wir höhere Anforderungen an die Fabriken stellen müssen, was wir inzwischen auch tun.«
Das stimmte. Gaia waren die unzulänglichen Sicherheitsvorschriften und schlechten Arbeitsbedingungen in der Fabrik nicht bekannt gewesen. Allerdings hätte das Unternehmen die Verhältnisse vor Ort genauer prüfen müssen, bevor sie die Produktion dorthin verlegte. Brände und andere Unglücksfälle kamen bei Zulieferern großer westlicher Einzelhandelsunternehmen leider immer häufiger vor. Ignacio war der festen Überzeugung, dass die Großunternehmen anfangen mussten, Verantwortung zu übernehmen. Er hatte versucht, Geschäftsführer und Vorstand ebenfalls davon zu überzeugen, doch das konnte er an dieser Stelle nicht sagen. Hier musste er loyal zu seinem Unternehmen stehen.
Zu seiner Erleichterung wurde eine neue Frage gestellt, diesmal zum Thema Marketing, sodass er das leidige Thema fallen lassen konnte. Weitere Fragen folgten, ehe er die Veranstaltung offiziell beendete. Er sah davon ab, sich im Anschluss unter die Leute zu mischen, was schade war. Es war sinnvoll, Kontakte zu knüpfen, und außerdem hatte er keine Gelegenheit, mit der Brünetten zu plaudern. Aber er war auf ein Bier mit Jack verabredet und schon spät dran. Nachdem sich der Saal geleert hatte, eilte er hinaus auf den Sveavägen auf der Suche nach einem Taxi. Wahrscheinlich war es besser so. Unangenehme Fragen, auf die er keine Antworten wusste, waren das Letzte, was er jetzt gebrauchen konnte.
Das Einzige, woran er denken konnte, während sein Taxi sich durch das Verkehrschaos auf der Kungsgatan schob, waren die bolivianischen Arbeiter. Gaia hatte soeben ein Gegenangebot gemacht, doch er glaubte nicht, dass sich die Arbeiter damit zufriedengeben würden, es war zu niedrig. Wie konnte es ihm gelingen, den Vorstand und den Geschäftsführer von einer angemessenen Entschädigung zu überzeugen? Er würde ihnen klarmachen müssen, dass Gaias guter Ruf sonst gefährdet war.
»Lasst uns auf den heutigen Erfolg anstoßen, und auf Oscars sagenhaftes Schlussplädoyer, das bereits Kultstatus genießt!« Sören Svärdh hob sein Champagnerglas. Sein Gesicht zierte die gewohnte Mittelmeer-Bräune, und seine gleichmäßigen weißen Zähne leuchteten unter dem Dunkel der Markise. Die anderen Mitarbeiter der Kanzlei hoben ebenfalls die Gläser, und auch Charlotta beteiligte sich halbherzig. Es war noch nie vorgekommen, dass Sören auf den besonderen Einsatz eines Juristen anstieß. Das bedeutete, dass sie Oscars selbstgefälliges Grinsen noch wochenlang würde ertragen müssen. Sören winkte Oscar zu sich heran. Sie schauderte, als sie sah, wie Oscar den Kollegen ein breites Lächeln zuwarf.
»Räuspert er sich jetzt oder richtet er zuerst seinen Hemdkragen, was glaubst du?«, flüsterte Carl-Adam ihr ins Ohr.
»Hemdkragen.«
»Ich glaube, er räuspert sich.«
Oscars Grinsen wurde noch breiter, als er mit seinem wohlbekannten, widerwärtigen Räuspern den Schleim im Hals verteilte.
»Yes.« Siegesgewiss ballte Carl-Adam die Hand zur Faust.
»Ja, mein lieber Sören.« Oscar richtete seinen Hemdkragen. »Ich habe mir im Vorfeld natürlich einige Gedanken gemacht.« Er atmete so tief ein, dass sein Körperumfang noch weiter zunahm, bis er schließlich einem Kugelfisch ähnelte. »Ich habe wohl noch nie so intensiv an meinen Argumenten gearbeitet«, fuhr er fort. »In der Juristerei geht es nicht darum, die richtigen Argumente vorzubringen, sondern darum, diese glaubwürdig erscheinen zu lassen.«
Charlotta entfuhr ein lauter Seufzer, was ihr eine Reihe fragender Blicke einbrachte. Genau diese Worte hatte sie über das Plädoyer gesagt, nachdem Oscar ihr alle Fehleinschätzungen vorgehalten und ihre Unwissenheit getadelt hatte. Sie war es nämlich gewesen, die jedes einzelne Wort des Schlussplädoyers geschrieben hatte, eben jene Worte, die Oscar dem Gericht vorgetragen hatte und für die er gerade von Sören gefeiert wurde. Nicht nur, dass er allein die Lorbeeren für den Fall erntete, jetzt stand er auch noch da und gab exakt ihre Verteidigung des Schlussplädoyers wieder – so als wären es seine eigenen Gedanken.
Sören sah aus, als könne er angesichts dieser Genialität seinen Ohren kaum trauen. Erneut entblößte er seine blendend weißen Zähne und überreichte Oscar eine glänzende Geschenktüte. Dieser fischte eine Flasche aus dunklem Glas heraus, die er sich mit beiden Händen unter dem Applaus der Kollegen über den Kopf hielt, als hätte er gerade eine Siegertrophäe entgegengenommen.
»Die passt perfekt in meine Sammlung«, sagte Oscar und bezog sich dabei auf die Whiskyflaschen, die in seinem Büro aufgereiht in einem Schrank standen. Diese beinahe einen halben Meter hohe Flasche würde mit Sicherheit einen Ehrenplatz ganz vorne erhalten. Er sagte es mit einem vielsagenden Blick auf Sören, der von dieser Form der Einladung jedoch glücklicherweise keine Notiz nahm.
Als sich die Menschenansammlung zerstreute, holte sich Charlotta ein weiteres Glas Sekt an der Bar und kippte es hinunter. Sie musste zurück ins Büro, vor ihr lag noch ein kompletter Arbeitstag. Doch sie war so wütend über das absurde Theater, das sie hatte mit ansehen und hören müssen, dass sie sich auf nichts anderes konzentrieren konnte.
Eine Stunde später war Oscar noch immer der Star des Abends, und Charlotta genehmigte sich das vierte Glas Wein mit Carl-Adam an der Bar. Neben ihnen berichtete der Star lautstark davon, wie er in seiner vorigen Kanzlei heldenhaft eingesprungen war und einen Rechtsstreit zu ihren Gunsten entschieden hatte, nachdem einer der Partner mit dem Rad gestürzt war und eine Gehirnerschütterung erlitten hatte.
Carl-Adam folgte ihrem Blick. »Jetzt wird er immer größenwahnsinniger.« Er füllte erneut ihr Weinglas. »Dabei hat er das nur dir zu verdanken.«
Charlotta nahm zwei große Schlucke. »Ach, ich bin es inzwischen gewohnt, dass sich andere meine Worte zu eigen machen. Ich wäre eine gute Drehbuchautorin.« Sie lachte auf.
Carl-Adam sah sie ernst an. »Du musst damit aufhören, seine Arbeit zu erledigen.«
»Ich habe es für die Kanzlei getan. Er hätte es für einen unserer wichtigsten Mandanten beinahe vergeigt, also hatte ich keine andere Wahl.« Doch Carl-Adam hatte recht. Seit Oscar vor zwei Jahren in der Kanzlei angefangen hatte, war ihr Arbeitsaufwand um einiges gestiegen.
»Vielleicht ist es an der Zeit, mal an dich selbst zu denken.«
»Du weißt, dass ich dann als streitsüchtig und unkooperativ gelte.« Sie wusste, dass Carl-Adam aus Mitgefühl streng mit ihr war, aber alles war leichter, wenn man die Fassade wahrte und weiter hart arbeitete. Jeden Ärger über Oscar parkte sie stattdessen auf der Müllhalde für unerfreuliche Erlebnisse in ihrem Gehirn, in dem Glauben, dass es sie auf irgendeine Weise stärker machen würde.
»In jedem Fall solltest du allen klarmachen, dass dir die eigentliche Ehre gebührt.«
»Und wie soll ich das anstellen? Vor ihren Augen die Whiskyflasche an mich reißen?«
»Ja, warum nicht? Das würde ihnen sicher in Erinnerung bleiben.« Carl-Adam nickte anerkennend.
Hinter ihnen war Oscars lautes Lachen zu hören. Zwei Partner aus der Transaktionsabteilung, die sich mit Unternehmensübernahmen beschäftigten, lachten mit. Gleichzeitig stopfte Oscar sich einen halben Hamburger in den Mund, das Dressing tropfte auf sein weißes Hemd. Carl-Adam zog eine Grimasse, dann nickte er vielsagend in die Richtung von jemandem, der sich offenbar hinter Charlotta befand. Sie drehte sich um. Alex, mit dem sie seit ihrem Einstieg in die Kanzlei flirtete, lehnte mit einer der neu eingestellten Juristinnen an der Bar und knabberte an ihrem Ohr. Die junge Frau antwortete mit einem Lachen und schmiegte sich an ihn.
»Kein Sex für dich heute«, konstatierte Carl-Adam und biss herzhaft in seinen zweiten Hamburger.
Wann immer Alex etwas Neues, Spannendes witterte, griff er zu, das wusste sie und zuckte die Schultern. Ihre Affäre war nichts Ernstes, da waren sie sich einig. Einen Hauch von Demütigung verspürte sie trotzdem, dass er sich in der Öffentlichkeit so benahm. Carl-Adam zufolge wusste die ganze Kanzlei, dass sie und Alex hin und wieder zusammen nach Hause gingen, und lieber wäre sie es gewesen, die ihrer ohnehin abgekühlten Beziehung ein Ende setzte.
»Ich sollte jetzt wirklich arbeiten.« Sie kippte den Wein hinunter.
»Ich weiß deinen Arbeitseifer durchaus zu schätzen, aber …« Carl Adam wies auf die leere Rotweinflasche. »Es ist nicht unbedingt davon auszugehen, dass eine halbe Flasche Rotwein und zwei Gläser Champagner die beste Vorbereitung dafür sind, sich in einen trockenen Patentrechtsfall einzulesen.«
»Für manche vielleicht schon.« Schwungvoll stand sie auf, doch die Terrasse um sie herum drehte sich, und sie musste sich an der Stuhllehne festhalten. Oje, arbeiten würde sie erst wieder in ein paar Stunden können. Neben ihr lachte Oscar schon wieder sein lautes Lachen. In dem Moment beschloss sie, für die nächsten Stunden eine Pause einzulegen. Sie würde Carl-Adam zum Riddaren begleiten, anschließend nach Hause spazieren und wieder nüchtern werden.
Sie gingen hinunter ins Büro und holten ihre Sachen. Auf halbem Wege zum Empfang hielt Charlotta Carl-Adam am Arm fest. »Wir haben noch etwas zu erledigen.«
»Was denn?«
»Rache üben.«
Sie nahm ihn bei der Hand und lief den Flur entlang. An einem Fenster blieb sie abrupt stehen, fuhr mit den Fingern am Fensterrahmen entlang und ließ die toten Fliegen, die der Putzdienst immer übersah, in ihre Hand fallen.
Von Weitem waren Schritte und Stimmen zu hören. Sie fasste Carl-Adam am Arm und zog ihn in einen der Büroräume. Oscars Raum.
»Was ist …?«
Sie legte ihre Hand auf seinen Mund, und die beiden versteckten sich hinter dem Bücherregal.
Dann betrachtete sie die große Flasche, die Oscar bereits auf seinem Schreibtisch deponiert hatte. »Ich werde seinen verdammten Whisky verpesten. Rache ist süß!«
Sie öffnete den Korken und wollte gerade Staub und Insekten hineinrieseln lassen, als Carl-Adam sie zurückhielt.
»Warte!«
»Warum?« Erstaunt sah sie ihn an. Wollte Carl-Adam sie tatsächlich daran hindern, sich zu rächen?
Er lächelte geheimnisvoll. »Du sollst diesen Whisky auch genießen.« Er verschwand und kam kurz darauf mit zwei Karaffen zurück, einer leeren und einer mit Wasser.
Er zeigte auf die Whiskyflasche. »Das hier ist dein Whisky. Schütte die Hälfte in die leere Kanne, ich kümmere mich um eine schöne Flasche für dich. Dann füllen wir seine mit Wasser auf, damit er nicht sieht, dass etwas fehlt, und geben dann die Fliegen hinein.«
»Perfekt!« Sie grinste.
Erneut waren Schritte zu hören. Sie verstummten und versteckten sich wieder hinter dem Regal. Die Schritte verlangsamten sich. Charlottas Herz klopfte ihr bis zum Hals.
»Oh mein Gott, so nervös bin ich nicht mehr gewesen, seit ich in der Sechsten einen Kasten Leichtbier aufs Klassenfest geschmuggelt habe«, flüsterte Carl-Adam. Charlotta fing unkontrolliert an zu kichern, doch glücklicherweise entfernten sich die Schritte wieder.
»Natürlich hat er ihn schon probiert.« Carl-Adam zeigte auf das leere Whiskyglas, das neben der Flasche stand.
Allein der Gedanke, dass Oscar hier gestanden und selbstzufrieden den Whisky genossen hatte, obwohl sein Erfolg allein ihr Verdienst war, trieb ihr die Zornesröte ins Gesicht. Schnell nahm sie die Flasche und kippte die Hälfte des Whiskys in die Karaffe. Dann schüttete sie Wasser nach und gab die Fliegen in die Flasche.
»Sieh mal«, sagte Carl-Adam und zeigte auf eine vertrocknete Spinne auf der Fensterbank.
Angeekelt nahm Charlotta sie zwischen Daumen und Zeigefinger und ließ sie in die bernsteinfarbene Flüssigkeit fallen. Dann verschloss sie die Flasche gründlich mit dem Korken. Jetzt fühlte sie sich schon viel besser.
Im Riddaren drängten sich Stammgäste und Büroangestellte für einen Vorgeschmack auf das nahende Wochenende, jeder Platz war belegt. Carl-Adam fluchte jedes Mal, wenn er sich unter einem der niedrig hängenden Kronleuchter hindurchducken musste. Der Barbesitzer wusste genau, dass die durstigen Juristen von der Kanzlei immer wieder kommen würden, und ignorierte deshalb Carl-Adams wiederholte schriftliche Beschwerden. Charlotta sah sich um und stellte fest, dass mindestens die halbe Kanzlei den Abend im Riddaren fortsetzte, nachdem der Sternekoch den Grill verlassen hatte. Mitten im Getümmel entdeckte sie ein Augenpaar, das ihren Blick suchte. Dunkelbraun, im Schummerlicht beinahe schwarz. Abrupt blieb sie stehen. Markantes Kinn, dichte Augenbrauen und breite Schultern. Die geballte Männlichkeit seiner Ausstrahlung haute sie beinahe um. Wer war er?
Erst als Carl-Adam zielsicher auf ihn zusteuerte, fiel Charlotta auf, dass direkt neben ihm Jack saß. Carl-Adam begrüßte seinen Verlobten mit einem langen Kuss, während Charlotta dem schönen Nebenmann die Hand hinstreckte. Er sah so umwerfend gut aus, dass er es gewohnt sein musste, wenn Menschen bei seinem Anblick die Luft wegblieb. So ging es jedenfalls Charlotta. Sie errötete und blickte verlegen zur Seite, obwohl ihr erster Blick sie bereits entlarvt haben musste.
Ein angenehmer Schauer überzog ihren Arm, als er ihre Hand ergriff. »Ignacio.« Seine Stimme war dunkel und sanft.
Sie räusperte sich. »Charlotta.«
»Ihr kennt euch noch nicht?«, fragte Jack erstaunt und umarmte sie herzlich.
»Nicht dass ich wüsste.« Sie sah Ignacio an. Der Name kam ihr bekannt vor, doch hätte sie ihn bereits gesehen, wäre ihr die Begegnung in Erinnerung geblieben.
»Nein, noch nicht«, bestätigte Ignacio, und wieder bereitete ihr seine Stimme eine wohlige Gänsehaut. Sie musste an warme Schokoladensauce denken. Auf ihrem nackten Körper.
»Ignacio ist ein alter Kumpel von der Handelshochschule. Er hat ein paar Jahre in Nicaragua gelebt.« Jack blickte Ignacio an. »Aber jetzt bist du schon seit zwei Jahren wieder hier, oder?«
»Ja, aber wir haben uns in der Zeit trotzdem kaum gesehen«, stellte Ignacio fest.
»Das geht mir ganz ähnlich«, sagte Carl-Adam. Charlotta merkte, dass er versuchte, scherzhaft zu klingen, doch sie spürte den Ernst hinter seiner Aussage.
Jack hob zur Verteidigung die Hände. »Ich weiß, ich weiß, ich habe sehr viel gearbeitet. Aber du hast dich auch nicht gerade ständig bei mir gemeldet, Ignacio.« Er betrachtete seinen Freund, der darauf nicht antwortete.
Keiner von Jacks ehemaligen Kommilitonen war besonders sympathisch, Charlotta hatte viele von ihnen kennengelernt. Sie hatte nie verstanden, warum er immer noch Kontakt mit ihnen hielt. Vor allem erinnerte sie sich an eine junge Frau auf einer Party. Natalie war einer der unangenehmsten Menschen, den sie je getroffen hatte. Den ganzen Abend hatte Natalie ihr herablassende Blicke zugeworfen, und als Charlotta erzählt hatte, dass sie aus Ludvika stammte, und klarstellen musste, dass sie in einem gewöhnlichen Haus und nicht auf einem Bauernhof aufgewachsen war, hatte Natalie gesagt, wie interessant es doch sei, Menschen vom Land zu treffen.
Dann fiel ihr ein, woher sie Ignacios Namen kannte. Carl-Adam hatte von ihm und Natalie erzählt, dem atemberaubend schönen Paar.
»Bist du nicht mit dieser arroganten Frau zusammen?« Die Worte kamen unvermittelt über ihre Lippen, bevor sie überhaupt darüber nachgedacht hatte. Sie schnippte mit den Fingern. »Natalie. Du weißt schon, Carl-Adam, die von der Party, die so überheblich war?« Carl-Adam lächelte gequält.
Wie zu erwarten sah Ignacio nicht sonderlich begeistert aus. Er räusperte sich, um etwas zu erwidern, schien es sich jedoch anders zu überlegen.
»Diese junge Dame hier hat zu viel Wein in zu kurzer Zeit getrunken«, erklärte Carl-Adam entschuldigend.
Charlotta zuckte die Schultern.
»Aber zum Glück hat sie nur Ignacios Ex-Freundin beleidigt«, ergänzte Jack mit einem nachsichtigen Lächeln. Dann verstummte das Gespräch.
Ignacios Blick hatte etwas Hartes und Abwartendes bekommen. Sollte sie die Situation retten, indem sie sich entschuldigte? Doch Carl-Adam war schneller. Er lehnte sich über die Bar und bestellte Sekt für alle. Sie hatte auch gar keine Lust, sich bei diesem Snob zu entschuldigen. Während Carl-Adam die Sektgläser entgegennahm, erkundigte er sich bei Ignacio nach dessen Wohnungskauf. Ignacios dunkle Stimme ging ihr durch Mark und Bein, als er Carl-Adams Frage beantwortete.
Jack wandte sich ihr zu. »Mach dir keine Sorgen wegen Natalie«, sagte er leise. »Sie war nicht besonders nett, und nun gilt es, Ignacio ebenfalls davon zu überzeugen.« Er lächelte.
»Er ist also noch nicht über sie hinweg?«, fragte Charlotta und spürte zu ihrem Erstaunen eine leichte Enttäuschung. Was völlig absurd war. Es konnte ihr doch völlig egal sein, in wen er verliebt war.
»Doch, das denke ich schon. Aber sein lächerliches Loyalitätsdenken führt dazu, dass er immer noch meint, zu ihr stehen zu müssen.« Neben ihnen lachte Ignacio über etwas, das Carl-Adam gesagt hatte, und seine Gesichtszüge wurden weicher.
Ein Tisch direkt neben der Bar wurde frei. Carl-Adam nahm Gläser und Flasche und steuerte ihn an. Charlotta setzte sich auf einen der hohen Barstühle und landete direkt gegenüber von Ignacio.
»Wie läuft’s eigentlich mit deiner Arbeit, Ignacio?« Carl-Adam reichte jedem von ihnen ein gut gefülltes Sektglas. »Ich habe gehört, dass ihr in der letzten Zeit ziemlich erfolgreich wart.«
Wenn sie sich jetzt einen Vortrag über die neueste Investition dieses Mannes anhören musste, würde der exquisite Sternekoch-Burger direkt vor ihnen auf dem Tisch landen. Dass er mal mit Natalie zusammen gewesen war, sagte eigentlich schon genug darüber aus, was für ein Typ er war. Natalie würde sich niemals mit einem Neureichen zufriedengeben, und er wirkte so blasiert, wie es nur Menschen sind, die bisher alles auf dem Silbertablett serviert bekommen haben.
Ignacio öffnete den Mund, um zu antworten, doch Charlotta schnitt ihm das Wort ab. »Können wir nicht über etwas Spannenderes reden als über Ignacios Arbeit in Papas Unternehmen? Es gibt weitaus interessantere Gesprächsthemen als die Karriere privilegierter Männer.« Gerade heute Abend war sie dieses Thema außerordentlich leid. An anderen Abenden im Übrigen auch.
Jack musste laut lachen. »Hört, hört! Dabei ist Carl-Adam an diesem Tisch der Einzige, der seinen sozialen Status mit der Muttermilch aufgesogen hat.«
Charlotta blickte Ignacio an. »Aber du warst doch mit Natalie zusammen«, stammelte sie. Es musste am Alkohol liegen.
Er zögerte einen Moment, bevor er mit einem schiefen Lächeln auf den Lippen antwortete. »Leider steht mir im Familienunternehmen keine Führungsposition zur Verfügung. Mein Vater ist Busfahrer und kann mir bestenfalls einen Sommerjob besorgen.« Sein Tonfall klang hart, doch seine Augen glitzerten amüsiert.
»Ja, ja, während ihr überlegt, wer von euch die schwerste Kindheit hatte, trinke ich meinen Sekt.« Carl-Adam füllte alle Gläser bis zum letzten Tropfen.
Ignacio erhob sich. »Jetzt bin ich an der Reihe zu bestellen.« Während er zur Bar ging, musterte Charlotta ihn von oben bis unten. Definitiv gut bestückt.
Ignacio lehnte sich auf seinem Barhocker zurück und betrachtete Charlotta. Ständig hielten ihn die Leute fälschlicherweise für jemanden aus der Oberschicht. Wenn er dann erzählte, dass seine Eltern Arbeiter waren, die in den Achtzigerjahren vor der chilenischen Militärjunta geflohen waren, fiel die Reaktion immer verhalten aus. Jedenfalls in den Kreisen, in denen er sich mit Natalie aufgehalten hatte: einer homogenen Ansammlung von Menschen, von denen niemand wusste, wie man sich gegenüber jemandem verhalten sollte, der anders war als man selbst.
Für eine Sekunde war Charlotta errötet, und ihre braunen Augen hatten geblitzt. Ungeheuer attraktiv. Er konnte seine Augen kaum von ihren vollen Lippen abwenden, die besonders rot waren, nachdem ihr das Blut ins Gesicht geschossen war. Schon als sie die Bar betreten hatte, war sie ihm aufgefallen. Ihr langes blondes Haar, das in einem adretten Pferdeschwanz gebändigt war, ihr ohne das Haargummi aber sicher wild ins Gesicht fiel, ihre schönen, hellbraunen Augen und ihr Mund. Dieser Mund.
Jetzt sah sie beinahe enttäuscht aus und wirkte zugeknöpft.
»Wo in Dalarna kommst du übrigens her?«, fragte er und schenkte ihr noch mehr Sekt ein.
Sie seufzte. »Meinen Dialekt hört man immer, wenn ich etwas getrunken habe.«
»Ich mag ihn.« Er lächelte breit, und für einen kurzen Moment wirkte sie schockiert. Er verstand sie. Vorhin hatte er nicht arrogant wirken wollen, er hatte nur nicht gewusst, wie er sich verhalten sollte, wenn die Rede auf Natalie kam. Er mochte seine Ex-Freundin nicht mehr besonders, aber er war nun einmal mit ihr zusammen gewesen.
»Ich bin aus Ludvika.«
»Aufgewachsen in einem typischen roten Holzhäuschen?«
Sie nickte.
»Wahrscheinlich hast du sogar eine Volkstracht?«
Sie zog eine Grimasse und nickte erneut.
»Das war zu erwarten.« Er lächelte, sah sie eine Sekunde zu lange an und blickte dann schnell zu Jack. Dieser beklagte sich häufig darüber, dass Ignacio immer dieselbe Masche einsetzte. Doch Jack war in eine Diskussion über Hochzeitsreisen vertieft. Seit er Carl-Adam vor knapp einem Jahr einen Heiratsantrag gemacht hatte, waren sie sich über dieses Thema noch nicht einig geworden.
Gerade als Ignacio seine nächste witzig gemeinte Frage über Dalarna stellen wollte, vibrierte sein Handy in der Brusttasche. Er warf einen Blick aufs Display, lächelte Charlotta entschuldigend an und nahm den Anruf entgegen.
»Hej! Du, ich gehe gerade nach draußen, damit ich dich hören kann.«
Er stand auf und bahnte sich zwischen all den warmen Körpern seinen Weg zum Ausgang. Der Märzabend war kalt, doch der Frühling lag schon in der Luft. Ein Stück entfernt erahnte man das lebhafte Treiben auf der Nybrogatan, doch auf dieser Höhe der Riddargatan war es still. Das liebte er an Stockholm – dass man im Tosen der Großstadt immer nur einen Steinwurf von Ruhe und Stille entfernt war.
»So, jetzt«, sagte er und hielt sein Handy ans Ohr. »Hast du irgendetwas gehört?«
Der Geschäftsführer von Gaia seufzte tief. Ignacio sah vor seinem inneren Auge, wie Christopher sich auf seinem Schreibtischstuhl herumdrehte, bis sein Blick auf die Perlenkette von Straßenlaternen und Autoscheinwerfern unten auf der Kungsgatan fiel.
»Ich habe gerade mit dem Anwalt gesprochen. Sie akzeptieren unser Angebot nicht.«
»Und das bedeutet?«
»Das bedeutet, dass wir uns einem Rechtsstreit nähern.«
Ein Rechtsstreit. Christophers und Ignacios Albtraum. Und ein Albtraum für Gaia.
»Wir müssen uns einigen«, sagte Ignacio. Eine Klage würde seine ganze Arbeit der letzten Jahre zunichtemachen und die Expansion verhindern, für die er so hart gekämpft hatte.
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich das auch noch so sehe. Du weißt doch, dass ich schon Probleme hatte, den Vorstand überhaupt davon zu überzeugen, ein Gegenangebot zu machen«, entgegnete Christopher.
Von Beginn an war der Geschäftsführer skeptisch gewesen, ob ein Vergleich Sinn hatte, weil der Vorstand sich weigerte, jegliche Verantwortung für das Geschehene zu übernehmen.
»Bald wissen wir mehr«, fuhr Christopher fort. »Und dann kommt auch noch das andere Chaos im Vorstand hinzu.«
Christopher war nachdrücklich dazu aufgefordert worden, vor der nächsten Vorstandssitzung einen neuen Finanzchef auszurufen. Sein ehemals bester Freund, Vincent Rask, gleichzeitig Strippenzieher und engster Mitarbeiter, war Finanzchef gewesen, seit Christopher den Posten als Geschäftsführer von Gaia angetreten hatte. Doch irgendetwas war zwischen den beiden Freunden vorgefallen, und als Christopher einige Jahre zuvor das Land verlassen hatte, kündigte Vincent seinen Job im Unternehmen.
Ignacio hatte hart dafür gearbeitet, Christopher zu helfen und die Lücke zu schließen, die der Finanzchef hinterlassen hatte. Aber auch, um sich selbst zu helfen. Das war seine Chance, sich als Gaias neuer Finanzchef zu empfehlen.
»Eine Einigung mit den Arbeitern würde einen Rechtsstreit verhindern, und das würde den Vorstand beruhigen«, sagte Ignacio.
»Ich weiß, dass du einen Vergleich bevorzugst, aber ich bin mir nicht sicher, ob das am besten ist.«
»Das kann ich nachvollziehen. Ich unterstütze dich in all deinen Entschlüssen«, beeilte sich Ignacio zu erwidern. »Ich werde weiterhin mein Bestes geben, um Vincent zu ersetzen. Du kannst dich auf mich verlassen.«
»Ja, das weiß ich, und dafür bin ich dir unendlich dankbar. Ohne dich wäre ich verloren. Es tut mir leid, dass du so viel Zusatzarbeit hattest. Ich werde den Posten so bald wie möglich besetzen. Der Headhunter hat mir übrigens eine gute Kandidatin empfohlen. Sie erscheint mir äußerst fähig, vielleicht finden wir morgen ein paar Minuten, um darüber zu sprechen?«
»Ja, natürlich«, sagte Ignacio. Sie beendeten das Gespräch, und er blieb auf dem Gehsteig stehen. Seit zwei Jahren war er nun Nachhaltigkeitschef für Gaia. Christopher hatte ihn während seiner Doktorandenzeit an der Handelshochschule kontaktiert und ihm diesen unglaublich guten Job angeboten. Seitdem war Christopher beinahe ausschließlich auf Reisen gewesen. Der offizielle Grund war, dass er ein neues Modelabel einführen sollte, doch Gerüchten unter den Angestellten zufolge war er wegen einer komplizierten Beziehung außer Landes geflohen. Ignacio konnte es nur schwer glauben. Christopher war innerhalb der Finanzwelt dafür bekannt, dass er selbstbewusst sein Ding durchzog und sich nicht abdrängen ließ. Dass er das Land verlassen haben sollte, weil ihn eine Frau enttäuscht hatte, kam ihm unwahrscheinlich vor.
Doch nun war Christopher wieder da, und er brauchte Ignacio, um das Unternehmen in die richtige Richtung zu führen. Ignacio war nämlich auf gutem Wege, einen großen Deal mit den USA zu schließen, aber ein Rechtsstreit würde die Verhandlungen null und nichtig machen. Wenn es ihm gelang, den Deal zu sichern, konnte dies Ignacio als zukünftigen Finanzchef ins Gespräch bringen.
Ein kalter Windhauch fuhr durch die Straße. Ignacio fröstelte und betrat erneut die warme Bar.
»Also, Outdoor-Aktivitäten in allen Ehren, aber ich gedenke nicht, am ersten Tag der Flitterwochen Khakihose und Hut anzuziehen und mich mit Mückenmittel einzuschmieren«, erklärte Carl-Adam und hielt die Hände in einer abwehrenden Geste hoch, als sich Ignacio wieder an den Tisch setzte.
»Aber wenn wir schon in Südamerika sind, müssen wir unbedingt den Amazonas sehen«, erwiderte Jack. »Erst sind wir ein paar Tage im Luxusresort, dann im Regenwald. Du weißt, dass ich unleidig werde, wenn ich mehr als vier Tage nichts zu tun habe.«
»Ehekrach schon vor der Ehe – das beunruhigt mich«, murmelte Charlotta.
Ignacio schüttelte den Kopf. »Ich könnte niemals mit Jack verheiratet sein. Er ist der dickköpfigste Mensch, den ich kenne. Ich wette mit dir, dass die beiden in einer Viertelstunde eine dreiwöchige Extremsport-Reise gebucht haben.«
Charlotta lachte auf und erwiderte seinen Blick. Ignacio spürte, wie ihn ein heftiger Stoß durchfuhr.
Er räusperte sich. »Du bist also Carl-Adams Kollegin?«
»Ja, das stimmt.«
»Welches ist dein Rechtsgebiet?«
»Zivilrecht.«
»Warum hast du gerade das gewählt?«
Sie kniff die Augen zusammen und schien nachzudenken. »Das Argumentieren hat mir im Jurastudium am allerbesten gefallen. Und als Referendarin am Amtsgericht war ich begeistert davon, wie die Anwälte ihre Beweise geführt und ihren Standpunkt mit Argumenten belegt haben.«
»Ungefähr so wie im Fernsehen?«
Sie lachte. »Wohl kaum. Man stolziert nicht im Gerichtssaal umher und hält flammende Plädoyers vor einer Jury, sondern sollte eher ruhig vorbringen, was man zu sagen hat, und zwar vor Richtern, die weder Perücke noch Talar tragen.«
»Das war also dein Traum? Das, was du wirklich wolltest?« Er fragte andere Menschen gern danach, und nur die wenigsten antworteten, dass sie mit ihrer Arbeit wirklich zufrieden waren.
»Ja. Es ist das Spannendste, was ich mir überhaupt als Arbeit vorstellen kann.«
»Wie interessant, dass du deine Arbeit so liebst und schon so früh wusstest, was du wolltest!« Er sah ihr tief in die Augen, hielt ihren Blick für ein paar Sekunden fest, bevor er sagte: »Ich bin beeindruckt.«
Für einen ganz kurzen Moment sah sie misstrauisch aus, aber es reichte, damit er kurz zusammenzuckte. Misstrauen war er nicht gewöhnt, wenn er mit einer Frau flirtete.
»Wir müssen los«, sagte Jack in diesem Moment laut.
»Schon?« Ignacio versuchte seine Enttäuschung zu verbergen. Andererseits würden er und Charlotta es wohl auch allein miteinander aushalten.
»Es ist schon Mitternacht, und morgen ist ein Arbeitstag. Außerdem habe ich unsere Reise gefunden, es gibt nur noch zwei Plätze. Wir müssen nach Hause und buchen. Jetzt.«
»Was für eine Reise?«
»Zehn Tage im Dschungel und ein Extremsport-Wochenende in Costa Rica«, sagte Carl-Adam seufzend. Charlotta musste laut lachen und zwinkerte Carl-Adam zu.
»Vergiss nicht die zwei Tage im Luxusresort mit persönlichem Koch und Ausritt am Strand«, ergänzte Jack.
»Stimmt, zwei Tage habe ich bekommen. Die ich wahrscheinlich verschlafen werde, weil ich zehn Nächte lang von Mücken zerstochen worden bin.«
Charlotta lächelte. »Und du beschwerst dich, dass ich mich unterbuttern lasse. Setz dich durch!«
Carl-Adam drückte die Brust heraus, streckte sich und sah Jack fest in die Augen. »Ich möchte vier Tage im Luxusresort bleiben.«
»Zwei«, sagte Jack.
»Drei.«
»Du bekommst doch auch noch deinen Ausritt. Obwohl du weißt, dass ich eine Todesangst vor Pferden habe. Es kostet mich eine Riesenüberwindung, ein Pferd überhaupt nur anzuschauen.«
Carl-Adam seufzte. »Also gut, zwei Tage und ein Ausritt.«
Wieder lachte Charlotta laut, ein melodisches Lachen, das von Herzen kam. Es war echt. Ihre Augen glitzerten, und Ignacio konnte sich nicht entscheiden, wann er sie schöner fand: wenn sie empört war oder wenn sie lachte.
»Netter Versuch, Carl-Adam. Zum Glück verhandelst du auf der Arbeit besser, sonst wärst du schon seit Langem arbeitslos.« Charlotta klopfte ihrem Freund auf die Schulter. »Ich muss auch los. Für morgen steht viel an in der Kanzlei.« Sie warf Ignacio einen Blick zu und stand auf. Waren ihre Worte zögernd gewesen? Aber er konnte sie jetzt nicht bitten zu bleiben, das hätte zu verzweifelt gewirkt. Sein Blick streifte ihren vollen Busen und die langen, starken Beine, die unter dem eng anliegenden Rock zu erahnen waren, der ihren runden, wohlgeformten Hintern betonte. Sie schien seinen Blick zu spüren und erwiderte ihn, während sie sich nach ihrer Tasche reckte. Da sie sie nicht ganz zu fassen bekam, fiel sie auf den Boden. Die Tasche ging auf, der Laptop fiel heraus, und ein Stoß Papiere verteilte sich meterweit neben den Tisch.
»So ein Mist!« Sie warf sich über ihren Computer, während Ignacio und Jack sich bückten und das Papier aufsammelten. Ignacio schob die Unterlagen zu einem Stoß zusammen und wollte sie ihr gerade reichen, als ein Wort auf einem der Dokumente seine Aufmerksamkeit erregte. Gaia. Unauffällig drehte er den anderen den Rücken zu, tat so, als sammele er weitere Papiere ein, und überflog schnell den Inhalt des Dokumentes.
Es war eine Zusammenfassung des Rechtsstreites mit den Arbeitern. Hastig durchforstete er die Papiere und blieb an einem Mailwechsel zwischen zwei Fabrikarbeitern hängen. Las ihn durch und schnappte nach Luft. Vorsichtig nahm er sein Handy und blickte sich um. Charlotta hatte ihren Laptop auf den Bartisch gestellt und tippte irgendetwas ein, während ihr Carl-Adam über die Schulter lugte und Jack ihre Unterlagen in der Aktentasche verstaute. Ignacio bückte sich wieder unter den Tisch, wo ihn niemand sehen konnte, und gab vor, nach weiteren Papieren zu suchen. Ohne lange nachzudenken, fotografierte er blitzschnell das Dokument ab. Danach richtete er sich wieder auf und hielt Charlotta den Stapel hin. Sie sah von ihrem Computer auf und nahm ihn entgegen.
»Danke.« Sie lächelte. »Zum Glück ist der Computer nicht beschädigt.« Sie schob die restlichen Dokumente und den Laptop in ihre Tasche.
»Was für ein Glück«, sagte er tonlos. Er steckte das Handy in die Tasche seines Jacketts. Ein merkwürdig berauschendes Gefühl breitete sich in seinem Körper aus, eine Mischung aus Scham und Aufregung. Die Mail, die er gelesen hatte, konnte Gaia helfen. Und ihm.
Charlotta zog ihren Trenchcoat an, hängte die Tasche über die Schulter, trat einen Schritt auf ihn zu und beugte sich nach vorn. »Danke für den Sekt!« Sie umarmte ihn leicht, ihre Stirn war kühl an seinem warmen Hals, und von der Berührung wurde ihm noch wärmer. Bevor er sich wieder sammeln konnte, hatte sie Jack und Carl-Adam ebenfalls umarmt. Dann verschwand sie in der ersten Frühlingsnacht des Jahres.
Charlotta goss sich ihr zweites Glas Orangensaft ein, umschloss mit beiden Händen das kalte Glas und legte danach ihre Finger auf die Augenlider, um sie zu kühlen.
»Ihr scheint ja gestern Spaß gehabt zu haben auf der After-Work-Party!«, bemerkte Dessie und betrachtete sie über den Rand der Speisekarte hinweg.
Desiree, oder Dessie, wie sie von ihren Bekannten genannt wurde, war von Anfang an Charlottas Mentorin in der Kanzlei gewesen. Während die meisten anderen Mentoren in den ersten Wochen pflichtschuldig mit ihren Schützlingen zu Mittag aßen, nahm Dessie den Auftrag ernst und wurde zu ihrem Eckpfeiler und Coach. Im Laufe der Jahre hatten sie das Ganze mit Frühstücken, Mittagessen und After-Work-Partys fortgesetzt. Mittlerweile hatte sich eine Freundschaft daraus entwickelt, und Desiree war zu Charlottas größter Stütze in der Kanzlei geworden. Immer wieder ermutigte sie ihre Mentee, nicht aufzugeben und auch einmal Nein zu sagen.
»Ich wollte doch unseren Erfolg in der Zivilsache feiern.« Sofort bereute sie ihren ironischen Unterton. Ein Gespräch über Oscar war das Letzte, was sie jetzt gebrauchen konnte.
Dessie war eine der wenigen, die wussten, dass Charlotta zwei Wochen am Schlussplädoyer gesessen hatte. Die Worte, die von Sören so gelobt worden waren, hatte Charlotta eines späten Abends an Dessie erprobt und von ihr Applaus dafür erhalten.
Nun verzog Dessie nur den Mund und studierte die Speisekarte. Doch gerade als Charlotta dachte, sie sei noch einmal davongekommen, sagte Dessie: »Ich habe gehört, dass Sören Oscar mit Lob überschüttet hat für sein glänzendes Schlussplädoyer.«
Charlotta kniff die Lippen zusammen. Sie schämte sich.
»Ich glaube, dass Ebba deine harte Arbeit trotzdem würdigt«, fuhr Dessie in versöhnlichem Ton fort, klang aber nicht ganz überzeugt. Sie griff nach der Edelstahlkanne und füllte ihre Tassen mit dem besten Kaffee der Stadt – zwei Kannen leerten sie mindestens bei jedem Frühstück. »Arbeite einfach noch ein paar Jahre hart weiter, ziehe Fälle an Land und pflege die Beziehungen zu deinen Mandanten, aber vor allem: Lass nicht zu, dass Oscar die Lorbeeren dafür erntet!«
Charlotta umfasste ihre Kaffeetasse mit beiden Händen und hob die Augenbrauen. »Ich weiß.« Sie hielt sich die Speisekarte vors Gesicht, um zu signalisieren, dass das Gespräch beendet war. Das war zwar unreif, aber sie konnte Dessie einfach nicht erklären, warum sie immer in dieselbe Falle geriet, warum alles, was sie über die Jahre aufgebaut hatte, zunichtewurde, wenn Oscar auf den Plan trat. Dessie wusste nur einen Bruchteil über Charlottas Vergangenheit, die sie so beeinflusst hatte.
Der Kellner kam an ihren Tisch, um die Bestellung aufzunehmen, und sorgte damit für eine willkommene Unterbrechung.
»Ich habe mir übrigens diese Pro-bono-Sache durchgelesen und muss schon sagen, dass sie vielversprechend klingt«, sagte Dessie, als der Kellner wieder gegangen war. Charlotta hatte sie um Rat gefragt, ob sie Ebba diesen Fall vorschlagen sollte oder nicht. In jeder Abteilung hatte der zuständige Partner in solchen Dingen das letzte Wort.
Charlotta nickte. »Ich fand es auch sehr interessant. Ich meine, es geht um Gaia!« Sie hielt das eine Ende ihres dünnen Kaschmirschals hoch, den sie um den Hals trug. Die eine Ecke des Schals trug das Logo des Unternehmens. Eine der Fransen geriet versehentlich in den Kaffee, und Charlotta trocknete sie schnell mit einer Serviette ab. »Ein wirklich spannender Fall, aber eben pro bono. Ich brauche Fälle, für die ich bezahlt werde.«
Pro-bono-Fälle wurden von den Anwälten unentgeltlich übernommen, normalerweise für Mandanten, die nicht in der Lage waren, die teure Beratungsgebühr zu bezahlen. Was sie aber brauchte, um den Kanzleipartnern zu imponieren, war ein neuer, wichtiger Mandant mit viel Geld, keine Organisation wie das Gerechtigkeitsinstitut.
»Ich glaube, Ebba wird anbeißen. Schon auf der letzten Vorstandssitzung wurde darüber gesprochen, dass wir mehr gemeinnützige Arbeit leisten sollen. Außerdem ist die Gegenseite äußerst interessant.« Dessie sah sie abwartend an.
»Aber du weißt doch, wie es ist. Ich muss neue Geldquellen für die Kanzlei erschließen. Ich weiß, dass Pro-bono-Fälle gut sind und dass sie auf lange Sicht mehr Geld einbringen, aber …«
Der Kellner kam mit ihrem Essen, und Dessie machte sich an ihre Grapefruit. »Man sollte gemeinnützige Arbeit nicht unterschätzen.«
»Ich weiß nicht …« Charlotta zögerte. »Ich habe von einem anderen Fall gehört, der auch demnächst aktuell wird. Damit werde ich alle Hände voll zu tun haben. Alles wäre viel leichter, wenn ich keinen eigenen Fall hätte, der mich so viel Zeit kostet.«
Dessie wollte gerade das rote Fruchtfleisch aus der Schale löffeln, legte jedoch den Löffel mit einem lauten Knall neben den Teller. »Einen von Oscars Fällen, meinst du?«
Charlotta antwortete nicht.
»Es ist nicht dein Ernst, dass du deine eigene Arbeit Oscars Fällen unterordnest?«
»Genau das meinte ich eben. Es geht nicht anders. Je mehr er zu tun hat, desto mehr Mist bekomme ich auf meinen Tisch, weil ich seine ganze Arbeit mache. Ein Pro-bono-Fall ist das Letzte, was ich gebrauchen kann.«
»Aber hier geht es um Gaia! Der Fall bietet dir die Möglichkeit, ein Großunternehmen zu entlarven, das für seinen tadellosen Ruf bekannt ist. Du wirst die dunkle Seite der Firma ans Tageslicht bringen, und wenn du die Klage gewinnst, dann hast du die Chance, weit über die Kanzlei hinaus bekannt zu werden.«
»Schon …« Charlotta nickte. Sie nahm sich eins der gerösteten Brotstücke und tauchte es in die Sauce hollandaise, die zum Egg Benedict serviert worden war. »Ich werde darüber nachdenken.« Sie hob das Brot zum Mund, zögerte dann aber und sah Dessie fragend an. »Dieser Fall scheint auch dir sehr wichtig zu sein, hab ich recht?«
Dessie blickte sie irritiert an. »Sagen wir so: Bei Gaia gibt es eine Person, die ich überhaupt nicht leiden kann.«
»Handelt es sich um einen Mann?«
Dessie verdrehte die Augen. »Vielleicht.«
Neugierig schaute Charlotta sie an, doch Dessie griff resolut nach ihrem Handy und begann, darauf herumzutippen. Als sie sich kennenlernten, war Dessie äußerst zurückhaltend gewesen, was ihr Privatleben betraf, doch je mehr Zeit sie miteinander verbrachten, desto mehr gab sie von sich preis. Bisher hatte Charlotta nur von vereinzelten Dates und flüchtigen Beziehungen gehört, jedoch definitiv noch von keinem Mann, der solche Rachegedanken hervorrufen konnte.
»Lass es mich so ausdrücken.« Dessie sah von ihrem Handy auf. »Manchmal sind Gefühle wichtiger als Geld, sogar für Anwälte.«
Oscars Hand schob sich an Charlottas Gesicht vorbei und bewegte sich auf die fettfleckige Papiertüte von der Bäckerei unten an der Ecke zu.
Ebba räusperte sich. »Vielleicht warten wir, bis Sandra mit dem Kaffee gekommen ist?« Charlotta musste wegen der subtilen Zurechtweisung lächeln.
Seufzend zog Oscar seine Hand zurück. »Okay, okay.«
Ebba lächelte verhalten. Sie war Leiterin der Abteilung für Prozessführung und bei der heutigen Besprechung über allgemeine Informationen noch nicht hinausgekommen. Ihre wöchentlichen Treffen fanden immer freitagvormittags statt, weil der Rest der Woche vollgepackt war mit Meetings und Gerichtsverhandlungen.
Ebba blickte die Anwesenden der Reihe nach an: Charlotta, Oscar, Kristin, die dritte Senior Associate ihrer Abteilung, und Anton, das jüngste Mitglied. »Ich weiß, dass ihr alle viel zu tun habt, deshalb mache ich es heute kurz.«
Normalerweise hörte Charlotta während der Wochen-Meetings aufmerksam zu, doch als Ebba nun von einem Fall berichtete, an dem sie gerade mit Kristin arbeitete, wanderten Charlottas Gedanken zu dem Mann, den sie am vergangenen Abend getroffen hatte. Ignacio. Jedes Mal, wenn jemand mit ihr flirtete, wurde sie unsicher und misstrauisch. Doch mit der Zeit hatte sie gelernt, dass es tatsächlich Männer gab, die keine Hintergedanken hatten. Und gegen Ignacios Aufmerksamkeit hatte sie nichts einzuwenden. Er war der bestaussehende Mann, den sie je getroffen hatte. Aber er war mit Natalie zusammen gewesen, was sie eigentlich davon abhalten sollte, auch nur einen Gedanken an ihn zu verschwenden. Andererseits war er Jacks bester Freund, und Jack war ein wunderbarer Mensch. So furchtbar konnte Ignacio dann ja auch nicht sein …
»Habt ihr anderen irgendwelche neuen Fälle?« Ebba blickte sie an, und Charlotta schob die Gedanken an Ignacio beiseite.
»Ja, ich habe einen.« Oscar verschränkte die Hände vor seinem Bauch. »Und zwar einen, der eine Menge Ressourcen verbrauchen wird.«
»Ich habe auch einen Fall mitgebracht«, sagte Charlotta. In diesem Moment öffnete sich die Tür, und die Assistentin der Abteilung, Sandra, trat ein, in der Hand ein Tablett mit sechs Pappbechern.
»Entschuldigt bitte meine Verspätung. In der Espressobar war eine ewig lange Schlange …« Sie stellte das Tablett auf den Tisch.
»Danke, Sandra.« Charlotta lächelte und nahm sich einen der Becher. Die Assistentin gab sich wirklich Mühe, ihre wöchentlichen Meetings gemütlich zu gestalten, mit italienischem Kaffee und leckerem Gebäck. Oscar streckte sich nach dem Messer, das auf der Papiertüte lag, und zog schnell den Hefezopf heraus.
Während sich alle bedienten, vibrierte Charlottas Handy. Ihr Vater. Für ihn war Viertel vor elf die allgemeine Mittagspausenzeit. Ihr schlechtes Gewissen meldete sich. Bestimmt wollte er sie fragen, ob sie schon mit Mormor gesprochen hatte. Sie telefonierten eigentlich mindestens einmal in der Woche, doch in der letzten Zeit war sie jedes Mal in der Kanzlei gewesen, als ihre Großmutter angerufen hatte. Charlotta hatte versprochen, sie zurückzurufen, und so waren die Wochen verstrichen. Ohne das Gespräch wegzudrücken, wartete sie, bis das Handy aufhörte zu vibrieren. Hoffentlich war nichts passiert. Charlotta erwog, das Meeting zu verlassen, um zurückzurufen, verwarf den Gedanken aber sofort wieder. Ihre Großmutter hatte sich zwar nicht ganz von ihrem Herzinfarkt vor ein paar Jahren erholt, doch wenn wirklich etwas passiert wäre, hätte ihr Vater gleich noch einmal angerufen. Das Handy blieb still. Trotzdem hatte sie Gewissensbisse. Sie musste Mormor anrufen, sich bei ihrem Vater melden und eine Reise nach Hause planen. Auch wenn sie nicht nach Ludvika fahren wollte.
Ein wütendes Prusten war zu hören. Charlotta blickte auf. Oscar spuckte den Kaffee zurück in den Becher. »Das ist keine laktosefreie Milch, Sandra! Du weißt doch, dass mein Magen keine normale Milch verträgt. Lauf runter und hol mir den richtigen Kaffee!« Oscar wedelte mit der Hand, als verscheuche er einen Hund.
Hastig schluckte Charlotta ihren Kaffee herunter. »Das ist nicht Sandras Schuld, ich habe ihr die Bestellung mitgegeben. Außerdem gibt es Kaffee in der Kaffeemaschine und laktosefreie Milch im Kühlschrank!«, sagte sie scharf.
Sandra blickte sie dankbar an.
Oscar öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, schien dann aber Ebbas tadelnden Blick zu bemerken und schwieg. Stattdessen stand er auf und verließ den Raum. Wenn es etwas gab, was Ebba verabscheute, dann war es herablassendes Verhalten gegenüber den Assistenten. Es war in der Kanzlei eigentlich nicht üblich und kam höchstens bei frisch examinierten Juristen vor, die zu viele Anwaltsserien im Fernsehen gesehen hatten. Doch für einen Moment hatte Oscar wohl vergessen, sich zu beherrschen und Ebba sein wahres Ich gezeigt.
Die Abteilungsleiterin nahm sich ungerührt einen der Kaffeebecher. »Dann machen wir mit der Liste der aktuellen Fälle weiter.«
Kristin und Anton berichteten von ihren neuen Fällen, und dann kam auch Oscar mit seinem Kaffee zurück.
»Du wolltest von einem neuen Fall erzählen, Oscar. Könntest du ihn bitte kurz zusammenfassen?«, fragte Ebba, ohne von ihrer Liste aufzublicken.
»Aber natürlich. Ein alter Schulfreund von mir besitzt eine IT-Firma, die Ärger mit irgendeiner Technik hinter einem Überwachungssystem hat. Grape On.« Er schlug ein Bein über das andere und umfasste sein Knie.
»Sehr gut. Wie sieht es mit deinen Kapazitäten aus? Das hört sich nach einem kleineren Fall an, das schaffst du bestimmt mit Antons Unterstützung, oder?«
»Na ja, die Sache ist etwas knifflig, ich könnte einen weiteren Senior Associate gut gebrauchen.«
Ebba schien nicht zu bemerken, dass er Charlotta vielsagend ansah, als erwarte er ihr Hilfsangebot. In Oscars Anfangszeit hatte sie ihm gerne bei seinen Fällen geholfen. Sie kannte es nicht anders, als dass man sich gegenseitig unterstützte. Doch bei Oscar beruhte die Hilfe nicht auf Gegenseitigkeit. Wenn er ihr ausnahmsweise mal seine Unterstützung angeboten hatte, war es letztlich Charlotta gewesen, die die ganze Arbeit machte, während er das Lob einheimste. Und bei seinen eigenen Fällen gelang es ihm immer wieder, die Drecksarbeit auf Charlotta abzuwälzen und es nach außen hin so aussehen zu lassen, als hätte er alles gemacht.
Doch diesmal würde sie sich nicht wieder über den Tisch ziehen lassen. Nach dem Frühstück hatte sie sich dazu entschlossen, Dessies Rat zu befolgen und den Gaia-Fall anzunehmen. Das war der einzige Fall, den Oscar vollkommen uninteressant finden würde, also würde sie sich ihm in Ruhe widmen können, ohne dass er sich einmischte. Der Fall war kompliziert. Mit Menschenrechten kannte sie sich nicht sonderlich gut aus, die Rechtslage war komplex. Sie würde nicht viel Zeit für anderes haben.
»Charlotta und ich sind ein gutes Team«, fuhr Oscar fort, als sie schwieg. »Ich finde, wir sollten diesen Fall zu zweit bearbeiten.«
»Gut«, sagte Ebba und machte sich eine entsprechende Notiz. »Dann übernehmt ihr beiden Grape On. Und was hast du für einen Fall mitgebracht, Charlotta?« Ebba blickte sie an.
Verdammt. Oscars Fall würde ihre gesamte Zeit fressen. Den Pro-bono-Fall jetzt vorzuschlagen wäre ein reiner Kamikaze-Akt. Aber sie würde nicht zulassen, dass er ihre Pläne zerstörte.
»Es ist ein Pro-bono-Fall.«
Oscar unterdrückte ein Prusten. Schnell blickte er Anton an, der überlegen grinste.
Charlotta versuchte, die beiden zu ignorieren, doch es versetzte ihr den gleichen Stich in die Magengrube wie jedes Mal. »Ihr habt vielleicht von der Klage gegen das Unternehmen Gaia gehört?«, sagte sie. »Ich kenne den Juristen der Stiftung, die die Arbeiter vertritt, das Gerechtigkeitsinstitut. Der momentane Anwalt der Arbeiter hat sich als befangen erklärt, und die Stiftung fragt an, ob wir Interesse hätten, den Fall zu übernehmen. Es ist immer schwierig, in einen laufenden Prozess einzusteigen, und die Gerichtsverhandlung soll schon in zwei Monaten sein, aber das Material ist weniger umfangreich, als man meinen könnte.«
Ebbas Augen hatten einen besonderen Glanz, als sie sie über ihre Brillengläser hinweg ansah.
»Vielleicht ist eine Einigung mit Gaia möglich, jetzt, wo …« Das Geräusch des Messers, mit dem Oscar ein Stück vom Hefezopf abschnitt, brachte Charlotta kurzzeitig aus dem Konzept. Er hatte abgeschaltet und setzte offenbar voraus, dass die anderen ebenso desinteressiert waren wie er. Oscar griff nach dem Gebäckstück, während er mit der anderen Hand auf seinem Handy herumtippte.
»… jetzt wo es einen neuen Anwalt gibt«, beendet sie den Satz, während Oscar das große Stück Hefezopf in einem einzigen Bissen hinunterschlang und weiter auf sein Handy starrte. Als er sich das nächste Stück abschnitt, raschelte er wieder mit dem Kuchenpapier. Charlotta musste sich anstrengen, um zu verstehen, was Ebba sagte.
»Das ist ja eine wunderbare Gelegenheit!«
Oscar hörte auf, mit dem Papier zu rascheln. »Die Pro-bono-Arbeit ist wichtig. Die Frage ist nur, ob wir dafür genug Kapazitäten haben«, bemerkte er mit vollem Mund.
»Wenn ich gewusst hätte, dass sie einen neuen Anwalt suchen, hätte ich sofort unsere Hilfe angeboten«, sagte Ebba, ohne von Oscar Notiz zu nehmen. Sie wirkte unerwartet enthusiastisch, Streitlust blitzte in ihren Augen auf. »Sehr gut, Charlotta. Wir treffen uns später noch einmal, dann können wir besprechen, was geschehen ist, seit sie die Klage eingereicht haben.« Sie suchte ihre Papiere zusammen und machte Anstalten, sich zu erheben, überlegte es sich dann jedoch anders. »Ach ja, wir müssen noch das Mandantentreffen im Mai planen. Bald sollen die Einladungen raus. Überlegt euch bis zur nächsten Woche gern noch ein paar Themen. Wir müssen sie sobald wie möglich festlegen, damit wir die Teilnehmer der Podiumsdiskussion buchen können.«
Das Treffen fand einmal jährlich statt und war ein hoch angesehenes Event für die Mandanten mit gewinnbringenden Diskussionen und anschließendem Beisammensein, das meistens bis tief in die Nacht ging. Im vergangenen Jahr hatte Ebba die Veranstaltung moderiert, während die übrigen Juristen der Kanzlei die Diskussionsteilnehmer eingeladen und die Gesprächsthemen vorbereitet hatten. Die Anwälte lieferten sich einen unausgesprochenen Wettbewerb, wer mithilfe seines Netzwerks die renommiertesten Teilnehmer rekrutierte. Als sie Oscars selbstgefälliges Lächeln sah, beschloss Charlotta, ihn mit ihren Vorschlägen zu übertrumpfen.
Nach dem Meeting ging Charlotta mit Sandra in deren Büro, um den Vertrag mit dem Gerechtigkeitsinstitut auszudrucken. Sie gingen an den gläsernen Wänden der Büros vorbei – quadratische Aquarien, in denen die Anwälte und Assistenten sich allmählich aufs Wochenende vorbereiteten. Eine Anwältin zog den Lippenstift vor der Mittagspause noch schnell nach, ein Kollege packte seine Sporttasche, und wieder ein anderer sah sich Katzenvideos auf YouTube an. Erstaunlich viel Zeit wurde in andere Tätigkeiten gesteckt, auch wenn den Mandanten Unmengen an Arbeitsstunden in Rechnung gestellt wurden. Dafür gab es Phasen, in denen die Anwälte beinahe ihre gesamte Zeit in der Kanzlei verbrachten. Die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit waren fließend, und wer sich ein paar Minuten entspannen wollte, musste das eben im Büro tun.