Would You Trust Me? - Heidrun Wagner - E-Book

Would You Trust Me? E-Book

Heidrun Wagner

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Beschreibung

Wem vertraust du, wenn die Welt um dich herum zerbricht? »Ich schaffe es nicht. Heißt das, ich hänge hier fest? Wie konnte ich nur so dumm sein? Solange mich niemand bemerkt hat, hat mich auch keiner gehasst.«Die 15-jährige Alia ist stinksauer. Nach der Trennung ihrer Eltern muss sie mit ihrer Mutter zu deren neuen Lover ziehen – hunderte Kilometer weg von ihren Freunden und ihrem Leben. Zu allem Überfluss setzt ihr Stiefbruder Colin alles daran, sie möglichst schnell wieder loszuwerden. Ist er wirklich so dumm zu glauben, sie hätte eine Wahl gehabt? Zumindest in der Schule scheint es anfangs ganz gut zu laufen und das introvertierte Mädchen findet schnell Anschluss an eine Clique. Aber dann tauchen Drohzettel mit einer klaren Botschaft auf: "Niemand will dich hier!" Steckt wirklich Colin hinter dieser Aktion? Sind die zerstochenen Fahrradreifen und die blutrote Botschaft an der Mensawand erst der Anfang? Alia ist unsicher, ob sie ihre neuen Freunde um Hilfe bitten soll. Treibt vielleicht einer von ihnen ein falsches Spiel? Wem kann sie wirklich vertrauen? Der zweite Band der spannenden "Little Secrets"-Reihe.

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Heidrun Wagner

Would you trust me?

Little Secrets-Reihe

 

Über das Buch

Wem vertraust du, wenn die Welt um dich herum zerbricht?

»Ich schaffe es nicht. Heißt das, ich hänge hier fest? Wie konnte ich nur so dumm sein? Solange mich niemand bemerkt hat, hat mich auch keiner gehasst.«

Die 15-jährige Alia ist stinksauer. Nach der Trennung ihrer Eltern muss sie mit ihrer Mutter zu deren neuen Lover ziehen – ­Hunderte Kilometer weg von ihren Freunden und ihrem Leben. Zu allem Überfluss setzt ihr Stiefbruder Colin alles daran, sie möglichst schnell wieder loszuwerden. Ist er wirklich so dumm zu glauben, sie hätte eine Wahl gehabt?

Zumindest in der Schule scheint es anfangs ganz gut zu laufen und das introvertierte Mädchen findet über den sympathischen ­Valentin schnell Anschluss an eine Clique. Auch Rieke, seine beste Freundin seit Kindertagen, empfängt sie mit offenen Armen. Nur ihre Freundin Lorena reagiert eifersüchtig auf Alia.

Aber dann tauchen Drohzettel mit einer klaren Botschaft auf: „Niemand will dich hier!“ Stecken Colin oder Lorena hinter ­dieser Aktion? Sind die zerstochenen Fahrradreifen und die blutrote ­Botschaft an der Mensawand erst der Anfang? Alia ist unsicher, ob sie ihre neuen Freunde um Hilfe bitten soll. Treibt vielleicht einer von ihnen ein falsches Spiel? Wem kann sie wirklich vertrauen?

Der zweite Band der spannenden „Little Secrets“-Reihe.

Inhalt

Über das Buch

Impressum

Widmung

3 Ich habe meine Superkraft verloren

Was ich am besten kann

Schwarz – wie der Himmel

Vergiss, dass ich existiere

Ich bin die, die niemand will

Der Preis für ein Zimmer

Die meisten Mädels mögen Schokolade

Wir sind nicht, wer wir glauben zu sein

2 Vertrauensbruch

Unser Stiefbruder ist ein Arsch

Der Tag, an dem ich meine Unsichtbarkeit verlor

Verloren

Spring, wenn du dich traust

Der Moment, bevor alles in die Luft fliegt

1 Freunde verraten einander nicht

Verschwinden und unbemerkt bleiben

Wenn wir uns etwas zu sagen hätten

Reingeritten

Wie viel ist genug?

Dinge, die du nicht verstehst

Bis es nur noch mich und die Musik gibt

Nicht mehr allein

Selbst in der Hölle gibt es manchmal Licht

Zwischen Wahrheit und Lüge

Glauben heißt nicht wissen

Der Tag, an dem die Welt sich umdreht

Vom Sein hinter dem Schein

Ich dachte, wir sind …

Ein Zufall, der keiner ist

Mit den eigenen Waffen geschlagen

Wie eine Herde Elefanten

Zwischen Zweifel und Wut

Ich habe keine Worte mehr

Ein Wort und alles bricht zusammen

Verbrannte Erde

Wenn die Wahrheit sich verschiebt

Was würdest du tun?

Wenn es egal ist, welche Entscheidung du triffst

Ich habe dir vertraut …

Wenn ich tot wäre

Spring, wenn du dich traust

Fehler wie wir

Anfang Sommerferien

Der spannende Auftakt der „Little Secrets“-Reihe

Danke

Die Autorin Heidrun Wagner

Weitere Jugendthriller im Verlag

Impressum

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht der mechanischen, elektronischen oder ­fotografischen Vervielfältigung, der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, des Nachdrucks in Zeitschriften oder Zeitungen, des öffentlichen Vortrags, der Verfilmung oder Dramatisierung, der Übertragung durch Rundfunk, Fernsehen oder Video, auch einzelner Text- oder Bildteile.

 

Copyright © 2023 by Maximum Verlags GmbH

Hauptstraße 33

27299 Langwedel

www.maximum-verlag.de

 

1. Auflage 2023

 

Lektorat: Diana Schaumlöffel

Korrektorat:Angelika Wiedmaier

Layout: Alin Mattfeldt

Umschlaggestaltung: Alin Mattfeldt

Umschlagmotiv: © STILLFX / Shutterstock, PUSCAU DANIEL / Shutterstock,

Jacob Lund / Shutterstock, Paradise studio / ShutterstockE-Book: Mirjam Hecht

 

Druck: Booksfactory

Made in Germany

ISBN 978-3-948346-80-5

 

 

Widmung

Für alle,die manchmal schweigen, auch wenn sie etwas zu sagen hätten.

3 Ich habe meine Superkraft verloren

Der Knall der zufallenden Tür hallt durch den Raum. Ich horche auf die immer leiser werdenden Schritte. Draußen auf dem Gang.

Das Beste wäre, wenn du tot wärst!

Es ist nicht eine Stimme, es sind Tausende, zu einem Chor vereint. Sie schreien wieder und wieder nur diesen einen Satz, hören einfach nicht mehr auf.

Ich beiße mir auf die Lippe, versuche, in der Dunkelheit Kon­turen auszumachen und die Tränen wegzublinzeln.

Wenn ich tot wäre.

Früher hat es gereicht, unsichtbar zu sein. Ich hätte nie damit aufhören dürfen.

Da drüben ist Alia. Lass dich von ihr nicht stören, sie gehört zur Dekoration.

Mir ist nicht zum Lachen. Trotzdem pruste ich los und werde sofort wieder still. Meine Stimme klingt falsch. Sie hört sich wie ein Krächzen an. Ich will schreien, aber wage es nicht, noch ein Geräusch zu machen.

Dekoration.

Wenn ich mich damit zufriedengegeben hätte, läge ich jetzt nicht allein und verlassen auf diesem eiskalten Steinboden.

Verflucht, ich will nicht sterben!

Ich versuche mich zu drehen, höre aber sofort wieder auf. Schon die kleinste Bewegung jagt Schockwellen durch meinen Körper. Es gibt keine einzige Stelle, die nicht wehtut. Beinahe so, als wäre ich irgendwo abgestürzt und hätte tausend blaue Flecken und Prellungen.

Warte. Wurde ich die Treppe hinuntergeschleift?

Ich muss hier raus. So schnell wie möglich.

Mit aller Wucht beuge ich mich nach vorne, zerre an den Fesseln. Ein gleißender Schmerz jagt durch meinen Bauch, so als stäche ­jemand mit einem Messer auf mich ein. Ich wimmere, presse die Lippen zusammen, höre auf, mich zu bewegen und warte darauf, dass der Schmerz wieder nachlässt. Mehrere Atemzüge lang ver­harre ich reglos auf der Stelle. Ich kann es vergessen, meine Hände aus dem Seil zu befreien.

Was für ein Mist! Am schlimmsten von allem ist das Hämmern in meinem Kopf, das einfach nicht aufhört. Egal wie lange ich versuche still zu liegen. Trotz der Dunkelheit tanzen weiße Punkte vor meinen Augen. Mir wird schlecht.

Das Beste wäre, wenn du tot wärst!

Wenn ich mich weiter bewege, muss ich mich übergeben. Wenn ich mich nicht mehr bewege, bekomme ich die Hände niemals frei.

Heißt das, ich hänge hier fest?

Für immer?

Ein Laut kommt aus meiner Kehle, und ich weiß selbst nicht, ob es ein Lachen oder ein Husten ist. Die Schmerzen sind zu stark, ich kann mich nicht konzentrieren. Lachen, ich muss lachen, sonst ersticke ich an der Dunkelheit!

Nein, ich hänge nicht für immer hier fest. Allerhöchstens bis ich verdurstet bin.

Wie konnte ich meine Superkraft verlieren? Solange mich ­niemand bemerkt hat, hat mich auch keiner gehasst.

Was ich am besten kann

So we’re lost in the upside down

Tell me what you hear in the silence now

All I wanna do is dance

Here in Wonderland

 

(Axel Johansson, Wonderland)

Mamas Lover holt uns am Bahnhof ab. In echt sieht er noch ­geleckter aus als auf dem Profilbild, das sie mir in ihrem ­Messenger gezeigt hat. Ich entdecke ihn vor Mama und schaue sofort ­wieder weg. Eher würde ich mir die Hand abhacken, statt zu ihm zu ­deuten, damit sie ihn bemerkt. Vielleicht fahren wir wieder nach Hause, wenn sie sich im Gedränge verpassen? Das ist Quatsch, ich weiß das. Trotzdem rede ich es mir ein. Auch wenn die Illusion in weniger als drei Minuten geplatzt sein wird.

Nach Hause.

Ich habe kein Zuhause mehr oder wie Mama es so schön ausgedrückt hat:

Das wird jetzt dein neues Zuhause! Du wirst sehen, du wirst es lieben.

Werde ich nicht.

»Da ist er!«, kreischt Mama und hebt die Hand. »Marco!«

Obwohl er bestimmt fünfzehn Meter entfernt ist, dreht ihr Lover den Kopf in unsere Richtung, und von einer Sekunde zur nächsten liegt ein Strahlen auf seinem sonnengebräunten Gesicht. Trotz der breiten Schultern schafft er es, sich gegen den Strom der anderen Passagiere zu uns durchzuschlängeln. Na ja, nicht zu uns. Zu Mama. Er lässt sie nicht eine Sekunde aus den Augen.

»Natalie«, haucht er und schließt sie in die Arme.

Bei dem ultraweichen Klang seiner Stimme stellen sich mir die Nackenhaare auf. Ich will nicht sehen, wie Mama sich an ihn heranwirft, schaffe es aber nicht, schnell genug wegzuschauen, und das Bild brennt sich in mein Gedächtnis.

Natalie. Ich kenne niemanden, der Mama mit ihrem vollen ­Namen anspricht. Für alle ihre Freunde ist sie einfach Lile. Ob ihr Lover sie immer noch Natalie rufen würde, wenn er wüsste, dass Papa sie genauso nennt, seit die Streitereien angefangen haben? Nur mit mehr Schärfe im Tonfall und der Betonung auf Na statt lie.

»Hier.« Ihr Lover lehnt sich ein Stück zurück und hält ihr eine Rose hin.

Wo hat er die auf einmal her?

»Ach, Marco!« Mama kichert, streicht sich durch ihre kurzen, braunen Haare, und wird im Gesicht so rot wie die Rose, die sie von ihm entgegennimmt. »Das wäre doch nicht nötig gewesen!«

Oh. Mein. Gott. Muss sie sich aufführen wie ein dreizehnjähriges Fangirl? Ich presse eine Hand gegen die Stirn und tue so, als müsste ich mich am Kopf kratzen. In Wahrheit kann ich mir diese Szene keine Sekunde länger ansehen, ohne laut aufzustöhnen. Das käme bei Mama garantiert nicht gut an. Dummerweise lenke ich mit der Bewegung die Aufmerksamkeit ihres Lovers auf mich.

»Hallo! Du musst Alia sein«, spricht er mich an. Er lässt Mama los und dreht sich zu mir. Eine Strähne seines perfekt nach hinten gegelten dunklen Haars fällt ihm ins Gesicht. »Ich habe dich gar nicht bemerkt.«

Ja, mach dir nichts draus, Marco, da bist du nicht der Einzige. Ich bin Meisterin im Nicht-Gesehen-Werden. Vielleicht sollte ich doch auf Hannah hören und mich beim Bundesnachrichtendienst bewerben? Ich wäre die perfekte Spionin. Nach den Schulpartys kann sich auch nie jemand erinnern, ob ich dabei war oder nicht.

»Ich bin Marco«, stellt er sich überflüssigerweise vor.

Ihm muss doch klar sein, dass ich seinen Namen schon tausendmal gehört habe.

»Schön, dass wir uns endlich kennenlernen. Deine Mutter hat mir viel von dir erzählt.« Immer noch das strahlende Lächeln im Gesicht, streckt er mir seine große Hand hin.

Hat sie? Das bezweifle ich.

Ich mache das, was ich am besten kann.

Schweigen.

Um ihm nicht die Hand geben zu müssen, tue ich so, als würde mein Koffer zu schwer werden und halte ihn mit beiden Händen.

»Alia!« Mama stößt mich von der Seite an und lacht. Ihr Lachen klingt gekünstelt. »Sie ist etwas schüchtern, das habe ich ja schon erwähnt«, sagt sie an ihn gerichtet, und es hört sich an, als würde sie über einen Hund reden.

Er meint das nicht so, er will nur spielen!

Doch. Ich meine es genau so. Ich will mit diesem Typen nichts zu tun haben, und sie weiß das!

»Kein Problem, wir haben ja noch eine Menge Zeit, um uns besser kennenzulernen. Stimmt’s?«, sagt er und zwinkert mir zu.

Statt darauf zu reagieren, starre ich auf einen Punkt zwischen seinen Augen, wo sich ganz langsam eine kleine Falte bildet. Sein Lächeln verblasst. Schnell beiße ich mir auf die Innenseite der Wange. Sonst muss ich grinsen.

Die erste Runde geht an mich. Mal sehen, wie lange du dich noch auf unsere gemeinsame Zeit freust, Marco!

»Also, dann zeige ich euch mal euer neues Zuhause. Gebt mir eure Koffer.« Er nimmt mir meinen Koffer aus den Händen.

Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich Backsteine hineingepackt. Oder den Verstärker für meine Geige. Nein, der wäre zu leicht gewesen.

Er streckt die Hand noch nach meinem spacig-dreieckig geformten mintgrünen Geigenkasten aus, den ich mir mit einem Band um die Schulter gehängt habe. Im letzten Moment weiche ich einen Schritt zurück und schüttle den Kopf. Meine Geige vertraue ich ihm niemals an. Eher sterbe ich!

»War die Umzugsfirma schon da?«, fragt Mama, während sie neben ihm über den inzwischen fast menschenleeren Bahnsteig geht.

Das Weiß seines Hemds leuchtet grell im Sonnenlicht und passt kein bisschen zu ihrem langärmligen gelben Kleid.

»Heute Morgen, wie verabredet. Eure Sachen sind alle gut angekommen«, antwortet er.

Ein Windstoß plustert die Hosenbeine meiner dunklen Stoff­hose auf, die ich an den Beinen unten zusammengeschnürt habe. Ich lasse mich einen Schritt zurückfallen, trotte hinter ihnen her und ­konzentriere mich darauf, unsichtbar zu sein. Wenn ich Glück habe, vergessen sie mich.

*

»Hier wären wir!« Mamas Lover bremst vor einer vierstöckigen Altbauvilla und fährt im Schritttempo auf das sich langsam öffnende Garagentor zu. »Wir wohnen im dritten Stock.«

Hat sie sich deshalb mit ihm eingelassen? Weil sie in einer ­Wohnung mit hohen Decken und großen Fenstern mehr Luft bekommt als in dem engen Vorstadtreihenmittelhaus, in dem unser Nachbar jedes Mal an die Zwischenwand klopft, sobald Finley oder ich auf der Treppe rennen? Das ist nicht der Grund, ich weiß das. Es wäre viel zu einfach, wenn es für alles eine naheliegende Er­klärung gäbe.

»Steigt ihr schon mal aus?« Mamas Lover wirft mir einen Blick über die Schulter zu. Ich tue so, als hätte ich ihn nicht gehört und schaue weiter an ihm vorbei zu dem Haus.

»Alia!« Mama dreht sich um und fasst nach meinem Knie. »­Entschuldige, Schatz, sie ist manchmal total verträumt«, sagt sie zu ihm.

Das Lächeln auf ihrem Gesicht ist kein echtes Lächeln. Es ist mehr ein Mundverziehen aus Verlegenheit. Das macht sie immer, wenn ihr etwas peinlich ist. Meistens hat es mit mir zu tun. Okay, sie macht es immer, wenn ich ihr peinlich bin. Finley gibt ihr nie einen Anlass, sich zu schämen. Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte sie ihn mitgenommen, nicht mich. Darauf würde ich sogar meine Geige verwetten.

Nachdem ich immer noch nicht reagiere, dreht sie sich zum Türgriff. Sobald sie sich von mir abgewandt hat, schaue ich zu ihrem Lover. Für den Bruchteil einer Sekunde sehen wir uns in die Augen. Seine sind hellbraun, und obwohl er lächelt, wirkt er verkrampft.

Wusste ich es doch. Er ist alles andere als begeistert. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte Mama wahrscheinlich alleine zu ihm ziehen sollen.

Ich starre ihn weiter an, ohne irgendeine Regung zu zeigen. Mama drückt die Tür auf und steigt aus.

»Ist alles ein bisschen viel. Hm?«, fragt er, sobald sie die Autotür hinter sich zugeschlagen hat.

Das Lächeln auf seinen Lippen wirkt einen Tick weniger ­gezwungen als eben. Ich sage nichts, sehe ihm weiter in die ­Augen, und diesmal schweige ich nicht nur, weil ich ihn auflaufen ­lassen will. Ich schweige, weil mir die Worte fehlen, um den Orkan zu ­beschreiben, der in mir tobt, seit Mama und Papa beschlossen ­haben, dass ich nach den Pfingstferien mit ihr zu ihrem Lover ­ziehe. Zweihundertvierundachtzig Kilometer weit weg von zu Hause.

Einem Zuhause, das es nicht mehr gibt.

Ich habe keine Ahnung, wie ich den Orkan stoppen kann. Ist es nicht sowieso zu spät? Er hat doch schon alles niedergerissen, und jetzt kann ich sehen, wie ich in den Trümmern zurechtkomme.

Mama reißt meine Tür auf und greift nach meinem Arm. »Komm, Alia. Marco will in die Garage fahren.«

Ich lasse mich von ihr aus dem Auto ziehen und halte den Blickkontakt mit ihrem Lover so lange, bis ich mich durch die Tür ­ducken muss.

Er hätte mich sowieso nicht verstanden. Selbst dann nicht, wenn ich gewusst hätte, was ich ihm antworten soll.

Schwarz – wie der Himmel

»Kommt rein. Du willst wahrscheinlich als Erstes dein Zimmer sehen, oder Alia?« Mamas Lover stellt unsere Koffer vor einem Schuhschrank in einem breiten Flur ab, der sich nach rechts zu ­einem Wohn- und Essbereich öffnet.

Mein Zimmer? Ich weiß, wie mein Zimmer aussieht, vielen Dank auch. Wenn ich könnte, würde ich mich in meinem Bett ver­kriechen und erst wieder aufstehen, wenn dieser Wahnsinn vorbei ist. Aber mein Bett ist Hunderte von Kilometern entfernt und Beamen ­wurde noch nicht erfunden.

Insofern, nein Marco, selbst wenn ich mein Zimmer sehen wollte, könntest du mir nicht helfen.

»Hier!«, sagt er, mit einem Lachen im Gesicht und geht zu einer Tür schräg gegenüber des Eingangs.

Bevor er sie öffnet, sehe ich das rote Poster mit schwarzblauer Schrift und einem Totenkopf.

 

 

Er bemerkt meinen Blick. »Ich habe das Poster erst mal hängen lassen. Wusste nicht, was du mitbringst und was dir gefällt. Aber du kannst es entfernen, wenn du es nicht magst.«

Mama legt eine Hand auf meine Schulter und schiebt mich in das Zimmer.

Sperrgebiet …

Das Poster kann bleiben. Könnte mir keinen besseren Namen für dieses Zimmer vorstellen, in dem ich nicht sein will. An der linken Wand ist ein Fenster und gegenüber eine Glastür, die auf einen Balkon führt. Ein Zimmer mit Balkon? Bin ich falsch abgebogen und in einem Hotel gelandet? Moment. Weht da draußen an der Seite ein Vorhang? Super. Der Balkon hat noch einen zweiten Zugang. Wenigstens kann man das Bett rechts im Eck von draußen aus nur sehen, wenn man direkt vor der Balkontür steht. Das Bett. Wie schmal ist das bitte?

Die Wand hinter dem Kopfende des Bettes ist komplett schwarz gestrichen, mit weißen Punkten, die ein unregelmäßiges Muster ergeben.

»Das haben Colin und ich vor ein paar Jahren zusammen ­gemacht«, erklärt Mamas Lover. Er lacht und fasst sich in den ­Nacken. »Das war in seiner Weltraumphase. Die Punkte ergeben unsere Sternzeichen.«

»Was für eine süße Idee«, murmelt Mama, und sie lächeln sich an.

»Wir können das übermalen, ich wollte nur vorher mit dir ­besprechen, ob du die Wände einfach weiß haben möchtest oder lieber in einer anderen Farbe«, wendet er sich wieder an mich.

Übermalen. Viel Spaß dabei, Marco. Niemals bekommst du die schwarze Wand wieder weiß. Finleys Wand hat immer noch einen Rosastich und das, obwohl er das Rot ungefähr acht Mal über­strichen hat.

Ich zucke mit den Schultern und drehe mich weg. Es ist mir egal, ob die Wand schwarz oder weiß ist. Ich habe nicht vor, lange zu bleiben.

Links neben der Tür steht ein leeres Regal, direkt vor dem ­Fenster sind ein Schreibtisch und ein schwarzer Drehstuhl mit orangen Streifen. Neben der Balkontür ist noch ein alter Holzschrank, und das ist alles. Im Vergleich zu meinem Zimmer ist das hier total leer, obwohl es ein ganzes Stück größer ist. Keine Sitzecke zwischen Schrank und Schreibtisch gequetscht. Keine halb verdorrte Yuccapalme. Und trotzdem fühlt es sich zu voll an. In jedem Quadrat­zentimeter kann ich die Energie dieses Colins spüren, der sein ­Zimmer für mich räumen musste.

Ich kann hier drin nicht atmen!

»Natalie meinte, dass du deine Möbel nicht mitbringen wolltest.«

Bitte? Wenn ich sie mitgenommen hätte, könnte ich ja nie wieder zurückgehen. Ich starre Mamas Lover an.

»Bernd und ich sind übereingekommen, dass es sinnvoller ist, wenn Alia bei ihm noch ein Zimmer hat, falls sie über die Sommerferien für zwei oder drei Wochen zu ihm fährt«, mischt Mama sich ein.

»Ja, so war es bei Colin auch.« Mamas Lover geht zur Balkontür und macht sie auf. »Aber jetzt ist er achtzehn, und er und ­seine ­Mutter wohnen sowieso nicht weit weg. Ich glaube, er hat das ­Zimmer hier im letzten halben Jahr schon nicht mehr zum Übernachten genutzt. Wenn ihr wollt, können wir neue Möbel kaufen. Wie hört sich das an?«

Grandios.

Scherz. Ich erwidere seinen Blick und schüttle den Kopf. Nein, danke.

»Alia!«, fährt Mama mich an. »Das ist total nett von Marco, dass du dir das Zimmer hier so einrichten kannst, wie du es möchtest. Und von Colin auch! Wann lernen wir ihn eigentlich kennen?«, wendet sie sich an ihren Lover.

»Er kommt später zum Abendessen vorbei. Und morgen holt er dich ab, Alia. Er geht auf die gleiche Schule wie du, ist jetzt im letzten Jahr. Ihr könnt zusammen mit den Rädern fahren. Colin hat noch ein Ersatzrad. Das kannst du nehmen. Und er kann dich in der Schule herumführen, damit du gleich alles findest.«

Großartig. Will er mich vielleicht noch an der Hand nehmen und bei meiner Klassenlehrerin abgeben? Ich unterdrücke ein ­Schnauben. Nichts anmerken lassen, nicht zucken. Pokerface.

Ein Babysitter, der von Mamas Lover angeheuert wurde. ­Extra für mich. Kann Colin morgen bitte einen Platten haben? Oder spontan über Nacht Fieber bekommen?

»Du kannst dir alles in Ruhe durch den Kopf gehen lassen«, sagt Mamas Lover, ehe er das Zimmer über den Balkon verlässt. »Das Angebot für neue Möbel steht auch noch in ein paar Monaten.«

Die Worte nehmen mir kurz die Luft. In ein paar ­Monaten? Heißt das, ich soll nach den Sommerferien wieder hierher zurückkommen?

*

Mama lässt mich auch allein. Damit ich in Ruhe auspacken kann. Dabei habe ich fast nichts mitgenommen. Nur den Koffer, voll mit Sommerklamotten, einen Karton mit Waschzeug, vier Paar Schuhen, der orangen Regenjacke und meinen PC. Das Wichtigste von allem sind die Geige und der Verstärker, der von der Umzugsfirma hierhergebracht wurde. Der Rest ist zu Hause in meinem wirklichen Zimmer. Egal was Mamas Lover sagt, ich werde nach dem Sommer wieder dort wohnen. Sie können mich nicht zwingen, hierzubleiben!

Ich mache mir etwas vor. Wenn sie es nicht könnten, wäre ich nie mitgekommen. Langsam rutsche ich an der schwarzen Wand nach unten, bleibe neben dem Bett sitzen und ziehe das Handy aus der Tasche.

Hannah hat ihr Profilbild geändert. Es sind nicht mehr unsere Fußspuren im Schnee mit den beiden Herzen, sondern sie und Tilde. Arm in Arm, jede einen Basketball trippelnd. Klar, im Juni passt ein Schneebild nicht mehr. Aber warum ändert sie es ausgerechnet an dem Tag, an dem ich wegziehe?

Bin angekommen …

Ich schreibe es in den Gruppenchat. Nicht nur, weil ich keine Lust habe, Hannah direkt zu kontaktieren und so zu tun, als ob alles in Ordnung wäre. Profilbild hin oder her. Ich schreibe es in den Gruppen­chat, weil Bastian dort mitliest und ich ihn schlecht persönlich antexten kann, das wäre total schräg. Ich glaube, ich habe noch keine drei Worte mit ihm geredet, seit er bei uns an der Schule ist. Dabei hätte ich eineinhalb Jahre Zeit gehabt. Hannah würde mir jetzt in den Hintern treten.

Woher soll er bitte wissen, dass du auf ihn stehst, wenn du ihn laufend ignorierst? Das hat sie mich oft gefragt.

Ja, ich stelle es mir genau so vor: Bastian hat sich bei unserer ­ersten Begegnung sofort in mich verknallt, als ich beim Verlassen des Klassenzimmers versehentlich in ihn hineingerannt bin. Und genau wie ich weiß er seit fünfhundertsiebenundvierzig Tagen nicht, wie er mich ansprechen soll.

Unwahrscheinlich.

Soweit ich das beurteilen kann, hat er keine Probleme, mit ­irgendwem zu reden.

Aber nicht unmöglich!, erklärt mir Hannah immer wieder.

Wieso hat sie noch nicht geantwortet?

Ich stehe auf, mache ein Foto von der schwarzen Wand und s­chicke es an Finley und Papa.

Ein Zimmer zum Wohlfühlen, oder?

Finley antwortet sofort, allerdings nicht in dem Chat, den ich eben für ihn und Papa eröffnet habe. Er schreibt mich direkt an.

Seid ihr angekommen? Was ist das?

Die Wand in dem Zimmer, in dem ich ab jetzt schlafen und wohnen soll.

Ernsthaft???

Nein, du Idiot, ich verarsche dich. Wenn er noch mehr blöde Fragen stellt, blockiere ich seine Nummer. Ich bin kurz davor, das Handy gegen die Wand zu knallen. Es ist so unfair! Ich muss mit Mama zu ihrem Lover ziehen, und mein dreizehnjähriger Bruder darf zu Hause bleiben. Nicht, dass es bei Papa gerade besser wäre, so ­wütend wie der ist. Aber Finley ist nicht gezwungen, irgendwo am Ende der Welt neu anzufangen. Er hat immerhin noch seine ­Freunde um sich und musste nicht die Liebe seines Lebens verlassen, bevor er die Chance hatte, ihr das zu sagen! Und nein, ich hatte nicht genügend Zeit, um Bastian gegenüber den Mund aufzumachen.

Hier ist es gerade auch nicht viel besser …

Finley schickt ein Foto von der Wand in unserem Wohnzimmer, an der Mama seit Jahren die besten Schnappschüsse der ­Familie aufhängt. Nur hängen da keine Bilder mehr. Kleine Quadrate und Rechtecke markieren die Stellen, an denen sie waren. Sie sind nur zu erkennen, weil sie einen winzigen Tick heller sind als der Rest der vergilbten Wand. Bevor ich reagieren kann, kommt das ­nächste Foto. Es zeigt das Innere unserer Mülltonne, in dem sich die Bilder­rahmen auf Mülltüten stapeln. Dazwischen funkeln ein paar Glassplitter.

IHR HABT DIE FOTOS WEGGEWORFEN???

Papa. Keine Sorge, die Fotos habe ich gerettet. Er sieht sowieso nie in meinen Schrank.

Sorry …

Wofür?

Dafür, dass ich sauer auf dich bin, weil du zu Hause bist, während ich hier am Ende der Welt sitze. Dabei ist es ganz sicher kein Spaß, allein mit Papa zu sein. Jetzt, nachdem Mama Ernst gemacht hat.

Nur so.

Mehr schreibe ich nicht. Mehr wäre gelogen. Finley hat es trotzdem tausendmal besser, wenn ihm alles zu viel wird, kann er zu seinen Freunden. Jederzeit.

Hey, Süße! Und? Wie ist es so in der neuen Stadt?

Es ist eine Nachricht von Hannah im Gruppenchat. Endlich.

Einsam.

Hoffentlich liest Bastian das und versteht, was das heißt. Melde dich! Ich brauche deine Unterstützung. Verstanden?

Schaffst du es übernächstes Wochenende zu unserer Feier?

Es ist wieder Hannah, die mir antwortet und nicht Bastian.

Ich hoffe …

Die Feier. Ich habe es Mama und Papa gesagt, und wie immer ­waren sie sich einig, sobald es um mich ging.

Ich denke, es wäre besser, wenn du nicht gleich wieder zurückfährst. Du brauchst Zeit, um dich einzuleben, hat Mama gemeint.

Als ob ich mich hier einleben wollte.

Ich halte das für keine gute Idee, war alles, was Papa dazu zu sagen hatte.

Ich hätte nicht einmal das Geld für die Fahrt. Außer ich packe meine Tasche und versuche mein Glück mit Trampen. Wenn ich das mache, rasten sie beide aus. Insofern, nein, wahrscheinlich schaffe ich es nicht zu der Feier.

Die Erkenntnis erdrückt mich, und wieder fühle ich mich hilflos und ohnmächtig, weil ich angewiesen bin auf das, was Mama und Papa für mich entscheiden, ohne irgendetwas dagegen tun zu ­können. Verschwommen sehe ich den mintgrünen Geigenkasten neben dem Bett liegen, greife danach, lasse ihn aufschnappen und nehme die Geige heraus. Es bleibt keine Zeit, um jetzt zu ­spielen. Mama kann jeden Moment reinkommen und mich zum Essen ­holen, aber allein das Gewicht der Geige in meinen Händen ­beruhigt mich und vertreibt den Knoten in meinem Hals. Ganz leise summe ich die Melodie von Master of Tides, denke an ­Lindsey Stirling, wie sie in dem Musikvideo als mutige Kapitänin ihre Mannschaft mit ihrem Geigenspiel vor den Seemenschen beschützt und muss lächeln. Ich drücke die Geige an die Brust, schließe die Augen und kann endlich wieder durchatmen.

Es melden sich noch ein paar andere Leute im Chat und ­wünschen mir viel Glück. Bastian ist nicht dabei. Er ist einfach zu schüchtern. Das würde ich gern glauben. Aber wie gesagt, Schüchternheit zählt nicht zu seinen Kernkompetenzen.

Vergiss, dass ich existiere

Colin kommt nicht. Wie es aussieht, wird er mich auch morgen früh nicht abholen, um den Babysitter zu spielen. Angeblich ist er krank. Seine Mutter hat angerufen, und so wie Mamas Lover ­reagiert, glaubt er die Story genauso wenig wie ich.

»Soll ich dich hinbringen?«, fragt er beim Abendessen.

Er hat thailändisches Essen für uns bestellt, und ich habe keine Lust, es zu probieren.

Mich hinbringen? Spinnt er? Für wie alt hält er mich? Acht?

Hallo, Marco, zu deiner Info: Ich bin fünfzehn und kein kleines Kind mehr!

Warum gibt er mir nicht einfach die Adresse, und ich schaue auf dem Handy nach, wie ich dorthin komme? Ich sage kein einziges Wort, sehe ihn nur an und schüttle den Kopf. Hat er das überhaupt bemerkt?

»Alia.« Mama stupst mich an.

Sie sitzt neben mir und ihm gegenüber. Zum Glück ist Colin nicht gekommen. Sie hätten ihn bestimmt mir gegenüber platziert, und er hätte mich die ganze Zeit angestarrt. Darauf kann ich gut verzichten.

»Gib bitte Marco eine Antwort«, fordert Mama mich auf.

Ich kann nicht. Ich bringe genauso wenig ein Wort heraus, wie ich einen Bissen hinunterbringe. Das versteht sie nicht, das hat sie noch nie verstanden.

»Oder willst du das Rad nehmen? Wir können die Route ausdrucken, die Schule ist nicht so weit weg.« Mamas Lover zieht seine dunklen Augenbrauen hoch und lächelt mich an. »Fühlt sich wahrscheinlich besser an, als von einem alten Knacker wie mir ­gebracht zu werden.«

»Marco!« Mama lacht auf. »Du spinnst. Als ob du so alt wärst!«

Sie lachen beide, und ich versuche nicht laut aufzustöhnen. ­Müssen sie vor meinen Augen so heftig flirten? Wenigstens hat sich das Thema Zur Schule bringen erledigt. Nach dem Essen druckt M­amas Lover mir den Routenplan aus. Und nein, ich bin ihm nicht dankbar.

Kein Stück.

*

Bevor ich ins Bett gehe, wühle ich in allen Umzugskartons, bis ich meinen Schlafsack und eine Isomatte finde. Ich lege beides ­neben dem Bett auf den Boden. In hundert Jahren werde ich nicht in ­diesem Bett schlafen, das einem fremden Typen gehört. Colin schiebt wahrscheinlich einen Hass auf mich, weil sein toller Vater mir sein Zimmer gegeben hat. Ich hätte einen Hass, ganz egal wie lange ich schon nicht mehr hier übernachten würde.

An Schlafen brauche ich sowieso nicht zu denken mit den ­tausend Gedanken, die mir durch den Kopf schwirren.

Warum hat Hannah das Profilbild getauscht? Wollte Papa wirklich alle unsere Bilder wegwerfen? Kann er so auch unsere Vergangenheit auslöschen? Wieso hat Bastian mir nicht wenigstens im Gruppenchat viel Glück gewünscht, wenn er sonst schon nicht ­reagiert? Bin ich ihm egal? Warum muss ich morgen zwischen ­lauter fremden Menschen sitzen, mit denen ich genauso wenig zu tun haben will wie sie mit mir?

Was wäre, wenn ich einfach in den nächsten Zug steige und nach Hause fahre? Wirst du wegen Schwarzfahrens belangt, wenn du dich in einer Notsituation befindest? Würde die Polizei mich zu Papa bringen, wenn der Schaffner mich aus dem Zug wirft? ­Bestimmt, wenn ich ihnen nur seine Adresse gebe. Was soll das bringen? Er würde mich sofort wieder hierherschicken. Selbst wenn ich ohne Polizei vor der Tür stehe.

Warum kann ich jetzt nicht Geige spielen, mich ablenken und die blöden Fragen vergessen? In der Stille höre ich sie viel zu deutlich. Das halte ich nicht aus! Ich setze die Kopfhörer auf und konzentriere mich auf Lindseys Geigenspiel. Lindsey Stirling. Brave Enough, ihr drittes Album. Sie macht die coolsten Videos überhaupt. Ich muss nur die Augen schließen, und sie laufen vor mir ab. Auch ohne YouTube. Die Lautstärke drehe ich so weit auf, bis sie schrill genug ist, um meine Gedanken zu übertönen. Ich träume mich in Lindseys Videos und vergesse für den Moment, wo ich bin.

*

Vor Stundenbeginn soll ich mich im Sekretariat melden, und ich habe keine Ahnung, wo es ist. Wenn Colin sich nicht gedrückt ­hätte, hätte er mich hinbringen können. Das hätte alles ­leichter gemacht, nein, wahrscheinlich nicht. Bestimmt wäre alles nur ­komplizierter geworden. Ich könnte irgendjemanden aus der Masse der anderen Schüler fragen, wo ich hinmuss, aber ich frage nicht. In der Eingangs­halle entdecke ich einen Schaukasten und drängle mich dorthin. Neben dem Schaukasten hängt eine Tafel mit einem Grundrissplan der Schule. Glück gehabt.

Die Anmeldeprozedur im Sekretariat geht schneller als ­erwartet, offensichtlich hat Mama sich schon per Mail um das meiste ­gekümmert. So schaffe ich es, mit dem Gongschlag im Klassen­zimmer der 9c anzukommen. Die haben einen ganz schön beknackten Stundenplan. Wer legt bitte ausgerechnet Mathe in die ersten beiden Stunden am Montagmorgen? Die Lehrerin gibt mir fünf Minuten Zeit, um mich vorzustellen. Ich hätte gut ­darauf verzichten können, aber ich habe damit gerechnet und leiere ­einen auswendig gelernten Text über mich selbst herunter, ohne ein einziges Mal zu stocken. Obwohl ich vor achtundzwanzig fremden Menschen stehe. Ich zähle sie beim Sprechen, und ich schaffe es, sie mit meiner Vorstellung so zu langweilen, dass keiner mehr eine Frage stellt.

Die Mathelehrerin weist mir einen Platz an einem leeren Tisch in der ersten Reihe zu, direkt an der Wand, und startet mit dem ­Unterricht. Es ist mir recht. Wenn alles so läuft wie immer, haben mich die meisten bis zum Stundenende wieder vergessen.

Nach der Doppelstunde sind zwanzig Minuten Pause, und wir müssen alle das Klassenzimmer verlassen. Eines der Mädchen kommt auf mich zu. Sie trägt ein dunkelrotes Shirt und enge Jeans. Das helle Blond ihrer kurzen Haare fällt mir sofort auf. Ihr Pony reicht bis zum Kinn und umrahmt ihr rundes Gesicht.

»Und? Wie war es an deiner alten Schule so?«, fragt sie.

Ich zucke mit den Schultern. Keine Ahnung. Es ist nicht so, als ob ich außer mit Hannah mit vielen Leuten etwas zu tun gehabt hätte.

»Na? Welche Mädels aus unserem Jahrgang findet ihr heiß?« ­Tilde stand auf dem Gang, neben ein paar Jungs aus unserer ­Klasse. »­Abgesehen von mir natürlich«, setzte sie hinzu und fuhr sich ­kichernd durch ihr langes, dunkles Haar.

»Dich, klar …« Jan verdrehte die Augen.

»Steht ihr auf kurze oder lange Haare?«, mischte Hannah sich ein.

Wir waren zusammen auf dem Weg zum Schulhof gewesen. Aber sie ließ mich stehen und schwenkte zu den anderen hinüber.

»Kommt drauf an …«, erwiderte einer von Jans Freunden.

»Gefärbt oder ungefärbt?«, fragte Tilde weiter.

»Oder ausgefallene Frisuren, so wie Alia eine hat?« Hannah gab den Jungs keine Chance, Tildes Frage zu beantworten.

»Alia wer?«, warf Jan ein, und alle lachten.

»Ach komm, hör auf! Als ob du nicht wüsstest, wer Alia ist.« Hannah boxte Jan in die Seite.

»Ganz ehrlich? Wenn sie nicht ab und zu aufgerufen werden würde, könnte man vergessen, dass sie überhaupt existiert«, sagte einer von Jans Freunden.

Ich stand an der Ecke und hörte jedes Wort, aber ich glaube, selbst Hannah hatte vergessen, dass ich noch da war und auf sie wartete.

Ich streiche mir durchs Haar.

Ausgefallene Frisur.

Hannah hat nie verstanden, wieso ich so herumlaufe. Obwohl ich ihr unzählige Videos von Lindsey gezeigt habe. Genau wie Lindsey in ihren älteren Musikvideos habe ich einen angestuften Pony, der vorne bis zu meinen Augen reicht und links und rechts zwei dünne geflochtene Zöpfe bis über die Schultern. Der Rest meiner Haare ist ungefähr kinnlang und an den Seiten und hinten strubbelig aufgebauscht. Mithilfe von ungefähr einer Tonne Volumenspray.

»Also, wir sind meistens da drüben«, sagt das Mädchen aus ­meiner neuen Klasse.

Ich zucke zusammen, hatte sie total vergessen.

Sie deutet den Gang entlang zu einer Sitzecke neben einem ­Kiosk. »Wenn du willst, kannst du ja vorbeikommen. Okay?«

Ich nicke, will es mir nicht an Tag eins mit allen verscherzen. Sie lächelt mir noch einmal zu und dreht sich weg. Wahrscheinlich habe ich es mir gerade verdorben. Blöd herumstehen und keine Antwort geben, fällt sicher nicht in die Kategorie sympathische neue Mitschülerin.

Es kann mir egal sein, oder? Ich habe sowieso nicht vor, lange zu bleiben. Wahrscheinlich hat sie mich bis morgen wieder vergessen, so wie Jan und seine Freunde.

Alia, das Mädchen, das nie den Mund aufbekommt. Warum ­denken immer alle, ich hätte nichts zu sagen, bloß weil ich ­schweige? Wie oberflächlich musst du sein, um an so einen Schwachsinn zu glauben?

Ich bin die, die niemand will

Ein Typ drängt sich an mir vorbei, und sein Rucksack knallt ­gegen meinen Arm, weil er ihn nur auf einer Schulter trägt. Es fühlt sich an, als würde es mir die Knochen zermalmen. Was hat er da reingepackt? Steine? Er merkt noch nicht einmal, dass er jemanden angerempelt hat. So viel zum Thema Sichtbarkeit …

Ich reibe die Stelle, die er getroffen hat. Das gibt ganz sicher einen blauen Fleck. Egal. Ich habe keine Lust, mich mit ihm auseinanderzusetzen. Zwangsweise muss ich hinter ihm herlaufen, ich will nach draußen, und er steuert genau auf die Tür zu. Statt weiter seinen Rucksack anzustarren, schaue ich lieber auf den Boden. Ich kann mich besser konzentrieren, wenn ich die Menschen um mich herum ausblende. Ein Verbandstäschchen fällt mir vor die Füße. Zumindest sieht das Teil aus wie ein Erste-Hilfe-Set. Wieso sollte sonst ein rotes Kreuz auf dem blau-orangen Stoff aufgenäht sein? Ist es aus dem Rucksack des Typen gefallen?

Toll. Wie es aussieht, hat er das noch nicht einmal mitbe­kommen. Er läuft einfach weiter. Egal. Irgendjemand wird das Ding schon finden und ihm zurückgeben. Ich sicher nicht. Bei meinem Glück ist das noch Colin, und auf eine Begegnung mit dem kann ich gut verzichten.

Ich schüttle den Kopf und steige so unauffällig wie möglich über das Verbandstäschchen. Ist es selbst genäht? Hoffentlich war es kein Geschenk. Ich sehe noch einmal zu dem Typen, der jetzt schon drei Schritte von mir entfernt ist. Moment. Das ist kein Walker-Zeichen auf dem Tuch an seinem Rucksack, oder? Bitte, lass es irgendetwas anderes sein, aber nicht das Walker-W.

Ich kneife die Augen zusammen. Verdammt, er ist ein Walker. Ich kann ihn nicht im Stich lassen, das bin ich Bastian schuldig. Wie viel Pech kann man haben? Ich bücke mich und hebe das Verbands­täschchen auf. Um den Typen einzuholen, muss ich fast schon ­rennen. Statt ihn anzusprechen, fasse ich nach seinem Arm. Er wirbelt herum und schlägt mir seinen blöden Rucksack beinahe gegen die Nase. Ich schaffe es gerade noch zurückzuspringen.

»Was ist?«, stößt er hervor.

Er klingt nicht sauer, eher erschrocken. Wortlos halte ich ihm das Verbandstäschchen vors Gesicht.

»Oh … danke.« Er greift danach, und sobald er es berührt, lasse ich los.

Ich will mich wegdrehen, wir sind fertig hier, doch dann bemerke ich das Lächeln. Das ganze Gesicht des Typen strahlt von diesem einen Lächeln. Ich habe noch nie jemanden so lächeln sehen und merke, wie meine Mundwinkel sich automatisch nach oben ziehen.

Was mache ich hier? Ich werde wieder ernst und weiche einen weiteren Schritt zurück. Mag der Typ keine Farben? Sein Rucksack hat den gleichen Schwarzton wie sein T-Shirt und die Jeans.

»Ich schätze, ich hätte den Reißverschluss zumachen sollen.« Er strahlt mich immer noch an und streicht sich durch die kurzen, ver­wirbelten Haare.

An den Seiten und hinten sind sie rasiert. Bastian hat längere Haare. Wie komme ich jetzt auf Bastians Haarlänge? Bin ich blöd? Ich zucke mit den Schultern und will an dem Typen vorbei zur Tür gehen.

»Kann ich …«, fängt er an, aber weiter kommt er nicht.

Von der anderen Seite springt ein Mädchen auf uns zu, nein, auf ihn, nicht auf mich.

»Valentin!«, ruft sie mit einer durchdringenden hellen Stimme. »Wo bleibst du? Wir warten seit Ewigkeiten!«

Sie hakt sich bei ihm ein und zieht ihn von mir weg.

»Ich …«, fängt er an, er dreht sich noch einmal nach mir um, aber ich achte nicht mehr auf ihn.

Das Mädchen ist mir auf Anhieb sympathisch. Trotz ihrer leicht schrillen Stimme. Allein wegen der Frisur. In dem kinnlangen Haar wechseln sich dreifingerbreite schwarze Streifen mit blonden ab. Ich liebe es, wenn Leute keine Standardfrisuren haben. Das ist Kunst. Genau wie die dünnen Zöpfe von Lindsey, aber die meisten Leute verstehen das nicht.

Ich bleibe stehen und sehe den beiden nach. Das Mädchen redet auf ihn ein und lacht, er hat keine Chance, irgendetwas zu sagen. Was wollte er mich fragen?

Kann ich … Jetzt gehen? Einen Handstand machen? Dich was fragen?

Wieso denke ich darüber nach? Es ist mir egal, was er kann. Ich habe ihm nur geholfen, weil er ein Walker ist. Genau wie Bastian. Alle Alan-Walker-Fans müssen zusammenhalten.

Ob Bastian mir antwortet, wenn ich ihm schreibe, dass ich hier einem Walker begegnet bin?

Die beiden verschwinden im Gedränge. Der Ausgang zum Hof liegt genau in der Richtung, in die sie gegangen sind. Wenn ich jetzt rausgehe, sieht es aus, als würde ich ihnen folgen, und das will ich nicht. Ich setze mich auf eine der Heizungen vor den bodentiefen Fenstern neben der Tür und versuche, an nichts zu denken. Kurz vor Ende der Pause stehe ich auf und schlendere zurück in den Trakt, in dem das Klassenzimmer ist. In dem Moment, in dem ich durch die Tür gehe, rennt jemand den Gang entlang genau auf mich zu. Es ist das Mädchen mit den zweifarbigen Haaren. Was will sie hier? Ist sie mir gefolgt? So ein Quatsch. Sie hat mich ja nicht einmal bemerkt.

Sie drängt sich an mir vorbei durch die Tür, läuft auf zwei Mädels zu, die in der letzten Reihe sitzen und miteinander tuscheln.

»Wisst ihr, wo Lou ist?«, fragt sie die beiden.

Ich gehe zu meinem Platz und ziehe den Block aus der Tasche.

»Wahrscheinlich beim Kiosk, wie immer«, antwortet die in dem grün-schwarzen T-Shirt.

»Eben nicht!« Das Mädchen mit den zweifarbigen Haaren ­schüttelt den Kopf. »Könnt ihr ihr bitte ausrichten, dass sie sich wegen dem Training noch mal bei mir meldet?«

Die beiden nicken, und sie stürmt wieder aus dem Klassen­zimmer. Selbst wenn sie mich bemerkt hätte, hätte sie bestimmt nicht realisiert, dass wir uns am Anfang der Pause begegnet sind.

*

Nach zwei Stunden Deutsch verbringe ich die nächste Pause in ­einer Toilettenkabine im zweiten Stock und höre Musik. Wäre Handy­nutzung auf dem Schulgelände erlaubt, könnte ich auch in einer ­ruhigen Ecke auf dem Hof sitzen und die Sonne ­genießen. Das wäre tausendmal besser als der Gestank hier. Wenigstens ­verirrt sich in der Pause niemand bis in den zweiten Stock, und ich habe meine Ruhe.

Beim dritten Klingeln bin ich zurück im Klassenzimmer. Wieso liegt mein Mäppchen an die Wand gelehnt auf dem Tisch? Ich habe es auf den Block gelegt. Toll. Muss ich in Zukunft alles wegpacken, wenn schon am ersten Tag meine Sachen durchwühlt werden? Zum Glück bin ich nicht wie Hannah. Ich habe keine Fotos in meinem Mäppchen. Auch keine besonders tollen Stifte oder so was. Es lohnt sich überhaupt nicht, etwas zu klauen.

Was ist das für ein Fresszettel?

 

 

Bitte? Ich schaue mich um, aber keiner aus meiner neuen ­Klasse achtet auf mich. In dem Fall gibt es nur eine Person an dieser ­Schule, von der der bescheuerte Zettel sein kann.

Colin.

Was hat Mamas Lover gesagt, wie alt der ist? Achtzehn? Ist er mit achtzehn nicht aus der Kindergartenphase herausgewachsen? Was für ein Feigling! Statt mir ins Gesicht zu sagen, was er denkt, hat er lieber einen auf krank gemacht.

Niemand will mich hier. Danke für die Info. Ich habe mich auch so darum gerissen, mit Mama hierherziehen zu dürfen. Ist er dumm genug, um das zu glauben? Ich zerknülle den Zettel und pfeffere ihn in meine Tasche.

Der Preis für ein Zimmer

Zu Schulschluss lasse ich mir extra viel Zeit beim Packen meiner ­Sachen. Ich hasse das Gedränge auf den Gängen. Erst nachdem der größte Ansturm vorbei ist, schlendere ich los. Ich habe es ­sowieso nicht eilig, zurück in die Wohnung zu kommen. Mama fängt erst nächste Woche an zu arbeiten, und ich weiß nicht, ob ihr Lover sich Urlaub genommen hat, damit sie die erste Zeit zusammen so richtig genießen können. Dass ich nicht lache. Dann hätte sie mich besser bei Papa lassen sollen.

*

Bei den Fahrradständern steht nur noch ein Typ. Er trägt ein kurzärmliges schwarzes Hemd und dunkle Jeans. Selbst auf die Entfernung kommt er mir einen halben Kopf größer vor als ich. Seine schwarzen Haare sind vorne einen Tick länger als an den Seiten und hängen ihm halb über die Augen. Nein, nur über das linke Auge, der Pony ist rechts kürzer als links. Ich unterdrücke ein Lachen. Ein asymmetrischer Pony? Das macht ihn fast sympathisch.

Warum steht er genau neben dem Rad, mit dem ich gekommen bin?

Meine Gedränge-Vermeidungstaktik hat super funktioniert. Außer uns beiden ist niemand mehr hier. Ich beschleunige meine Schritte.

Stützt er sich wirklich auf den Sattel von Colins Ersatzrad?

Er dreht mir das Gesicht zu. Warum grinst er so blöd?

Nimm deine Hände von dem Rad!

Ich ziehe das Tempo an, renne beinahe. Der Typ bleibt völlig regungslos, bis ich fast bei ihm angekommen bin. Ohne mich aus den Augen zu lassen, beugt er sich zu dem Vorderrad. Hält er eine Nadel in der Hand? Ich bleibe stehen und starre ihn an. Das macht er jetzt nicht wirklich. Das Grinsen in seinem Gesicht wird noch breiter, und einen Moment später drückt er die Nadel an der Seite durch den Mantel.

Ich sehe von ihm zu dem Reifen und wieder zurück. Selbst als er die Nadel herauszieht, passiert nichts. Ganz langsam richtet er sich wieder auf und zieht die Augenbrauen hoch, ein engelsgleiches Lächeln im Gesicht. Will er mich provozieren?

Das kann er lange versuchen. In den letzten Wochen gab es viel zu viele Momente, in denen ich vor Wut losbrüllen wollte. Aber ich habe nicht gebrüllt. Nicht ein einziges Mal.

Ich halte seinem Blick stand und sehe ihn einfach nur an.

Was willst du?

Er antwortet nicht. Gedankenlesen scheint nicht seine Stärke zu sein. Stattdessen kneift er die Augen zusammen, und mit einem Mal bekommt der Ausdruck auf seinem Gesicht etwas Bedrohliches. Das gefakte Lächeln ist verschwunden. Er senkt den Kopf und der schwarze Pony fällt ihm über das linke Auge. Mit dem anderen blitzt er mich an.

Moment. Das ist kein Zufall. Er hat hier auf mich gewartet, und er weiß genau, dass er eben in das Fahrrad ein Loch gestochen hat, mit dem ich gekommen bin. Bevor ich weiterdenken kann, kommt er auf mich zu.

Will er mir die Nadel ins Gesicht rammen?

Ich balle die Hände zu Fäusten und stelle mich breitbeinig hin. Durchatmen, nichts anmerken lassen. Mein Herz hämmert wie verrückt. Er läuft ganz knapp an mir vorbei, und in dem Moment, in dem er neben mir ist, dreht er mir den Kopf zu und sieht mir in die Augen.

»Und? Hast du dich schon eingelebt in meinem Zimmer?«, raunt er mir zu.

Colin.

Sein Name ist das einzig klare Wort in meinem Kopf, in dem alle anderen Gedanken durcheinanderwirbeln.

Statt meine Antwort abzuwarten, geht er einfach weiter, und diesmal bin ich diejenige, die regungslos stehen bleibt. Selbst als er sich auf sein Fahrrad schwingt und die Straße hinunterfährt, stehe ich noch da.

Eingelebt? Ernsthaft?

Mein Blick verschwimmt. Schnell wische ich mir über die Augen und schüttle den Kopf.

*

Als ich das immer platter werdende Rad über den Hof schiebe, kommt mir ein Mann mit strähnigen weißen Haaren in einem ­blauen Arbeitskittel entgegen. Am liebsten würde ich das Rad ­stehen lassen, soll sich Colin doch selbst darum kümmern, wenn er ein Loch reinsticht. Aber wenn ich ohne Rad zurückkomme, flippt Mama aus.

»Hast du einen Platten?«, spricht der Mann mich an.

Nein, ich habe nur zum Spaß die Luft herausgelassen.

Ich bleibe stehen und sehe ihn an. Mit seinem dunkel­blauen Arbeits­kittel und den schwarzen Sicherheitsschuhen ist er das ­wandelnde Hausmeister-Klischee.

Er beugt sich zu dem Vorderrad und drückt den ­Mantel ­zusammen. »Bist du über ein paar Scherben gefahren? Es ist ­unglaublich, wie viele Flaschen am Wochenende in der Innenstadt zu Bruch gehen …«

Ich zucke mit den Schultern, obwohl er das nicht sehen kann, weil der Reifen seine gesamte Aufmerksamkeit einnimmt.

Das waren keine Scherben. Das war der Willkommensgruß ­meines neuen Stiefbruders. Nett oder?

»In der kleinen Werkstatt ist Flickzeug. Soll ich dir das Rad ­wieder flottmachen?« Er richtet sich auf und sieht mich an.

Das wäre super, würde ich ihm gern antworten, zucke aber nur noch einmal mit den Schultern.

»Die Gesprächigste bist du nicht gerade«, merkt er an.

Er mustert mich einen Moment lang, die Stirn in Falten gelegt und die Augen zusammengekniffen. Schmeißt er mich jetzt raus?

»Dann komm«, sagt er nur und wendet sich dem Schulgebäude zu.

Er geht rechts daran vorbei in die Richtung, aus der er eben ­gekommen ist. Wortlos schiebe ich das Rad hinter ihm her. Die kleine Werkstatt entpuppt sich als ein Container, der neben dem Schulgebäude steht. Der Hausmeister nimmt mir das Rad ab und stellt es auf den Kopf. Immerhin versucht er nicht mehr, mich in ein Gespräch zu verwickeln. Die meisten Erwachsenen blicken das nicht so schnell. Er richtet sich ein paar Werkzeuge und eine ­Pumpe her und macht sich an die Arbeit. Ab und zu ruft er mir etwas zu wie Schlüssel, Zange oder Pumpe, und ich reiche ihm die Sachen. ­Dafür, dass wir uns heute zum ersten Mal sehen, sind wir ein gut eingespieltes Team. Vielleicht sollte ich im Sekretariat nachfragen, ob ich dem Hausmeister helfen kann, statt mich weiter im Unterricht zu langweilen?

»So, jetzt ist es wieder wie neu«, sagt er schließlich und stellt das Rad auf. »Es war nur ein ganz kleines Loch. Wahrscheinlich ­hättest du es auch nach Hause geschafft, wenn wir es nur aufgepumpt hätten.«

»Danke«, murmle ich und sehe dabei auf einen Ölstreifen an ­seiner Wange, statt in seine Augen.

Trotzdem spüre ich, wie er mich mustert, und ich mag den Blick nicht.

Kann ich bitte gehen, bevor er mir doch noch ein Gespräch aufdrückt?

»Das Loch war von keiner Scherbe«, sagt er, den Blick immer noch auf mich gerichtet. »Dafür war es viel zu klein und noch dazu an der Seite.«

Ich stecke die Hände in die Taschen meiner Stoffhose und ziehe die Schultern hoch.

»Es sieht fast so aus, als hätte jemand mit Absicht ein Loch in deinen Reifen gestochen«, setzt er nach.

»Vielleicht hatte er einen guten Grund?«

Der Ausdruck auf dem Gesicht des Hausmeisters verändert sich. Seine Augen funkeln, und er erinnert mich an einen Hund, der eine Fährte wittert. Wieso habe ich nicht den Mund gehalten?

»Weißt du, wer das war?« Die Frage klingt nicht wie eine Frage, sondern wie eine Aufforderung.

Ich zucke wieder mit den Schultern, und diesmal sehe ich ihm direkt in die Augen. Ein paar der weißen Strähnen hängen ihm ins Gesicht. Bei ihm wirkt es mehr verwirrt als verwegen.

Ja, ich weiß, wer das war. Aber ich werde es nicht sagen, weil es Sie nichts angeht.

Nicht, weil ich Colin schützen wollte. Aber vielleicht hätte ich an seiner Stelle genau das Gleiche gemacht. Auch wenn es total kindisch ist, und ich mit fünfzehn viel zu alt für so eine super­doofe Aktion bin und er mit achtzehn erst recht. Aber ich wäre auch stinksauer. Ein Loch im Reifen unterstreicht die Botschaft. Besser als der blöde Zettel. Warum hat er mir den überhaupt hinterlegt, wenn er sowieso vorhatte, mir aufzulauern?

Zwei Atemzüge lang starren der Hausmeister und ich uns an. Ich halte es kaum aus, will aber nicht zuerst wegsehen. Endlich brummt er etwas und wendet sich von mir ab, um das Werkzeug aufzuräumen. Ich verstehe den Wink und schwinge mich auf das Rad.

Einen Vorteil hat die neue Schule. Der Hausmeister hier ist tausend­mal besser drauf als der in meiner alten Schule. Für den wäre der Platten mein Problem gewesen, und er hätte mich einfach nur vom Schulhof verwiesen, wenn ich keinen Unterricht mehr ­gehabt hätte.

*

Der Rest des Tages vergeht ereignislos. Ich erzähle weder Mama noch ihrem Lover von der Begegnung mit Colin, überlege aber, ob ich sie doch nach einem Straßenbahnticket frage. Am Ende mache ich es nicht und verkrieche mich in dem Zimmer, in dem ich nicht sein will, weil Mamas Lover sich wirklich freigenommen hat.

»Damit wir uns kennenlernen können«, sagt er.

Ist er schwer von Begriff? Ich habe kein Interesse daran, ihn kennenzulernen. Wie sehr muss ich ihn noch ignorieren, bis die Botschaft ankommt?

Wenigstens habe ich in diesem Zimmer nur eine Wand zum Flur und zum Wohn- und Essbereich und keine zu ihrem Schlafzimmer. Das ist zum Glück auf der anderen Seite der Wohnung. Das vierte und letzte Zimmer ist das private Fitnessstudio von Mamas Lover. Wieso hat sie sich in so einen Egoisten verknallt? Statt Colin sein Zimmer wegzunehmen, hätte er genauso gut seine Fitnessgeräte in den Keller räumen können. Wenn es ihm wirklich so wichtig wäre, mich kennenzulernen und hier mit wohnen zu lassen. Oder er hätte Mama gleich sagen können, dass er keinen Platz für mich hat. Das wäre das Allerbeste gewesen.

Hannah hat sich immer noch nicht gemeldet. Ich schicke ihr eine Nachricht, ziehe den Geigenkasten unter dem Bett hervor, streiche über die mintgrüne Außenschale und atme tief ein. ­Während ich die beiden Schlösser aufdrücke, schließe ich kurz die Augen und horche auf das sanfte Klacken. Automatisch schleicht sich ein Lächeln in mein Gesicht.

»Na du?«, flüstere ich und fahre mit den Fingerspitzen den S-förmigen schwarzen Körper der Geige nach. »Willst du sehen, wo wir hier gelandet sind?«

Vorsichtig hebe ich sie aus dem Koffer, schließe sie an dem ­Verstärker an und setze die Kopfhörer auf, damit niemand mich hört. Ich schließe auch mein Handy an, um The Arena von Lindsey einzuschalten und mitzuspielen.

The credit belongs to the man who is actually in the arena …

Wenn ich die Augen zumache und die schnellen Töne mit­spiele, sehe ich Lindsey tanzen, vor den abschätzigen Blicken der ­Zuschauer. Und ich sehe mich, in der neuen Schule. Sie kommt mir vor wie die Arena, und jetzt bin ich die, die den abschätzigen Blicken ausgesetzt ist. Ich schaue mir dabei zu, wie ich an ­meinem Platz den Zettel aus dem Mäppchen ziehe, stehe wieder Colin ­gegenüber, der mich mit seinem Blick in der Luft zerreißt und ­spiele. Schneller, lauter.

Du kennst mich nicht!, schreie ich ihm mit jedem einzelnen Ton entgegen.

Will die Bilder loswerden, die Menschen, die mich nicht verstehen, muss auf einmal an den Walker-Typen mit dem Verbands­täschchen denken und an das Mädchen mit den zweifarbigen ­Haaren. Sie hat mich noch nicht einmal bemerkt. Ich spiele weiter, bis ich mich in der Musik verliere.

Vielleicht würden die beiden mich verstehen?

Die Tür fliegt auf, und ich erstarre.

Mama steht auf der Schwelle. »Hast du deine Schulsachen gepackt?«

Ihr Blick durchbohrt mich.

»Klar«, murmle ich, auch wenn es nicht stimmt.

Sie sagt nichts mehr, aber so, wie sie mich ansieht, glaubt sie mir kein Wort.

Kein Platz für dich

Ich habe nur eine Sekunde nicht aufgepasst,

und jetzt bist du da,

bist der totale Kontrast,

doch du gehörst hier nicht her.

Zusammengefasst:

Du bist nicht erwünscht, bist mir verhasst!

 

Du bist ein Eindringling

und gibst dich, als wärst du der King.

 

Dein lächelndes Schweigen

reißt mein Bild in tausend kleine Fetzen.

Als würde es mit dem Finger auf mich zeigen.

Doch du kannst mich nicht verletzen!

 

Dein Blick setzt mein zerrissenes Bild in Brand,

und du begreifst es nicht,

merkst nichts von meinem Widerstand.

 

Du bist nicht mehr