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Weihnachten unter dem funkelnden Sternenhimmel Schwedens.
Nora ist verzweifelt: Die Bäckerei ihrer Familie im beschaulichen Västervik steht vor dem Aus. Als Star-Konditor Henrik Eklund bei ihr im »Nymans« die Weihnachtsfolge seiner Sendung drehen will, kann Nora also schlecht Nein sagen. Sie braucht das Geld und die Publicity. Doch beim Backen von Safranschnecken und Pfefferkuchen kommen Henrik und Nora sich ordentlich ins Gehege – und dann plötzlich ganz nah. Es knistert gewaltig in der Backstube, aber weder Nora noch Henrik ahnen, welche schicksalhafte Vergangenheit sie verbindet ...
Ein zauberhafter Weihnachtsroman und eine herzerwärmende Liebesgeschichte aus Schweden.
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Seitenzahl: 561
Egal, wie Nora es dreht und wendet, ihre Bäckerei, in der einst gar ihre Großmutter arbeitete, ist kaum noch zu retten. Seitdem in Västervik ein weiteres neues Café aufgemacht hat, läuft es schlecht im »Nymans«. Da kommt die Chance, an der Fernsehsendung des berühmten Konditors Henrik Eklund teilzunehmen, geradezu wie gerufen – wenn Nora nur nicht solch große Vorbehalte gegenüber dem allzu gut aussehenden Fernsehstar hätte. Und tatsächlich gestalten sich die Aufnahmen des Weihnachtsspecials so, wie sie es befürchtet hat: Henrik möchte alles, wofür sie seit dem Tod ihrer Eltern hart gekämpft hat, auf den Kopf stellen. Kein Wunder also, dass Nora und Henrik schon bald mächtig aneinandergeraten. Dabei ahnt Nora nicht, was auch für Henrik bei dem Dreh auf dem Spiel steht, und dass sie mehr verbindet als nur die Liebe zu Zimtschnecken und Sauerteigbrot …
Heléne Holmström, 1984 geboren, ist Juristin und arbeitet seit dem Erscheinen ihres Debütromans als freischaffende Autorin. Sie schreibt Romane über große Gefühle, komplizierte Beziehungen und verworrene Vergangenheiten. Sie lebt mit ihrer Familie in Stockholm. »Zimt, Schnee und Sterne« ist ihr erstes Buch bei Rütten & Loening.
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Heléne Holmström
Zimt, Schnee und Sterne
Roman
Aus dem Schwedischen von Leena Flegler
Cover
Titel
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Titelinformationen
Informationen zum Buch
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1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel — 1945
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel — 1945
7. Kapitel
8. Kapitel — 1945
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel — 1945
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel — 1945
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel — 1945
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel — 1945
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel — 1945
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel — 1945
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel — 1945
34. Kapitel
35. Kapitel
36. Kapitel
37. Kapitel — 1945
38. Kapitel
39. Kapitel
40. Kapitel — 1945
41. Kapitel
42. Kapitel — 1945
43. Kapitel
44. Kapitel
45. Kapitel
Epilog — Der Tag vor Heiligabend
Impressum
Wer von diesem weihnachtlichen Roman begeistert ist, liest auch ...
Noras beste Freundin hatte das schlechteste Pokerface in ganz Småland. Deshalb war Nora auch sofort alarmiert, als sie abwinkte, und Bea sie weiter ganz ohne den üblichen flackernden Blick oder zuckende Mundwinkel ansah.
»Es stimmt wirklich.« Bea schaute sie erwartungsvoll an.
»Aber … Jetzt mal ganz langsam!« Nora wischte sich die mehligen Hände an einem rot karierten Geschirrtuch ab und holte tief Luft. »Ein Fernsehteam? In meiner Konditorei?«
Das hatte sie doch hoffentlich falsch verstanden? Misstrauisch beäugte sie ihre Freundin, doch allmählich dämmerte ihr, dass sich Bea mitnichten einen schlechten Scherz erlaubt hatte.
»Du weißt selbst, dass das Nymans eine Verjüngungskur braucht – damit hier endlich etwas passiert, damit sich irgendetwas ändert.« Bea untermalte ihre Aussage mit einer Geste. »Und jetzt wollen sie dich treffen und mit dir die praktischen Details durchgehen.« Sie zuckte mit den Schultern, als wäre es das Normalste der Welt, und nicht, als hätte sie Nora – ohne sie einzuweihen! – bei einer landesweit ausgestrahlten Reality-TV-Sendung angemeldet, die noch dazu das halbe Internet beschäftigte.
Nora hasste die Sendung Ärmel hoch, ohne sie je selbst gesehen zu haben. Ihr hatte allein schon der Trailer gereicht, in dem ein hochnäsiger Promibäcker durch das ganze Land tingelte und in die Jahre gekommene Bäckereien und Konditoreien wieder aufmöbelte. Doch Noras Konditorei Nymans – die älteste und beliebteste in ganz Västervik – brauchte keine Modernisierungsmaßnahmen. Das Nymans war eine Institution, es war Kult und eine Sehenswürdigkeit – eindeutig zu gut für ein albernes Fernsehformat.
»Ich wüsste nicht, was dieser Henrik Eklund hier im Nymans verändern sollte. Die Kundschaft mag es exakt so, wie es ist – und ich im Übrigen auch. So wie jetzt war es immer, seit meine Oma die Konditorei übernommen hat, und es wird auch immer so bleiben.« Nora sah Bea nachdrücklich an.
»Deine Großmutter hat das hier in den Sechzigern übernommen. Wird es da nicht langsam Zeit für ein bisschen frischen Wind?«
Nora schüttelte den Kopf, auch wenn sie hier und da insgeheim den gleichen Gedanken gehabt hatte. Die Kundschaft blieb zusehends aus, und ihr war klar, dass sie etwas unternehmen musste, doch bisher hatte sie weder die Zeit noch das Geld für größere Veränderungen gehabt. »Meine Eltern haben hier in den Neunzigern renoviert. Du weißt selbst, wie manche Kunden darauf reagiert haben.«
Bea stieß einen tiefen Seufzer aus. »Ich finde doch nur, dass dein Laden ein kleines Facelift gebrauchen könnte – aber er hätte auch die Aufmerksamkeit verdient, die das Ärmel-hoch-Weihnachtsspecial mit sich bringt.« Sie berührte Nora am Arm. »So könntest du dir vielleicht auch endlich einen weiteren Bäcker leisten – oder jemanden, der sich in Vollzeit um das Café kümmert. Du arbeitest rund um die Uhr, machst hier alles allein, und das schon seit Jahren! Das schafft keiner auf Dauer.«
»Du weißt genau, wie sehr ich solche Sendungen hasse. Ein Promibäcker, der für kleine Hinterlandbäckereien nichts übrig hat – was weiß denn der schon, was es bedeutet, hier eine Konditorei zu betreiben?« Nora drehte sich zu ihrem riesigen Arbeitstisch um und nahm ein Blech mit fertig gegärten Brotlaiben hoch. Sie wandte sich dem riesigen Ofen zu, in den sie kürzlich erst investiert hatte – eine Ausgabe, die ihre Konditorei um ein Haar in den Ruin getrieben hatte. Aber der neue Ofen war nötig gewesen. Der alte war in Betrieb gewesen seit … Tja. Seit ihre Eltern in den Neunzigern hier renoviert hatten. Und als Nächstes wäre die Lüftung dran. Auch die war bereits Jahrzehnte alt, was sich auch sofort bemerkbar machte, sobald der Ofen zu lange lief und man in der aufgeheizten Backstube kaum mehr Luft bekam. Das Einzige, was da noch half, war ein weit aufgerissenes Fenster.
»Hast du die Sendung überhaupt je gesehen?«, hakte Bea nach.
Schweigend zog Nora die Ofenklappe auf und schob das Backblech hinein. Sie musste erneut an den Trailer denken, in dem arme Bäcker als unfähig dargestellt und von »Starbäcker« Henrik Eklund lächerlich gemacht wurden.
»Das letzte Weihnachtsspecial hatte knapp eine Million Zuschauer«, fuhr Bea fort, als Nora immer noch nichts sagte. »Hast du eine Ahnung, welchen Aufschwung die anderen Bäckereien nach der Ausstrahlung erlebt haben?« Bea ging ihr hinterher, als Nora sich einem beiseitegestellten Blech mit fertigen Roggenmischbrötchen zuwandte und ihr Brotmesser über den Schleifstein zog. Als das Messer durch die knackige Kruste des ersten Brötchens fuhr, war ein leises Prasseln zu hören.
Ihr war klar, dass Bea für sie nur das Beste wollte. Ihre geliebte Konditorei stand kurz vor dem Bankrott, aber indem sie in Noras Namen eine Bewerbung an die Produktionsgesellschaft von Ärmel hoch geschickt hatte, war sie zu weit gegangen. Bea kannte sie besser als irgendwer sonst und wusste nur zu gut, dass Nora in ihrer Konditorei nie und nimmer jemand anderen ans Ruder lassen würde.
Bea stellte sich neben sie. »Du kannst zu dem Treffen nicht Nein sagen.«
»Ich weiß schon, dass das eine Chance wäre … Trotzdem geht das so nicht.« Nora drehte sich in Richtung Kühlkammer, zog die Tür auf, stellte den Fuß in den Spalt und streckte sich nach der Großpackung Butter und einem Päckchen Scheibenkäse. Dann kehrte sie an den Backtisch zurück und griff zum Buttermesser.
»Ich meine nur … Es könnte schwierig werden, Nein zu sagen, weil das Treffen nämlich schon heute ist.«
»Heute?!«
Bea lächelte betreten. »Ja. Sie kommen heute nach Västervik. Ich hab es dir nur bis zum letzten Moment nicht erzählen wollen.«
»Ich lasse es platzen.«
»Aber du hast doch heute Nachmittag diesen Termin bei der Bank«, wandte Bea ein.
»Und?« Nora blickte zu ihrer Freundin auf.
»Hast du nicht selbst gesagt, dass du drauf und dran bist, dein Kreditlimit zu überziehen? Bestimmt wollen die darüber mit dir reden.«
»Dann sage ich ihnen eben, wie es ist. Dass der Herbst schwierig war. Hier hat eine neue Espresso-House-Filiale aufgemacht, die Kundschaft abzieht – und dann diese hippe Bäckerei, die letztes Jahr eröffnet hat. Aber ich hab meine Stammgäste und einen treuen Kundenkreis.«
»Es war nicht nur ein schwieriger Herbst, Nora! Das halbe letzte Jahrzehnt war schwierig!«
Bea belegte die Brötchen mit Käse, ehe Nora Gurkenscheiben darauf platzierte – zwei pro Brötchenhälfte. Anschließend setzte sie die Hälften wieder zusammen, und Bea legte sie auf die Kunststofftabletts, die über dem Backtisch im Regal aufgereiht waren.
»Triff dich doch wenigstens mit diesen Leuten«, schlug Bea vor. »Es ist ja noch gar nicht sicher, ob sie das Nymans überhaupt dabeihaben wollen – aber so hättest du es zumindest versucht.«
Nora sagte dazu nichts.
»Bitte, Nora. Das hier könnte die Rettung für die Konditorei sein.« Bea nahm sie kurz in die Arme. »Ruf mich nach dem Treffen an, okay? Ich muss los, in zehn Minuten muss ich auf dem Revier sein. Aber ich leite dir gleich die E-Mail zu dem Treffen weiter. Um elf wollen sie hier sein.«
Nora musste einen bekümmerten Seufzer unterdrücken. Dass ihre beste Freundin Polizistin war und bei der Arbeit ihr Leben riskierte, war fast mehr, als sie ertragen konnte. Noch immer schweigend griff sie in den Mehlsack und bemehlte den Backtisch. Bea drückte Noras Schulter, ehe sich ihre Schritte in Richtung Hintertür entfernten, und die Tür letztlich ins Schloss fiel.
Nora ging zurück zur Kühlkammer und holte sich eine Portion des kalt gereiften Sauerteigs, den sie aus dem nunmehr hundertjährigen Anstellgut hergestellt hatte, das vor ihrer Mutter schon ihre Großmutter und deren Mutter benutzt hatten – eines von zahlreichen Dingen, die den Stolz ihrer Konditorei ausmachten. Sie kehrte an den Backtisch zurück und kippte den Teig auf die Arbeitsfläche, so dass das Mehl nur so stob, fuhr sich mit den mehligen Fingern durchs Haar. Ein Blick auf die Uhr – es war fünf vor fünf, gleich Zeit, den Laden aufzuschließen.
Sie hatte eine Bäckerin in Vollzeit angestellt, doch heute war Renées freier Tag, deshalb hatte Nora schon um vier Uhr früh in der Backstube gestanden und gearbeitet, bis um fünf Uhr der Cafébereich aufmachte. Danach backte sie weiter und bereitete alles vor, während sie nebenbei bis acht Uhr die Laufkundschaft bediente. Um acht kam eine Aushilfe, so dass sie sich bis mittags auf Kuchen, Gebäck und Süßigkeiten konzentrieren konnte. Dann machte sie Mittagspause. Um drei ging die Aushilfe wieder nach Hause, und Nora übernahm den Cafébereich bis Ladenschluss. Solche Tage waren in der Tat unerträglich anstrengend; wenn sie ihre Ladenöffnungszeiten beibehalten und gleichzeitig die Qualität der Backwaren aufrechterhalten wollte, bräuchte sie zwei zusätzliche Kräfte im Café sowie einen weiteren Bäcker.
So wie jetzt war es nicht immer gewesen. Erst ein paar Jahre zuvor hatte sie das Team verkleinern müssen und seither geschuftet wie eine Wahnsinnige. Mitunter fragte sie sich, wozu, wenn die Kundschaft trotz allem zusehends fernblieb …
Bald würden die ersten Handwerker zum Frühstücken kommen. Mit den belegten Brötchen eilte Nora nach vorn, schaltete die Kasse an, schloss die Ladentür auf und stellte das Schild vor die Tür: Kaffee und Käsebrötchen 25 Kronen. Ein und derselbe Text und Preis, seit ihre Großmutter hier Bäckerin gewesen war.
Draußen war es immer noch dunkel, und in der Kälte des herannahenden Winters hing leichter Nebel in der Luft. Sie erschauderte. Feine Schneeflocken, fast Eiskristalle, segelten auf sie herab und landeten auf ihren nackten Armen.
Sie kehrte in die Backstube zurück, wo sie hören konnte, wenn vorne das Glöckchen anschlug, und machte sich daran, den Sauerteig zu kneten. In den Rillen des alten Backtischs blieb Teig kleben. Sie formte drei Laibe, nahm das Blech mit den fertigen Broten aus dem Ofen und schob als Nächstes die Sauerteigbrote hinein. Unterdessen dachte sie darüber nach, was Bea gesagt hatte. War dies wirklich ihre letzte Chance? Wäre sie gezwungen, für eine Unterhaltungssendung zur besten Sendezeit ihre Seele zu verkaufen? Damit die Konditorei überlebte? Aber Bea hatte schon recht: Allein würde sie es nicht mehr lange schaffen.
Sie zog ihr Handy aus der Schürzentasche und googelte Ärmel hoch – was für ein bescheuerter Titel im Übrigen! Die jüngste Staffel war im Herbst gelaufen, die letzte Folge gerade erst ausgestrahlt worden, und in jeder Folge besuchten sie eine Bäckerei oder Konditorei, die Henrik Eklund wieder auf Vordermann brachte. Zusätzlich gab es Jahr für Jahr ein Weihnachtsspecial mit vier Folgen direkt vor Heiligabend, die in ein und derselben Konditorei spielten.
Sie klickte einen Mitschnitt aus der Trefferliste an, der damit begann, dass Henrik Eklund mit hochgezogenen Augenbrauen einem Bäcker erklärte, wie man überprüfte, ob ein Teig hinreichend gegangen und elastisch genug war. Als wüsste man das als Bäcker nicht selbst! Doch der arme Tropf zog leicht die Stirn kraus, nickte und sah aus, als hätte er all das noch nie gehört. Scripted Reality, so viel war klar. Und genau das wollte Nora nicht: im Fernsehen als Dummchen dastehen. Oder überhaupt ins Fernsehen kommen.
Sie tippte Ärmel hoch Weihnachtsspecial in die Suchmaske. Stattdessen wurde ihr Weihnachten mit Familie Eklund angezeigt, eine Art Sondersendung, die von Henriks Familie handelte. Die Bäckerdynastie mit Henriks Vater Hans Eklund an der Spitze feierte Weihnachten in einer vornehmen Villa, die bestimmt mehr gekostet hatte als sämtliche Einnahmen des Nymans, seit Noras Oma die Konditorei übernommen hatte. In der Sendung ging es zunächst um die Weihnachtsvorbereitungen. Henrik backte mitsamt Vater und Bruder Gewürzbrote und Safranschnecken fürs Luciafest und schwelgte in alten Erinnerungen. »Ich kann am besten reden, wenn ich Teig knete«, sagte er, während er den goldgelben Teig auf dem Backtisch bearbeitete. Dann stellte er Weihnachtssüßigkeiten her, und Stiefmutter Anita bereitete den traditionellen Weihnachtsschinken vor, während diverse Nichten und Neffen – wie Nora annahm – im Haus auf und ab flitzten. Eine Szene zeigte Henrik und Anita, die sich bei einem Fläschchen rubinroten Wein darüber kabbelten, wie der Schinken am besten zubereitet werden sollte; im nächsten Moment stürmten zwei lachende Kinder in die Küche, Henrik schloss sie in eine herzliche Umarmung und zerzauste einem der Blondschopfe die Haare. Seine Schwester kam dazu, nahm ihm lächelnd den rotwangigen Jungen ab, und anschließend versammelten sie sich vor dem Kamin, neben dem sich ein Tisch unter Bergen von Süßigkeiten bog. Ein riesiger Weihnachtsbaum – mit haufenweisen Geschenken darunter – stand im Erker, und rote Weihnachtsbaumkugeln schimmerten im Schein der Flammen und unzähligen Lichterketten, die um die dicht benadelten Zweige geschlungen waren.
Unwillkürlich verspürte Nora ein Ziehen in der Brust. Sie liebte Weihnachten heiß und innig, es war immer ihre Lieblingszeit im Jahr gewesen. Auch ihre Familie hatte feste Traditionen gehabt. Doch inzwischen war nur mehr Nora übrig. Obwohl die Einsamkeit rund um die Feiertage immer besonders spürbar war, hatte sie im Lauf der Jahre weiter Weihnachten gefeiert, als wären ihre Eltern noch da. Dass wirklich schon acht Jahre vergangen waren, seit ihre Mutter gestorben war … nur ein Jahr nach der Diagnose! Und ihr Vater war schon seit siebzehn Jahren tot – eine gefühlte Ewigkeit!
Als sie schon glaubte, der Mitschnitt wäre zu Ende, wurde noch ein Take-out abgespielt, in dem die Familie sich über eine Schachtel Aladdin-Pralinen hermachte und alle lachten, als Henriks Stiefmutter großzügig erlaubte, auch die zweite Lage Pralinen anzubrechen. Und wieder ein Ziehen in Noras Brust … Dieser Henrik hatte alles, einfach alles: eine Karriere als Bäcker, eine große, hinreißende Familie, Erfolg, keinerlei Geldsorgen.
Sie klickte die E-Mail an, die Bea ihr weitergeleitet hatte. Sie stammte anscheinend von der Projektleitung. Und offenbar wollte die sich heute nicht bloß die Konditorei ansehen, sondern auch Einzelheiten zum Ablauf besprechen. Und Nora würde diesen Henrik treffen. Die Projektleiterin betonte ausdrücklich, wie wichtig es für ihn war, die Person kennenzulernen, mit der er zusammenarbeiten würde. Die ganze E-Mail strotzte nur so von Anspielungen, wie phantastisch er war – der Promibäcker, der sich dazu herabließ, normalsterbliche Nicht-Fernsehstars zu treffen.
Das Türglöckchen klingelte, und sie legte ihr Handy beiseite, um den ersten Kunden des Tages willkommen zu heißen: Ingemar Larsson samt zusammengelegter Dagens-Nyheter-Ausgabe unter dem Arm, ein Stammgast seit Großmutters Zeiten und seit mehreren Jahren Frührentner.
»Morgen! Einmal Kaffee und Käsebrötchen bitte.«
»Du bist aber früh dran, Ingemar!«
»Tja, ich war schon um vier Uhr wach und konnte nicht mehr einschlafen.«
Nora suchte das Roggenmischbrötchen mit besonders viel Butter heraus, das sie eigens für Ingemar vorbereitet hatte.
Er zückte seinen Geldbeutel und starrte in das Geldscheinfach. »Tut mir leid, aber kann ich noch mal anschreiben lassen?«
»Aber klar.« Sie notierte die fünfundzwanzig Kronen unter Ingemars Namen in einen Block. Sie war dankbar für Stammgäste wie ihn, auch wenn ihr insgeheim klar war, dass sie sich auf lange Sicht nur über Wasser halten konnte, wenn sie mehr Kunden hatte, die teurere Waren wie Kuchen, Gebäck und ganze Brote kauften. Doch wenn heutzutage Abiturfeiern oder runde Geburtstage ausgerichtet wurden, kauften immer mehr Leute Torten im Supermarkt – sogar traditionelle Butterbrottorten, die zu Zeiten ihrer Großeltern zu deren wichtigsten Einkommensquellen gehört hatten. Dies hatte sich schleichend verändert, und anfangs hatte Nora noch angenommen, es läge am langsamen Niedergang der Cafékultur, doch inzwischen schienen sich die Leute einfach andernorts auf Kaffee und Kuchen zu treffen – sprich: in anderen Cafés.
Zwei Bauarbeiter betraten die Konditorei und bestellten ebenfalls je einen Kaffee und Käsebrötchen. Als sie sich mit ihren Tabletts an einen Tisch setzten, klopfte es leise an der Glastür. Jonathan, der Lieferant. Oder Gemüsetyp, wie sie und ihre Freundinnen ihn nannten. Nora nickte ihm knapp zu und verschwand in der Backstube, um die rückwärtige Tür aufzumachen.
Unterwegs warf sie einen flüchtigen Blick in den Spiegel auf der Personaltoilette, zog sich den Pferdeschwanz zurecht und kniff sich ein paarmal in die Wangen; warum hatte sie sich heute denn nicht geschminkt? Auch wenn sie kein bisschen an Jonathan interessiert war, wollte sie nicht aussehen wie ein Wrack. Dann eilte sie zur Hintertür.
Jonathan führte den Großhandel mit seinem Vater, und abwechselnd lieferten sie ihre Waren aus. Mit Jonathan hatte Nora heute nicht gerechnet, er war schon beim letzten Mal dran gewesen. Womöglich kam er ja ihretwegen? Es war schon ein paar Monate her, seit sie nach einem Abend im Harrys zusammen nach Hause gegangen waren. Er hatte ihr anschließend ein paar SMS geschrieben, doch Nora hatte jedes Mal ausweichend geantwortet.
Lächelnd packte er sofort mit an, trug Waren herein – Kisten voller Tomaten, Salat, Gurken und Paprika sowie Mehl, Hefe, Butter, Sahne und abgepackten Scheibenkäse – und reihte Kartons und Schachteln auf dem Backtisch auf.
»Also dann … Danke!«, sagte sie, als sie den letzten Karton mit Sauerrahm und Trinkjoghurt entgegennahm. Doch Jonathan machte keinerlei Anstalten zu gehen, trat nur von einem Bein aufs andere und schien um Worte verlegen zu sein. Solange er nicht fragte, ob sie noch mal auf ein Date gehen könnten … Irgendwen ein zweites Mal zu treffen war einfach nicht ihr Ding.
Sie wollte dem Drucksen gerade ein Ende setzen, indem sie einfach Tschüss sagte, als er sich räusperte. »Also … Ich kümmere mich ja um unsere Buchhaltung und wollte dich nur daran erinnern, dass die zwei letzten Rechnungen noch offen sind.«
Nora spürte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss.
Er räusperte sich erneut. »Aber du müsstest auch schon eine Mahnung gekriegt haben …«
»Oh. Also …« Für ein paar Sekunden wusste Nora nicht, was sie sagen sollte. »Entschuldige bitte! Ich kümmere mich darum, natürlich!«
Mit einem knappen Nicken wandte er sich zum Gehen. »Und falls du noch mal was trinken gehen willst …«
»Dann melde ich mich. Danke!« Sie schlug die Tür hinter ihm zu. Gott, den konnte sie wirklich kein zweites Mal treffen!
Sie nahm ihr Handy zur Hand und lief wieder nach vorn. Keine weiteren Kunden. Sie war sich ganz sicher, dass sie die Rechnungen beglichen hatte, und loggte sich in ihr Bankkonto ein.
Minus dreizehn Kronen. Die Überweisungen waren zwar hinterlegt, aber nicht ausgeführt worden.
Im selben Moment trudelte eine Nachricht von Bea ein.
Hab den Gemüsetypen gesehen, als ich gefahren bin – hat das Espresso House beliefert. War er auch bei dir?
Japp. Und hat zwei Rechnungen angemahnt. Anscheinend sind die nicht durchgegangen, schrieb Nora zurück. Nur gut, dass unser Techtelmechtel eine Weile zurückliegt, sonst hätte es sich angefühlt, als wollte ich in Naturalien bezahlen: zwei Kisten Gurken und einen Sack Mehl gegen Sex.
Hahahahaha, ich lache mich tot!, antwortete Bea.
Und ich heule gleich, tippte Nora. Und tatsächlich war sie den Tränen nahe.
Ärmel hoch könnte dich retten, schrieb Bea zurück.
Nora atmete tief durch. Wenn sie nicht einmal mehr die Rechnungen ihres Lieferanten bezahlen konnte, war die Lage ernst. So richtig ernst. Etwas musste geschehen, da hatte Bea zweifelsohne recht.
Sie wischte die SMS weg und rief den Webbrowser wieder auf, wo ihr erneut Henrik Eklunds lächelndes Gesicht am Ende des Ärmel-hoch-Clips angezeigt wurde. Es sah aus wie das reinste Hohngrinsen.
Henrik Eklund hielt auf das Ladenschild zu, das zwischen den Holzhäusern über der Straße hing. Nymans, stand da in rot leuchtenden Buchstaben über dem austauschbaren Konditoreischnörkel. Er hatte gerade eine E-Mail seines Vaters gelesen, die ihm nicht mehr aus dem Kopf gehen wollte. Schon seit Jahren drehten sie Weihnachten mit Familie Eklund in der Woche nach Abschluss der Dreharbeiten für das Ärmel-hoch-Special, so dass sie sich zeitlich nicht ins Gehege kamen, doch aus unerfindlichen Gründen hatte sein Vater die Produktionsfirma genötigt, ihre Familiensendung vorzuziehen, und jetzt kollidierte sie mit seinem Weihnachtsspecial. Dabei wusste sein Vater genau, wie Ärmel hoch terminiert war, doch er hatte anscheinend noch ein weiteres Projekt in Planung, das er angeblich nicht verschieben konnte.
In der Produktionsfirma hatte sich wohl irgendein Frischling um die Terminpläne gekümmert und nicht bemerkt, dass Henriks Drehplan nicht aufging; vielleicht ließe sich das ja lösen, doch der Sender wäre nicht begeistert. Der neue Executive Producer der Sendung bei TV24 – ein Mittdreißiger namens Don, der schon für den Schwestersender ein gehyptes Format produziert hatte, in dem sportliche Singles auf einer karibischen Sonneninsel tagsüber Wettkämpfe und abends Dates austrugen – war ohnehin schon genervt, weil der Zeitplan so knapp war, was er zwei Monate zuvor bei einem Lunchtermin auch deutlich zum Ausdruck gebracht hatte. Don, der eigentlich Robert hieß, hatte überdies betont, wie wichtig die Einschaltquoten in diesem Jahr wären und dass die Macher der Sendung auf »mehr Reality« setzen müssten. Somit brauchten sie so viel Drehzeit wie nur irgend möglich – und echte Gefühle.
Soweit Henrik wusste, waren die Zuschauerzahlen im Herbst zwar immer noch gut gewesen. Doch Quoten wurden derzeit hoch gehandelt, die Konkurrenz durch Streamingdienste wurde immer erbarmungsloser, und TV24 hatte Gerüchten zufolge kein gutes Jahr gehabt.
Hoffentlich würden dies einfache Dreharbeiten, und vielleicht könnten sie ja ein wenig Gas geben, so dass er ohne Reibungsverluste mit Weihnachten mit Familie Eklund anschließen konnte.
Als Henrik über die Schwelle trat, schlug ihm der typische Geruch einer schwedischen Bäckerei entgegen: Zimtschnecken, Kaffee und frisches Brot. Darüber hinaus sah die älteste Konditorei in Västervik exakt so aus, wie er sie sich vorgestellt hatte: terrakottarote Bodenfliesen, vergilbte Textiltapeten, eine hohe Verkaufsvitrine mit Edelstahlablagen, die von Backwaren nur so überquollen – von besagten Zimtschnecken, Plunderteilchen, Biskuittörtchen, massenhaft Feingebäck und Plätzchen. Daneben einfache Käsebrötchen mit dünnen Gurkenscheiben, ein paar Schinken-Käse-Baguettes – und Plastikschalen mit Nudelsalat.
Dass die Backwaren mit Liebe hergestellt waren, war ihm auf den ersten Blick klar, und trotz der abgelebten Einrichtung war der frühere Glanz der Konditorei immer noch zu erahnen. Ärmel hoch arbeitete lediglich mit Bäckereien und Konditoreien, die Potenzial hatten, und hier schienen die Vorzeichen zu stimmen: Es lief nicht mehr gut, aber man blickte auf eine erfolgreiche Geschichte zurück. Dass die Konditorei zudem in Västervik lag, schadete ebenso wenig. Er wusste schließlich, dass die Produktionsfirma gern idyllische Umgebungsbilder einstreute. Noch lag draußen kein Schnee, aber es gab das tiefblaue, winterliche Meer, karge Klippen und schaukelnde Fischerboote an abgeschiedenen Bootsstegen … und obendrein ein echt gutes Hotel. Henrik war schon so oft in mittelprächtigen Kleinstadthotels abgestiegen, dass er sich auf einen kleinen Luxusaufenthalt freute.
Elnaz – seit einigen Staffeln die Line Producerin der Sendung – saß an einem Tisch einer ihm unbekannten Frau gegenüber, vermutlich der Inhaberin der Konditorei. Sie blickte auf, lächelte aber nicht, schien ihn nicht einmal zu erkennen. Die Teilnehmer ihrer Sendung waren sonst überfreundlich und, wenn er ehrlich war, meist regelrecht geblendet, doch diese Frau sah ihn nur mit zusammengekniffenen Augen an, als wäre er hier nicht willkommen. Zumindest der junge Mann mit dem dunklen Haarschopf und wachen braunen Augen, der hinter dem Verkaufstresen stand, blickte ihm fröhlich entgegen und grüßte. Henrik erwiderte den Gruß und steuerte auf Elnaz und die missmutige Frau zu.
Sie sah abermals flüchtig hoch. Vielleicht sollte sie darüber noch einmal nachdenken – also über den berühmten ersten Eindruck. Andererseits würde sich eine verdrießliche Konditorin und Cafébetreiberin – obendrein eine Frau in den Dreißigern – im Fernsehen sicher gut machen. Die wäre etwas anderes als ein zuckersüßes, ergebenes Kleinstadtfräulein, mit dem die meisten Zuschauer wohl rechneten. Und anscheinend kam das den Producern gut zupass, Dons Botschaft war offenbar angekommen. Überdies spürte Henrik schon bei ihrem ersten Blickwechsel, dass er und die Kandidatin Konfliktpotenzial hätten – was dem Sender bestimmt mehr als recht wäre.
Anfangs hatte Henrik sich geweigert, den gleichen barschen Ton anzuschlagen, mit dem so viele TV-Köche und Fernsehgesichter erfolgreich waren. Ein solcher Umgangston passte besser zu Männern, die mit härteren Sachen zu tun hatten: mit Fleisch, Knochensägen und Küchenbeilen. Wenn man jemandem erklären wollte, wie italienisches Baiser auf eine Zitronencreme aufdressiert wurde, war Zorn schlicht und ergreifend fehl am Platz und passte ebenso wenig zueinander wie eiskaltes Eigelb und zimmerwarme Butter, wenn daraus eine Buttercreme werden sollte. Trotzdem hatte Henrik sich eine gewisse Schroffheit antrainiert, und die Zuschauer schienen den Kontrast seiner Härte zu all dem Süßen, Sahnigen, Luftigen sehr zu schätzen. Nichtsdestoweniger versuchte er, eher ehrlich und direkt als unhöflich zu sein. Unaufgefordert ehrlich, hatte seine Schwester und Managerin einmal dazu gesagt. Aber er konnte durchaus auch mal … unbequem werden.
Sein Vater fand das befremdlich. Sein Motto lautete: Hauptsache, man kam vor der Kamera sympathisch rüber, und das Publikum lag einem zu Füßen. Bei ihm hatte das stets funktioniert: Sein Publikum – ganz Schweden – vergötterte ihn, Hasse Eklund, den liebenswerten Bäcker, der stets ein Lachen auf den Lippen hatte und phantastische Backwaren kreierte. Er war in den siebziger Jahren zum Aushängeschild des Familienunternehmens geworden und hatte im Handumdrehen eine eigene Fernsehshow angeboten bekommen, in der er klassische Schwedenbrote und Hefegebäck herstellte und mit der er richtiggehend VIP-Status erlangt hatte.
Henrik blieb vor Elnaz und der Inhaberin der Konditorei stehen. »Hallo.« Er streckte die Hand aus, doch die Konditorin nickte bloß knapp. Elnaz hingegen sprang breit lächelnd auf, woraufhin die Konditorin sich ebenfalls erhob. Sie trug eine locker sitzende Jeans, eine fleckige Bäckerschürze über einem grauen T-Shirt mit geradem Schnitt sowie ausgetretene Nike-Sneakers. Die hellblonden Haare hatte sie sich zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden.
»Perfektes Timing«, sagte Elnaz. »Wir sind gerade fertig geworden.«
Henrik streckte der Frau noch immer die Hand entgegen. »Henrik Eklund.«
Er erhielt ein forciertes Lächeln zur Antwort. Dann schien sie sich einen Ruck zu geben und schüttelte ihm fest die Hand. »Nora Jansson.«
Elnaz sah sie abwechselnd an. »Ich muss leider sofort weiter, wir wollen noch Drehorte sichten, aber gut, wenn ihr euch schon mal miteinander bekannt macht.« Sie drehte sich zu der Frau um. »Wir telefonieren einfach später, in Ordnung?« Elnaz schlüpfte in ihre riesige, fluffige Daunenjacke und schlenderte in klobigen Dr. Martens nach draußen.
»Da drüben gibt’s Kaffee.« Nora, wie die Frau anscheinend hieß, nickte in Richtung der Kaffeemaschinen, die neben einem Rollwagen für Tabletts standen, und erst mit mehreren Sekunden Verzögerung dämmerte ihm, dass er gemeint war.
»Sprechen Sie mit mir?«
»Ja.« Sie verdrehte die Augen. »Wollen Sie auch etwas essen?« In einer leicht hilflosen Geste hob sie die Hände.
»Eine Zimtschnecke wäre nett.« Er nahm immer das Gleiche, wenn er vor den Aufnahmen zu Ärmel hoch erstmals eine Konditorei besuchte. Der Klassiker sagte viel über die Seele des Ortes aus. Einerseits waren Zimtschnecken der Stolz seiner eigenen Familie – mit dem Rezept von Henriks Großvater war die Firma Bakverk einst berühmt geworden. Andererseits gab es Zimtschnecken in schlichtweg jeder Bäckerei und Konditorei Schwedens, und selbst wenn es finanziell oder hinsichtlich neuer Ideen nicht sonderlich gut lief, konnte man immer noch gute Zimtschnecken backen.
Nora nickte dem jungen Mann am Verkaufstresen zu. »Hassan, könntest du unserem Gast bitte eine Zimtschnecke bringen?«
»Natürlich.« Vergnügt griff Hassan zu einer silbernen Gebäckzange. Als er die Zimtschnecke hochnahm, klimperte Hagelzucker in die Glasvitrine.
»Was haben Sie denn für Kaffee?«, fragte Henrik.
»Normalen Filterkaffee und Milchkaffee. Cappuccino geht auch«, antwortete Nora schmallippig.
»Ich meine, welche Bohnen verwenden Sie für Ihren Filterkaffee?«
»Normalen Gevalia-Kaffee in mittlerer Röstung. Drüben auf der anderen Straßenseite im Espresso House haben sie mehr Sorten: golden estate fantastic und einen echt tollen Arabica und eine limited edition extended wholesome dark brew, womöglich sogar royal luxury brillant brazilian chestnut deluxe, wenn Sie Glück haben. Gehen Sie nur rüber, wenn Sie eine größere Auswahl wollen.«
Henrik fehlten die Worte. Glaubte sie etwa, so etwas wäre lustig? Mit einem unterdrückten Seufzer wandte er sich zu den Kaffeemaschinen um, nahm die vollste Kanne zur Hand und befüllte eine blaue Steinguttasse bis zum Rand. Dann kehrte er an den Cafétisch zurück, und im selben Moment setzte Hassan ihm ein Tellerchen mit einer goldbraunen Zimtschnecke vor, auf der jede Menge Hagelzucker klebte.
Henrik setzte sich, pustete vorsichtig über den Kaffee und nippte daran. Er rechnete bereits mit dem typischen Gerbsäuregeschmack, doch der Kaffee war vollmundig und weich.
»Gut«, sagte er an Nora gewandt.
»Sie klingen überrascht. Die mittlere Röstung wird unterschätzt.«
»Sie ahnen gar nicht, wie oft einem schlechter Kaffee serviert wird.« Er biss in die Zimtschnecke, und auch die erwies sich als ausgezeichnet: Die buttrige Füllung wurde nach unten hin knackig, und der Teig war saftig und trotzdem luftig. Oft waren Zimtschnecken zu üppig, dabei wollte man nicht das Gefühl haben, gerade ein fettiges Butterbrot mit zu viel Belag zu essen. Allerdings war diese Schnecke riesig.
»Gut! Nur kleiner dürfte sie sein.«
Sie sah ihn beleidigt an. Dann wanderte ihr Blick zu einem Punkt über seinem Kopf, sie reckte den Hals und schaute sich demonstrativ um.
Er war sichtlich verwirrt.
»Ich frage mich nur gerade, wo die Kameraleute sind.« Sie zuckte mit den Schultern. »Mir war nicht klar, dass die Dreharbeiten schon angefangen haben.«
Immer noch schweigend sah er sie an und ließ den Sarkasmus an sich abperlen.
»Ich meine ja nur – Sie kommen direkt mit zig Kommentaren und Ratschlägen, um die ich nicht gebeten habe.«
»Ich weiß ja nicht, ob Elnaz Ihnen schon erzählt hat, dass morgen Leute von der Produktion vorbeikommen, sich ein bisschen genauer umsehen und einmal durch Ihr Sortiment futtern, um etwas zu finden, wozu ich eine Meinung haben sollte. Genau davon handelt die Sendung nämlich: dass ich Verbesserungsvorschläge mache.«
»Mhm. Nur ist es nun mal so, dass meine Kundschaft große Zimtschnecken haben will …«
»Inzwischen sind kleinere gefragt. Bei Bakverk beispielsweise wird alles kleiner, weil die Kunden unserer Cafés riesige Muffins und tellergroße Schnecken zu mächtig finden.«
»Und der Preis bleibt der gleiche, was?«
Herr im Himmel, mit dieser Frau zu drehen, würde alles andere als einfach werden!
»Aber so arbeite ich nicht.« Sie verschränkte die Arme vor der Brust.
»Verstehe. Und wie arbeiten Sie dann? Wenn ich es richtig in Erinnerung habe, läuft Ihre Konditorei nicht mehr sonderlich gut. Also muss doch etwas in Schieflage geraten sein.«
»Es war in den letzten Jahren ein bisschen zäh, aber das wird schon wieder. Ich brauche keine Hilfe.«
Er legte die Zimtschnecke zurück auf den Teller. »Und warum haben Sie sich dann beworben, wenn Sie allein klarkommen?«
Sie verstummte, sah kurz aus dem Fenster und dann wieder zu ihm zurück. »Sie stellen mich hier nicht als unfähig dar. Das mag mit anderen Teilnehmern klappen, aber nicht mit mir.«
Er sah sie interessiert an. »Darf ich fragen, ob Sie überhaupt an der Sendung teilnehmen wollen?«
Sie wirkte irritiert, fast schon feindselig. Dann schien sie sich halbwegs zusammenzureißen. »Wenn ich ganz ehrlich sein soll: Nein. Wer will schon aus freien Stücken an Ihrer Sendung teilnehmen?«
»Tatsächlich so einige. Wir kriegen Hunderte Bewerbungen, und das Weihnachtsspecial ist besonders beliebt.«
Sie sah ihn lange schweigend an. »Ich will einfach nur nicht im landesweiten Fernsehen wie eine Idiotin dastehen.« Sie holte tief Luft. »Außerdem war es meine Freundin, die sich in meinem Namen beworben hat, obwohl …« Sie seufzte. »Die Aufmerksamkeit wäre natürlich eine Chance, hier wieder alles in Ordnung zu bringen.«
Er nickte. »Danke für die ehrliche Antwort. Aber wenn Sie nicht teilnehmen wollen, gibt es zig andere.« Er nahm noch einen Schluck Kaffee. »Und ich habe leider keine Zeit, hier zu sitzen und eine scheiternde Konditorin zur Teilnahme zu überreden. Da bleibt uns wohl nur, den Nächsten auf der Liste anzurufen.« Mit einem Knall stellte er die Tasse ab.
Ihr klappte die Kinnlade runter, doch schon im nächsten Moment hatte sie sich wieder im Griff.
»Melden Sie sich bei der Projektleitung, wenn Sie es sich überlegt haben. So verschwenden wir keine Zeit.« Dann wickelte er die Zimtschnecke in eine Serviette und nahm sie mit, als er die Konditorei verließ.
1945
Mit einem lauten Zischen kam der Zug stotternd zum Halten. Die Waggons schwankten noch, Tuula geriet kurz aus dem Gleichgewicht, richtete sich aber sofort wieder auf und hielt die zwei Kinder fest an den Händen. Die Türen gingen auf, und sie ließ den anderen Fahrgästen den Vortritt, obwohl sie und die Kinder aus Angst, den Ausstieg zu verpassen, schon seit dem vorigen Halt an der Tür gewartet hatten.
Mit je einem Kind an der Hand stieg sie vorsichtig die steilen Stufen hinab auf den Bahnsteig und eilte dann allein zurück, um den großen Reisekoffer nach draußen zu schleppen. Auch wenn sie einst nur das Allernötigste gepackt hatten, war der Koffer bleischwer. Inzwischen enthielt er alles, was sie noch besaßen.
Sie atmete tief ein, um ihre Lunge von der stickigen Luft des Waggons zu befreien. Draußen roch es verbrannt nach Zugbremsen und Staub.
Aus dem nächsten Waggon strömte ein gutes Dutzend Kinder. Ein Junge, der kaum älter sein konnte als Matias, rannte sofort über den Bahnsteig. Eine Frau mit einem akkuraten Dutt – vermutlich die Bedienstete eines Kinderheims – lief ihm hinterher, während der Junge in einem fort nach seiner Mutter rief. Tuula zerriss es beinahe das Herz. Während die Frau ein Stück weiter den Jungen einfing, verstärkte sie selbst instinktiv den Griff um Matias’ und Ritvas kleine Hände.
»Au«, wimmerte Ritva, und Tuula lockerte den Griff wieder.
Sie hatte so viel verloren: ihren Mann, ihr Zuhause, ihr Heimatland. Aber sie hatte die Kinder, und die Kinder hatten sie. Sie waren zusammen, und Tuula tröstete sich mit der Vorstellung, dass all diese Kinder, die sich in diesem Moment auf dem Bahnsteig in eine Reihe stellten, ihre Eltern wiedersehen würden, sobald dieser elende Krieg vorbei wäre.
Zu dritt machten sie sich auf den Weg zur Ankunftshalle. Hier roch es genau wie zu Hause – nach Essen aus einem benachbarten Bahnhofslokal, nach dem Staub der davor verlaufenden Straße und nach dem festgetretenen Schmutz auf dem Steinboden. Gleichzeitig war alles anders: überall andere Schilder, andere Wörter, ringsum eine andere Sprache mit einer anderen Satzmelodie, die zu einem anderen Hintergrundrauschen beitrug.
Sie durchquerten die kleine Ankunftshalle. Der Essensgeruch wurde stärker. Roch es nicht nach Kartoffeln und Haxe? Ihr knurrte der Magen. Im Auffanglager, in dem sie zunächst gelandet waren, hatten sie zwar Essen bekommen, allerdings nicht solches. Nichts, was sie von zu Hause gewöhnt waren: richtiges Essen wie Schweinefleisch mit Zwiebelsoße und Kartoffeln, Weißkohlauflauf mit Wurst oder Fleischbällchen, die sie zuletzt, kurz bevor sie geflohen waren, mit Mohrrübenschnitzen versetzt hatte. Selbst als mehr rationiert werden musste, hatten sie sich mithilfe des eigenen Gartens und benachbarter Höfe einigermaßen versorgen können.
Quer über den geklinkerten Boden, auf dem ihre Schritte bis empor zum Deckengewölbe hallten, erreichten sie den Ausgang. Draußen auf dem Gehweg wartete Aino in der Frühlingssonne. Beim Anblick des krausen blonden Haares, nein, der ganzen Frau, die so viele Erinnerungen an zu Hause weckte, bekam Tuula vor Erleichterung ganz weiche Knie, doch dann atmete sie ein paarmal tief durch, und im selben Moment hatte Aino sie ebenfalls entdeckt. Die freundlichen grauen Augen leuchteten auf, und dann eilte sie auf sie zu und nahm Tuula fest in die Arme.
»Wie groß ihr geworden seid!« Warm lächelnd tätschelte Aino den Kindern die Wangen, bis sie nicht länger an sich halten konnte und auch sie in die Arme schloss. »Dich hab ich ja nicht mehr gesehen, seit du in den Windeln lagst!« Sie zerzauste Matias’ Haare.
Aino und Heikki hatten keine eigenen Kinder bekommen, und solange sie zu Hause in Rovaniemi Nachbarn gewesen waren, hatten sie Tuula nach Kräften unterstützt. Als Ritva gerade zur Welt gekommen war, war Aino ihr eine unersetzliche Hilfe gewesen, weil Tuulas Mutter Dutzende Kilometer entfernt wohnte und die Schwester mit ihrer eigenen Familie vollauf beschäftigt war. Dann waren Aino und Heikki nach Schweden gezogen, und Tuula hatte sie schmerzlich vermisst; damals war ihr geliebter Juhani gerade einberufen worden, Matias war noch ein kleines Baby gewesen und Ritva jüngst zwei geworden. Allein mit zwei Kindern, ohne Eltern in der Nähe und ohne Aino hatte Tuula sich einsam gefühlt, sich aber stets damit getröstet, dass Juhani bald zurückkommen würde, dann wäre die Einsamkeit nicht mehr ganz so schlimm. Allerdings wusste sie da noch nicht, dass sie schon bald Witwe wäre; aus irgendeinem Grund hatte sie sich das nie vorstellen können, obwohl ständig Frauen im Zuge des fortschreitenden Weltkriegs ihre Männer verloren. Sie hätte niemals geglaubt, dass sie einmal eine von ihnen werden könnte; es hatte sich schlichtweg zu unwirklich angefühlt.
Aino nahm Tuulas Koffer hoch.
»Nicht, Aino!«, protestierte Tuula. »Ich schaffe das schon.«
»Kommt nicht infrage. Du hast eine weite Reise hinter dir und ihn bis hierher geschleppt. Halt du deine Kinder fest, ich nehme den Koffer.« Aino hievte ihn hoch. »Hat alles gut geklappt?«
»Ja.« Tuula ahnte, dass Aino die letzte Etappe vom Auffanglager in den Süden meinte. Trotzdem blitzten vor ihrem inneren Auge Erinnerungen an ihre Flucht aus Finnland auf, an die chaotischen Stunden, nachdem sie den Evakuierungsbefehl bekommen hatten, und daran, wie sie ihre persönlichen Habseligkeiten zusammengeklaubt und ihr Heim, ihr Leben hinter sich gelassen hatten.
»Bis zur Wohnung ist es nicht weit«, trällerte Aino. »Und ich habe gute Nachrichten: Du kannst schon morgen deinen Dienst in der Bäckerei antreten!«
»Wirklich?« Tuula sah ihre Freundin dankbar an. Sie hatte kaum noch Geld und brauchte so schnell wie nur möglich Arbeit, um wieder auf die Füße zu kommen. »Und die Kinder?«
»Auf Ritva wartet die Schule und auf Matias der Kindergarten. Sie können gleich morgen dort anfangen.«
Obwohl die letzte Zeit die reinste Hölle gewesen war, verspürte Tuula einen Anflug von Hoffnung. So hell hatte es für sie schon lange nicht mehr ausgesehen. Seit Juhani gestorben war, war das Leben düster gewesen.
Sie bogen auf die Hauptstraße ab, gingen an flachen, verputzten Steinhäusern, rot gestrichenen Holzhäusern und einem Lebensmittelgeschäft vorbei. Vor ihnen tauchte ein Café mit einem kleinen Außenbereich auf, in dem Leute bei Kaffee und Tellerchen mit Hefegebäck saßen. Tuula spürte die Blicke. Alle starrten sie an.
»Drecksfinnen«, hörte sie jemanden fauchen, der auf einem Fahrrad an ihnen vorüberfuhr.
Tuula zuckte zusammen und sah aus den Augenwinkeln, wie Aino hocherhobenen Hauptes und mit kerzengeradem Rücken weiterging, dem Anschein nach ohne den Mann auch nur bemerkt zu haben.
»Es sind nicht alle flüchtlingsfreundlich«, erklärte Aino und bog in eine Nebenstraße ein. »Am besten ignorierst du sie einfach.«
Tuula nickte stumm.
Ein paar Kinder traten einen Ball gegen eine gemauerte Hauswand, und Matias verrenkte sich schier den Hals, um ihnen zuzusehen.
Vor einem Bretterzaun zwischen zwei Holzhäusern blieb Aino stehen. Eine weiß gestrichene Tür hing dort schief in den Angeln, und über den Zaun wucherte eine Kletterrose. Aino zog den Riegel zurück, stieß die Tür auf, und gemeinsam betraten sie einen kleinen Hof, in dem eine große Eiche ihren Schatten über ein gelb getünchtes Wohnhaus warf. »Da gegenüber, im Hinterhaus, dort zieht ihr ein. Wir wohnen bloß ein Stockwerk tiefer – was bestimmt gut ist, wenn du Hilfe mit den Kindern brauchst.«
Sie überquerten den gekiesten Hof, wuchteten die schwere Holztür zum Hinterhaus auf und stiegen die knarzende Treppe hinauf. Vor Ainos und Heikkis Wohnungstür blieben sie kurz stehen. »Heikki arbeitet ja jetzt im Bergwerk.« In ihrer Stimme schwang Stolz mit. Aino und Heikki waren immer schon fleißig gewesen – wie die meisten, die Tuula von zu Hause kannte. Deshalb war sie auch so erschüttert gewesen, als sie nach ihrer Flucht zu hören bekam, was die Schweden gemeinhin über die Finnen sagten: dass sie bloß soffen und in Schlägereien gerieten.
Dann hatten sie die kleine Dachwohnung erreicht. Zu viert fanden sie kaum Platz im Flur, und Tuula schlüpfte hinter Aino her in die Küche.
»Die Toilette ist unten im Hof. Ich hab ganz vergessen, sie euch zu zeigen! Aber hier oben habt ihr fließendes Wasser und Strom.« An der Stirnseite stand ein solider Herd und in der Ecke zudem ein Kamin, der im Winter die Kosten für die Heizpatrone gering halten würde.
Tuula sah sich in der Küche um. Rissige hellblaue Tapeten und abblätternde Farbe an den Zierleisten; die Fenster sahen aus, als wären sie seit dem Ersten Weltkrieg nicht mehr geputzt worden. Doch sie hatten ein Dach über dem Kopf, und hier wären sie sicher – zumindest, solange sich Schweden aus dem Krieg heraushielt.
»Und dort ist das Schlafzimmer.« Aino nickte in Richtung des Nachbarraums. »Dann lasse ich euch jetzt mal auspacken.« Sie wandte sich zum Gehen.
Tuula ging hinter Aino her und nahm ihre Hände. »Danke, Aino. Danke für alles!«
»Ist doch selbstverständlich! Alten Freunden muss man doch helfen, oder etwa nicht? Kommt nachher um sechs Uhr zu uns zum Abendessen.«
Tuula schüttelte den Kopf. »Das ist zu viel des Guten!«
»Nichts da. Richtet euch ein, und dann sehen wir uns in ein paar Stunden.«
Nachdem Aino die Wohnung verlassen hatte, packte Tuula die wenigen Sachen aus, die sie mitgebracht hatte. Die Kleidung der Kinder legte sie in einen klapprigen Schrank, der an der Schlafzimmerwand stand. Sie überreichte den Kindern ihr Lieblingsspielzeug, das sie noch in aller Eile in den Koffer geworfen hatte, bevor sie das Haus in Rovaniemi hatten räumen müssen. Matias umklammerte seinen Fußball und wollte am liebsten sofort hinaus auf die Straße zu den anderen Kindern.
»Nicht auf die Straße, aber in den Innenhof kannst du.«
Matias ließ die Schultern hängen und nickte. In Wahrheit wollte Tuula ihn gar nicht gehen lassen. Am liebsten sollten die Kinder hier oben bei ihr bleiben. Doch allmählich mussten sie anfangen, wieder ein so normales Leben wie möglich zu führen, und aus dem Küchenfenster konnte sie immerhin den Innenhof einsehen.
Seufzend sah sie sich um. Sie verzehrte sich nach ihrem geräumigen Haus mit dem Küchengarten und all ihren Blumen, nach der Wiese, die sich vor dem Fenster erstreckt hatte … Nichtsdestotrotz hatte sie Glück gehabt: Immerhin hatten sie eine Wohnung bekommen, Tuula würde arbeiten können, und das war mehr, als viele andere, die sie im Lager kennengelernt hatte, von sich sagen konnten. Sie durfte sich nicht beklagen.
Während Matias die Wohnung verließ, packte sie ihre Kleider und zuletzt das kleine Bündel aus Wollstrumpfhosen und einem Hemd aus, das sie um ein Einmachglas mit Anstellgut für Sauerteig gewickelt hatte. Das Glas stellte sie auf die Anrichte.
Das Anstellgut würde sie bald auffrischen müssen. Für die Handvoll Kronen, die sie noch besaß, würde sie ein wenig Mehl kaufen. Der Sauerteig war noch von ihrer Mutter, er sah nach wie vor gut aus, und als sie hatten packen müssen, hatte sie ihn zuallererst in den Koffer gelegt. Vorsichtig öffnete sie den Deckel und inhalierte den fein säuerlichen Geruch, der sie abermals an zu Hause erinnerte.
Außer dass er eine Erinnerung war, würde der Sauerteig sie obendrein mit nahrhaftem, leckerem Brot versorgen. Dazu wären nur Wasser und Mehl nötig, ansonsten konnte sie improvisieren – mit Roggenschrot oder zerstoßenen Haferflocken, sofern sie welche bekam.
Sie drehte sich zu Ritva um. »Magst du mich begleiten und Mehl kaufen gehen?« Das Mädchen nickte, legte sein Holzpferd beiseite und stand auf.
Sie liefen nach unten in den Innenhof, und Tuula rief nach Matias, der seinen Ball gegen die rot gestrichene Hauswand kickte. Mit dem Ball unter dem Arm kam er auf sie zugerannt, und zu dritt machten sie sich auf den Weg zum Dorfkern. Tuula ertappte sich dabei, wie sie den Kopf gesenkt hielt und den neugierigen Blicken auswich.
Im Lebensmittelgeschäft kaufte sie nur das Notwendigste: Eier, Milch, Käse, Butter und natürlich Mehl. Und damit hatte sie all ihr Geld ausgegeben. Zurück in der Wohnung fütterte sie ihren Sauerteig und formte aus der Masse zwei Laibe, während die Kinder erneut in den Innenhof verschwanden. Sie ließ die Laibe gehen und trug dann einen davon hinunter zu Aino und Heikki. Sie könnten ihn später aufbacken und hätten so tags darauf zum Frühstück frisches Brot.
Nach dem Abendessen brachte sie die Kinder ins Bett und schob den zweiten Laib in den Ofen. Kaum dass der Duft sich in der Küche ausbreitete, ließ sie zu, dass ihre Gedanken zurück in ihre Heimatstadt wanderten, in jene Stadt, die vom Krieg überrollt worden war, wie sie inzwischen gehört hatte. Vor Heimweh krampfte sich ihr die Brust zusammen. Gleichzeitig verspürte sie eine merkwürdige Ruhe am ganzen Leib und schloss die Augen, atmete den Duft des Brotes ein und sah ihr rotes Haus und Juhani vor sich, der mit einer dicken Brotscheibe in der Hand auf der Veranda stand.
Dieser verdammte Henrik Eklund! Er war wirklich genau so hochnäsig, wie sie befürchtet hatte. Okay, sie war vielleicht auch nicht gerade entgegenkommend gewesen, aber dass er sofort ihre Zimtschnecken kritisiert hatte, nur um im nächsten Moment das Weite zu suchen, war einfach nur überheblich. Nora saß im Besprechungsraum der Bank und wartete auf ihre Beraterin. Der Raum war mit hellem Holzmobiliar und großen Zimmerpflanzen eingerichtet, und durch die Glastüren konnte man eine komplett mit Pflanzen bedeckte Wand erahnen. Es fühlte sich an, als wäre sie im Amazonas-Regenwald gelandet.
Um sich die Wartezeit zu verkürzen, griff sie zu ihrem Handy. Sie überlegte kurz, ob sie Bea von ihrem Treffen berichten sollte, hatte aber keine Lust, sich über diesen Henrik Eklund auszulassen.
Hab gesehen, dass Maryam und Tess heute Abend nicht zum Floorball kommen, kannst du?, schrieb sie stattdessen in der Hoffnung, dass das Training stattfinden würde. Sie brauchte ein Ventil für ihren Frust.
Leider nein. Ahmat muss arbeiten, antwortete Bea postwendend. Nora war nicht überrascht. Sie war diejenige aus ihrer Clique, die am häufigsten zum Training erschien, obwohl sie so viel in der Konditorei arbeitete. Aber so hatten sie sich einst kennengelernt: Bea, Tess, Maryam und sie. Sie hatten in der Oberstufe im selben Verein angefangen und waren im Handumdrehen unzertrennlich gewesen. Nora war damals die Beste von ihnen gewesen, hatte auch am längsten weitertrainiert, war in der Damenmannschaft des Vereins gelandet und mit dieser sogar aufgestiegen, bis die Arbeit in der Konditorei für ihre Mutter zu anstrengend geworden war und Nora den Sport an den Nagel gehängt hatte. Doch einige Jahre zuvor hatten ihre Freundinnen und sie Anschluss an ein paar andere gefunden und spielten nun einmal die Woche vier gegen vier in einer Turnhalle, die sie günstig mieten konnten. Die anderen Frauen waren Kolleginnen von Bea bei der Polizei und allesamt mindestens fünf Jahre jünger, was sich konditionell bemerkbar machte – ihre Matches waren echt hartes Training.
Dann muss ich wohl auch absagen, wenn sonst niemand da ist und ein gemächlicheres Tempo anschlägt.;)
Sosehr Nora die körperliche Anstrengung brauchte und mochte, der Hauptgrund, warum sie zum Training erschien, waren ihre Freundinnen. Die Jüngeren waren nett, daran lag es nicht; sie erinnerten Nora an sich selbst in einem Alter, als noch alles darum gegangen war, unter der Woche hart zu arbeiten und an den Wochenenden ebenso kompromisslos zu feiern. Aber sie waren nun mal keine Freundinnen. Außerdem waren die anderen drei mittlerweile liiert, hatten eigene Familien gegründet, und die Floorball-Abende stellten für Nora ein Stück gemeinsame Vergangenheit dar, ein Stück Beständigkeit.
Im selben Moment, da sie die Nachricht abschickte, trat Anna ein – eine Frau in ihrem Alter, die bei der Bank für das Nymans zuständig war. Sie hatte sich einen Laptop unter den Arm geklemmt und balancierte zwei Kaffeebecher vor sich her, von denen sie einen vor Nora abstellte, den anderen an ihren eigenen Platz. Dann legte sie den Laptop daneben und quetschte ihren hochschwangeren Babybauch zwischen Stuhl und Tischkante.
»Danke, aber den hätten Sie doch nicht bringen müssen – ich hätte ihn auch holen können!« Nora legte ihr Handy beiseite.
»Ach, ein bisschen extra Bewegung tut mir nur gut.« Lächelnd schob Anna ihren Stuhl ein Stück näher an den Tisch heran, klappte den Laptop auf und tippte drauflos. »Wenn ich es richtig verstanden habe, möchten Sie mit mir über die finanzielle Lage der Konditorei sprechen?«
Sie tastete nach ihrer Brille, die an einer Nylonkordel um ihren Hals hing. Dass Leute so etwas immer noch benutzten … Vielleicht wurde das ja sogar wieder modern?
Nora räusperte sich. »Genau. Es ist nämlich folgendermaßen: Ich bräuchte einen höheren Dispokredit. Im letzten Sommer habe ich in einen neuen Ofen investiert und bräuchte jetzt zusätzliches Geld – in der Vorweihnachtszeit sind die Ausgaben üblicherweise ziemlich hoch.«
Anna nickte ernst, während sie etwas in ihren Laptop eintippte, die Stirn runzelte und zu überlegen schien. Dann sah sie zu Nora. »Tut mir wirklich leid, aber den Kreditrahmen können wir nicht höher setzen. Sie haben keinerlei Sicherheiten, die Konditorei ist bereits beliehen – und das bis zum äußersten Limit. Ich sehe gerade, dass Sie das Grundstück samt Ladengeschäft und Wohnung besitzen …« Anna verstummte und studierte etwas auf ihrem Laptopbildschirm. »Aber mehr, als Sie bereits beliehen haben, geht wirklich nicht.«
»Und was heißt das?«
»Das heißt, dass Sie … alle Möglichkeiten ausgereizt haben.« Anna tippte erneut auf die Tastatur ein. »Und nachdem Ihr Geschäftskonto derzeit im Minus ist, heißt das auch, dass Sie keinen Spielraum mehr für Ihre Geschäftstätigkeit haben.«
»Dann hab ich wirklich kein Geld mehr?«
Anna schüttelte den Kopf. »Aber wie sieht es denn derzeit in der Kasse aus? Oder mit Ihren Einkünften im kommenden Monat?«
»Ich hoffe natürlich, dass ich wieder ins Plus komme.« Nora seufzte schwer auf. »Das Problem ist nur, dass ich dringend Geld brauche. Mir stehen wie gesagt einige Ausgaben bevor, und …« Sie unterbrach sich. »Dann kann der Dispokredit wirklich nicht mehr erhöht werden?«
»Leider nicht.« Anna faltete die Hände. »Na ja, möglicherweise schon, wenn wir für die Zukunft Veränderungen erkennen könnten – größere Veränderungen, regelmäßige Bestellungen, etwa wenn Sie einen Vertrag mit einem Geschäftskunden schließen. Dann könnte ich vielleicht noch etwas für Sie tun.«
Nora dachte fieberhaft nach. Nichts dergleichen stand in Aussicht, und ihre Schultern sackten nach unten.
»Ich finde das ebenso unerfreulich wie Sie«, sagte Anna mitfühlend.
Nora war sich sicher, dass Anna es nicht annähernd so grässlich fand wie sie selbst.
»Es ist wirklich traurig, dass Kleinunternehmer auf diese Weise in die Knie gehen.« Anna stieß einen tiefen Seufzer aus. »Aber da kann ich leider nichts machen.«
Nichts machen? Das bedeutete, dass sie nichts mehr bezahlen könnte: weder die Warenlieferungen noch die Löhne. Was sollte sie denn jetzt tun? Die Konditorei dichtmachen? Ihr schnürte sich der Hals zusammen. Würde sie die Konditorei wirklich aufgeben müssen? Das Lebenswerk ihrer Großmutter, ein Familienunternehmen, das ihrer Mutter alles bedeutet hatte? Würde durch ihr Scheitern endgültig damit Schluss sein?
»Aber dann kann ich die Konditorei nicht mehr weiterbetreiben …« Allmählich fühlte sie sich zutiefst verzweifelt. »Wenn der Kredit nur ein klitzekleines bisschen erhöht und die Raten für ein paar Monate ausgesetzt würden, könnte ich das hier lösen – ich kann es lösen. Das hab ich auch früher schon gekonnt.« Damals, als sie im Zuge der Erkrankung ihrer Mutter die Konditorei übernommen hatte. Auch da hatte es schon geknirscht, allerdings hatte ihre Mutter nie etwas gesagt, und Nora hatte sich genötigt gesehen, alles umzukrempeln, Personal zu kündigen, den Wareneingang zu inventarisieren und neue Produkte einzuführen, für die es eine Nachfrage gab. Sie bewarb ihre Sauerteigbrote mehr denn je, weil Sauerteig zu jener Zeit der letzte Schrei war – oder vielleicht war der Trend da auch schon wieder vorüber, und das Nymans war zuallerletzt auf den Zug aufgesprungen. Trotzdem. Dies alles war ohne umwälzende Veränderungen passiert, sie hatte alles gegeben, um beizubehalten, was möglich war, so hatte es ihre Mutter gewollt, und so wollte Nora es auch. Seither war im Nymans alles glattgegangen – für ein paar Jahre. Bis dann diese hippe Bäckerei ganz in der Nähe eröffnete und ihnen diejenigen Kunden abspenstig machte, die Croissants und Kardamomschnecken wollten. Als der Ica-Supermarkt dann auch noch feine Torten und sogar Butterbrottorten ins Sortiment aufnahm, blieben noch mehr Kunden aus, und diejenigen, die nur einen schnellen Kaffee trinken wollten, gingen ins Espresso House. Sie hatte ganz einfach Pech gehabt. Unglückliche Umstände hatten dazu geführt, dass sie nun in dieser misslichen Lage war. Aber natürlich würde sie das Ruder herumreißen.
Anna seufzte erneut, und ihr Babybauch wackelte. »Ich weiß, dass Sie das schon einmal geschafft haben. Aber es fällt mir im Augenblick schwer, Veränderungspotenzial zu erkennen. Es läuft seit zwei Jahren nicht mehr rund, und wenn wir nicht alsbald eine deutliche Umkehr sehen, können wir Ihnen leider nicht mehr helfen.«
»Ich nehme an einer Fernsehsendung teil«, platzte es aus Nora heraus. »Ärmel hoch – vielleicht sagt Ihnen das etwas?« Sie begriff selbst nicht, warum sie das gerade gesagt hatte.
Anna war verblüfft. »Ach, Ärmel hoch?« Schlagartig sah sie interessiert aus.
»Ja, und laut Produktionsfirma haben frühere Konditoreien und Bäckereien schon im ersten Monat nach Ausstrahlung ihre Umsätze verdoppelt.« Das hatte sie dem E-Mail-Wechsel zwischen Bea und der Produktionsfirma entnommen.
Anna nickte bedächtig.
»Es wird übrigens das Weihnachtsspecial – und das ist wahnsinnig aufwendig. Sie fangen demnächst an zu drehen, ausgestrahlt wird dann Mitte Dezember.«
Anna lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. »Das verändert alles.« Sie lächelte breit. »Die Sendung ist wirklich wahnsinnig beliebt.«
»Und sie wählen nur Bäckereien und Konditoreien aus, die einen gewissen Qualitätsstandard haben und sie alle sind hinterher besser gelaufen. Einige sind sogar richtige Touristenmagneten geworden!«
»Stimmt.« Anna nickte. »Die Bäckerei außerhalb von Göteborg habe ich selbst mal besucht, die mit diesem Typen mit dem Innenhof voller Beeren. Das war richtig toll. Wenn ich mich richtig erinnere, mussten wir sogar Schlange stehen, um reinzukommen.« Dann nickte sie abermals. »Ich kann Ihren Kreditrahmen um einhunderttausend erhöhen. Allerdings brauche ich dafür von der Produktionsfirma etwas Schriftliches.«
Eilig rechnete Nora nach. Damit würde die Konditorei noch ein paar Monate überleben. »Danke!« Aber Himmel, sie musste ja auch noch die Lüftung erneuern! Eigentlich hatte sie vorgehabt, dafür einen weiteren Kredit aufzunehmen, aber diese Option fühlte sich gerade unendlich weit entfernt an.
Hoppla, schoss es ihr dann durch den Kopf. Sie hatte der Bank mehr oder weniger versichert, dass sie an Ärmel hoch teilnehmen würde – sie, die sich nicht mal mehr sicher sein konnte, ob sie überhaupt noch teilnehmen durfte. Henrik hatte sie immerhin nicht wahnsinnig sympathisch gefunden.
Sie holte tief Luft und bedachte Anna mit einem Lächeln. Dann würde sie jetzt wohl die Produktionsleitung anrufen und alles klären müssen.
Nun würden also die Bank und ein bescheuertes Fernsehformat die Konditorei retten … Es fühlte sich an, als hätte sie ihre Seele gleich doppelt verkauft.
*
Nachdem Nora am Abend das Café abgesperrt hatte, knetete sie Teig für zehn Sauerteigbrote. Wann immer sie frustriert war oder einfach nur Trost brauchte, nahm sie ihren Sauerteigansatz zur Hand, und da war es sogar nebensächlich, ob Renée bereits genügend gebacken hatte. Sie stellte sich trotzdem in die Backstube und knetete – und wenn sie zu viel herstellte, beschenkte sie einen der Stammgäste mit einem Laib oder brachte ihn einer Freundin mit.
Den frisch-säuerlichen, angenehmen Duft einzuatmen und den kühlen, weichen Teig unter den Fingern zu spüren war für sie wie Therapie. Augenblicklich fühlte sie sich in jene Zeit zurückversetzt, in der sie zusammen mit ihrer Mutter gebacken hatte. Auch von ihr war aller Stress abgefallen, wenn sie Teig geknetet hatte. Der Sauerteig hatte ihrer Mutter unendlich viel bedeutet, und wie oft hatte sie davon gesprochen, dass er einer Verbindung zu ihren Wurzeln und zu ihrer Kindheit in der Konditorei gleichkam. Nora bedeutete er ebenso viel. Außerdem erinnerte er sie daran, was sie einst gehabt hatte: eine Familie, Eltern, die sie bedingungslos liebten, einen Zusammenhalt, der so selbstverständlich war, dass sie ihn niemals infrage gestellt hatte oder sich auch nur hätte vorstellen können, dass er eines Tages nicht mehr da sein könnte.
Umarmungen müssen weich und Küsse hart sein. Mamas Worte. Dass ihr das ausgerechnet jetzt wieder einfiel. Aber genau so war ihre Mutter gewesen: entweder weich oder hart. Entweder liebte oder verteufelte sie andere. Ungefähr wie Nora selbst – und womöglich waren sie deshalb auch so oft aneinandergeraten, weil sie einander so ähnlich gewesen waren: immer randvoll mit Gefühlen.
Nachdem ihr Vater, der als eine Art Katalysator gedient hatte, gestorben war, war Noras Verhältnis zu ihrer Mutter nur intensiver, die Streitereien mitunter schlimmer, doch ihr Zusammenhalt trotz allem stärker geworden, und was sie miteinander verbunden hatte, hatte umso mehr Gewicht bekommen – die Trauer um Papa, aber auch ihrer beider Liebe zum Backen und zu der Konditorei.
Nora musste oft daran denken, was ihre Mutter ausgemacht hatte. Was für sie gestanden hatte. Lautes Lachen und frühes Aufstehen. Blumenkleider und Sommer – sofern sie nicht gerade in der Backstube stand. Nora hatte ein paar ihrer Lieblingsblumenkleider aufbewahrt; sie erinnerten sie an die Sommerferien.
Nachdem ihre Mutter gestorben war, war Nora überwiegend zornig gewesen, so ungeheuer zornig. Irgendwann nahm dann die Trauer überhand, um schon bald wieder in Zorn umzuschlagen. Und so war es seither geblieben. Sie war eigentlich die meiste Zeit übel gelaunt – vor allem bei der Vorstellung, was sie alles verpasst hatte: ihre Eltern besser kennenzulernen, sie altern zu sehen, ihr Leben mit ihnen zu teilen.
Sie würde die Laibe über Nacht ruhen lassen. Sie schloss hinter sich ab und spazierte zum Supermarkt. Sie wollte sich zum Abendessen einen Brillat-Savarin kaufen, der auf der Käseplatte vor Cremigkeit schier zerfloss, dazu einen vollmundigen Rotwein trinken, sich eine Debatte der Parteivorsitzendenden im Fernsehen ansehen und dann vielleicht noch eine Folge der Backsendung, die sie im Herbst oft verpasst hatte und in der die besten Konditoren des Landes sich einmal quer durch die beliebtesten schwedischen Torten backten … Hoffentlich war dieser Henrik nicht Teil der Jury! Aber selbst wenn: Sie würde bestimmt sowieso wieder vor dem Fernseher einschlafen. Sie hatte sich schon den ganzen Monat einen Wurst- oder Käse-Wein-Backshow-Fernsehabend vorgenommen, und immer hatte es damit geendet, dass sie bis spätabends in der Konditorei zu tun gehabt hatte oder vor ihrer Käseplatte eingeschlafen war.
Draußen war es längst dunkel geworden. Die Geschäfte entlang der Hauptstraße waren geschlossen, doch in den Restaurants herrschte reger Betrieb, so dass von dort warmes Licht auf den Gehweg fiel. Natürlich hatte auch das Espresso House geöffnet. Die konnten sich ausgedehnte Geschäftszeiten leisten, genau wie die hippe Bäckerei. Damit konnte Nora leider nicht konkurrieren.
Sie war früher am Tag bei der Projektleitung von Ärmel hoch nicht durchgekommen und hatte es stattdessen bei Elnaz versucht, doch die hatte ihren Anruf weggedrückt und kurze Zeit später eine SMS geschickt und versprochen, dass sie zurückrufen würde.