Wunderbare Träume - Miorino Thomas - E-Book

Wunderbare Träume E-Book

Miorino Thomas

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Beschreibung

Der junge Adiem gelangt zufällig in die verlassene Stadt Kiam Ada. Er durchstreift eine apokalyptische Welt, in der Traum und Realität verschwimmen. Was er erlebt, ist eine wunderbare Geschichte, die sich mit der individuellen Wahrnehmung der Welt beschäftigt.

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Seitenzahl: 215

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Inhalt

Impressum 2

Kapitel 1 3

Kapitel 2 30

Kapitel 3 56

Kapitel 4 100

Kapitel 5 131

Kapitel 6 153

Kapitel 7 171

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2021Vindobona Verlag

ISBN Printausgabe: 978-3-949263-10-1

ISBN e-book: 978-3-946810-02-5

Lektorat: Dr. Johannes Krämmer

Umschlagfoto: Stockshoppe | Dreamstime.com, Thomas Miorino

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: Vindobona Verlag

Innenabbildungen: Thomas Miorino

www.vindobonaverlag.com

Kapitel 1

Ein paar Tage bevor der erste Schnee vom Himmel fiel, kam der Wind. Jedes Jahr war es das Gleiche. Man möchte meinen, dass wir zu jener Zeit den Sturm hätten kommen sehen müssen. Doch der unerschütterliche Glaube an unser Glück spielte uns einen Streich.

Mein Gesicht war ganz in eine dunkle Wolldecke eingehüllt. Nur meine Augen waren frei. Die Sicht war so gering, dass alles, was mehr als eine Armlänge von mir entfernt war, im Sturm verschwand. All meine Konzentration galt dem dunklen Schatten vor mir. Wenn ich ihn verlieren würde, ich wüsste nicht, was dann. Der Meister wusste den Weg. Selbst in diesem undurchsichtigen Schleier aus Sand und Dreck ging er ohne ein Zeichen des Zögerns voran.

Als wir am Morgen dieses Tages aufbrachen, war es noch mild und nur wenige Wolken zierten den Himmel. Wir ließen die schützenden Wälder hinter uns und wanderten tief in die sawische Ebene hinein. Hier gab es keine Steine und keine Bäume, nur Gras und Sand, welche sich in merkwürdigen Streifenmustern abwechselten. Wir kamen gut voran und erst schien es so, als würden wir unser Ziel noch am Abend erreichen. Doch der warme Föhn, der von Süden kam, wurde bald von einem kalten Nordwind verdrängt. Gewaltige, alles verschlingende Wolken zogen uns entgegen und ließen uns keine Zeit zum Ausweichen. Umso schlimmer war es, dass unser Ziel im Norden lag. Ich hielt mein Gesicht nach rechts geneigt, um Sandkörner daran zu hindern, mir in den Augen zu brennen.

Auch hatte ich seit geraumer Zeit das unangenehme Gefühl, dass sich die Sohle meines linken Stiefels löste. Um dem vorzubeugen, versuchte ich beim Anheben des Fußes das Gelenk leicht in Richtung meines rechten Beines zu drehen: Eine wahrscheinlich sinnlose Mühe, doch gab sie mir zumindest das Gefühl, etwas gegen das Problem unternommen zu haben.

Der Sturm schien inzwischen noch stärker zu werden und ich beschleunigte mein Tempo, um mit Meister Riu mitzuhalten. Das Pfeifen und Dröhnen der Winde machte jede Art der Kommunikation unmöglich. Würde ich um Hilfe schreien, der Schrei würde nicht einmal mein eigenes Ohr erreichen.

Doch nicht alle meine Sinne wurden verschleiert. Mit einem Mal roch ich das Meer. Der Ozean musste jetzt ganz nah sein. Wahrscheinlich würde die Sicht bald besser werden und ich würde endlose Wellenberge und Täler sehen.

Die Wellen mussten riesig sein, benetzt von weißen Kronen, jede ihren Vorgänger zu übertrumpfen bemüht.

Es wird auch das „Meer der ungeteilten Hoffnungen“ genannt, zumindest von den Menschen, die der Fantasie den Vorzug geben. Diejenigen, die mit beiden Beinen auf der Erde stehen, nennen es schlicht den großen Salzsee.

Leider schien meine Hoffnung auf bessere Sicht zunächst umsonst. Wir gingen und gingen, ohne dass sich etwas änderte. Wohin führte mich Meister Riu? Suchte er keinen Unterschlupf? Nur das matte Licht, das durch den Wind fiel, deutete an, dass es bereits später Nachmittag war.

Das nächste, das mir auffiel, war, dass sich die Windrichtung änderte. Er blies nun von links. Allerdings konnte ich nicht sagen, ob der Wind tatsächlich gedreht hatte oder ob Meister Riu nun in Richtung Osten wanderte.

Als hätte Meister Riu meine Gedanken gelesen, blieb er auf einmal stehen. Das erste Mal an diesem Tag drehte er sich zu mir um. Auch sein Gesicht war in eine Decke gehüllt und nur ein dunkler Schlitz ließ seine Augen vermuten. Mit der Hand deutete er mir, näher zu kommen und mein Ohr zu seinem Gesicht zu drehen. Durch die Decken hindurch hörte ich, zu meiner Überraschung, wie von weit her seine Stimme.

„Vor uns liegt der Berg Ada. Am Fuße des Berges werden wir nach einem windstillen Eckchen suchen und dort die Nacht verbringen.“

Ich sah an ihm vorbei, und tatsächlich ragte vor uns der dunkle Schatten eines steilen Berges auf. Ich wendete meinen Blick zu Meister Riu und nickte ihm zu. Wir gingen weiter, mit dem Ziel vor Augen war der Weg ein leichter. Auch kam es mir so vor, als würde der Sturm bereits nachlassen. Den Berg Ada zu sehen war wie einen historischen Gegenstand zu betrachten. Etwas Geisterhaftes haftete ihm an. Hoch oben auf dem Berg lag die Stadt Kiam Ada. Vor vielen Jahren war sie die Hauptstadt eines Königreichs. Doch die Jahre haben die Stadt menschenleer und zu einer Legende gemacht. Was wirklich geschah, weiß keiner mehr.

In diesem Moment spürte ich, dass sich die Sohle von meinem linken Schuh löste. Kurz hatte ich das Gefühl, zu fallen, doch konnte ich gerade noch das Gleichgewicht halten. Schon sah ich, wie der Meister vor mir verschwand. Blitzschnell griff ich nach der Sohle, welche durch ein paar lose Fäden hinter mir her geschleift wurde. Mit einer Schulterbewegung rückte ich das Gepäck auf meinem Rücken wieder in die richtige Stellung und mit schnellen Schritten schloss ich zum Meister auf.

Durch das Leder des Stiefels hindurch konnte ich den Sand und die Steine am Boden spüren. Der Berg gewann immer mehr an Kontur. Durch seinen Windschatten war es nun wesentlich einfacher, sich zu orientieren. Die Felswand verlief gerade nach oben und man wurde unweigerlich von der Angst befallen, Gestein oder gar ein Felsen könnten sich im Sturm von der steilen Wand lösen und uns unter sich begraben. Meister Riu erreichte als Erster die Wand. Er hielt kurz inne und marschierte dann rechts die Felswand entlang. Mein linker Fuß brannte inzwischen wie Feuer und durch die Humpelei, zu der ich gezwungen war, verrutschte mein Gepäck immer wieder.

Schon nach wenigen Schritten tat sich ein Spalt im Felsen auf, der weit nach oben reichte. Vorsichtig erkundete der Meister den Eingang. Mit etwas Mühe quetschte er sich schließlich durch das Gestein. Ich tat es ihm gleich, obwohl er mir mit einer Handbewegung deutete, dass ich warten sollte. Tatsächlich war das Innere des Spaltes groß genug, um uns als Nachtlager zu dienen. Es war dunkel, doch nur deshalb, weil wir das schwache Licht noch nicht gewöhnt waren. Auch das Dröhnen des Windes wurde merklich leiser. Übrig blieb nur ein Pfeifton, welcher durch den Spalt erzeugt wurde. Erstmals an diesem Tag hatte ich das Gefühl, dass uns das Glück doch noch nicht verlassen hat. Meister Riu nahm seine Gesichtsbedeckung ab und stellte sein Gepäck auf den Boden. Danach streckte er sich, als wäre er gerade erst aufgestanden. Dabei gab er ein lautes und zufriedenes Geräusch von sich, das entfernt an einen Bären erinnerte. Sein weißes Haar klebte feucht an seiner Stirn und man konnte klar erkennen, welcher Bereich seines faltigen Gesichts bedeckt und welcher dem unaufhörlichen Strom aus Sandkörnern ausgesetztgewesen war.

„Was hast du denn da in der Hand?“

Seine Stimme holte mich in die Realität zurück. Irgendwie hatte mein Körper noch nicht begriffen, dass er sich vom Gepäck befreien konnte und dass es endlich möglich war, sich auszuruhen. Ich sah meine Hand an, als ob sie etwas völlig Neues wäre. Mit ganzer Kraft hielt ich darin die Sohle meines linken Stiefels fest.

„Das ist eine meiner Schuhsohlen“, antwortete ich.

Meister Riu hielt sich die Hand zum Ohr und sah mich mit der Art von Ausdruck an, die sagte: „Wie soll ich dich durch den Gesichtsschutz verstehen?“ Also nahm ich den Schutz ab und antwortete erneut. Wahrscheinlich lag es an meiner Müdigkeit, aber es gelang mir einfach nicht, in irgendeiner Form klar zu denken. Der Meister deutete mir, mich zu setzen. Ich stellte mein Gepäck auf den Boden und versuchte, mich auf einen der Felsvorsprünge niederzulassen. Der alte Mann setzte sich mir gegenüber und forderte mich dazu auf, meinen linken Fuß auf seinen Schoß zu legen. Als er mir vorsichtig den kaputten Stiefel auszog, durchfuhr mich ein ziehender Schmerz: So als ob die Haut meiner Zehen am Leder des Stiefels kleben würde. Sachlich begutachtete er meinen Fuß. Anscheinend befand er das Ganze aber nicht für allzu schlimm. Mit ein paar schnellen und groben Bewegungen schmierte er eine seiner fragwürdigen Salben auf meinen Fuß, so dass ich nur mit Mühe einen Schmerzenslaut unterdrücken konnte. Vorsichtig und nur mit meiner Ferse trat ich auf den Boden auf. Meister Riu reichte mir Nadel und Zwirn.

„Hier, nimm das für die Sohle. Ich lege mich schlafen.“

Mit diesen Worten ließ er sich auf dem Boden nieder. Die Wolldecke, welche er vorhin noch als Gesichtsschutz verwendet hatte, diente ihm nun als Kissen. Eine Zeit lang starrte ich ins Leere.

Es war einer jener Momente, in dem man Gefahr läuft, nach dem Sinn zu fragen:

Mein ganzes Leben über begleite ich nun diesen Menschen und bei allem, was er sagt, schwanke ich. Wie gerne würde ich eine klare Meinung haben. Wie gerne würde ich sagen: „Nein, das ist Blödsinn“, oder „Ja, so ist es“. Und dann würde ich ihm entweder weiter folgen oder ich würde mich einfach umdrehen und einen anderen Weg einschlagen.

Aber so sehr ich hoffte, dass der Tag der Klarheit kommen würde, er wirkte unendlich fern.

In der Höhle wurde es mit jedem Moment, der verging, dunkler. Ich war schon kurz davor, im Sitzen einzuschlafen, als mir die Sohle wieder einfiel. Mit hastigen Bewegungen vernähte ich das Schuhwerk wieder. Nachdem mir das einigermaßen gelungen war, legte ich mich neben Meister Riu auf den Felsboden. Das beruhigende Gefühl, endlich meine Augen schließen zu können, überkam mich. Weder mein schmerzender Fuß noch der harte Boden konnten mich jetzt vom Schlaf abhalten.

Es war dunkel, als ich aufwachte. Alles war nass. Regnete es? Ich stand auf und hielt meine Hand aus unserem Unterschlupf. Der Sturm ließ nicht nach, doch die Geräusche waren anders. Das Rauschen des Meeres war stärker geworden. Regen war keiner zu spüren. Ich ging zu meiner Schlafstelle zurück und tastete den Boden ab. Er war feucht. Teilweise waren sogar kleine Pfützen entstanden. Mit einem Schlag wurde mir unser Unglück bewusst: Die Flut kommt! Ich tastete mich zu Meister Riu. Anscheinend war bei ihm noch alles trocken, denn ich hörte ihn leise schnarchen. Ich packte seine linke Schulter und rüttelte ihn wach.

„Meister, Ihr müsst aufwachen“, wiederholte ich mehrmals.

Sichtlich verstimmt über meinen groben Weckversuch richtete er sich langsam auf. Sein Blick ließ mich wissen, dass es nichts auf dieser Welt gab, das mein Handeln rechtfertigte. Ich achtete nicht weiter darauf.

„Meister, es ist alles nass, die Flut kommt!“

Der alte Mann sah zum Höhlenausgang. Tiefe Falten entstanden in seinem Gesicht, als er die Augenbrauen zusammenzog und sich zu orientieren versuchte. Für einen kurzen Augenblick wunderte ich mich darüber, dass ich in der Dunkelheit der Höhle all diese Details erkennen konnte. Überhaupt schienen die glatten Felsen der Höhle ein schwaches, blaues Glühen zu reflektieren, so als würde das Ende des Spaltes irgendwo weit oben über den Sturm hinausreichen und das Licht des Mondes bis hier heruntertragen.

Mit einer schnellen Bewegung erhob sich Meister Riu und ging zum Eingang. Ich folgte ihm. Das Rauschen des Meeres war nun noch stärker und hob sich klar von den anderen Geräuschen ab.

Meister Riu musste schreien, damit ich ihn verstehen konnte.

„Anscheinend wird die ganze Ebene über Nacht von der Flut überschwemmt. Die sawische Ebene ist eine Halbinsel, wieder zurückwandern dauert zu lange und ist zu gefährlich.“

Ich drehte mich zu Meister Riu und schrie zurück:

„Und der Berg Ada. Gibt es keinen Pfad, der uns auf das Plateau führt?“

Meister Riu dachte eine Zeit lang nach, dann sprach er:

„Es wird uns nichts anderes übrig bleiben. Verflucht sei meine Dummheit und dass ich mich von ihr zum Berg locken lies. Pack deine Sachen zusammen, wir müssen uns beeilen. Wenn das Wasser weiterhin mit dieser Geschwindigkeit steigt, kann es passieren, dass wir das letzte Stück zum Pfad schwimmen müssen. Und bei diesem Wetter würden wir von den Wellen an die Felswand geschleudert werden.“

Zurück in der Höhle versuchte ich mich in meinem linken Stiefel hineinzuzwängen. In Anbetracht der Gefahr fiel es mir überraschend leicht, den dumpfen Schmerz in meinem Fuß zu ignorieren. Auch meine Müdigkeit war mit einem Mal verschwunden. Ich fühlte mich sogar ausgeruhter und lebendiger als sonst.

Ich packte meinen Rucksack und schnallte ihn mir um. Meine Schutzdecke wickelte ich mir wieder um mein Gesicht.

Wir machten uns auf den Weg. Meister Riu ging wie immer voraus. Nachdem wir die Höhle verlassen hatten, wandte sich der Meister nach links. In einem möglichst kurzen Abstand folgte ich ihm, ständig darum bemüht, meinen linken Fuß so wenig wie möglich zu belasten.

Der Lärm, welcher vom Meer kam, war ohrenbetäubend. Der Boden war glitschig und ich hielt meine Arme vom Körper weg, um das Gleichgewicht zu halten. Wenigstens hatten wir jetzt Rückenwind und das Marschieren war weniger anstrengend im Schatten des Berges.

Eine ganze Weile, wie lange, konnte ich nicht sagen, wanderten wir die steile Felswand entlang. Mehr als einmal stellte ich mir die Frage, ob es überhaupt einen Pfad gibt, der auf das Plateau führt. Vielleicht existierte er gar nicht mehr. Diese Stadt, welche irgendwo dort oben liegt, ist alt und verlassen. Wer weiß, was die vielen Jahre aus diesem Ort gemacht haben.

Aber der Meister war sich anscheinend ziemlich sicher. Aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass er diesen Ort schon jemals besucht hatte.

Wieder einmal änderte sich die Geräuschkulisse. Das wellenartige Rauschen des Meeres entwickelte sich immer mehr zu einem konstanten Dröhnen. Überrascht sah ich mich um, ob nicht eine gewaltige Wassermasse jeden Moment auf mich und den Meister niederstürzte.

Vor uns lag ein Wasserfall. Eine glänzende Silhouette hob sich von der Felswand ab und speiste einen kleinen See. Mehr als alles andere hoffte ich, dass hinter dem Wasserfall eine Höhle war, die den Berg hinaufführte. Ein geheimer Weg hätte zu diesem Ort gepasst. Ich wollte Meister Riu fragen, doch der Lärm war zu stark, um irgendetwas zu verstehen. Außerdem würde die Frage nur unnötig Zeit verschwenden. Meister Riu blieb kurz stehen und versuchte sich in der Dunkelheit zu orientieren. Dann bewegte er sich auf den Wasserfall zu. Anscheinend ging der kleine See, der von dem Wasserfall gespeist wurde, in einen Fluss über, welcher ins Meer mündet. Bei Flut jedoch fiel das Wasser direkt indas Meer. Zu meiner Freude schien es tatsächlich einen Pfad zu geben, der hinter den Wasserfall führte. Die Felswand war feucht und glitschig und es kostete sehr viel Kraft, sich daran festzuhalten. Langsam tasteten wir uns vorwärts. Leider musste ich feststellen, dass der Weg nur auf die andere Seite des Wasserfalls führte. Als wir auf der anderen Seite angekommen waren, gingen wir ohne Pause weiter. Hoffentlich würden wir bald den Pfad hinauf zum Berg erreichen. Leichtes Unbehagen überkam mich, als ich an den bevorstehenden Aufstieg dachte.

Beinah hätte ich meinen Meister überrannt, denn er blieb so unvermittelt stehen, dass ich es erst im letzten Moment wahrnahm. Er drehte sich zu mir um und deutete auf die Felswand. Ich sah in die Richtung, in die er zeigte, und tatsächlich führte ein Pfad an der Felswand entlang den Berg hinauf. Dass Meister Riu den Pfad fand, grenzte fast an ein Wunder. Wäre ich alleine auf dem Weg gewesen,dann hätte ich ihn sicher übersehen: Nicht nur wegen der Dunkelheit, sondern auch deshalb, weil er so schmal und steinig war, dass er sich vom restlichen Berg kaum unterschied.

Ohne zu zögern begannen wir unseren Aufstieg. Nachdem wir ein paar Schritte bergauf gewandert waren, fiel mir auf, dass der Sand im Wind verschwunden war. Ich riskierte einen Blick zur Ebene und erkannte die schemenhafte Form von Wasser und Wellen. Bis jetzt war mir gar nicht richtig bewusst gewesen, wie knapp wir dem Tod entronnen waren. Hätte ich nur ein paar Minuten länger geschlafen, hätten wir den Pfad nicht mehr erreicht. Aus den Pfützen waren kleine Seen geworden, welche unaufhaltsam von den Wellen und dem steigenden Meeresspiegel gespeist wurden. Jetzt gab es keine Verbindung mehr zum Festland. Der Berg Ada war nur mehr eine Insel.

Wir kamen zur ersten Biegung. Wie viele würden wohl noch folgen? Der Wind nahm zu. Es roch salzig und die Luft war von unendlich vielen Wassertropfen erfüllt, die vom Meer zu uns geweht wurden. Der Weg war zwar unwegsam, aber wenigstens war er nicht so steil, wie ich angenommen hatte. Wahrscheinlich wurde er so angelegt, dass Menschen ohne Mühe hinaufkamen. Doch war er auch so gehalten, dass keine feindliche Armee diesen Pfad nutzen konnte. Kiam Ada war in einer Zeit gegründet worden, als starke Gefälle und Burgmauern noch schlachtentscheidend waren. Als der Fortschritt kam, waren diese Dinge zwar nicht mehr notwendig, doch blieb das Land ein Königreich und man war stolz auf das, was in den alten Tagen geleistet worden war. So blieben die Dinge, wie sie waren, wenn auch nur aus Nostalgie.

Wir brachten die zweite Biegung hinter uns. Meister Riu ging mit der immer gleichen Geschwindigkeit weiter. Wie alt war er wohl? Über solche Dinge sprach er nur selten. Wahrscheinlich würde er, wenn ich ihn fragte, antworten: „Ich glaube nicht an das Alter.“ Vom Aussehen her würde ich ihn auf sechzig Jahre schätzen. Es war für mich unfassbar, dass jemand in diesem Alter noch zu solchen körperlichen Belastungen fähig war. Ich hielt nur deshalb mit ihm mit, weil ich mich schämen würde, ihn um eine Pause zu bitten. Doch allmählich ging mir die Luft aus. Umso erstaunlicher war es, was der menschliche Körper alles leisten konnte. Bei jeder Biegung, die noch kam, hatte ich das Gefühl, dass ich nur noch diese eine schaffe. Doch am Ende stellte ich fest, dass ich gerade noch genug Kraft für eine weitere hatte und so zog sich das hin, Biegung um Biegung. Der Fuß des Berges war schon lange in der Dunkelheit verschwunden, als ich eine neue Veränderung bemerkte. Es kam mir so vor, als würde die Windstärke mit jedem Schritt, den wir bergauf gingen, ein wenig nachlassen. Das Rauschen des Meeres und das Heulen des Windes ließen aber nicht nach. Die Geräusche dröhnten in meinen Ohren, als wäre ich noch immer mitten im Sturm. Endlich blieb Meister Riu stehen und deutete mit seiner rechten Hand bergauf. Unser Ziel lag direkt vor uns. Noch zwei Biegungen und wir hatten das Plateau erreicht. Schmerz durchfuhr meine Beine. Es fühlte sich so an, als hätten sich meine Zehen bis zu den Knochen am Schuhwerk abgeschliffen. Und auch in meinem Kniegelenk pochte der Schmerz. Ich hätte nicht stehen bleiben dürfen. Mühevoll setzte ich mich wieder in Bewegung. Meister Riu ging ohne ein Zeichen von Schmerz weiter. Wie ich ihn dafür hasste!

Wir kamen unserem Ziel immer näher. Mit jedem Schritt wurde die Sicht besser. Mit einem Mal sah ich den Mond. Es war der erste oder der zweite abnehmende Mond. Ich hatte die letzten Tage nicht darauf geachtet und war mir deshalb nicht sicher.

Das zweite Mal an diesem Tag fühlte ich mich in Sicherheit. Wir brachten die letzten Schritte hinter uns und erreichten das Ende des Pfades.

Kaum überschritten wir die Grenze zwischen Pfad und Plateau, wurde aus den Geräuschen des Sturms ein fernes Rauschen. Ein Holzpfahl war dort in die Erde gerammt worden. Einst musste darauf ein Schild mit der Aufschrift „Willkommen am Berg Ada“ befestigt gewesen sein. Daneben lag ein großer Baumstumpf, der anscheinend als Sitzbank genutzt wurde. Ich wollte mich gerade hinsetzen, als mich Meister Riu ermahnte: „Ruh dich nicht aus Adim, wir haben noch ein kleines Stück zu gehen, und dasAufstehen und Weitergehen wird dir viel schwerer erscheinen, wenn du dich jetzt setzt.“ Ich unterließ es, mich niederzusetzen, trotz der Qualen, die mir meine Beine bereiteten.

Im Mondlicht zeichnete sich vor uns die Stadt Kiam Ada ab. „Wo sollen wir die Nacht verbringen, Meister?“, fragte ich. Meister Riu wandte sich ebenfalls in Richtung der Ruinenstadt. „Wir gehen zur Stadt. Das erste Haus, das offen ist, werden wir als Schlafstätte nutzen.“ Wir marschierten los. Das erste Mal, seit wir aufgebrochen waren, gingen wir nebeneinander. Am Wegesrand zeichneten sich hohe Gräser ab. Aber auch auf dem Weg wuchs Gras. Nur ein leichter Wind wehte, und dass im Tal ein Sturm wütete, war hier nicht zu spüren. Wir erreichten das erste Haus. Im Licht des Mondes fiel mir zunächst das flache Dach auf. Solch ein Haus hatte ich noch nie gesehen. Auf den ersten Blick wirkte es wie eine alte Lehmhütte, doch es war viel aufwendiger erbaut worden.

Von der Tür fehlte jede Spur. Meister Riu trat ein und ich folgte ihm. Trotz des offenen Eingangs war es im Haus wärmer als draußen. Müdigkeit überkam mich. Meister Riu tastete eine Zeit lang mit den Handflächen in der Finsternis herum, bis er meinte, etwas in Form und Größe gefunden zu haben, dass seiner Vorstellung von einem Bett entsprach. Ohne auf mich Rücksicht zu nehmen,legte er seinen Rucksack ab und zog seine Schlafdecke daraus hervor. Er legte sich auf das Bett und schlief in dem Moment, in dem sein Kopf das provisorische Kissen berührte.

Nachdem er eingeschlafen war, versuchte ich, meinem Meister gleich etwas auf gut Glück zu ertasten. Doch mit dem Glück des Meisters konnte ich nicht konkurrieren. Meine Augen waren nutzlos. Lediglich ein schwaches bläuliches Licht leuchtete in der Dunkelheit und zeichnete die Umrisse einer Tür. Da sonst im Raum nichts zu erkennen war und ich mich der Gefahr des sinnlosen Herumtastens nicht weiter aussetzen wollte, ging ich auf die Tür zu. Sie lag genau gegenüber dem Eingang. Nach mehreren Versuchen ergriff ich etwas, das sich wie ein Türknauf anfühlte. Mit leichtem Druck versuchte ich, die Türzu öffnen. Nichts geschah. Kontinuierlich steigerte ich den Druck, bis schließlich nur noch brutale Gewalt half. Mit einem hohen Geräusch, wie vor Schmerzen aufschreiend, gab die Tür nach: Zuerst nur auf der Seite, wo der Knauf lag, so wie es sich für Türen gehört. Doch plötzlich gab auch die Seite nach, auf der ich die Angeln vermutete. Damit hatte ich überhaupt nicht gerechnet, und noch bevor ich etwas dagegen unternehmen konnte, knallte die schwere Holztür auf den Boden. Stille folgte. Das war einer jener Momente, in denen der Schuldige in seiner Pose, egal wie lächerlich sie wirkt, verharrt und auf die Reaktion der Umwelt wartet. Würde jeden Moment eines dieser formlosen Monster aus Kinderphantasien in der Dunkelheit auf mich aufmerksam werden oder würde Meister Riu, aus dem Schlaf gerissen, irgendetwas nach mir werfen? Nichts geschah.

Im Gegensatz zum ersten Raum war dieser hier wesentlich heller. Durch ein großes Fenster schien der Mond und warf einen rechteckigen Schatten auf den Boden. Welche Funktion dieser Raum erfüllte, konnte ich nicht erahnen. Unter dem Fenster stand eine Holzbank, welche man sonst nur im Freien vorfindet. Links von mir war der wenige Platz, den das Zimmer bot, von Bücherregalen besetzt. Die rechte Wand war leer. Ich versuchte die Titel auf den Buchrücken zu lesen, doch das Licht des Mondes reichte nicht aus. Ich stellte meinen Rucksack auf dem Boden ab und kramte in einer der Taschen nach einer Kerze. Zwar hatte ich das Bedürfnis, mich schlafen zu legen, doch meine Neugierde machte es mir unmöglich, in einen sanften Schlaf zu fallen. Vorsichtig entzündete ich die Kerze mit einem Zündholz. Das rötlich-orange Licht der Kerze bildete einen groben Kontrast zum Licht des Mondes. Erneut trat ich an das Bücherregal. Die Titel wie auch der Inhalt waren fast alle in Aderad gehalten: Eine alte Sprache, bei der Worte nicht aus Buchstaben, sondern aus Silbenzeichen aufgebaut wurden. Über vierhundertachtzig solcher Silbenzeichen existierten. Ich kannte gerade einmal die Hälfte. Auf der ganzen, zumindest mir bekannten Welt gibt es vielleicht ein halbes Dutzend Menschen, die Aderad schreiben und flüssig sprechen können. Meister Riu war einer von ihnen. Es war die Sprache der Gelehrten und des Adels. Von beiden waren nicht vieleübrig geblieben. Ob unter den Büchern vielleicht auch ein seltener Schatz verborgen war? Langsam ging ich die Reihe entlang und versuchte, die Silben zu entziffern.

„Die Gemeinschaft, Erster Teil – Von der Notwendigkeit arianistischer Moral“ und gleich daneben „Die Gemeinschaft, Zweiter Teil – Von der Notwendigkeit göttlicher Moral“. Vorsichtig nahm ich den ersten Band heraus. Der Deckel bröckelte leicht und Staub geriet in Bewegung. Zufällig blätterte ich eine Seite mitten im Buch auf und las:

„Wenn man das Wollen und das Nichtwollen als die Gedanken annimmt,welche der Begründung vorausgehen, so ist die Begründung gleich einer Ausrede für den Instinkt des Wollens.“

2.tes Buch, 6.ter Absatz

Und gleich darunter las ich:

„Man kann alles machen, aber man kann nicht alles gleichzeitig machen.

Man kann alles wissen, aber man kann nicht alles gleichzeitig wissen.

Man kann alles denken, aber man kann nicht alles gleichzeitig denken.

Dies zeigt die Schwäche und Stärke des Einzelnen auf.“

2.tes Buch, 7.ter Absatz

Wie immer bei dieser Art von Sätzen hatte ich das Gefühl, etwas Wichtiges gelesen zu haben, dessen Bedeutung sich mir aber verschloss. Umso schlimmer war, dass ich als Mönch der Kaste von Menschen angehörte, welche solche Sätze ständig und zu den unpassendsten Zeiten zitieren konnten. Als arianistischer Mönch muss man die Lehre Arianas auswendig beherrschen. Sie zu verstehen, ist eine ganz andere Geschichte. Verstehen ist nichts, das gesellschaftliche Bedeutung hat. Nichtsdestotrotz liebte ich Bücher. Nicht wegen ihres Inhalts, sondern wegen ihrer Form und ihres Geruchs. Eines der schönsten Gefühle ist es, ein Buch zu beenden und als letztes Ritual den Faden des Lesezeichens auf der ersten Seite einzulegen und das Buch zu schließen. Das war eine der wenigen Leidenschaften,die ich mit Meister Riu teilte, Leidenschaften, die uns manchmal sogar zusammenschweißten.

Vorsichtig stellte ich das Buch zurück an seinen Platz. Es folgten einige Titel, welche ich nicht kannte oder nicht übersetzen konnte. Wahllos zog ich ein weiteres Buch heraus.