World of Warcraft: Wolfsherz - Richard Knaak - E-Book

World of Warcraft: Wolfsherz E-Book

Richard Knaak

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Beschreibung

DAS HERZ EINES WOLFS. Während die Welt Azeroth mit den Auswirkungen des Weltenbebens zu kämpfen hat, rüsten sich die Orcs unter der Führung des neuen Kriegshäuptlings Garrosh Höllschrei für einen neuen Feldzug gegen die Allianz. Deren schwer dezimierte Reihen könnten durch die Krieger der Worgen aufgefüllt werden, doch König Varian Wrynn sträubt sich gegen einen Einsatz der werwolfartigen Wesen. Aber wie wählerisch kann ein Monarch in Zeiten des Umbruchs sein? Basierend auf Blizzards Tophit "World of Warcraft"!

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Seitenzahl: 552

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BEREITS ERSCHIENEN

WORLD OF WARCRAFT: Wolfsherz

Richard A. Knaak – gebundene Ausgabe, ISBN 978-3-8332-2233-7

WORLD OF WARCRAFT: Thrall – Drachendämmerung

Christie Golden – gebundene Ausgabe, ISBN 978-3-8332-2232-0

WORLD OF WARCRAFT: Weltenbeben – Die Vorgeschichte zu Cataclysm

Christie Golden – gebundene Ausgabe, ISBN 978-3-8332-2132-3

WORLD OF WARCRAFT: Sturmgrimm

Richard A. Knaak – gebundene Ausgabe, ISBN 978-3-8332-2055-5

WORLD OF WARCRAFT Band 6: Arthas – Aufstieg des Lichkönigs

Christie Golden – ISBN 978-3-8332-2050-0

WORLD OF WARCRAFT Band 5: Die Nacht des Drachen

Richard A. Knaak – ISBN 978-3-8332-1792-0

WORLD OF WARCRAFT Band 4: Jenseits des Dunklen Portals

Aaron Rosenberg, Christie Golden – ISBN 978-3-8332-1791-3

WORLD OF WARCRAFT Band 3: Im Strom der Dunkelheit

Aaron Rosenberg – ISBN 978-3-8332-1640-4

WORLD OF WARCRAFT Band 2: Aufstieg der Horde

Christie Golden – ISBN 978-3-8332-1574-2

WORLD OF WARCRAFT Band 1: Teufelskreis

Keith R. A. DeCandido – ISBN 978-3-8332-1465-3

WARCRAFT Band 1: Der Tag des Drachen

Richard A. Knaak – ISBN 978-3-8332-1266-6

WARCRAFT Band 2: Der Lord der Clans

Christie Golden – ISBN 978-3-8332-1337-3

WARCRAFT Band 3: Der letzte Wächter

Jeff Grubb – ISBN 978-3-8332-1338-0

WARCRAFT: Krieg der Ahnen, Buch 1: Die Quelle der Ewigkeit

Richard A. Knaak – ISBN 978-3-8332-1092-1

WARCRAFT: Krieg der Ahnen, Buch 2: Die Dämonenseele

Richard A. Knaak – ISBN 978-3-8332-1205-5

WARCRAFT: Krieg der Ahnen, Buch 3: Das Erwachen

Richard A. Knaak – ISBN 978-3-8332-1202-4

Weitere Infos und Titel unter:

www.paninicomic.de/videogame

Wolfsherz

Von Richard A. Knaak

Ins Deutsche übertragenvon Mick Schnelle

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Amerikanische Originalausgabe: „WORLD OF WARCRAFT: Wolfheart“ von Richard A. Knaak, erschienen bei Gallery Books/Simon and Schuster, Inc., Oktober 2011.

Deutsche Übersetzung © 2012, 2016 Panini Verlags GmbH, Rotebühlstraße 87, 70178 Stuttgart. Alle Rechte vorbehalten.

Copyright © 2012, 2016 Blizzard Entertainment, Inc. Alle Rechte vorbehalten. „WORLD OF WARCRAFT: Wolfheart“, WORLD OF WARCRAFT, Blizzard Entertainment sind Marken und/oder eingetragene Marken von Blizzard Entertainment, Inc. in den USA und/oder anderen Ländern.

Übersetzung: Mick Schnelle

Lektorat: Andreas Kasprzak, Marion Zimmer

Redaktion: Mathias Ulinski, Holger Wiest

Chefredaktion: Jo Löffler

Umschlaggestaltung: tab indivisuell, Stuttgart

Titelillustration von Glenn Rane/Blizzard Entertainment

Satz und E-Book: Greiner & Reichel, Köln

YDWARC016E

ISBN 978-3-8332-3412-5

Gedruckte Ausgabe:

ISBN 978-3-8332-2522-2

1. Auflage, September 2012

www.paninibooks.de

Für alle Abenteurer da draußen …

DANKSAGUNG

Erneut möchte ich mich bei allen bedanken, die mir ihr Wissen bei diesem und allen vorangegangenen Romanen zur Verfügung gestellt haben. Mein herzlicher Dank gebührt Publishing Lead Mick Neilson und Story-Entwickler James Waugh, daneben Evelyn, Sean, Tommy, Joshua, George, Gina und allen anderen bei Blizzard, die mir geholfen haben. Ein besonderes Dankeschön auch an Glenn Rane für ein neues fantastisches Cover!

Nicht zu vergessen all jene, die an World of Warcraft arbeiten, egal in welcher Position, um es zum ultimativen Onlinespiel zu machen. Danke! Ihr arbeitet zwar hinter den Kulissen, doch ohne euch wäre dieser Erfolg nicht möglich.

Mein Dank gilt außerdem Chris Metzen für seine kreative Anleitung und weil er mir Azeroth vorgestellt hat.

Auf Seiten des Verlags gebührt mein Dank wie immer dem Team bei Simon & Schuster – Ed Schlesinger und Anthony Ziccardi.

Und schließlich ein herzliches Dankeschön an alle Leser, die meine Abenteuer auf Azeroth genießen!

Richard A. Knaak

PROLOG

NORDEND

In Doppelreihen mühten sich die grünhäutigen Krieger und zerrten an den dicken, straff gespannten Seilen, um einen riesigen Käfig auf Rädern langsam über die lange Rampe in das letzte der Schiffe zu befördern. Trotz Nordends ewigem Winter schwitzten die muskulösen Orcs. Ihre breitknochigen Gesichter verzerrten sich bei jedem Zug am Seil.

Wachen standen an der Rampe. In der einen Hand hielten sie Fackeln, in der anderen ihre Waffen. Der Blick ihrer braunen Augen war nicht auf die Arbeiter gerichtet, sondern auf einen großen verhüllten Käfig. Das würfelförmige Gebilde überragte sie deutlich. Seine äußere Hülle bestand aus einer großen Plane, die aus Ziegenhaut gefertigt worden war. Sie wies nicht das kleinste Loch auf, und es gab keinerlei Hinweis darauf, was sie verbarg.

Jedoch ließ sich einiges an der Tatsache ablesen, dass die Orcs die Ladung selbst transportierten. Auch wenn dieser Hafen abgelegen war, waren doch mehr als ausreichend Arbeitstiere vorhanden, wie die gehörnten, reptilienartigen Kodos, die problemlos die Arbeit der Orcs hätten übernehmen können. Sogar drei Mammuts gab es, die für gewöhnlich dazu benutzt wurden, mehrere Ladungen auf einmal zu transportieren. Doch diese Tiere waren von der Arbeit ausgeschlossen worden, und man hatte sie weit entfernt von den Kais untergebracht. Dort regten sie sich nun ängstlich. Die Nüstern der Kodos waren gebläht, und die Mammuts schwenkten aufgeregt die Rüssel, während die Tiere in Richtung der Schiffe starrten.

Mit einem gewaltigen Heulen schwoll der Wind plötzlich auf Sturmstärke an. Das Wetter in Nordend hatte nur eine Konstante, nämlich dass es schlecht war. Die Kais wurden erschüttert, als das Wasser der kalten See plötzlich in großen Wellen heranrollte. Die Schiffsrümpfe knarrten, und die Schiffe wurden hin und her geworfen.

Aus der Tiefe einiger Schiffe erklang ein schreckliches Brüllen und donnernde Geräusche. Die Besatzungsmitglieder dieser Schiffe rannten zu den Luken, die in die Laderäume hinunterführten. Ernste, erfahrene Seeleute und Krieger schauten sich ängstlich an.

Das letzte Schiff schaukelte nun ebenfalls wild hin und her, und der Landungssteg geriet zusehends in Bewegung, bis er schließlich zur Seite wegkippte. Mehrere Wachen und Arbeiter taumelten erschreckt ineinander.

Der Käfig bewegte sich. Im letzten Moment konnten die Orcs, die auf der wackeligen Rampe standen, verhindern, dass er in die See stürzte. Doch kaum hatten sie das geschafft, wurde er von innen her erschüttert. Ein Brüllen, das dem gleich war, das aus den Schiffen erklungen war, wenn auch um einiges tiefer, dröhnte durch den Hafen. Etwas machte sich daran, von innen an der Plane zu ziehen.

Die Wachen rannten herbei. Wer auf der Planke stand, versuchte verzweifelt das Gleichgewicht zu halten. Einem der Orcs gelang das nicht, und er fiel zwischen dem Kai und dem Schiff in das eiskalte Wasser.

Der Flottenkapitän, ein einäugiger, erfahrener Seemann namens Briln, hastete auf den Landungssteg zu und rief: „Sichert den Käfig! Lasst ihn nicht ins Wasser fallen! Haltet die Waffen bereit! Wo ist das Pulver? Wenn der Käfig beschädigt wird …“ Briln war mit zahlreichen kunstvollen Tätowierungen geschmückt, die von seinen vielen Reisen zeugten.

Der Käfig unter der fest verzurrten Plane wurde heftig erschüttert. Das schwache Licht der im Wind flackernden Fackeln reichte nicht aus, um sehen zu können, was geschah, doch das nervenaufreibende Kreischen von Metall war Briln Warnung genug.

„Die Speerträger nach vorn! Beeilt euch, ihr Abschaum! Zur rechten Seite des Käfigs!“

Zwei Wachen, die entweder ungestümer oder dümmer als die anderen waren, liefen näher an den Käfig heran. Von seiner Position aus konnte Briln nicht genau erkennen, was als Nächstes geschah, doch was er sah, reichte ihm vollkommen.

Der vorderste Orc stach mit dem Speer durch die Plane in den Käfig hinein. In der nächsten Sekunde schnappte sich etwas die Waffe und zog sowohl den Speer als auch den Orc durch einen immer größer werdenden Riss in der Plane.

Als das geschah, eilte der zweite Orc instinktiv hinzu, um seinem Kameraden zu helfen.

Etwas Dickes schoss durch den Riss.

Der Orc erkannte die Gefahr zu spät und wurde von der Landebrücke gepflückt, als wöge er nichts. Bevor seine Kameraden ihm zur Seite springen konnten, wurde er von einer riesigen Hand zerquetscht. Sein Blut spritzte auf die weiter hinten Stehenden.

Die Hand schleuderte den schlaffen, zerstörten Körper beiseite und zog sich hinter die Plane zurück. Aus dem Käfig ertönte ein Schrei des ersten Kriegers, der offensichtlich noch lebte.

Orcs mit langen, dicken Speeren eilten herbei, während Briln noch unterwegs war. Der Kapitän wusste, dass es bereits zu spät war.

Die Schreie, die ihn einen Augenblick entsetzt verharren ließen, hallten durch den Hafen von Nordend. Die Angst, die in ihnen zum Ausdruck kam, konnte man ebenso spüren wie hören. Es gab nur wenig, was einen Orc erschüttern konnte, und Furcht war ihnen fremd. Doch die Bestie, die bereits bei ihrer Gefangennahme einen hohen Blutzoll unter seinen Leuten gefordert hatte, schaffte es mit Leichtigkeit, ihnen Angst einzujagen.

Ein schreckliches krachendes Geräusch übertönte die Schreie. Die Orcs in der Nähe wichen einige Schritte zurück, als eine Flüssigkeit sie benetzte. Ein grässlicher Gestank folgte nur eine Sekunde später. Angewidert rümpften sie ihre Nasen.

„Speere! Speere!“, brüllte Briln immer wieder, während er näher kam. Der Kapitän blickte auf. Der Lichtschein der Fackeln erlaubte es ihm, durch den Riss in der Plane und zwischen den verbogenen Käfigstangen hindurch etwas zu erkennen. Die Stangen waren aus solidem Eisen geschmiedet worden. Selbst mit seiner gewaltigen Kraft hatte das riesige Tier es lediglich geschafft, das Gitter ein wenig auseinanderzudrücken. Für die beiden Wachen hatte das jedoch völlig ausgereicht.

„Wo ist das Pulver?“, rief Briln.

Ein weiterer Orc eilte mit einem Leinensack herbei, der so groß war wie eine Faust. Er trug einen rauen Stoff über dem Mund und der Nase und gab Briln etwas Ähnliches, der zwei dünne Schnüre dazu benutzte, den Schutz sicher auf seinem Gesicht zu befestigen. Die Maske war eine reine Sicherheitsmaßnahme. Nichts aus dem Sack sollte in Brilns Nase oder Mund gelangen, und es gab keinen Grund, unnötige Risiken einzugehen.

Der Kapitän war geneigt, den Orc seine Aufgabe erfüllen zu lassen, doch schließlich nahm er den Sack ungeduldig an sich. Aus dem Käfig drangen noch immer reißende Geräusche.

„Gebt mir Deckung!“ Der Kapitän brachte sich in Position und konzentrierte sich auf den Riss. Obwohl er schon vor Jahren ein Auge verloren hatte – im Verlauf einer Schlacht auf Kalimdor gegen die Allianzstreitkräfte, die unter dem Kommando des Menschenadmirals Prachtmeer gestanden hatten –, war Briln noch immer stolz auf seine Treffsicherheit.

Er atmete tief ein, und nun warf der verängstigte Orc den Beutel in Richtung des Risses.

Plötzlich kam ein kurzer, aber heftiger Windstoß auf, und Briln fürchtete schon, der Beutel würde sein Ziel verfehlen. Doch gerade so fiel er durch den Riss und in den Käfig.

Einen Augenblick später hörte der Kapitän ein leises plumpsendes Geräusch. Das Tier im Käfig stieß ein misstrauisches Knacken aus. Seine Kaugeräusche waren unverkennbar. Ein schwacher Pulvernebel drang durch den Riss nach außen, doch war er so schwach, dass sich die Orcs nicht sorgen mussten. Der Wind trug das wenige hinfort.

In dem Käfig fiel etwas Schweres, offenbar Feuchtes um. Briln wusste, dass es sich wahrscheinlich um die Überreste der Wache handelte. Aber dennoch hoffte der Kapitän, dass sein Plan gelang.

Das Tier stieß ein verwirrtes Grunzen aus. Plötzlich wackelte der Käfig heftig. Eine große Gestalt schlug von innen gegen die verbogenen Stäbe. Lautes Atmen war durch den Riss in der Plane zu hören, doch es war nichts zu erkennen.

Das Atmen wurde noch schwerer. Das Herz des Orcs pochte.

Einen Augenblick später gab es einen heftigen Schlag. Der Käfig erbebte und geriet beinahe wieder ins Rutschen. Nur die vereinte Kraft von beinahe zwei Dutzend Orcs verhinderte das.

Briln und die anderen warteten gespannt, doch es gab keinerlei Bewegung oder Geräusch mehr. Vorsichtig näherte sich der Kapitän dem abgedeckten Käfig. Wagemutig durchstach er die Plane.

Nichts geschah. Briln atmete erleichtert aus und wandte sich an die anderen. „Ladet das Ding an Bord. Dann biegt die Stäbe zurecht und bedeckt das Loch! Stellt sicher, dass immer ein Sack mit diesem Kräutergemisch zur Hand ist, das uns der Schamane gegeben hat. Bestäubt die Nahrung des Tieres damit! So etwas darf uns auf See nicht passieren!“

Die Orcs befolgten seine Befehle umgehend. Der Kapitän beobachte die Silhouetten der anderen Schiffe. Auf jedem einzelnen befand sich ebenfalls ein solcher Käfig. Der neue Kriegshäuptling Garrosh hatte befohlen, diesen Auftrag um jeden Preis auszuführen. Briln und die anderen hatten die Kosten dafür nicht infrage gestellt, da sie alle freiwillig für den legendären Oberanführer der Kriegshymnenoffensive gestorben wären. Garroshs Taten waren legendär und wurden in der Horde immer wieder erzählt. Zudem war er der Sohn von Grom Höllschrei und ein Berater Thralls, des Anführers der Orcs, der sein Volk aus der Gefangenschaft befreit hatte.

Egal, wie viele Leben es bereits gekostet hatte und wahrscheinlich noch kosten würde, Briln und den anderen war es jedes Opfer wert. Die Horde war dabei, ihre Bestimmung zu erfüllen. Sie hatte die Vitalität und den Schwung, die das veränderte Azeroth verdiente. Die bisherigen Machthaber waren dekadent geworden, zu weich und schwach. Die Horde dagegen – und ganz besonders die Orcs – würde letztlich ihren Anspruch auf die üppigeren Regionen anmelden, die sie nicht nur zum Überleben brauchten, sondern schon seit Langem verdienten.

Der vor Kurzem erfolgte Kataklysmus, so hatte Garrosh seinem Volk gesagt, war das große Zeichen, dass ihr Tag gekommen war. Die Welt war auseinandergerissen worden, und zu überleben bedeutete, sich an die vielen veränderten Bedingungen anzupassen.

Die Mannschaftsmitglieder hatten schließlich den letzten Käfig verladen. Briln sah zu, wie sie die Luke schlossen. Sie hatten eine große Menge Schlafpulver dabei, und es gab noch weitere Maßnahmen, um die Tiere unter Kontrolle zu halten. Der ältere Orc freute sich schon auf das Ende der Reise.

An Deck salutierte der Erste Maat. „Alles gesichert, Kapitän! Wir können losfahren, sobald Ihr den Befehl dazu erteilt!“

„Dann bringt uns hier raus“, knurrte Briln. „Je eher wir diese Fracht zu Garrosh bringen, umso schneller bekommt die Allianz Ärger …“

Der andere Orc grunzte zustimmend und gab Brilns Befehl weiter. Kurz danach löste sich das Schiff vom Kai.

Der Wind wehte stark, und Donner krachten immer wieder. Ein Sturm zog auf, das Letzte, was die Flotte jetzt gebrauchen konnte. Doch der Kapitän wusste, dass das nichts war im Vergleich zu dem, was die Feinde der Horde bald erleben würden. Briln starrte hinaus über das dunkle, wirbelnde Wasser, stellte sich das Ziel der Flotte vor und dachte daran, was seine Ladung bewirken würde, sobald Garrosh sie unter seinem Befehl hatte.

Einen Moment lang taten ihm die Verteidiger von Eschental fast leid, und er bedauerte die Nachtelfen beinahe.

Doch letztlich waren es nur Nachtelfen …

1. KAPITEL

DER WOLF

Tyrande Wisperwind wusste, dass die Welt niemals geheilt werden konnte. Todesschwinge, der große Schwarze Drache, hatte für alle Zeiten das Gesicht von Azeroth in einer Art und Weise geändert, die erschreckender war als die Zerschlagung – als der einzige Kontinent der Welt brutal zerrissen wurde. Die Hohepriesterin, die dieses epische Ereignis vor Zehntausenden Jahren miterlebt hatte, hatte geglaubt, nie wieder etwas derart Schreckliches erleben zu müssen.

Den wenigen, die ihr Volk nicht kannten, wäre die Nachtelfe mit dem mitternachtsblauen Haar, das elegant auf ihre Schultern fiel, höchstens wie zwei Jahrzehnte alt erschienen und nicht wie zehntausend Jahre. Doch ihre glitzernden silbernen Augen waren mit der Weisheit dieser Zeitspanne erfüllt. Sie hatte einige feine Falten nahe den Augen, doch die waren eher den Ereignissen während der vergangenen zehn Jahrtausende geschuldet als ihrem Alter.

Tyrande wandelte durch die üppigen Tempelgärten. Das Mittelstück – obwohl geografisch etwas westlich der Mitte von Darnassus gelegen – bestand aus mehreren Inseln von unterschiedlicher Größe. Das Licht des Vollmonds schien auf die Gärten herab und hüllte Tyrande in ein sanftes Leuchten. Dass dem so war, erschien weder der Hohepriesterin noch sonst jemandem, der sie kannte, als seltsam.

Sie hatte gehofft, hier draußen besser nachdenken zu können, um die auf ihr lastenden Probleme lösen zu können. Als Hohepriesterin suchte Tyrande Führung und Frieden von der Göttin Elune, auch Mutter Mond genannt. Dazu begab sie sich an einen Ort der Meditation im Tempel, der im Süden lag. Doch selbst die Ruhe im fortwährend vom Mond beschienenen Sanktum der Schwesternschaft – dem Herzen von Elune selbst, wie es einige nannten – war nicht ausreichend gewesen. So hatte sie auf die Ruhe der Gärten gehofft, wo der Tempel versagt hatte.

Doch obwohl die Gärten den Geist von Mutter Mond stärker verkörperten als der Tempel, konnte die Hohepriesterin in dieser Nacht keine Ruhe finden. Tyrande sorgte sich ständig um das anstehende Gipfeltreffen. Die Zeit der Versammlung näherte sich rasch, und sowohl sie als auch Erzdruide Malfurion Sturmgrimm – ihr Mitregent und Gefährte – fragten sich, ob das Treffen sich überhaupt lohnen würde.

Die Allianz stand einer neu aufstrebenden Horde gegenüber, die nun nicht mehr vom offensichtlich konfliktbelasteten Thrall geführt wurde, der den Frieden vielleicht zum Nutzen beider Seiten hätte bewahren können, sondern von einem neuen, ambitionierteren Kriegshäuptling. Garrosh begehrte die großen Wälder von Eschental und würde wohl kaum aufhören, nachdem dieses Land ihm und seinen Kriegern zugefallen war.

Obwohl er als Erzdruide ohne jegliche politische Ambitionen sich um die Wildnis von Azeroth kümmerte, hatte Malfurion getan, was er konnte, um die Einheit in der Allianz zu wahren. Doch Malfurion und Tyrande wussten, dass die Zukunft der Allianz völlig offen war. Es war an der Zeit, dass sich jemand ihren Zielen widmete und die Führung übernahm. Das war einer der Punkte des Gipfels, den Tyrande und Malfurion angesetzt hatten. Sie wollten herausfinden, ob sich jemand ermutigen ließ, die Führungsposition einzunehmen.

Natürlich war das Treffen sinnlos, wenn nicht alle Mitglieder daran teilnahmen, und es gab einige wichtige Parteien, die ihre Teilnahme noch nicht bestätigt hatten. Wenn sie nicht kamen, war kein Abkommen wirklich annehmbar.

Tyrande traf bei ihrem Spaziergang andere Priesterinnen, die sich ehrfürchtig vor ihr verneigten. Sie trugen silberweiße, ärmellose Roben, so wie sie. Tyrande hatte nur wenig Schmuck angelegt; sie brauchte keinen solchen Tand, um sich als Hohepriesterin auszuzeichnen. Alle kannten sie. Sie grüßte lächelnd zurück und nickte ihnen freundlich zu. Doch sie war so sehr in ihre düsteren Gedanken versunken, dass sie sie augenblicklich wieder vergaß.

Die schreckliche Vision von Todesschwinge, dem Zerstörer, und seinen Taten erfüllte ihren Geist und überwältigte sie beinahe. Ihr Herz pochte, und ihr Blut raste, als sie sich vorstellte, wie sich diese grauenhafte Tat auswirken konnte.

Das Treffen muss ein Erfolg werden, dachte sie ängstlich. Das ist die einzige Gelegenheit, den Untergang unserer Welt zu verhindern. Wenn nichts daraus entsteht, gibt es keine Hoffnung mehr auf ein weiteres Treffen. Dann ist es für uns alle zu spät …

Doch sie hatte noch keine Nachricht von drei wichtigen Mitgliedern der Allianz, darunter Sturmwind, erhalten. Wenn Sturmwind nicht an der Zusammenkunft teilnahm …

Um sie herum wurde Elunes Licht plötzlich immer stärker, bis es gleißend hell war.

Die Tempelgärten verschwanden.

Tyrande Wisperwind taumelte, fing sich jedoch rasch wieder. Ihre Augen weiteten sich. Eine neue Umgebung kam in Sicht, die nicht Teil von Darnassus war, der Hauptstadt der Nachtelfen. Sie stand nun an einem Ort weit entfernt, einem Ort, der eindeutig auf dem Festland lag, auf dem Kontinent Kalimdor. Tyrande hatte sich binnen eines Herzschlages an einen Hunderte Meilen entfernten Ort begeben.

Viel überraschender und erschreckender als diese Tatsache war, dass sie ganz eindeutig von einer Vision des Krieges umgeben war. Der Gestank des Todes war ihr vertraut, und geschwärzte Hügel, ihrer Größe und ihrem Aussehen nach von verstümmelten Leichen gebildet, waren überall zu sehen.

Was einst eine blühende Wildnis gewesen war – einige beschädigte Stämme zeigten, dass es sich um einen Wald gehandelt hatte –, war eindeutig im Verlauf mehrerer Schlachten verwüstet worden. Als die Hohepriesterin um ihre Selbstbeherrschung kämpfte, wurde ihr schnell klar, dass sie diesen Ort kannte und auch diese Zeit. Doch ob dieses Wissen aus ihrem Gedächtnis stammte oder von Elune, konnte sie nicht sagen.

Sie stand in der Mitte von Azeroths erstem wichtigen Kampf gegen die Brennende Legion, einer Schlacht, die vor mehr als zehntausend Jahren während des Krieges der Ahnen stattgefunden hatte. Dieser Krieg hatte mit der Zerschlagung geendet und dem Untergang von Zin Azshari, der Hauptstadt der Nachtelfen. Sie war in den Wassern versunken, die einst die Quelle der Macht ihres Volkes gewesen waren, dem Brunnen der Ewigkeit. Die Legion wollte jegliches Leben auf Azeroth vernichten und war diesem Ziel erschreckend nahegekommen, und das ironischerweise mit der Hilfe der Königin der Nachtelfen.

Die dämonischen Krieger drängten vorwärts. Die feurigen Höllenbestien bildeten die Vorhut. Den massiven Verbänden folgten die Teufelswachen und Teufelshunde. Erstere waren hoch aufragende, gepanzerte Krieger, letztere fürchterliche zahnbewehrte Bestien. Andere Dämonen kamen hinzu. Diese heimtückische Armee eilte ungehindert durch das Land, obwohl die Nachtelfe diese Begebenheit ganz anders in Erinnerung hatte. Alles, was die Dämonen berührten, ging in einer schrecklichen grünen Flamme auf, die jede dieser Monstrositäten umgab.

Tyrande suchte nach den Verteidigern, von denen sie wusste, dass sie hier waren: ihr eigenes Volk und die vielen fantastischen Verbündeten, die sich zusammengetan hatten, um die Vernichtung Azeroths zu verhindern. Doch sie konnte sie nicht entdecken. Nichts hielt die vernichtenden Kräfte auf. Das Land, ja die Welt war dem Untergang geweiht …

Jäh übertönte ein machtvolles Heulen das Geschehen. Die Hohepriesterin spürte, wie ihre Hoffnung instinktiv zunahm. Sie glaubte, dieses Heulen kennen zu müssen, da es ihre Seele berührte.

Die Dämonen zögerten, doch nur für einen kurzen Moment. Gleichzeitig stießen auch sie ein mächtiges Brüllen aus und drängten weiter vorwärts.

Aus der anderen Richtung erstreckte sich ein großer Schatten über die Landschaft. Tyrande ging bis zu seinem Ursprung.

Der Wolf war riesig, majestätisch und von einem so reinen Weiß, dass er wahrlich leuchtete. Er überragte alles andere. Das große Tier heulte wieder, und diesmal antworteten zahllose weitere Tiere irgendwo hinter ihm.

„Goldrinn …“, murmelte Tyrande.

Vom Anbeginn seiner Neuerschaffung durch die mysteriösen Titanen wurde Azeroth von Wesen bewacht, die derart mit der Welt verbunden waren, wie kein anderes Wesen es sein konnte. Die Drachen waren von den Titanen selbst ermächtigt worden, doch Azeroth ließ die Geister und Halbgötter aufsteigen, Kreaturen, die in ihrer Natur ewig waren, aber auch zum äußersten Opfer bereit. Vor dem Krieg der Ahnen hatte keiner dieser Beschützer je einer so schrecklichen Bedrohung wie der Brennenden Legion gegenübergestanden. Drachen waren in großer Zahl gefallen, und unter den Geistern und Halbgöttern hatten viele im letzten Gefecht den Tod gefunden.

Auch Goldrinn war unter ihnen gewesen.

Das blutige Geschehen vor ihr war keine exakte Wiederholung der Geschichte. Tyrande erkannte schließlich, dass sie instinktiv nicht nur um ihre Welt fürchtete, sondern auch um den Wolf, der sie beschützen wollte. Elune hatte diese eindringliche Szene gewählt, um ihr etwas zu sagen. Doch die Hohepriesterin wusste nicht, was es war. Sollte sie zusehen, wie sich Goldrinn erneut opferte?

Mehrere Dämonen näherten sich dem riesigen Wolf, der sie herausfordernd anknurrte. Die Angreifer kamen über ihn. Mit lautem Knurren sprang ein großes Rudel Wölfe aus der Leere hinter Goldrinn hervor. Sie jagten durch die Landschaft, geschmeidige haarige Jäger, die bereits ihre Beute abschätzten. Auch wenn sie nicht so groß wie die meisten Dämonen waren, griffen sie voller Wut und Entschlossenheit an.

Die beiden Streitkräfte prallten aufeinander. Die Dämonen kämpften mit Klingen, Äxten, Zähnen, Krallen und allem Möglichen mehr und wussten ihre Waffen gut einzusetzen. Zuerst schien es, dass die Wölfe nur Krallen und Zähne hatten, doch ihre Zähigkeit und Schnelligkeit waren unübertroffen. Sie schossen unter ihre düsteren Feinde, schnappten und töteten sie, wo immer sie eine Lücke fanden.

Goldrinn stand ganz vorne. Der große Wolf packte eine Teufelswache mit dem Maul und biss zu. Grüne Flammen schlugen aus dem Tier, als es sich entzündete. Zugleich tötete er mit seinen Krallen einen weiteren Feind.

Zwei Wölfe erledigten einen axtschwingenden Gegner, der einen ihrer Artgenossen aufgeschlitzt hatte. Die Wölfe rissen dem Dämonen die Arme aus, dann zerfetzte ihm einer die Kehle. Sofort fielen andere Dämonen über sie her und überwältigten die beiden.

Tyrande wollte in den Kampf eingreifen, konnte sich jedoch nicht bewegen. Sie konnte nur hilflos zusehen, wie immer mehr Wölfe starben, und obwohl sie viele Gegner in den Tod mitnahmen, linderte das Tyrandes Angst um sie nicht.

Immer mehr Dämonen konzentrierten sich auf Goldrinn. Sie wussten genau, dass er die Wölfe anführte. Die Dämonen versuchten, ihm die Gliedmaßen abzuhacken oder ihn zu Boden zu zerren, um in seine Kehle beißen zu können. Doch Goldrinn schüttelte sie ab und schleuderte einige so weit fort, dass sie in ihre eigenen Reihen fielen und ihre Kameraden umrissen. Mit seinen Zähnen erwischte der riesige Wolf einen Dämon nach dem anderen. Einige biss er in Stücke wie den ersten, andere schüttelte er so lange, bis sie in mehrere Teile zerrissen. Goldrinn kämpfte sich durch die Reihen der Brennenden Legion, sein Rudel stets an seiner Seite.

Blutige Wolfsskelette und auseinandergerissene Dämonenleichen bedeckten bereits das Schlachtfeld, doch die Zahl der Kämpfenden auf beiden Seiten erschien unverändert. Ein weiterer Wolf wurde getötet, und weitere Dämonen griffen Goldrinn an. Doch der riesige Wolf war unerschrocken. Er schickte einen Feind nach dem anderen in den Tod und hinterließ wahre Leichenberge.

Mutter Mond, warum zeigst du mir das?!? Die Hohepriesterin wollte Goldrinn zu Hilfe eilen, konnte jedoch immer noch nicht mehr tun, als das Geschehen zu beobachten. Lass mich entweder teilnehmen, oder sag mir den Grund für dieses endlose Gemetzel, bitte!

Doch der Kampf ging unvermindert weiter, und schlimmer noch: Die Ereignisse nahmen für Goldrinn eine ungute Wendung. Von allen Seiten bedrängt, konnte der Wolf nicht sämtliche Gegner abwehren. Die Dämonen trafen ihn immer wieder, und die wachsende Zahl seiner Wunden begann schließlich von dem großen Ahnen ihren Tribut zu fordern.

Einer der Teufelswachen gelang es, auf den Rücken des Wolfs zu klettern. Der feindliche Krieger, dessen Augen vor Vorfreude grün blitzten, hob seine Waffe und traf den Wolf ins Rückgrat.

„Nein!“, schrie Tyrande und musste mit ansehen, was geschah. Sie kannte diesen düsteren Moment, obwohl sie die Details nie miterlebt hatte.

Goldrinn stieß ein schmerzgeplagtes Heulen aus. Seine Beine brachen unter ihm weg. Dämonen bedrängten ihn in großer Zahl.

Zu seiner Rechten sprang ein brauner Wolf in die Höhe. Obwohl er nicht sehr groß war, schaffte es das Tier nicht nur, Goldrinns Rücken zu erreichen, sondern auch den Dämon, der ihn so schrecklich verwundet hatte.

Die Teufelswache drehte sich um, als der Wolf sich näherte. Der Dämon versuchte den Neuankömmling loszuwerden, doch der geschmeidige Wolf schoss unter der Klinge der Axt hindurch, verbiss sich in die Beine der Teufelswache und brachte den Feind zu Fall.

Als der Dämon auf Goldrinns Rücken krachte, verlor er seine Waffe. Die Teufelswache versuchte aufzustehen, doch der Wolf war bereits über ihr.

Mit einem wilden Biss riss der Wolf dem Dämon die Kehle in Fetzen.

Als der Leichnam zur Seite rutschte, heulte der kleinere Wolf, blickte hinab und sprang. Er landete auf einem anderen Dämon, der Goldrinn drangsalierte, und riss dessen Brust auf.

Nun begannen auch andere Tiere aus dem Rudel, sich der Führung des niederen Wolfs anzuschließen und die Dämonen anzugreifen, die Goldrinn vernichten wollten. Die Brennende Legion war gezwungen, vom Wolfsahnen abzulassen, und wurde nun tatsächlich zurückgedrängt.

Doch es war zu spät für Goldrinn. Der Ahne schaffte es noch, aufzustehen und einen Dämon zu zerreißen. Er biss durch die Rüstung und spuckte die Teile aus. Doch dann kollabierte er. Einige seiner Feinde unter seinem riesigen Körper begrabend, blieb er reglos liegen.

Goldrinn starb wie vor zehntausend Jahren.

Scheinbar unbeeindruckt von dem schrecklichen Verlust stürmte der dunkelbraune Wolf vorwärts und stellte sich vor Goldrinns Leichnam. Weitere niedere Wölfe gesellten sich zu ihrem Rudelmitglied und wurden nun zu Rächern ihres Herrn.

Ein dämonischer Krieger nach dem anderen starb unter den Zähnen und Krallen des braunen Wolfs. Er heulte wild, und sein Schrei war nun so laut wie der von Goldrinn. Er schien auch größer geworden zu sein und war mittlerweile doppelt so groß wie die anderen Wölfe.

Die Brennende Legion richtete ihre Aufmerksamkeit auf ihn, doch das schien den braunen Wolf nur noch zu ermutigen. Er nahm es mit jedem Dämon auf, der ihn angriff, und hinterließ eine zerfetzte Leiche nach der anderen. Da so viele Dämonen um einiges größer waren als er, erhob sich der Wolf auf seine Hinterbeine, um einen Arm oder gar einen gesenkten Kopf erwischen zu können. Seine Krallen schlitzten die Rüstungen und das Fleisch seiner Gegner wie Messerklingen auf.

Die hilflose Tyrande keuchte. Je länger sie auf den tapferen Wolf starrte, desto wohler schien er sich auf zwei Beinen zu fühlen. Die Krallen seiner Vorderpfoten lagen so dicht beieinander, dass sie wie eine wirkten, und schienen mit jedem Schnitt zu wachsen.

Das war anders, als es die Hohepriesterin in Erinnerung hatte, und ihr war augenblicklich klar, dass die Geschichte sich nun verändert hatte. Das war es, was Elune ihr tatsächlich zeigen wollte … Doch was es bedeutete, war für die Nachtelfe noch immer ein Rätsel.

Die Krallen des Wolfs wurden abrupt zu einem großen Schwert und der braune Wolf zu einem Menschen, einem bewaffneten Krieger, dessen Gesicht die Hohepriesterin nicht erkennen konnte. Mit dem Rudel in seinem Gefolge fuhr er fort, die Brennende Legion zu bekämpfen. Sein todbringendes Schwert fuhr ein ums andere Mal herab.

Eine erschreckende Reaktion auf Seiten der Dämonen erfolgte nun. Sie verwandelten sich und wurden zu Feinden, die weitaus bedrohlicher waren, nämlich zu Orcs.

Diese Veränderung geschah, ohne dass die daran Beteiligten sie bemerkt hätten. Die Wölfe zerrten an den Orcs, als wären sie immer schon der Feind gewesen.

Als er einen weiteren Gegner zu Fall gebracht hatte, hob der schattenhafte Krieger sein Schwert und stieß einen triumphierenden Schrei aus, der Reste eines Wolfsgeheuls in sich trug. Das Wolfsrudel drängte weiter, doch nun standen die Tiere auf ihren Hinterbeinen, und ihre Vorderpfoten wurden zu Händen, die Äxte führten, Keulen und andere Waffen. Wie ihr Anführer waren sie nun menschlich, doch noch weitaus düsterer als er.

Die Orcs waren sichtlich verwirrt. Ihre Zahl nahm zusehends ab. Der anführende Krieger stieß einen zuversichtlichen Ruf aus, um seine Krieger zu ermutigen.

Hinter der Kampflinie, aus der Richtung, wo der Leichnam des Wolfsahnen lag, ertönte wie zur Antwort ein lautes Heulen. Tyrande wandte ihren Blick dorthin – und sah zwei Goldrinns. Der erste war der Leichnam des getöteten Tiers, der zweite ein herrlicher, durchsichtiger Geist, der erneut siegesgewiss heulte.

Obwohl der Wolfsgeist wie Nebel war, war noch etwas anderes in ihm, etwas Festeres und entfernt Vertrautes …

Erschrocken erkannte die Hohepriesterin, dass sie den düsteren Anführer anblickte, trotz der Tatsache, dass er sich an vorderster Front hätte befinden müssen. Blinzelnd bemerkte Tyrande, wie sie tatsächlich die Front betrachtete. Beide Bereiche waren plötzlich miteinander verschmolzen. Goldrinns geisterhaftes Antlitz schwebte über seinem Helden, der jetzt zu wachsen schien.

Ein Orc rannte zwei Äxte schwingend auf den Helden zu. Der Krieger wehrte die erste Axt ab, tat dasselbe geschmeidig mit der zweiten, und mit einem gewaltigen Hieb trieb er seine Klinge tief in die Brust des Orcs.

Blut spritzte aus der klaffenden Wunde, als der Held seine Waffe aus dem Gegner herauszog. Der Orc starrte ungläubig drein und taumelte. Seine Augen blitzten. Die Äxte fielen aus seinen zuckenden Fingern.

Der massige Orc stürzte auf die Knie. Sein Körper bebte, und Blut rann aus seinem Mund über das Kinn und die gewaltigen Hauer.

Der düstere Krieger trat einen Schritt zurück.

Der Orc kippte langsam vornüber und schlug mit dem Gesicht vor den Füßen seines Gegners auf dem Boden auf. Als er starb, tat das auch der letzte seiner Kameraden.

Die Schlacht war vorbei.

Der geisterhafte Goldrinn stieß erneut ein Heulen aus. Nun verschmolzen er und seine Krieger. Zur selben Zeit wandte der düstere Krieger seinen Blick auf Tyrande. Sein Gesicht war endlich sichtbar …

In diesem Moment kehrte die Hohepriesterin in die Tempelgärten zurück.

Tyrande schwankte kurz, gewann jedoch schnell wieder die Fassung zurück. Niemand war zu sehen. Vielleicht war es Zufall, vielleicht aber auch Elunes Absicht. Tyrande vermutete, dass in der sterblichen Welt nicht einmal eine einzige Sekunde vergangen war.

Die Hohepriesterin fragte nicht, warum sie plötzlich diese Vision gehabt hatte. Elune hatte eindeutig gewünscht, etwas von solcher Dringlichkeit zu vermitteln, dass es nicht warten konnte. Tyrande war dankbar, dass sie das verstand, aber dennoch war sie ein wenig verwirrt.

Sie bemerkte, dass sich ihr jemand näherte. Sie glättete ihre silberne Robe, und eine der Kriegerinnen von Generalin Shandris Mondfeder trat zu ihr. Die Wächterin wirkte ein wenig erschöpft, als wäre sie schnell gerannt.

Die Wächterin – ihr Körper, ihre Unterarme und ihre Beine wurden von einer leichten Rüstung geschützt – kniete in äußerster Ehrerbietung vor Tyrande. Sie war schließlich nicht nur die Hohepriesterin und Anführerin. Sie war auch die Adoptivmutter ihrer Generalin. Die Kriegerin trug eine der von den Nachtelfen bevorzugten Waffen, eine dreiklingige Mondgleve.

Den Kopf gesenkt haltend, sagte die Nachtelfe: „Die Generalin wollte, dass Ihr diese Nachricht augenblicklich erhaltet, Hohepriesterin.“

Die Wächterin reichte ihr ein kleines Pergament, das Shandris’ persönliches Siegel trug. Tyrande nahm es entgegen und entließ die Wächterin. Dann erbrach sie das Siegel. Die Nachricht war kurz und unmissverständlich, so wie es die Art der Generalin war.

Wir haben erfahren, dass der König von Sturmwind am Gipfel teilnimmt.

Diese Mitteilung war bedeutend, denn wenn Sturmwind an der Versammlung teilnahm, würden die anderen Eingeladenen ebenfalls rasch ihre Teilnahme verkünden. Die Hohepriesterin und Malfurion hatten gehofft, Sturmwind würde zustimmen, doch schließlich waren sie besorgt gewesen, Varian Wrynn könnte zu der Ansicht gelangen, sein Königreich wäre besser dran ohne seine besorgten Nachbarn.

Von noch größerer Bedeutung war der Zeitpunkt der Nachricht. Ihr war klar, dass Shandris sie gerade erst erhalten haben musste, vor wenigen Minuten. Wie üblich hatte die Generalin dafür gesorgt, dass ihre geliebte Herrscherin und Mutter die Neuigkeit so schnell wie möglich erfuhr. Elune hatte eine Vision für sie vorgesehen, die mit der Ankunft dieser Nachricht zusammenfiel.

„Also kommt Varian …“, murmelte Tyrande. „Das alles ergibt nun einen Sinn. Das hätte ich erkennen müssen.“

Die Vision wurde nun klar. Die Nachtelfe hatte das Gesicht nur kurz gesehen, doch war ihr klar geworden, dass der düstere Held niemand anders war als König Varian Wrynn von Sturmwind. Natürlich hatte Mutter Mond das gewusst, konnte ihrer Hohepriesterin jedoch nur ein Zeichen geben, was sie mit diesem Wissen anfangen sollte.

„Varian Wrynn“, wiederholte sie und erinnerte sich an dessen bewegte Vergangenheit. Er war Sklave gewesen, Gladiator, ein Mann ohne Gedächtnis. Er hatte miterlebt, wie sein Königreich gefallen war, und darum gekämpft, es wieder zurückzubekommen. Dabei war Todesschwinges Schwester in menschlicher Verkleidung seine Gegnerin gewesen.

Während dieser schrecklichen Zeit, als Varian seinen Namen vergessen hatte und gezwungen gewesen war, beinahe jeden Tag zum Vergnügen der Zuschauer um sein Leben zu kämpfen, hatte er einen anderen Namen erhalten, einen einzigartigen, wichtigen Namen.

Er war – und für viele war er es noch immer – zu Lo’Gosh geworden.

Lo’Gosh … Ein anderer Name für den Geisterwolf Goldrinn.

* * *

Die beiden Reisenden verließen das kleine Boot. Dass sie Nachtelfen wie die meisten anderen der Einwohner des Dorfes Rut’theran waren, wurde durch ihren Körperbau und die Ohren klar, als sie die Kapuzen ihrer Umhänge zurückstreiften. Ihre Gesichter blieben im Schatten.

Das Hafendorf war für die Verhältnisse der Nachtelfen ärmlich, aber auffallend sauber, und alle Gebäude waren neu. Es war tatsächlich die zweite Siedlung mit diesem Namen. Die erste war bei dem Kataklysmus vom Meer zerstört worden. Das zweite wichtige Charakteristikum des Hafens mit den drei Anlegern war der Brutbereich der Hippogryphen, wo man sich um die Eier der erstaunlichen geflügelten Kreaturen, die den Nachtelfen für den Lufttransport dienten, kümmerte und die Jungen aufzog.

Der markanteste Aspekt der Insel war etwas, was die beiden Reisenden schon einige Zeit lang sahen. Eigentlich hatten sie es schon Meilen entfernt vom Festland aus gesehen, so wie es jedem in dieser Region auffallen musste.

Teldrassil war der Name der Insel, doch war sie erst im Nachhinein so genannt worden. Die Insel war eine Erweiterung des wahren Teldrassil, eines riesigen Baumes, der einen großen Teil des Landes bedeckte und sich so hoch erhob, dass seine Krone in den Wolken verschwand. Seine Äste reichten so weit, dass so manches Königreich im Vergleich dazu klein wirkte. Die dichte Krone hätte eine ganze Zivilisation aufnehmen können, und genau das tat sie auch.

Teldrassil war bekannt als der zweite Weltenbaum. Der erste, der alte Nordrassil, lebte noch immer, doch musste er sich noch von den Auswirkungen des Dritten Kriegs erholen – ebenfalls gegen die Brennende Legion –, der erst vor wenigen Jahren beendet worden war. Während Nordrassil Unsterblichkeit gewährt hatte, gute Gesundheit, Schutz vor dem Missbrauch der Magie des Brunnens der Ewigkeit und einen offenen Weg in den Smaragdgrünen Traum, hatte der zweite Weltenbaum vor allem als neue Heimat der Nachtelfen gedient. Dennoch hatte Teldrassil bereits einigen Ärger erlebt. Der Baum war vom Bösen des Albtraumlords befleckt worden, durch seine Marionette, den Erzdruiden Fandral Hirschhaupt. Diese Befleckung hatte sich auf die Fauna und die Flora ausgewirkt und ebenso auf Teldrassil selbst. Teldrassil war erst vor Kurzem von ihr befreit worden.

Doch so inspirierend der große Baum für alle war, die ihn sahen, schienen die Neuankömmlinge ihn kaum zu beachten. Der größere der beiden – männlich, mit langem silbernem Haar, das aus seiner Kapuze floss – blieb stehen, um mit großem Interesse die ausgewachsenen Hippogryphen zu mustern. Die kleinere und eindeutig weibliche Gestalt an seiner Seite hustete und taumelte gegen ihren Begleiter. Der Mann wandte schnell seine Aufmerksamkeit von den fliegenden Tieren ab und stützte die Frau.

„Das Portal“, murmelte er. „Es ist in der Nähe. Warte nur … Wir sind fast da. Warte … Bitte!“

Die Kapuze der Frau wippte auf und ab. „Ich … gebe mein Bestes … mein Gemahl …“

Ihre Stimme war sehr schwach. Der Mann versteifte sich angesichts der Sorge um seine Gefährtin. Er führte sie voran und suchte, was beide nie gesehen hatten, aber leicht identifizierbar war.

Eine Wächterin bemerkte die beiden. Ihr Blick glitt über die verhüllenden Umhänge. Stirnrunzelnd ergriff sie ihre Gleve und trat zu den Fremden.

„Willkommen, Reisende“, sagte sie. „Darf ich fragen, woher Ihr kommt?“

Der Mann blickte sie an. Sein Gesicht wurde kurz sichtbar.

Das Gesicht der Wächterin spiegelte den Schrecken wider. „Ihr …“

Ohne ein Wort zu verlieren, führte der Mann seine Gefährtin an der erstarrten Wächterin vorbei. Sein Ziel wurde zwischen den Gebäuden und den Elfen sichtbar.

„Das Portal …“, murmelte er.

Ein steinerner Weg führte auf eine leichte Anhöhe hinauf zu Teldrassil. Unten am Baum leuchtete ein großes Portal, und eine hohe, schimmernde Markierung in darnassischer Schrift war an seiner Seite deutlich sichtbar. Doch so hoch er auch war, verblasste der magische Eingang neben einigen der großen Äste, die von Teldrassil herabreichten.

Das Portal war eine magische Verbindung zu der Stadt, die weit über ihnen lag. Einige Wächter waren die einzigen Anwesenden, aber der Reisende wusste, dass sich andere in der Nähe versteckt hielten. Auch musste es weitere Sicherheitsmaßnahmen überall in und um das magische Tor herum geben.

Unerschrocken führte er seine Gefährtin auf das Portal zu. Die Wächterinnen beobachteten ihn misstrauisch.

Hinter den Reisenden erklang die Stimme der Offizierin: „Lasst sie passieren.“

Die Wachen stellten diesen Befehl nicht infrage, und der Reisende verschwendete keine Zeit damit, sich bei der Offizierin zu bedanken. Alles, was zählte, war, seine Gefährtin nach Darnassus zu bringen … um Hilfe zu bekommen.

„Achte darauf, wohin du gehst“, flüsterte er seiner Begleiterin zu.

Sie nickte schwach. Fast hatten sie es geschafft, das Portal zu erreichen. Seine Hoffnung stieg. Wir sind gleich da!

Ein Hustenanfall überkam die Frau. Sie hustete so stark, dass der Mann sie nicht mehr halten konnte. Die Frau fiel auf die Knie, und ihr Gesicht prallte beinahe auf den Stein.

Der Mann fing sie rasch ab, doch als er ihr half, das Gleichgewicht wiederzuerlangen, bemerkte er eine Blutlache an der Stelle, an der ihr Kopf geruht hatte.

„Nicht schon wieder …“

Ihre Hand, die seine hielt, drückte plötzlich mit der unglaublichen Kraft der wahren Furcht. „Mein Gemahl …“

Sie brach in seinen Armen zusammen.

Die Wachen kamen näher, um zu helfen, doch der Mann hatte keine Zeit für sie. Sie würden vorschlagen, dass er wartete, während sie seiner Frau zu Hilfe kamen. Doch in seinen gehetzten Gedanken bedeutete jede Sekunde eine Katastrophe … Verlust …

Seine einzige Hoffnung bestand darin, die Hohepriesterin zu erreichen.

Er hob seine Gefährtin auf und trat mit ihr in das Portal.

2. KAPITEL

DER EINBRUCH

Sie bewegten sich gegen die leichte Brise, die durch den Wald strich, und die langen, dicken Äste der Bäume hingen nach unten. Die blättrigen Anhängsel krochen mit äußerster Zielstrebigkeit auf die bärtige Gestalt zu und umgaben sie. Der Mann blickte auf die sich stetig nähernden Äste und tat nichts, außer zu lächeln.

Malfurion Sturmgrimm rührte sich nicht, als die Blätter der ersten Äste sein Gesicht berührten. Aufgrund seines hohen Rangs –obwohl er wenig Wert auf ihn legte – war er anders gekleidet als die meisten Vertreter seiner Zunft. Der Erzdruide trug die Zeichen der vier großen Tiere, die nur die Versiertesten beschwören konnten. Auf seinen Armen und durch Armbänder befestigt trug er die grauen Flügel einer Sturmkrähe. Seine Hände steckten in Handschuhen, die in den Krallen eines Bären endeten, und sein Kilt war mit den gebogenen Zähnen eines Nachtsäblers geschmückt. Der Nachtsäbler, dessen Bindung an Malfurions Volk besonders eng war, fand sich auch an den Stiefeln des Erzdruiden wieder, die an Katzenpfoten erinnerten.

Eine Markierung hatte nichts mit Tieren zu tun, dafür jedoch umso mehr mit Malfurion. Es waren die blauen Blitze, die über seinen Körper und von der einen Schulter zur Hüfte an der anderen Seite liefen. Kleinere, dazu passende Blitze schossen vom Ellbogen seinen Unterarm hinab. Sturmgrimm war nicht nur der Name des Erzdruiden, es war auch ein Hinweis auf die riesige Kraft, die er befehligte – eine Kraft, die er nur dann einsetzte, wenn alle anderen Mittel versagten.

Die Enden der Äste bewegten sein langes grünes Haar, mieden jedoch das, was den stolzen Nachtelf am stärksten von seinem Volk unterschied: sein prächtiges Geweih. Über einen halben Meter lang sprossen sie aus seiner Stirn hervor. Sie waren ein Zeichen der tiefsten Verbundenheit mit Azeroth und seinem Shan’do – seinem verehrtenLehrer, dem Halbgott Cenarius – und repräsentierten die vierte Gestalt, die des Hirsches.

Einige der stärkeren Äste bewegten sich unter seine Arme. Dann, so sanft, wie Eltern ihr Kind anhoben, nahmen die Äste Malfurion unter die Bäume auf.

Der Erzdruide öffnete seinen Geist und berührte das Herz von Teldrassil. Malfurion studierte seine Gesundheit und sah, dass nichts von der Befleckung übrig war und ebenso wenig vom düsteren Treiben des verrückten Erzdruiden Fandral Hirschhaupt. Er war dankbar dafür, hatte er doch gegen die Erschaffung des zweiten Weltenbaums gestimmt. Doch nun war dieser ein integraler Bestandteil seiner Nachtelfenexistenz geworden. Dass es so gekommen war, hatte keineswegs in Fandrals Absicht gelegen, der den Baum in Malfurions Abwesenheit vorgeschlagen hatte. Der andere Druide hatte Teldrassil lediglich als Mittel zu seinem monströsen Zweck benutzt. Glücklicherweise hatte Malfurion das verhindern können.

Auch wenn es keinerlei Befleckung mehr gab, schwor Malfurion, den Baum weiterhin zu beobachten. Es existierte noch immer eine Enklave des Albtraums im Smaragdgrünen Traum, und solange eine Spur der Finsternis existierte, bedrohte eine erneute Befleckung Teldrassil und mit ihm das Volk der Nachtelfen.

Zufrieden mit dem gegenwärtigen Zustand des Weltenbaums, nahm sich Malfurion einen Augenblick Zeit, um die Umgebung zu begutachten. Ein Mondbrunnen – eine der heiligen Wasserquellen, die für ihre mystischen Eigenschaften bekannt waren – befand sich nicht allzu weit von dem Erzdruiden entfernt. Er hatte die Lichtung des Orakels nordöstlich der Stadt gewählt, da ihm seine Sinne sagten, dass diese Stelle eine einzigartige Verbindung zu dem riesigen Baum besaß. Hier konnte der Erzdruide am besten meditieren, indem er seinen Geist nutzte – oder die Traumgestalt –, der bis in den Smaragdgrünen Traum hineinreichte.

Die Druiden reisten noch immer in ihrer Traumgestalt in das andere Reich, trafen jedoch einige neue Sicherheitsvorkehrungen. Malfurion war recht schnell wieder in das andere Reich zurückgekehrt, obwohl er dort jahrelang vom Albtraumlord gefangen gehalten worden war. Er hielt sich deshalb nicht für besonders tapfer. Der Erzdruide hoffte, den Smaragdgrünen Traum auf Veränderungen erforschen zu können, die ihm zuvor entgangen waren, und nutzte diese Reise auch, um seinen Geist von bestimmten Gedanken zu reinigen.

Wie um seine Hoffnungen zu verhöhnen, durchfuhr ihn plötzlich ein scharfes Stechen. Es war nicht das erste Mal, dass er das in letzter Zeit erlebte, und er nahm auch nicht an, dass es das letzte Mal sein würde.

Die Sterblichkeit machte sich daran, ihn einzuholen.

Der Erzdruide hatte das Altern seiner Kameraden miterlebt, die anderen Völkern angehörten. Doch es am eigenen Leib zu erfahren, war nicht so einfach, selbst wenn sein Volk um vieles langlebiger war als die Menschen oder die Zwerge. Malfurion unterdrückte seine Gereiztheit und mied den Gedanken, dass er eigentlich nicht alt werden sollte.

Das Stechen hatte seine Überlegungen unterbrochen. Malfurion versuchte, sich zu beruhigen, und konzentrierte sich auf Teldrassils Wesen. Er spürte, wie es in seinem Zentrum ruhiger wurde. Teldrassils Berührung zu suchen, um die Traumgestalt besser vom Körper trennen zu können, hatte sich als richtig erwiesen. Sein Körper lag nun mitten in den Ästen, beschützt von den Bäumen, die auf ihre ganz besondere Art eine Erweiterung von Teldrassil waren, auf dem sie wuchsen.

Malfurions Traumgestalt stieg über den ruhigen Körper. Gespenstisch und smaragdgrün schwebte er einen Moment lang …

Malfurion!

Wie von einem orkanartigen Wind erfasst, kehrte die Traumgestalt des Erzdruiden in seine sterbliche Hülle zurück. Er wusste, wer nach ihm rief, da sie eine einzigartige Verbindung zu ihm hatte.

Tyrande?, antwortete der Erzdruide augenblicklich. Auf eine unausgesprochene Bitte Malfurions hin senkten sich die Äste zu Boden. Tyrande! Was ist los?

Zu viel, um es rasch zu erklären! Komm bitte her!

Ihr drängender Tonfall ließ keinerlei Widerspruch zu. Als Malfurions Füße den Boden berührten, rannte er sofort los. Doch schon nach wenigen Schritten befand er das Tempo als zu langsam. Der Erzdruide konzentrierte sich und beugte sich vor.

Seine Knochen knackten, als sie sich veränderten, seine Haut kräuselte sich, und Fell spross aus seiner Haut. Das Gesicht des Erzdruiden dehnte sich aus, und die Nase und der Mund wurden Teil einer Schnauze, die lange Barthaare aufwies. Malfurions Zähne wuchsen, und die Augen verengten sich. Sein Körper änderte sich, er wurde zu einer großen, dunklen Katze, ähnlich den Nachtsäblern, die die Nachtelfen als Reittiere nutzten. Malfurions Tempo war nun zehnmal so schnell.

Als geschmeidige Katze schoss er über die Lichtung. Die kurze Strecke nach Darnassus war schnell überwunden. Wächterinnen, die ihn nahen sahen, traten schlauerweise beiseite. Sie wussten, wer er war und wer in einer solchen Gestalt durch die Stadt jagte. Die Katzengestalt des Erzdruiden war für die Verteidiger der Stadt leicht wiederzuerkennen, die seine Kraft im Kampf erlebt hatten.

Ein großer Teil der Stadt war aufgeteilt in sogenannte „Terrassen“, wo sich Elemente der Nachtelfen-Zivilisation konzentrierten. Die Terrasse der Krieger lag bereits hinter ihm und die der Handwerker zu seiner Rechten. Malfurion bemerkte sie kaum und achtete nicht auf die kunstvoll gestalteten Gärten und Seen, die das Zentrum von Darnassus bildeten. Sein Blick war auf das leuchtende Bauwerk im Süden gerichtet, den Tempel des Mondes.

Unvermittelt erregte etwas seine Aufmerksamkeit, eine beunruhigte Versammlung von Nachtelfen. Malfurion roch Angst, und das regte seine anderen Katzensinne an. Er fletschte seine großen Säbelzähne, und seine scharfen Krallen bohrten sich in den Boden, als er den Grund für diese Angst herauszufinden versuchte.

Noch bevor er stehen blieb, nahm der Erzdruide wieder seine normale Gestalt an. Die am nächsten stehenden Nachtelfen verneigten sich und ebenso alle anderen, die Malfurion bemerkt hatten.

Malfurion schenkte ihnen keinerlei Beachtung, da er nun wusste, was die Aufmerksamkeit des Pulks erregt hatte und warum eine solche Angst von dort ausging.

Die Gestalt in ihrem Umhang taumelte in dieselbe Richtung, in die der Erzdruide sich bewegte. Ihre Schritte wurden von der Last auf ihren Armen stark verlangsamt, die eindeutig weiblich und ebenfalls eine Nachtelfe war.

Malfurion konnte das Gesicht des Mannes nicht erkennen, doch die Kapuze der Frau war nach hinten gerutscht. Ihr schlaffer Mund war ein schlechtes Zeichen.

Eine Wächterin versuchte, dem Gefährten der Frau zu helfen, doch der Mann wehrte sie ab. Die Wächterin zog sich zurück, einen merkwürdigen Respekt in ihrem Gesichtsausdruck und ihrer Haltung annehmend.

Dieselbe Wächterin blickte an der geplagten Gestalt vorbei zu Malfurion hinüber. Erleichtert sagte sie: „Erzdruide! Gepriesen sei Elune …“

„Erzdruide?“ Der Mann, der seine Frau auf den Armen trug, stieß das Wort aus, als würde es für ihn alles in der Welt bedeuten.

Ein plötzlicher Schock durchfuhr Malfurion. Er konnte die Stimme nicht einordnen, doch obwohl sie von der Anstrengung und anderen Faktoren verändert war, hätte er sie erkennen müssen.

Vorsichtig verschob der Mann seine Last und drehte den Kopf gerade weit genug, um über seine Schulter hinweg zu Malfurion hinüberzublicken.

Der Schmerz, der den Mann erfasst hatte, hatte einige Veränderungen in seinem Gesicht bewirkt. Dennoch erkannte der Erzdruide ihn augenblicklich, obwohl es Jahrhunderte her war, dass er sich zuletzt unter seiner Art aufgehalten hatte. Malfurion glaubte seinen Augen nicht trauen zu können. Er hatte angenommen, der Tod habe den Nachtelf bereits vor langer Zeit ereilt.

Ungläubig flüsterte er: „Jarod Schattensang …“

* * *

Haldrissa Holzformer war bereits seit der Gründung der Armee Wächterin. Obwohl sie mehrere Jahrhunderte vor ihrer Generalin Shandris geboren worden war, hatte sie die Fähigkeiten in ihrer Anführerin erkannt und selbst fleißig gelernt. Haldrissa war immer weiter aufgestiegen und hatte sich ihre Position als Kommandeurin redlich verdient.

Sie verengte ihre Augen und hob die stets gerunzelte Braue, die den Eindruck vermittelte, dass sie tief in Gedanken versunken war. Haldrissa war kurz vor dem Kataklysmus zur Kommandeurin der Elfenstreitkräfte in Eschental befördert worden. Obwohl weit von Teldrassil und Darnassus entfernt, war Eschental, in der nördlichen Hälfte des Kontinents Kalimdor gelegen, ihrem Volk nicht nur heilig, sondern auch von großer Wichtigkeit, um ihre Zivilisation zu erhalten. Sorgfältig sammelten die Nachtelfen und ihre Verbündeten das Holz nur in bestimmten Bereichen der großen Wälder und stellten sicher, dass die Natur nicht mehr gestört wurde als unbedingt nötig.

Haldrissa blinzelte, als sie in den Wald hineinschaute. Wie die anderen ritt sie auf einer der muskulösen Katzen, die wegen ihrer langen, gebogenen Zähne Nachtsäbler genannt wurden. Sowohl Nachtelfen als auch Nachtsäbler waren ihrem Namen nach nachtaktiv, doch die Umstände erforderten immer häufiger, dass sie sich auch bei Tag bewegten. Die meisten anderen Völker, mit denen sie zu tun hatten, waren tagaktiv, was jedoch nicht ausschloss, dass sie auch in der Nacht handelten.

Es hatte keinerlei Anzeichen für irgendwelche Aktivitäten der Horde gegeben, doch Haldrissa wusste es besser, als darauf zu vertrauen, dass die Orcs und deren Verbündete auf der östlichen Seite blieben.

„Was seht Ihr, Xanon?“, fragte sie den Nachtelf zu ihrer Linken. Er war nicht der erfahrenste ihrer Offiziere, doch war er für seine scharfen Augen bekannt.

Xanon beugte sich einen Moment vor und antwortete dann: „Alles in Ordnung, Kommandantin.“

Haldrissa befahl der Gruppe weiterzugehen. Die Kommandeurin führte rund fünfzig Nachtelfen an, um einen der vorgeschobenen Posten zu inspizieren. Sie hatte sich vorgenommen, selbst regelmäßige Inspektionen durchzuführen. Nichts hielt Postenführer besser auf Trab als das Wissen, dass sie jederzeit von ihr überprüft werden konnten.

Der Posten war nur noch eine Stunde entfernt. Der Grund für den Halt war ein vermeintlicher Fehler des Offiziers vom Dienst gewesen. Haldrissa bestand darauf, dass die Wachen nicht nur in die Richtungen blickten, aus denen man einen Angriff der Horde erwarten konnte, sondern auch dorthin, von wo man das nicht tat. Wenn Haldrissa sich vorstellen konnte, sich an einem Posten vorbeizuschleichen und ihn entweder von hinten anzugreifen oder weiterzugehen, um Orte tiefer im Nachtelfenterritorium zu attackieren, dann konnte der neue Kriegshäuptling der Orcs das ebenso.

Kurz darauf wandte sich Haldrissa an Denea, ihre Stellvertreterin. „Zwei Kundschafter sollen zum Posten vorreiten und sich dann zurückmelden, und zwar ohne vom Posten bemerkt zu werden.“

Denea rief die beiden Reiter herbei und schickte sie los. Haldrissa sah, wie sie in der Ferne verschwanden. Sie unterdrückte die aufkommende Frustration. Ihre Sicht war nicht mehr so scharf, wie sie es noch vor ein paar Monaten gewesen war. Tatsächlich war es in den letzten Tagen deutlich schlimmer geworden.

„Waffen bereithalten!“, befahl sie nun. Denea, die ihren Bogen schon in der Hand hatte, wiederholte den Befehl.

Sie ritten weiter, bemerkten nichts und wurden zusehends misstrauisch. Haldrissa schätzte die Zeit, die die Kundschafter brauchen würden, um den Posten zu erreichen und zu ihr zurückzukehren, und wusste, es würde noch etwas dauern.

Nur Minuten später erklang das Knurren eines Nachtsäblers, der auf sie zurannte, weshalb sie und ihre Begleiter sich auf einen unmittelbar bevorstehenden Kampf vorbereiteten.

Das Tier war schwer verwundet. Mehrere Pfeile hatten seine Haut durchdrungen. Dass es bis hierher zurückgekommen war, war nur seinem eisernen Durchhaltevermögen zu verdanken. Blut bedeckte seine Krallen und Zähne, was bewies, dass es das Gefecht nicht verlassen hatte, ohne seine Angreifer leiden zu lassen.

Auf dem Tier saß – tot – einer der Kundschafter.

Xanon stieß ein Gebet aus und wirkte, als wollte er seine Katze vorwärtsdrängen. Er war nicht der Einzige. Haldrissa winkte die ehrgeizigen Gruppenmitglieder zurück. Nicht, dass sie die Jagd hinauszögern wollte. Denea hatte bereits den sterbenden Nachtsäbler bei sich. Sie blickte finster zu dem Reiter hinüber.

„Wir müssen sie für den Augenblick hier zurücklassen. Auf dem Rückweg werden wir sie mitnehmen, um sie zu beerdigen.“ Haldrissa nickte ihrer Stellvertreterin zu. Denea und eine andere Wächterin stiegen rasch ab und nahmen den Leichnam von der leidenden Katze. Sanft lehnten sie ihre tote Kameradin an den nächsten Baum und gingen dann zu dem Nachtsäbler.

Die Katze keuchte schwer. Von Nahem war die Tiefe der Wunden leicht festzustellen. Überall war Blut. Der Nachtsäbler sah zu ihnen auf, die Augen erfüllt von Schmerz. Einer seiner Säbelzähne war abgebrochen.

Das verwundete Tier spie, noch immer keuchend, Blut aus. Es war klar, dass nichts getan werden konnte, um es zu retten. Denea zog ihren Dolch hervor, beugte sich nach unten und murmelte etwas. Der Nachtsäbler leckte sanft die Hand, die die Waffe hielt, schloss dann ruhig die Augen und schien zu warten.

Mit gefletschten Zähnen schnitt ihm Denea gekonnt die Kehle durch. Das Tier starb augenblicklich.

„Ausschwärmen!“, befahl Haldrissa, als ihre Stellvertreterin wieder aufsaß. „Xanon, Ihr nehmt diesen Weg. Denea, Eure Gruppe wendet sich nach Süden. Der Rest kommt mit mir.“

Einen Augenblick später bewegten sich die Elfen vorsichtig vorwärts. Haldrissas Nachtsäbler schnupperte und knurrte. Die Kommandeurin beruhigte ihr Tier, indem sie es mit einer Hand an seinem Kopf berührte, und griff langsam nach dem Bogen.

Ein Pfeil traf den Krieger neben ihr und durchdrang seine Kehle.

Weitere Pfeile regneten von oben auf sie herab.

Haldrissa legte schnell einen Pfeil auf und hob den Bogen, um zu schießen. Bevor sie dazu kam, flogen jedoch zwei schnell wirbelnde Gleven aus der Richtung heran, aus der der Pfeil gekommen war. Die gebogene dreiklingige Waffe schnitt einen tödlichen Streifen in den Wald.

Ein schmerzerfülltes Grunzen erklang von der Baumspitze. Eine der Gleven flog aus dem Baum zu ihrer Besitzerin zurück.

Die andere erschien schon kurz später wieder – vergraben in der Brust eines Orcs. Der feindliche Bogenschütze fiel wie ein Stein zu Boden.

Doch bevor der Leichnam des Orcs den Boden erreicht hatte, stürmten beinahe ein Dutzend seiner Artgenossen aus dem Wald, viele saßen auf dem Rücken der mächtigen schwarzen Wölfe. Mit hoch erhobenen Äxten, Speeren und Schwertern stürmten die Orcs auf Haldrissas Gruppe zu.

Die Nachtelfen vergeudeten keine Zeit damit, sich dem Angriff zu stellen. Haldrissa feuerte auf den ersten Orc, doch was ein tödlicher Schuss hatte sein sollen, durchdrang lediglich dessen Schulter. Die Wunde reichte nicht aus, den muskulösen Orc aufzuhalten, der nun versuchte, seine Axt im Schädel ihres Reittiers zu versenken.

Ein weiterer Schuss von oben traf einen nahen Nachtsäbler im Nacken. Das Tier taumelte und warf seinen Reiter ab. Ein besonders eifriger Orc sprang von seinem Wolf und hieb nach dem gefallenen Nachtsäbler. Der Wächter wandte sich um und versuchte, sich zu verteidigen, war jedoch zu langsam. Die Axt des Orcs traf ihn nahe des Schlüsselbeins in die Brust.

Der verwundete Nachtsäbler wollte den Orc angreifen, stieß jedoch auf den Wolf des Kriegers. Die beiden großen Tiere prallten aufeinander, jedes suchte die Lücke in der Deckung des anderen. Der Nachtsäbler hatte einige Vorteile durch seine Größe, doch die Wunde verlangsamte ihn.

Haldrissa blickte um das monströse Paar herum und schoss auf den Orc. Aus der Nähe konnte sie ihn nicht verfehlen. Die Wucht des Pfeils, der in die Brust des Orcs eindrang, warf den sterbenden Angreifer mehrere Schritte weit zurück.

Ein weiterer Pfeil zischte am Ohr der Kommandeurin vorbei. Fluchend feuerte Haldrissa in die Richtung, aus der er gekommen war. Ihr Pfeil ging offensichtlich fehl, zwang den Orc auf dem Baum jedoch, sich ins Freie zu begeben, wo ein aus südlicher Richtung heransirrender Pfeil ihn erledigte.

Denea winkte mit dem Bogen und stieß einen triumphierenden Schrei aus. Dann führte sie ihre Gruppe gegen die Orcs. Zur selben Zeit kam Xanons Gruppe aus dem Norden. Stahl traf auf Stahl, Nachtsäbler trafen auf Wölfe.

Denea hatte ihren Bogen gegen eine Gleve eingetauscht. Sie schlitzte die Kehle eines geifernden Wolfes auf, der sie am Bein gepackt hatte. Ihr glattes, rabenschwarzes Haar, das sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte, bewegte sich wie eine Peitsche, als sie in die Richtung schaute, aus der sie ihren nächsten Feind erwartete.

Die Orcs kämpften wild, noch wilder, als Haldrissa es erwartet hatte. Sie vernachlässigten zuweilen ihre Deckung und schienen ihren Feind erledigen zu wollen, ganz egal, welches Risiko damit verbunden war. Obwohl sie die Abteilung der Nachtelfen unter Kontrolle hielten, standen die Chancen eindeutig gegen sie.

Kann es sein, dass wir siegen?, überlegte die Kommandeurin, um den Gedanken rasch beiseitezuschieben, als ein berittener Orc sich auf sie stürzte. Haldrissa ließ den Bogen fallen und nahm die Gleve zur Hand. Sie benutzte die gebogene Klinge, um die Axt abzuwehren. Ihr Arm erbebte, als die beiden Waffen aufeinandertrafen.

Der Wolf stieß die Krallen ihres Nachtsäblers zur Seite, um seinem Reiter eine bessere Angriffsposition zu verschaffen. Die Katze der Kommandeurin wirbelte herum in dem Versuch, Haldrissa zu schützen, doch der Orc schlug bereits zu.

Die vorderste Klinge barst unter der Kraft des Schlags. Die obere Hälfte flog Haldrissa ins Gesicht. Sie spürte einen stechenden Schmerz in ihrem linken Auge und konnte nichts mehr sehen. Eine Flüssigkeit lief über ihre linke Wange, und sie wäre von dem Schock beinahe ohnmächtig geworden.

Ein Teil ihres Geistes schrie: Der Orc! Pass auf den Orc auf!

Haldrissa presste eine Hand auf das verletzte Auge und versuchte, sich auf ihren Gegner zu konzentrieren. Durch die Tränen konnte sie die Gestalt schemenhaft erkennen. Der Orc war fast bei ihr, trotz des Nachtsäblers, der sein Bestes gab, um den Wolf abzuwehren.

Die Kommandeurin verdrehte die Gleve, um den Orc in die verbliebenen Klingen laufen zu lassen. Ihr Herz pochte, und der Umriss des Orcs verschwand aus ihrem Blickfeld.

Sie glaubte, sterben zu müssen.

Doch der tödliche Schlag kam nicht. Stattdessen beendete der Nachtsäbler sein wildes Ringen, als ob der Kampf zwischen ihm und dem Wolf zu einem plötzlichen Ende gekommen wäre.

„Kommandeurin!“, brüllte jemand in ihr Ohr. Sie erkannte Deneas Stimme.

„Der Orc …“

„Der Orc ist tot!“ Eine schlanke Hand zerrte an ihrem Waffenarm. Als Haldrissa die Tränen aus ihrem verbleibenden Auge wegblinzelte, kam Denea in Sicht. „Ganz ruhig, Kommandeurin! Ihr braucht Hilfe, schnell!“

„Der Kampf …“

„Ist vorbei! Die Orcs sind bis auf einen Krieger geschlagen. Ihre Wölfe sind mit ihnen gestorben!“

Haldrissa wusste, dass es stets gut war, einen Gefangenen zu machen, doch ließ sich das in einem wilden Kampf nicht immer bewerkstelligen. Als ein weiterer Wächter um ihre blinde Seite herumkam und ihre Wunde behandelte, schaffte Haldrissa es, sich auf die Situation einzustellen. Eine Sache fiel ihr sofort ein.

„Der Außenposten … Wir müssen den Außenposten erreichen!“

Sie war gezwungen zu warten, bis die Behandlung ihres Auges beendet war. Xanon war der Ansicht, dass sie umkehren sollten. Haldrissa fühlte sich eher wie eine Großmutter als wie eine Kommandeurin und erteilte wütend den Befehl, weiter vorzurücken. Die Nachtelfen gehorchten umgehend, und die Gruppe eilte zu dem Außenposten, das Schlimmste erwartend.

Als sie sich dem Holzhaus näherten, traten zu ihrer Überraschung zwei Wächter zwischen den Bäumen hervor. Sie waren entsetzt über das Aussehen der Gruppe, besonders das der Kommandeurin, die nun einen Verband über ihrer verletzten Gesichtshälfte trug.

Bevor sie etwas sagen konnten, fragte Haldrissa bereits: „Der Außenposten … Ist alles in Ordnung?“

Die Wächterinnen blickten sich verwirrt an, und schließlich antwortete die eine: „Ja, Kommandeurin! Es war vollkommen ruhig hier!“

„Sind noch andere Wächter in den Bäumen hinter uns postiert?“

„Zwei.“

Es gab keinerlei Lebenszeichen von den beiden und dem zweiten Kundschafter, den Haldrissa ausgesandt hatte. Sie hegte keine Zweifel daran, was ihnen zugestoßen war.

„Eine Kundschaftereinheit“, stellte Denea für sie fest. „Sie haben es am Außenposten vorbeigeschafft, ohne erwischt zu werden. Doch die verschwundenen Wachen müssen auf sie gestoßen sein.“ Ein schadenfrohes Lächeln umspielte ihre Lippen. „Nun, sie werden keine Geheimnisse mehr für ihren Kriegshäuptling ausspionieren. Darum haben wir uns gekümmert und unsere gefallenen Kameraden gerächt!“

Xanon und die anderen schienen ihr zuzustimmen, doch Haldrissa schwieg. Sie dachte an die fatalistische Einstellung, mit der die Orcs tödliche Risiken eingegangen waren. So etwas war nicht außergewöhnlich bei den Orcs, die oft ihre Bereitschaft, sich selbst zu opfern, unter Beweis stellten.

„Aber mit welchem Ziel haben sie sich selbst geopfert?“, murmelte sie.

„Was habt Ihr gesagt, Kommandeurin?“, fragte Denea.

Der Schmerz peinigte Haldrissa und zwang sie, eine Hand an den Kopf zu legen. Doch immer noch brannte die Frage, was wirklich geschehen war, tief in ihr. „Schickt eine Nachricht zum Außenposten. Lasst sie den Bereich sorgfältig umgehen.“

„Glaubt Ihr, dass sich noch mehr Orcs hier herumtreiben?“