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Ihre Hingabe gilt ihren Patienten, ihre Hoffnung gilt der Zukunft: Das Schicksal einer jungen Hebamme im Nachkriegsdeutschland. Das große Finale der Bestseller-Saga!
Berlin-Zehlendorf, 1948: Als Hilfsgüter aus einem Rosinenbomber vom Himmel fallen, atmet die Belegschaft des Waldfriede-Krankenhauses erleichtert auf, denn die Not im blockierten Westberlin und in der Klinik ist groß. Auch die junge Hebammenschülerin Christina leistet tapfer ihren Dienst und umsorgt ihre kleinen Patienten. Ihre Arbeit auf der Kinderstation erfüllt sie mit tiefem Stolz und vermag den Schmerz über ihren im Krieg gefallenen Vater und Bruder zu lindern. Als sie sich Hals über Kopf in den Mechaniker Peter verliebt, schöpft Christina zum ersten Mal Hoffnung auf eine glücklichere Zukunft – bis Peter ihr einen waghalsigen Plan verkündet, der ihn das Leben kosten kann. Und er ist nicht der Einzige, um dessen Wohl Christina fürchten muss …
Nach wahren Begebenheiten: Inspiriert von der Chronik einer Krankenschwester erzählt Erfolgsautorin Corina Bomann die Geschichte der Berliner Waldfriede-Klinik.
Entdecken Sie die weiteren Bände der mitreißenden Waldfriede-Saga:
1. Sternstunde. Die Schwestern vom Waldfriede
2. Leuchtfeuer. Die Schwestern vom Waldfriede
3. Sturmtage. Die Schwestern vom Waldfriede
4. Wunderzeit. Die Schwestern vom Waldfriede
Alle Bände der Saga sind auch einzeln lesbar.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 735
Corina Bomanns Romane sind mit einer Gesamtauflage von über zwei Millionen Exemplaren nicht aus den Bestsellerregalen wegzudenken. Mit ihren beliebten historischen Sagas steht sie regelmäßig auf den vorderen Plätzen der SPIEGEL-Bestsellerliste – so auch mit ihrer groß angelegten Waldfriede-Saga. Mit der vierbändigen Romanreihe um die Berliner Klinik erfüllt sie sich einen Herzenswunsch: Inspiriert durch die echte Chronik des Hauses, von deren Existenz sie während eines Aufenthalts dort erfuhr, möchte sie der Klinik und ihrer ereignisreichen Geschichte ein Denkmal setzen. Corina Bomann lebt in Berlin-Zehlendorf – in direkter Nachbarschaft zur Waldfriede-Klinik.
Sternstunde in der Presse:
»Ein spannend aufbereitetes Zeitdokument.« Münchner Merkur
»Mitreißendes Historienkino vom ersten bis zum letzten Satz. Solch eine Lektüre ist von größter Seltenheit, hallt außerdem noch lange im Herzen nach.« literaturmarkt.info
»Spannender Auftakt einer Saga, die auf wahren Begebenheiten beruht!« OK!
Außerdem von Corina Bomann lieferbar:
Sternstunde. Die Schwestern vom Waldfriede
Leuchtfeuer. Die Schwestern vom Waldfriede
Sturmtage. Die Schwestern vom Waldfriede
Corina Bomann
Die Schwestern vom Waldfriede
Roman
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Redaktion / Lektorat: Carlos Westerkamp
Covergestaltung: www.buerosued.de
Coverabbildung: Arcangel Images, Joanna Czogala / www.buerosued.de
Gesamtherstellung: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 978-3-641-28305-6V001
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Christina lag im Schatten der Feldscheune und schaute in den Himmel, wo kleine weiße Wolken über das ansonsten makellose Blau zogen. Sie wartete auf den Glockenschlag, der ein Uhr verkündete und ihr damit das Signal zum Aufbruch gab. Um diese Zeit würde der Gärtner des Gutshauses zum Mittagessen in seine Hütte verschwinden, und es würde nicht mehr die Gefahr bestehen, dass er sie entdeckte.
Ihre Eltern sahen es eigentlich nicht gern, dass ihre zehnjährige Tochter zum Gutshaus hinüberlief. Doch sie liebte es, sich am Sonntag unter den Hecken des Schlossparks zu verstecken, wenn in ihrem kleinen Ort Mittagsruhe herrschte und nicht mal die Hunde Lust hatten, aus ihren schattigen Verstecken hervorzukommen.
Endlich läutete die Glocke! Christina erhob sich, klopfte sich das Stroh von ihrem grünen Sonntagskleid und lief los. Sie hatte noch eine Stunde Zeit, bis sie sich wieder auf den Weg nach Hause machen musste, um der Mutter beim Vorbereiten des Nachmittagskaffees zu helfen. Bei dem Gedanken an den Streuselkuchen, den sie gebacken hatten, lief ihr das Wasser im Mund zusammen.
Doch noch mehr interessierte sie der Blick auf das Gutshaus. Die Herrschaften waren am Sonntag meist unterwegs, sodass die Dienstboten die Zeit nutzten, das Haus zu lüften und andere Arbeiten zu erledigen.
Im Juni 1940 brannte die Sonne auf die Felder Niederschlesiens und ließ die Luft über den im Wind leicht vor sich hin wogenden Kornähren schwirren. Dass Krieg herrschte, merkte man hier draußen kaum. Lediglich die Männer im Ort wurden weniger. Nach der ersten Welle der Einberufungen merkte man die Lücken bereits, auch weil sich viele junge Männer freiwillig der Wehrmacht anschlossen.
Christina hatte ihre Eltern darüber reden hören. Ihre Mutter war froh gewesen, dass ihr Bruder Anton noch nicht zu den Jahrgängen gehörte, die gehen mussten. Auch ihr Vater war bisher verschont geblieben. Im Gegenteil zu anderen Männern im Ort hatte er nicht vor, sich freiwillig für diesen »Wahnsinn«, wie er es nannte, zu melden.
Als der Krieg begonnen hatte, hatten die Leute auf ein schnelles Ende gehofft. Doch nun weitete er sich aus, die Kämpfe wurden heftiger, mittlerweile war die Wehrmacht in Dänemark einmarschiert, und ihre Truppen schickten sich an, auch Frankreich anzugreifen.
»Hitler wird den Hals nie vollkriegen«, hatte ihr Vater gesagt, als er diese Nachricht in der Zeitung gelesen hatte. »Er wird weitere Gründe finden, Krieg zu führen. Er wird weitere Länder angreifen. So lange, bis in der gesamten Welt kein Stein mehr auf dem anderen steht.«
Natürlich durfte Christina in der Schule nichts davon erzählen, dass ihre Eltern den Krieg nicht guthießen. Ihr Lehrer nahm schon kleinere Verfehlungen zum Anlass, Schläge mit dem Lineal zu verteilen. Ein Junge, der auf die Frage, wie lange das Tausendjährige Reich währen würde, die falsche Antwort gegeben hatte, war von ihm so sehr geschlagen worden, dass er einige Tage zu Hause bleiben musste. Wenn Herr Miksch also von den Heldentaten der Soldaten erzählte oder sie Radiosendungen mit Marschmusik und Soldatenliedern hörten, verzog Christina keine Miene und machte es wie die anderen in ihrer Klasse.
An der Hecke angekommen, schlüpfte sie durch die schmale Lücke. Sie musste aufpassen, nicht mit einem ihrer geflochtenen Zöpfe im Gestrüpp hängen zu bleiben, ihre Mutter würde sonst fragen, wo sie gewesen sei.
Wenig später lag das Gutshaus vor ihr. Es war ein hoher klassizistischer Bau mit zwei Flügeln und einem prunkvoll verzierten Mittelgebäude, das in einem hellen Gelbton gestrichen war, der sich wunderschön vom blauen Himmel abhob. Die Fensterlaibungen waren in Weiß gehalten und mit Stuckornamenten verziert. Während es vorn unter dem ausladenden Balkon eine Auffahrt für Kutschen gab, erstreckte sich auf der Rückseite eine geschwungene Treppe in den Park.
Wie Christina es erwartet hatte, standen die Türen weit offen. Um besser sehen zu können, schlich sie noch ein Stück unter der Hecke hervor. Schließlich konnte sie einen Blick auf den Kronleuchter erhaschen, der wie eine gläserne Traube von der Decke hing. Bislang war es ihr noch nicht gelungen, am Abend zu entwischen und zu sehen, wie es war, wenn alle Lampen daran leuchteten. Sie stellte es sich wie im Märchen vor, bei dem Ball, auf dem Aschenputtel ihren Prinzen traf. Soweit sie wusste, gab der Hausherr von Zeit zu Zeit Empfänge oder Bälle, besonders im Frühjahr, wenn Ostern und später dann Mittsommer gefeiert wurde, oder im Herbst, wenn die Jagdsaison anstand.
Das Geräusch eines Fahrzeugs brachte sie dazu, wieder zurück durch die Hecke zu schlüpfen. Sie wollte auf keinen Fall erwischt und für eine Diebin gehalten werden!
Doch als sie das Anwesen umrundete, sah sie, dass es sich nicht um den Wagen des Gutsherrn handelte. Das Fahrzeug war dunkelgrün, und der Soldat, der es gesteuert hatte, stand daneben und zündete sich eine Zigarette an.
»Komm mal her, Kleine!«, rief er, doch Christina wirbelte herum und lief los. Ihre Mutter hatte ihr eingeschärft, dass sie nicht mit Fremden sprechen sollte, schon gar nicht mit Soldaten, die keine Hemmungen hatten, einen Menschen zu töten. Der Soldat rief ihr noch etwas hinterher, doch sie verstand es nicht.
Mit klopfendem Herzen schlug sie den Feldweg ein und verschwand wenig später wieder im Korn. Dort hockte sie sich einen Moment lang hin und lauschte. Was hatte es zu bedeuten, dass Soldaten das Gutshaus aufsuchten? Erst recht in der Abwesenheit des Hausherrn.
Christina bereute fast, dass sie dort hingelaufen war. Anscheinend war heute kein guter Tag für ein Abenteuer.
Nach einer Weile, als sie sich sicher war, dass der Soldat ihr nicht gefolgt war, erhob sie sich wieder und ging in Richtung Feldscheune. Ein paar Grillen zirpten am Wegrand, und die warmen Sonnenstrahlen drangen durch ihr Kleid. Bei dieser Hitze war es gut möglich, dass sie morgen schulfrei bekamen. Ohnehin standen die Sommerferien an, da lohnte es sich fast nicht mehr, auf den harten Bänken zu schwitzen.
Als sie die Feldscheune erreichte, schlug die Kirchturmglocke zwei Uhr. Sie überprüfte noch einmal ihre Kleider und ihre Zöpfe, dann machte sie sich auf den Weg zu dem kleinen Bauernhof, den ihre Eltern bewirtschafteten.
Dort schien alles wie immer, aber trotzdem überkam sie eine merkwürdige Stimmung. So als hätte sich die Welt um einige Zentimeter verschoben. Sie schüttelte den Kopf. Das lag bestimmt nur daran, dass ihr gewohnter Zeitvertreib von dem Soldaten unterbrochen worden war.
Vorsichtig öffnete sie die Haustür.
»Komm rein, Christina«, sagte die kräftige Stimme ihres Vaters. Christina erstarrte erschrocken. Eigentlich hätte er doch noch Mittagsruhe halten sollen!
Während sie versuchte, ihr schlechtes Gewissen zu verbergen, drückte sie die Tür ins Schloss. Hatten sie erfahren, dass sie sich wieder zum Gutshaus geschlichen hatte? So ernst, wie der Vater dreinschaute, musste das wohl der Fall sein.
»Setz dich«, sagte ihr Vater.
Christinas Blick wanderte zur Mutter. Deren Blick wirkte gramvoll. Sie war noch nie besonders füllig gewesen, doch ihr Gesicht wirkte nun noch dünner und auch ein wenig verhärmt. Ärgerte sie sich so sehr über sie?
Christina wollte fragen, wo Anton war. Auch ihn hielt es zur Mittagsruhe nicht im Haus. Wahrscheinlich war er mit einigen Schulkameraden unterwegs. Ihr Vater war vor Stolz beinahe geplatzt, als sie Bescheid bekommen hatten, dass Anton auf das Gymnasium in Glogau gehen durfte.
Der Vater schwieg einen Moment, dann zog er einen Brief hervor.
»Die Feldjäger waren hier«, sagte er bekümmert. »Sie haben das hier gebracht.«
Christina starrte ihn überrascht an. Dann ging es gar nicht um sie? Wieder hatte sie den Soldaten vor sich.
»Was ist das?«, fragte sie vorsichtig.
Ihre Mutter zog die Nase hoch. Erst jetzt bemerkte Christina, dass Tränen in ihren Augen standen.
»Mein Einberufungsbefehl«, antwortete ihr Vater. »Ich werde Ende nächster Woche aufbrechen müssen. Nach Frankreich. In den Krieg.«
Bei seinen letzten Worten schluchzte ihre Mutter auf. Ihr Vater wirkte ernst, aber gefasst. Er streckte eine Hand nach Christina aus, die andere nach seiner Frau. Von Anton fehlte noch immer jede Spur. Wenn er nur hier wäre, dachte Christina beklommen, während sie ihre Hand auf die ihres Vaters legte.
»Versprich mir eines, Christina«, sagte er beinahe schon feierlich. »Versprich mir, dass du auf deine Mutter aufpassen wirst. Und dass ihr einander nie verliert.«
Christina lag es auf der Zunge, dass doch auch Anton da sein würde. Doch sie nickte nur und fiel dann ihrem Vater um den Hals.
»Hart hatte der Winter eingesetzt, und wie überall, machte sich auch bei uns der Mangel an Feuerung bemerkbar. Oft konnten nur die Operations-, Entbindungs- und Säuglingsräume notdürftig erwärmt werden. Die Zentralheizung im Arzthaus, in dem auch eine Zahl Schwestern wohnte, konnte nur selten in Gang gesetzt werden. Mühsam half man sich, soweit vorhanden, mit kleinen Öfchen aus. (…) Die Waldungen unsrer Umgebung büßten einen großen Teil ihres Bestands ein.«
»Nach wie vor blieben die Lebensmittel- und sonstige Zuteilungen auf das Allernotwendigste beschränkt. Die Mahlzeiten wurden nach ›Kalorien‹ berechnet, und die entsprechenden Aufzeichnungen kamen für jeden Tag zum Aushang, damit jeder wusste, dass er ›sein Teil‹ erhielt.«
(Chronik des Krankenhauses Waldfriede, 1946 und 1948)
Hell schien die Morgensonne auf das Krankenhaus Waldfriede, als Christina auf die gepflasterte Rotunde trat. Die Luft war frisch und erfüllt von einem süßen Duft. In der Ferne hörte sie Stimmen. Sie wandte den Kopf in Richtung Park und erblickte dort eine Gruppe bunt gekleideter junger Leute, die offenbar dasselbe Ziel hatten wie sie.
Christina, die großen Menschenansammlungen ein wenig skeptisch gegenüberstand, verharrte noch einen Moment an ihrem Platz und ließ den Blick über das Gelände schweifen.
Die Sonne brachte die Blüten an den Kirschbäumen im Krankenhauspark zum Strahlen. Die Äste der meisten anderen Bäume waren noch kahl, aber das würde sich schon bald ändern. Ihr Blick wanderte weiter über das villenartige, gelb gestrichene Ärztewohnhaus, dann wandte sie sich dem Krankenhaus zu.
Obwohl ihm immer noch anzusehen war, dass es stark unter dem Krieg gelitten hatte, gelang es der Morgensonne doch ein wenig, die Schäden abzumildern. Das imposante Hauptgebäude verfügte über zwei Obergeschosse, und seine Fassade war von wilden Weinranken bedeckt. Zu seiner Rechten befand sich ein turmartiger Anbau mit großen Kassettenfenstern, zu seiner Linken verband ein kleiner Mittelbau mit der Aufschrift »Bäder« es mit einem weiteren, größeren Anbau, dem Speisehaus. Unter den ziegelbedeckten Dachschrägen duckten sich zahlreiche kleine Fenster, hinter denen sich die Unterkünfte für die Krankenschwestern und Pfleger befanden.
Geschäftig huschten die Schwestern an den Stationsfenstern vorbei, hier und da sah Christina, wie eine von ihnen eine Bettdecke aufschüttelte oder ein Tablett vor sich hertrug. Wie lange hatte sie sich schon gewünscht, zu ihnen zu gehören!
Doch dieser Tag war nun gekommen. Nun würde ihre Ausbildung im Krankenhaus Waldfriede beginnen.
Sie blickte auf den Zettel in ihrer Hand. Das Programm ihres ersten Tages war umfangreich. Es würde mit einer Feierstunde in der Krankenhauskapelle beginnen, danach würden sie auf ihre Zimmer verteilt werden. Nach dem Mittag würde es eine Führung durch das Haus geben, anschließend konnten sie einander kennenlernen und ihre Räumlichkeiten in Beschlag nehmen.
Sie faltete den Zettel wieder zusammen und steckte ihn in ihre Rocktasche.
Als sie sich umwandte, um zu den anderen zu gehen, bemerkte sie neben den hoch aufragenden Taxusbüschen eine junge Frau mit nussbraunem Haar und gelbem Kleid. Ihre Beine waren auffällig braun. Christina konnte auf den ersten Blick nicht erkennen, ob sie tatsächlich Nylonstrümpfe trug oder ob sie nur Farbe auf ihre Beine gestrichen hatte, um Strümpfe nachzuahmen. Sommerbräune konnte es in dieser Jahreszeit nicht sein.
Die Fremde hatte eine verschlissene Stofftasche in der Hand und schaute sich ein wenig ratlos um. War sie eine Patientin?
Christina trat zu ihr.
»Guten Morgen, wo möchten Sie denn hin?«, fragte sie freundlich. Jetzt erkannte sie auch, dass die Fremde kaum älter war als sie selbst.
Die Angesprochene zuckte zusammen, dann schaute sie sie mit strahlenden Augen an. »Oh, ich möchte Krankenschwester werden! Ich meine, ich wollte zur Aufnahmefeier für den neuen Jahrgang.«
Christina bemerkte einen leichten Akzent in ihren Worten.
»Na, da sind Sie hier genau richtig!«, sagte sie. »Ich bin Christina Heller. Und wenn Sie mögen, können wir Du zueinander sagen.«
Das Mädchen gab einen Laut der Erleichterung von sich, dann streckte sie ihr die Hand entgegen. »Das wäre schön. Ich … ich bin Selma. Selma Wagner.«
»Woher kommst du, Selma?«, fragte Christina.
»Aus Kleinmachnow«, antwortete sie.
»Sowjetische Zone«, sagte Christina wissend. Nach Kriegsende hatten die Alliierten Deutschland ebenso wie seine Hauptstadt in vier Sektoren geteilt. Zehlendorf befand sich auf der amerikanischen Seite, die kleinen Vororte weiter südlich gehörten zu den Gebieten, die den Sowjets zugesprochen wurden.
»Eigentlich stamme ich aus Böhmen«, erklärte Selma. »1945 bin ich hier angekommen und wohne seitdem bei meinen Pflegeeltern.«
Christina zog die Augenbrauen hoch. Selma war ein Flüchtling wie sie! Und sie wirkte auch recht nett.
»Sind deine Eltern …«, begann Christina beklommen.
»Oh, nein, nicht, was du denkst«, sagte Selma schnell. »Meine Familie lebt noch! Sie hielten es für besser, mich nach dem Krieg hierher zu schicken, damit ich hier etwas Anständiges lerne. Außerdem sind sie Adventisten wie die Schwestern im Waldfriede.«
Dass die Schwestern adventistischen Glaubens waren, wusste Christina bereits, doch der Grund, weshalb man Selma hergeschickt hatte, irritierte sie ein wenig. Konnte man in Böhmen nichts Anständiges lernen? Oder gab es dort keine Adventisten?
Im nächsten Augenblick verspürte sie einen leichten Anflug von Neid. Selma hatte ihre Familie immerhin noch. Das konnte sie nicht von sich behaupten …
»Und wo kommst du her?«, fragte Selma.
»Aus einem kleinen Dorf in Schlesien.« Christina betrachtete Selma. Würde ihr diese Antwort reichen? Immer, wenn jemand sie nach ihrer Herkunft fragte, war es ihr unangenehm. Nicht, weil sie sich wegen des Orts schämte, sondern weil sie spürte, dass eine Wunde aufzubrechen drohte, deren Schmerz sie nicht mehr spüren wollte.
»In Schlesien war ich nie«, sagte Selma und überlegte kurz, bevor sie fragte: »Bist du auch so aufgeregt? Ich konnte die ganze Nacht nicht schlafen. Ich … ich war noch nie in diesem Krankenhaus, alles ist so neu und fremd.«
Christina lächelte und beschloss, Selma zu mögen.
»Ich bin auch aufgeregt«, gab sie zu. »Aber ich glaube, wir brauchen keine Angst zu haben. Die Ärzte und Schulschwestern sind alle sehr freundlich. Ich kenne sie schon eine Weile.«
»Wie das?«, fragte Selma erstaunt.
Ein Lächeln huschte über Christinas Gesicht, dann streckte sie die Hand nach ihr aus. »Weil das Waldfriede mein Zuhause ist.«
Lächelnd sah Hanna den beiden Mädchen hinterher. Sie waren dermaßen in ihr Gespräch versunken, dass sie sie nicht bemerkt hatten. Doch Hanna nahm es ihnen nicht übel. Im Gegenteil, es freute sie sehr, dass Christina so schnell mit einer neuen Schülerin ins Gespräch gekommen war. Vielleicht würden sich die beiden ja sogar anfreunden. Kaum etwas wünschte sie Christina mehr, als dass sie Anschluss unter Gleichaltrigen finden würde, nachdem sie es hier die meiste Zeit mit viel älteren Leuten zu tun hatte.
Da noch etwas Zeit bis zum Gottesdienst war, ließ Hanna den Blick zum Haupttor schweifen, über dem ein Schild mit der Aufschrift »Krankenhaus Waldfriede« hing. Ein Windhauch streifte sie, und sie zog die Jacke über ihrem dunkelblauen Festtagskleid enger. Obwohl der Frühling mit großen Schritten nahte, spürte man immer noch die eisigen Finger des Winters. Es war schon seltsam, dass gerade diese Jahreszeit stets Erneuerung für das Waldfriede brachte.
Winter war es auch gewesen, als sie vor achtundzwanzig Jahren durch dieses Tor getreten war, als junge Schwester, die den Tod ihres Verlobten vergessen und neu anfangen wollte. Der Frost hatte ihnen zugesetzt und die Arbeit erschwert, und doch war aus dem heruntergekommenen Sanatorium ein stolzes Krankenhaus geworden.
Als Christina durch dieses Tor gebracht wurde, zusammen mit anderen Flüchtlingen, die einen endlosen Strom gebildet hatten, war es zwar schon Frühjahr gewesen, aber ein sehr kaltes Frühjahr nach einem langen, leidvollen Winter.
Gebeugt, krank, mit zerschlissenen und schmutzigen Kleidern, die Gesichter blass und mager, hatten sich diese Menschen Hilfe an diesem Ort erhofft. Bis auf ihre nackte Existenz hatten die meisten kaum etwas aus ihrem früheren Leben retten können. Ihre Häuser und ihre Heimat waren verloren, viele hatten auch ihre Gesundheit eingebüßt.
Auch ihnen hier war es nicht gut ergangen. Die Folgen der Kampfhandlungen und die daraus resultierende Hungersnot setzten ihnen zu. Viele Fenster des mehrteiligen Hauptgebäudes waren nur notdürftig abgedichtet. Der Brunnen vor der Liegehalle war ausgetrocknet, den größten Teil des Parks hatte man in ein Kartoffel- und Rübenfeld verwandelt. Der Rasen der übrig gebliebenen Parkfläche hatte sich an vielen Stellen noch immer nicht ganz vom Beschuss mit Brandbomben erholt. Der große Krater, der in der Nähe der Straße geklafft hatte, war ein Zeugnis davon, wie knapp das Haus und die anderen Gebäude auf dem Gelände der Zerstörung entgangen waren.
Überall hatte es an dem Nötigsten gefehlt. Lebensmittel gab es auf Zuteilung, hin und wieder ließen sie sich auf Schwarzmarkthändler ein, damit sie wenigstens ihre Patienten ausreichend versorgen konnten. Verbandmaterial war nach wie vor knapp, sodass sie sich irgendwie anders behelfen mussten. Medikamente bekamen sie immerhin, die U. S. Army griff ihnen unter die Arme. Feuerholz oder gar Briketts waren wiederum Mangelware.
Dennoch hatte das Krankenhaus Waldfriede in Zehlendorf all diesen Menschen so gut es ging Zuflucht geboten.
Und auf einmal waren die Bilder jenes Nachmittages wieder da, als Dr. Conradi sie in die Notaufnahme geholt hatte …
An diesem Nachmittag waren zahlreiche Kinder unter den Flüchtlingen gewesen. Einige waren allein, andere klammerten sich fest an ihre Mütter. Ihre Augen wirkten viel zu groß in den ausgemergelten Gesichtern. Viele schauten sie mit den wissenden Mienen wesentlich älterer Menschen an. Bei einigen erkannte man deutlich, dass sie zu klein für ihr Alter waren.
»Worum geht es denn?«, hatte sich Hanna an Dr. Conradi gewandt.
»Wir haben eine Patientin, die sich nicht von mir anfassen lassen will. Sie hat eine schon leicht brandige Verletzung am Bein, um die sich gekümmert werden muss. Ihre Anwesenheit könnte vielleicht helfen.«
Im Behandlungsraum hatte sie zunächst einen älteren Mann in einem viel zu großen, verschlissenen Wollmantel gesehen, der sich ihnen als Franz Kobler vorstellte.
Dann erblickte sie ein bleiches, sehr dünnes, etwa sechzehnjähriges Mädchen mit blonden, etwas verfilzt wirkenden Zöpfen, das mit angezogenen Knien auf dem Untersuchungstisch saß. Am Bein hatte sie eine lange Wunde, die entzündet und eitrig aussah.
»Und wer bist du?« Trotz Hannas freundlichem Tonfall war das Mädchen zusammengezuckt. Es umklammerte die Beine noch etwas fester und legte den Kopf wieder auf die Knie.
»Bitte nehmen Sie es ihr nicht übel, Schwester Hanna«, sagte Kobler. »Wir nennen sie Christina. Unser Treck hat sie im Wald gefunden.« Er presste die Lippen zusammen, dann fuhr er fort: »Unweit eines anderen Zuges, der … nicht so viel Glück hatte wie wir.«
»Was ist geschehen?« Hanna spürte, wie das Grauen wie kleine Nadeln auf ihre Haut einstach. In den vergangenen Jahren hatte sie gelernt, dass die Formulierung »nicht so viel Glück gehabt« alles Mögliche an Schrecken bedeuten konnte.
»Alle tot. Nur sie nicht.« Kobler blickte das Mädchen mitleidig an. »Könnten wir vielleicht ein wenig … abseits reden?«
Hinter dem Paravent hatte der Mann ihnen erklärt, wie Christina sich die Wunde zugezogen hatte. Offenbar war sie bei dem Versuch, Kartoffeln zu holen, an rostigem Zaundraht hängen geblieben.
Der Mann hatte beschämt den Blick gesenkt. »Leider waren wir gezwungen, auf unserem Weg an Nahrung zu nehmen, was sich uns anbot.«
Das konnte Hanna nur zu gut verstehen. Immerhin hatten auch sie sich an der Kartoffelmiete, die die Russen bei ihrem Abzug hinterlassen hatten, reichlich bedient. Ein würdiger Moment war das nicht gewesen, wie sie mit Eimern und Körben über den Haufen hergefallen waren, bevor andere es tun konnten. Aber der Hunger und die Sorge um ihre Patienten hatten ihnen keine Wahl gelassen.
»Lässt sie sich nur von Männern nicht anfassen?«, hatte Hanna weiter gefragt.
»Vornehmlich Männer.« Kobler nickte. »Sie scheint ihnen die Schuld an allem Schlechten zu geben. Die einzige Ausnahme bin wohl ich. Aber ich habe sie auch gefunden und mitgenommen.«
Ein schrecklicher Verdacht war ihr gekommen. »Ist sie …« Die Worte verfingen sich in ihrer Kehle. Es wäre nicht das erste Mal, dass ein noch sehr junges Flüchtlingsmädchen durch eine Vergewaltigung schwanger in ihrem Untersuchungsraum gesessen hätte.
Kobler hatte verneint. »Wir haben uns von den Russen ferngehalten, so gut es ging. Aber was davor passiert ist, weiß ich nicht. Die Kleine redet nicht über das, was mit ihren Leuten geschehen ist. Wir können nur mutmaßen, dass sie vielleicht an einen Trupp Soldaten geraten ist, der alle umgebracht hat. Auch ihre Familie.«
Was das bedeutete, wusste Hanna nur zu genau. Kobler berichtete ihnen, dass sie kaum gesprochen hätte, nachdem sie in einem ausgehöhlten Baumstamm gefunden worden war. Hanna hatte sofort erkannt, dass das Mädchen zutiefst traumatisiert war.
»Wir wollten sie nicht den Russen überlassen«, fuhr Kobler fort. »Also haben wir uns entschlossen, sie mitzunehmen. Allerdings fürchte ich, dass wir nur wenig für sie tun können.«
Kobler hatte ihnen erklärt, dass man seiner Frau und ihm eine Unterkunft angeboten hatte – und dass für Christina dort zu wenig Platz sei.
»Dann sind Sie also nicht wegen der Verletzung gekommen?«
Dr. Conradis Stimme hatte wütend geklungen.
»Doch, natürlich wegen der Verletzung«, beteuerte Kobler. »Aber vielleicht … könnten Sie sie eine Weile hierbehalten. Sie aufpäppeln, bis sie wieder auf eigenen Füßen stehen kann.«
Es war eine impertinente Bitte gewesen, wenngleich Hanna Koblers Beweggründe verstehen konnte. Nachdem sie sich das Mädchen angesehen und ihre Wunde versorgt hatten, hatte sich Hanna an den Chefarzt gewandt.
»Kann sie denn nicht hierbleiben? Ich fürchte, wenn sie das Haus verlässt, wird sie unter die Räder kommen. Sie haben doch gesehen, wie verschreckt sie ist. Hier könnte sie heilen.«
Dr. Conradi war nicht begeistert gewesen, denn sie hatten schon genug zusätzliche Menschen zu versorgen. Aber Hanna hatte nicht lockergelassen und angeboten, sie bei sich aufzunehmen. Und letztlich, weil er ihr kaum etwas abschlagen konnte, hatte er erlaubt, dass Christina bleiben konnte …
»Guten Morgen, Schwester Hanna.« Die warme Stimme Dr. Conradis vertrieb die Bilder ihrer Erinnerung. Sie zuckte zusammen, denn sie hatte nicht gehört, wie er an sie herangetreten war.
»Oh, ich wollte Sie nicht erschrecken«, sagte er schnell.
»Das haben Sie nicht. Ich war nur in Gedanken. Heute ist ein bedeutungsvoller Tag.«
Sie betrachtete den Doktor, der von Beginn an das Krankenhaus Waldfriede leitete. Die Jahre der Not und des Krieges hatten sein Haar schütter werden lassen. Sein Bart war ergraut, und von dem vielen Stehen am OP-Tisch waren seine Schultern nach vorn gebeugt.
Doch in dem Blick seiner blauen Augen lagen noch immer Entschlossenheit und ein starker Wille. Er war nach wie vor das Herz des Waldfriede.
»Ja, bei jedem Jahrgang, der neu ins Haus kommt, merkt man, wie die Jahre vergehen, nicht wahr?«, bemerkte Conradi mit einem wehmütigen Lächeln. »Nun haben wir bald das dritte Friedensjahr.«
Hanna seufzte. »Manchmal scheint mir, als würde die Zeit nur sehr langsam vergehen, gemessen an dem, was wir an Reparaturen schaffen. Aber ja, Sie haben recht. Die Jugend zeigt uns, dass wir alt werden.«
»Alt, weise, und wir sind immer noch da.« Der Doktor legte sanft die Hand auf ihre Schulter. »Dann wollen wir diese neue Generation Waldfriede mal begrüßen.«
Mit pochendem Herzen und Selma an der Hand eilte Christina auf die Kapelle im hinteren Teil des Hauses zu. Von hier aus hatte man auch einen guten Blick auf die Handwerkerunterkünfte, kleine Fachwerkhäuser, in denen viele der Arbeiter des Waldfriede mit ihren Familien wohnten. Einige der Männer waren aus dem Krieg nicht zurückgekehrt, sodass die Arbeit den Frauen zufiel. Christina kannte manche von ihnen und wusste, dass ihr Leben nicht leicht war. Doch für wen war das Leben nach dem Krieg schon einfach?
Sie schob die traurigen Gedanken beiseite. Der Anblick der Kapelle ließ ihr Herz vor Glück hüpfen.
Noch am Tag zuvor hatte sie mitgeholfen, alles für die Aufnahmefeierlichkeit herzurichten. Dabei hatte sie auch den Chor bei seiner Generalprobe belauscht. Viele der Schwestern konnten wunderbar singen und spielten ein Musikinstrument. Hanna hatte sie ermuntert, es ebenfalls zu versuchen, doch es hatte sich herausgestellt, dass ihr Talent nicht besonders groß war.
Als sie an den Fenstern der Küche vorbeikamen, strömte ihnen ein wunderbarer Duft entgegen. Christina bereute es jetzt ein wenig, dass sie vor lauter Aufregung auf das Frühstück verzichtet hatte.
Hinter den Scheiben sah sie Schwester Waltraud Raudies, die bereits im zweiten Lehrjahr war, aber dennoch immer wieder in der Küche arbeitete. Sie war mit ihren fünfundzwanzig Jahren älter als die meisten Schwesternschülerinnen. Eigentlich hatte sie mit ihrer Ausbildung schon 1946 anfangen sollen, doch da man ihre Kenntnisse in der Küche brauchte, wurde sie für ein Jahr zurückgestellt. Ihren Platz hatte Lothar Müller erhalten, der nun als Gehilfe von Carl Rohleder in den Bädern arbeitete. Waltraud hätte darüber wütend sein können, doch es war mittlerweile kein Geheimnis mehr, dass sie sich in den Hilfsbademeister verliebt hatte. Christina sah die beiden hin und wieder durch den Park spazieren.
Vor der Kapelle erblickte sie die anderen Mädchen. Ein paar von ihnen waren in Zivilkleidung erschienen, doch die meisten trugen bereits ihre Schwesterntracht. Fast alle hatten Reisetaschen bei sich. Heute würde noch nicht unterrichtet werden, denn die Neuankömmlinge mussten erst einmal das Haus kennenlernen und ihre Unterkünfte in Beschlag nehmen.
»Wollen wir schon mal reinschauen?«, sagte Christina zu Selma, die sich ein wenig unsicher umblickte.
»Und was ist mit den anderen?«
»Die werden bestimmt gleich folgen.« Christina schlüpfte durch die Kapellentür.
Man sah dem Gebäude an, dass es zu Kriegszeiten viel zu leiden gehabt hatte. Die Bestuhlung war marode, eine der Wände hatte einen langen Riss, und viele der Fenster waren notdürftig geflickt worden.
Doch überall war es mit Blumen aus hauseigener Zucht geschmückt worden. Gartenmeister Jasper gab seine Zöglinge nur sehr ungern fort, auch baute er hauptsächlich Gemüse an, doch für den heutigen Anlass hatte er Schmuckkörbchen, Margeriten und Geranien gespendet.
Christina ließ den Blick durch die Kapelle schweifen. Bislang war sie nur hier gewesen, um sauber zu machen. Sie war kein Mitglied der christlichen Gemeinde der Adventisten des Siebentes Tages, die das Krankenhaus führte, ihre Mutter hatte sie evangelisch taufen lassen. Als Hitler an die Macht kam, hatte ihre Familie aufgehört, in die Kirche zu gehen.
Von den Adventisten wusste sie durch Hanna, dass sie anstelle des Sonntags den Samstag als Ruhetag heiligten. Außerdem hofften sie nicht, nach dem Tod in den Himmel zu kommen, sondern darauf, dass Jesus sie auferstehen ließ und ihnen eine neue Erde schenkte.
Auch diese Kapelle hier unterschied sich sehr von der Kirche ihres Dorfes, sie war eher ein Gebetsraum als eines der dunklen, immer kühlen Gebäude, in denen Gott so fern schien.
Sie führte Selma zur zweiten Sitzreihe, die für die Schülerinnen gedacht war. Kurz darauf strömten auch die anderen Mädchen herein. Vorn würden die Ärzte und leitenden Schwestern sitzen, hinter ihnen die anderen Schwestern des Hauses.
»Wenn du hier schon gewohnt hast, weißt du doch sicher auch, wie Dr. Conradi ist, nicht wahr?«, flüsterte Selma Christina zu. »Meine Eltern haben ihn sehr gelobt und gemeint, dass es ohne ihn dieses Haus nicht geben würde.«
»Er ist sehr freundlich und ein guter Arzt«, erwiderte Christina. Doch wenn sie ehrlich war, hatte sie großen Respekt vor Dr. Conradi. Wenn Hanna sich nicht für sie eingesetzt hätte, wäre sie vielleicht gar nicht hier …
Eines späten Nachmittags zu Beginn dieses Jahres hatte sie auf der Wöchnerinnenstation zu tun gehabt. Die Böden mussten regelmäßig gewischt werden, besonders bei den Wöchnerinnen war Sauberkeit sehr wichtig, damit sie kein Kindbettfieber bekamen und womöglich starben. Die Amerikaner mochten ihnen das Penicillin gebracht haben, aber es war noch immer nicht überall verfügbar. Sauberkeit, so hatte Schwester Else immer betont, sei das Wichtigste im Umgang mit Patienten.
In diesem Teil des Krankenhauses, der hell und sonnendurchflutet war, arbeitete Christina sehr gern, denn hier begann das Leben immer wieder aufs Neue. Selbst wenn hin und wieder Kinder während oder nach der Geburt starben, war der Tod nur ein seltener Gast. Dies hatte das Haus nicht zuletzt dem Können der Hebammen und Kreißsaalschwestern zu verdanken.
Der Wunsch, eines Tages zu den Schwestern vom Waldfriede zu gehören, keimte schon seit einigen Monaten in ihr, aber als sie an diesem Nachmittag vor der Scheibe des Neugeborenenzimmers stand und die Kleinen eingewickelt in ihren Bettchen sah, wusste sie, dass sie nicht nur eine Schwester werden wollte.
Noch am selben Abend hatte sie Hanna vor dem Zubettgehen ihren Wunsch eröffnet: »Ich will Hebamme werden.«
»Das ist ein schönes Vorhaben.« Hanna wirkte überrascht. »Aber wie kommst du plötzlich darauf?«
»Nicht plötzlich«, sagte Christina. »Ich wünsche es mir schon seit einer Weile. Krankenschwester zu werden. Aber heute, als ich die Neugeborenen gesehen habe …« Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Es war lange her, dass ein Gedanke sie dermaßen mit Glück und Freude erfüllt hatte. »Ich möchte dafür sorgen, dass sie ihre Reise in die Welt sicher antreten können.«
Hanna hatte sie lange angesehen. Christina war sich dessen bewusst, dass sie sich über diesen Wunsch wunderte. Nie zuvor hatte sie um etwas gebeten und immer das angenommen, was man ihr zuteilte. Aber diesmal war es etwas anderes. Dies war eine Sache, die sie wirklich wollte.
»Du musst wissen, dass es eine schwere Arbeit ist«, erklärte Hanna ihr. »Und ein langer Weg. Zunächst musst du erst einmal Krankenschwester werden, im Kreißsaal arbeiten und dann noch zwei Jahre auf die Hebammenschule gehen.«
»Das schaffe ich«, gab Christina entschlossen zurück. »Und ich möchte es unbedingt.«
»Ich werde mit Dr. Conradi reden«, hatte Hanna daraufhin gesagt und ihr Versprechen gleich am nächsten Tag eingelöst.
Voller Bangen war Christina an dem Morgen bei der Arbeit erschienen. Dr. Conradi verhielt sich ihr gegenüber zwar freundlich, aber sie hatte keine Papiere mehr und somit auch kein Schulzeugnis, mit dem sie den Besuch der Volksschule nachweisen konnte. Möglicherweise würde er glauben, dass sie nicht genug Bildung für den Beruf besaß.
Hanna berichtete später, dass er tatsächlich skeptisch gewesen sei. Allerdings nicht wegen der fehlenden Zeugnisse.
»Wir wissen nicht, was sie durchgemacht hat«, hatte Dr. Conradi gesagt. »Vielleicht sind ihre Erinnerungen und Erlebnisse kontraproduktiv. Hat sie Ihnen denn gesagt, worauf sich dieser Wunsch gründet?«
»Sie sagt, sie möchte Kindern sicher auf die Welt helfen«, erwiderte Hanna. »Wie viele von unseren Bewerbern können eine andere Begründung für ihren Berufswunsch nennen als den, Menschen zu helfen? Ich habe jedenfalls ein gutes Gefühl.«
Conradi hatte Hanna einen ganzen Arbeitstag lang auf seine Entscheidung warten lassen – und dann ihrer Bitte stattgegeben.
»Meine Damen, meine Herren, ich begrüße Sie zu Ihrem ersten Tag am Krankenhaus Waldfriede!«
Christina kehrte aus ihrer Erinnerung zurück in die Realität und sah, dass Dr. Conradi den Platz hinter dem Rednerpult eingenommen hatte. Er trug einen eleganten dunklen Anzug, was ungewohnt auf Christina wirkte, denn sie sah ihn meist in seinem langen weißen Arztkittel. Hinter ihm saßen die Lehrkräfte: Dr. Meyer, Oberin Ida Bahr, Conradis Ehefrau Elisabeth, die ehemalige Oberin, und Schwester Hanna. Kurz trafen sich ihre Blicke, und ein Lächeln flammte auf ihrem Gesicht auf, dann richtete Christina ihren Blick wieder aufs Rednerpult.
Conradi machte eine Pause und fuhr fort: »Ich darf mich glücklich schätzen, in diesem Jahr fünfzehn junge Damen und endlich auch wieder einmal einen jungen Mann in den neuen Kurs der Krankenpflegeschule aufzunehmen. Nach der langen Zeit des Krieges sind Sie die Hoffnung des Waldfriede und der Menschen, die auf Ihre Hilfe und Ihr Können angewiesen sein werden.«
Nach der Feierstunde, die angefüllt war mit Liedern des Chors, einem Gedichtvortrag sowie kleinen Ansprachen ihrer Lehrer, wurden die Lernschwestern von Oberin Ida in Empfang genommen, die begann, sie auf ihre Zimmer aufzuteilen.
Für Christina war es nichts Neues, im Waldfriede zu wohnen, dennoch wusste sie bis jetzt nicht, wo ihre Unterkunft genau liegen würde.
Während die Oberin eine Reihe von Namen verlas, dachte Christina daran, dass Selma ihr vorhin gesagt hatte, sie würde im Gegensatz zu den meisten anderen Schwestern zu Hause wohnen. Das fand Christina schade, hatte sie sich doch schon darauf gefreut, mit ihr etwas zu unternehmen.
»Christina Heller«, rief Oberin Ida und schaute sich suchend um. Als sie sie gefunden hatte, sagte sie: »Zimmer siebzehn.«
Eine Welle der Freude durchströmte Christina. Ihr erstes eigenes Zimmer! Sie konnte es kaum erwarten, ihre Tasche, die schon seit gestern gepackt bereitstand, nach oben zu tragen. Mit Hanna zusammenzuwohnen, war auch schön gewesen, doch nun würde sie ihr eigenes Reich haben!
Nach der Zimmerverteilung schloss sich noch eine Führung durch das Haus an. Dort traf Christina Selma wieder. »Hast du ein gutes Zimmer bekommen?«
Christina nickte. »Ich denke schon. Die Zimmer für die Schwestern sehen alle gleich aus, aber ich habe eines, durch dessen Fenster ich zum Wald blicken kann.«
Selma seufzte leise. »Ich wünsche, ich könnte auch hier sein. Ihr geht an den Wochenenden sicher aus, nicht wahr?«
»Die Schwestern fahren manchmal gemeinsam in die Stadt«, antwortete Christina. Viel zu erleben gab es noch nicht, aber ein Ausflug in einen anderen Stadtteil war immer aufregend. »Sie werden sich freuen, wenn du mitkommst.«
»Du meinst, rein nach Mitte?«, fragte Selma ein wenig verwirrt.
Als Christina nickte, schmunzelte sie. »Weißt du, was mein Pflegevater immer sagt? Nur wer nicht in einer Stadt geboren ist, spricht davon, in die Stadt zu gehen, wenn er dort wohnt.«
»Na und, dann bin ich eben vom Land«, erwiderte Christina schulterzuckend. »Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass alle, die hier wohnen, etwas miteinander unternehmen. Und ich möchte, dass du nicht außen vor sein musst. Glaub mir, ich weiß nur zu gut, wie es sich anfühlt, nirgendwo dazuzugehören.«
Mit einem kleinen Lächeln stand Christina vor dem halb blinden Spiegel und strich sich das blau gestreifte Schwesternkleid an ihrem Körper glatt. Sie war mittlerweile viel kräftiger als bei ihrer Ankunft in Berlin vor zwei Jahren, aber dennoch sehr schlank. Ihr blondes Haar war zu einem lockigen Bob geschnitten und an einer Seite mit Klammern zusammengesteckt, damit es ihr nicht ins Gesicht hing.
Sie war froh darüber, nicht mehr diese Zöpfe tragen zu müssen, die sie wie ein kleines Mädchen aussehen ließen. Ihre Mutter hatte stets darauf bestanden, ihr Haar zu flechten, doch diese Zeiten waren vorbei, und sie wollte auch nicht daran erinnert werden.
Lieber wollte sie nach vorn schauen, auf ihr Leben im Waldfriede, das ihr immer noch wie ein kleines Wunder erschien.
Bereits seit Wochen hatte sie auf diesen Augenblick hingefiebert und sich vorgestellt, wie es sein würde, das Schwesternkleid zu tragen, das sie an Schwester Hanna so sehr bewunderte.
Es hatte eine Weile gedauert, bis sie zu Hanna Vertrauen gefasst hatte, aber mit ihrer freundlichen Art hatte sie die Mauern, die Christina um sich errichtet hatte, eingerissen und war beinahe so etwas wie eine Ziehmutter für sie geworden.
Ihr hatte sie es auch zu verdanken, dass sie nach ihrer Genesung etwas zu tun bekam, was ihr das Gefühl gab, gebraucht zu werden. Nachdem sie zwei Jahre lang im Waldfriede als Hausmädchen ausgeholfen hatte, war es ihr jetzt, kurz nach ihrem achtzehnten Geburtstag am 18. Februar, endlich gestattet worden, die Ausbildung als Krankenschwester zu beginnen. Und mehr noch! Da sie den Wunsch geäußert hatte, Hebamme werden zu wollen, würde sie ihre Arbeit größtenteils im Kreißsaal verrichten!
Allein schon der Gedanke, eines Tages zu werden wie Chefhebamme Else Rogel, erfüllte sie mit einem nie gekannten Glück. Endlich würde sie ihren Platz finden! Und vielleicht konnte sie irgendwann die schrecklichen Bilder vergessen, die sie auch jetzt manchmal noch in ihren Träumen heimsuchten.
Sie löste sich von ihrem Spiegelbild und verließ den kleinen Raum, der ihr nach der Begrüßungszeremonie gestern zugeteilt worden war, nachdem sie gut anderthalb Jahre mit Hanna zusammengewohnt hatte.
Besonders hübsch eingerichtet war er nicht, doch die Fenster waren einigermaßen dicht und verfügten über Gardinen, die sie zuziehen konnte. Das Metallbett hatte wohl früher zur Einrichtung eines Krankenzimmers gehört, aber das störte sie nicht. Der Kleiderschrank war schmal, wahrscheinlich ein Spind aus einem früheren Umkleideraum, doch ihre wenigen Kleidungsstücke passten hinein. Und das Wichtigste war, dass sie nun endlich einen Raum für sich hatte.
Auf dem Flur schlug ihr Stille entgegen. Die Nachtschwestern waren gerade abgelöst worden und würden sich nach einer kleinen Stärkung im Speisesaal in ihre Zimmer begeben. Die Quartiere der Lernschwestern lagen etwas abseits der Unterkünfte für die älteren Schwestern.
Sie selbst hatte vor einem Jahr mitgeholfen, die Zimmer für die Neuankömmlinge herzurichten. Zwar war es keine Pflicht, wurde aber gern gesehen, dass die Lernschwestern ebenso wie alle anderen Pflegekräfte unter dem Dach des Krankenhauses Waldfriede wohnten. Nur wenige ihrer Mitschülerinnen, die aus Berlin kamen, würden bei ihren Eltern wohnen bleiben.
Wie würde es sein, mit so vielen Gleichaltrigen zusammen zu sein? Der Gedanke ließ Christinas Magen vor Aufregung kribbeln und machte ihr gleichzeitig ein wenig Angst. Sie war die Gesellschaft Gleichaltriger nicht mehr gewohnt. Auf dem Treck waren meist alte Leute gewesen und Kinder, die viel jünger waren als sie. Mit den Lernschwestern des vorherigen Kurses hatte sie nur am Rande zu tun gehabt.
Als sie die Treppe hinunterging, begegnete sie auf halbem Wege Schwester Hanna. Sie trug ihre übliche blauweiß gestreifte Schwesternuniform, die schon an einigen Stellen geflickt worden war. Auch die tadellos weiße Schürze wies Flickstellen auf. Die Frauen in der Wäschekammer arbeiteten allerdings sehr filigran, sodass es nur bei näherem Hinsehen auffiel.
»Guten Morgen, Christina, du bist ja schon auf den Beinen!«, sagte sie mit einem breiten Lächeln und wischte ein Stäubchen vom Kragen von Christinas blau gestreiften Lernschwesternkleid.
»Guten Morgen, Hanna«, erwiderte sie und spürte die Aufregung unter ihren Rippenbögen kribbeln. »Ich konnte einfach nicht mehr im Zimmer bleiben.«
»Verständlich«, sagte die Frau, die zu so etwas wie ihrer Ziehmutter geworden war. »Schmuck siehst du aus in deiner Uniform. Und wenn du erst mal dein Häubchen bekommst …«
Wärme rötete Christinas Wangen. »Danke. Aber das dauert ja noch.«
Es war Brauch im Waldfriede, dass die Lernschwestern sich ihr Häubchen verdienen mussten. Nach einem halben Jahr Probezeit gab es das Häubchenfest, bei dem den Schwestern ihre Hauben verliehen wurden.
»Die Zeit vergeht. Jetzt hast du erst einmal diesen Tag vor dir. Genieße ihn.«
»Das werde ich.« Christina drückte Hanna einen Kuss auf die Wange. Dann löste sie sich von ihr.
»Viel Glück!«, rief Hanna und winkte ihr zu.
»Danke!« Christina winkte zurück und lief die Treppe hinab.
Es war eigentlich noch ein wenig zu früh, um in den Unterrichtsraum zu gehen, doch eine unsichtbare Hand schien sie genau dort hinzuziehen.
Normalerweise wäre sie jetzt mit Eimer und Schrubber durch die Gänge geeilt und hätte mit dem Putzen begonnen. Nun pochte ihr Herz, ihr Magen kribbelte, und sie konnte es kaum abwarten, auf einem der Stühle um den großen Tisch zu sitzen und dem zu lauschen, was die Ärzte und Schulschwestern ihr beibringen würden.
Wie lange war es schon her, dass sie eine Schulbank gedrückt hatte? Erinnerungen an ihre Dorfschule in Schlesien kamen wieder hoch. Auch sie war von ihrem Lehrer bestraft worden. Das Zischen des Rohrstocks und der beißende Schmerz auf ihren Handflächen hatten sich in ihre Seele eingebrannt, obwohl es nur einmal vorgekommen war.
Als ihr Vater die Striemen gesehen hatte, war er zu Herrn Miksch gegangen. Von dem Augenblick an hatte sie, wenn sie einmal die Hausaufgaben vergessen hatte, eine andere Strafe erhalten.
Vater, dachte sie und hatte auf einmal wieder sein freundliches Gesicht mit den dunklen Augen und dem Grübchen am Kinn vor sich. Sie hatte vor sich, wie er sie auf seine Schultern gehoben und über die Wiese getragen hatte. Sie sah ihn in seiner Uniform an der Tür stehen, als er sich verabschiedete, um in einen Krieg zu gehen, den er nie gewollt hatte. Versprich mir, dass ihr einander nie verliert.
Nein, sagte sie zu sich selbst, als sie spürte, dass die Erinnerung sie zu überwältigen drohte. Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt dafür.
Sie drängte das Bild ihres Vaters zurück, bog um die Ecke und erreichte die braune Holztür mit der Aufschrift »Unterrichtsraum«.
Christina atmete tief durch, dann öffnete sie die Tür.
Außer ihr war noch niemand hier. Der große Raum war mittlerweile wieder einigermaßen hergestellt worden, und auch wenn noch immer ein paar Scheiben in den hohen Kassettenfenstern fehlten, ahnte man die Schönheit, die er einst verströmt hatte.
Christina strich mit dem Finger über die mächtigen Einbauschränke mit den Glastüren, in denen Bücher, Präparate und Mikroskope aufbewahrt wurden. Man hatte sie kurz nach Beginn des Krieges in den Keller gebracht, um sie vor Zerstörung zu bewahren. Ein weiser Entschluss von Dr. Conradi, denn bei einem schweren Bombenangriff waren alle Fenster des Haupthauses zerstört worden.
Obwohl das Krankenhaus selbst von einem verheerenden Treffer verschont geblieben war, hatten sich viele Räume in einem Zustand befunden, in dem man sie kaum benutzen konnte, es aber dennoch tat, weil man keine andere Wahl hatte. Der Unterrichtsraum war neben den Patientenzimmern der erste, in dem mit der Renovierung begonnen worden war.
Christina kannte diesen Raum sehr gut, hatte sie auch ihn als Hausmädchen doch beinahe täglich putzen müssen. Sie erinnerte sich noch gut daran, wie sie neidvoll die Schwesternschülerinnen beobachtet hatte, wenn sie aus dem Unterricht kamen, wenn sie zur Prüfungszeit hier saßen und ihr Examen ablegten …
Stimmen wurden am anderen Ende des Flurs laut. Das mussten ihre Mitschüler sein. Rasch huschte Christina aus dem Raum. Sie wollte von den anderen nicht für eine Streberin gehalten werden, die schon vor Unterrichtsbeginn auf ihrem Platz saß.
Draußen auf dem Flur sah sie zunächst ein paar andere Mädchen aus ihrem Jahrgang, dann erblickte sie Selma und ging zu ihr.
»Na, wie war deine Nacht?«, fragte sie mit einem breiten Lächeln.
»Unruhig«, gab Christina zu. »Ich habe kaum ein Auge zugetan.«
Selma schob die Unterlippe vor. »Hm, ich habe recht gut geschlafen. Aber ich lag ja auch in meinem eigenen Bett.« Wieder trat dieser bekümmerte Ausdruck auf ihr Gesicht, den Christina schon am Tag zuvor gesehen hatte. »Sag mal, wie sind die Zimmer so?«
»Klein«, sagte Christina. »Aber recht gemütlich. Willst du deine Pflegeeltern nicht noch mal fragen, ob du hier einziehen darfst?«
»Horst und Gunda sind, was das angeht, sehr streng«, erwiderte Selma. »Sie fürchten wohl, dass ich hier mit jungen Männern in Berührung komme.«
»Soweit ich sehen kann, gibt es hier nur einen.« Christina deutete zu dem einzigen Jungen in ihrem Jahrgang, Gerhard Behrend, der sich gerade mit zwei dunkelhaarigen Mädchen unterhielt, deren Namen ihr im Moment nicht einfielen.
»Aber da sind auch Handwerker und der Bademeister…«
»Herr Rohleder?« Christina lachte auf, presste dann aber schnell die Hand vor den Mund. »Der ist doch …« Uralt, wollte sie sagen, aber sie wollte nicht taktlos sein.
»Nein, nicht er. Sein Gehilfe. Ich habe ihn letzten Sonntag beim Gottesdienst gesehen.«
»Lothar? Der ist doch mit Schwester Waltraud zusammen, das wissen alle.«
Selma zuckte mit den Schultern. »Was weiß ich schon, was meine Pflegeeltern denken.« Sie machte eine Pause, dann fügte sie hinzu: »Auf jeden Fall beneide ich dich, dass du hier wohnen darfst. Allein und frei von jeglicher Beobachtung.«
Letzteres war ganz sicher nicht der Fall, denn Hanna hatte sie immer im Blick. Doch mehr Bewegungsfreiheit hatte sie schon.
»Vielleicht überlegen sie es sich noch einmal«, sagte Christina. »Und wenn nicht, ziehst du aus, wenn du einundzwanzig bist.«
Selma rollte mit den Augen, dann lachte sie. »Das ist ja noch eine Ewigkeit hin!« Sie überlegte kurz, dann fragte sie: »Was hältst du davon, wenn du am Wochenende zu mir kommst? Dann kannst du meine Pflegeeltern kennenlernen.«
»Du meinst, ich soll sie von den Zimmern hier überzeugen?«
»Glaub mir, das wird dir nicht gelingen. Aber Gunda backt herrlichen Kuchen!«
Schon beim Gedanken an Kuchen gleich welcher Art lief Christina das Wasser im Mund zusammen. »Haben sie denn nichts dagegen?«, fragte sie.
»Keineswegs!«, entgegnete Selma. »Wann würde es dir am Samstag passen?«
Bedächtig schritt Louis die Eingangstreppe hinauf. Dabei streifte sein Blick die breiten Kassettenfenster des Unterrichtsraumes. Die Wolken, hinter denen sich die Morgensonne erhob, spiegelten sich in jenen Scheiben, die bereits ersetzt worden waren, während die anderen mit Holz verschlossen auf ihre Reparatur warteten. Die Fenster stammten aus Altglasvorräten, die Verwaltungsleiter Ernst Müller in einem Lagerhaus an der Stadtgrenze aufgetrieben und für vergleichsweise wenig Geld erstanden hatte.
Noch war das Krankenhaus Waldfriede weit von dem Zustand entfernt, in dem es vor dem Krieg gewesen war. Einen direkten, verheerenden Treffer hatten sie zwar nicht einstecken müssen, dennoch hatte die Substanz gelitten. Die Bäder und das Speisehaus wiesen Risse auf, auch die Handwerkerhäuser auf dem hinteren Teil des Geländes waren in Mitleidenschaft gezogen. Die Nutzung als Luftschutzraum und Notkrankenhaus hatte dem Keller zugesetzt. Überall fehlte Baumaterial, und viele Schäden waren lediglich notdürftig geflickt worden. Dazu kam die Knappheit an Medikamenten und anderen Dingen des täglichen Lebens, vom Personal ganz zu schweigen.
Immerhin hatten sie dank des alten Gartenmeisters Wilhelm Jasper genügend zu essen und konnten auch ihre Patienten entsprechend versorgen.
»Guten Morgen, Schwester Hedwig!«, rief Louis der Schwester an der Pforte zu. Wie viele Mitglieder der Anstaltsfamilie tat sie schon seit vielen Jahren Dienst am selben Platz. Und wie die meisten Schwestern war auch sie nicht verheiratet.
»Guten Morgen, Herr Doktor!«, antwortete sie. »Wie geht es Ihnen?«
»Gut, gut, Schwester Hedwig, besonders an diesem Tag!«
Das antwortete er ihr seit einigen Monaten fast immer, doch es stimmte nur halb. Der Krieg und der damit verbundene Mangel an Nahrung und Wärme hatte einen Schmerz in seinen Knochen hinterlassen, den er besonders am Morgen fühlte. Mittlerweile hatte er die sechzig bereits überschritten, da war es eigentlich kein Wunder, dass es hier und da zog. Doch jeder Schmerz, der hinzukam, machte ihm deutlich, dass seine Zeit hier im Waldfriede begrenzt sein würde. Vielleicht würde er noch fünf gute Jahre hier haben, vielleicht etwas mehr.
In Pension zu gehen, schreckte ihn allerdings nicht. Schon vor dem Krieg hatte er kürzertreten wollen, aber die Umstände hatten es ihm verboten. Solange die Nazis jede Änderung zum Anlass genommen hatten, um ganze Betriebe unter ihre Fuchtel zu bekommen, hatte alles beim Alten und möglichst unauffällig bleiben müssen. Das galt auch für den Posten des Ärztlichen Direktors.
Allerdings fragte sich Louis nun, in wessen Hände er das Waldfriede, sein Lebenswerk, legen sollte. Sein Freund Erich Meyer, der die Innere Station leitete, war noch einige Jahre älter als er. In zwei Jahren erreichte er die siebzig, und es war abzusehen, dass er irgendwann seinen Abschied nahm. Von den hoffnungsvollen jungen Ärztinnen und Ärzten, die zu Zeiten des Friedens im Waldfriede gearbeitet hatten, war kaum noch jemand da. Die meisten Männer waren im Krieg gefallen, die Frauen hatte es in ihre Heimat gezogen. Derzeit behalfen sie sich mehr schlecht als recht mit jenen Kräften, die geblieben waren.
Dr. Helene Davis war eine gute Operateurin, aber sie hatte Familie. Er konnte es nicht verantworten, dass sie ständig ihrer kleinen Tochter fernblieb, auch wenn diese bei ihren beiden Großmüttern gut aufgehoben war. Außerdem ging ihr der Operationsbetrieb an die Substanz. Er selbst füllte die andere Hälfte des Operationsplans aus, aber der Schmerz, den er fühlte, breitete sich aus. Auch seine Hände wurden mehr und mehr in Mitleidenschaft gezogen. Er ließ es sich nicht anmerken, denn das würde seine Frau und auch Schwester Hanna in Sorge versetzen. Aber eines Tages würde er das Skalpell nicht mehr halten können. Dann würde er einen Nachfolger brauchen.
Oftmals dachte er dieser Tage an Dr. Paul Hintze, der ihm während der Kriegsjahre zur Seite gestanden hatte, bis er selbst zum Militärdienst eingezogen worden war. Obwohl er der NSDAP angehört hatte, war seine Anwesenheit ein Segen für das Waldfriede gewesen. Dass Hintze den Glauben an die Naziideologie verloren hatte, war Louis allerdings erst im Laufe der Zeit aufgegangen.
Er hatte strenge Linientreue vorgespielt und ihnen damit Kontrollen und Schnüffeleien erspart und, als er selbst gehen musste, ihnen noch den schlimmsten Parteispitzel, den Heizer Fritz Kowalski, vom Hals geschafft.
Hintze hatte den Krieg überlebt, so viel wusste Louis immerhin. Er befand sich immer noch in Gefangenschaft in der Sowjetunion.
Er war ein begnadeter Chirurg, dem er schon einmal die Chirurgische Abteilung anvertraut hatte. Er würde einen guten Nachfolger abgeben. Wann er ins Waldfriede zurückkehren konnte – wenn er es denn wollte –, stand jedoch in den Sternen.
Außerdem waren die Gemeinschaft und Verwaltungsdirektor Müller auf der Suche nach einem guten Internisten, aber auch diese waren rar gesät nach dem Krieg. Jene, die den Krieg überlebt und nicht der Partei angehört hatten, blieben ungeschoren, doch andere waren entweder in Kriegsgefangenschaft wie Hintze, oder ihnen drohte die Entnazifizierung, ein langwieriger Prozess, der sie von der Arbeit in öffentlichen Einrichtungen ausschloss. Ernst Müller hatte davon berichtet, dass Männer in jene Lager gebracht wurden, in denen die Deutschen ihre Gefangenen gehalten hatten – nur dass diese Lager jetzt unter russischer oder amerikanischer Verwaltung standen.
»Guten Morgen, Dr. Conradi!«, holte Hannas Stimme ihn aus seinen Gedanken. Sie kam ihm auf dem Gang zum Unterrichtsraum entgegen. »Die Herrschaften haben sich schon versammelt.«
»Wollen wir hoffen, dass ihre Gesichter so strahlend bleiben wie gestern bei der Aufnahmefeier.«
»Das Programm hat ihnen wohl gefallen. Christina war ganz begeistert.«
»Nun, sie gehört aber auch schon seit einer Weile zur Familie«, sagte Louis lächelnd. Christina war wirklich ein liebes Mädchen, aber auch noch immer ein Buch mit sieben Siegeln. Ihre Herkunft und ihr Bildungsstand konnten nicht einwandfrei bewiesen werden, und über das, was im Krieg mit ihr geschehen war, sprach sie nicht. Aber Hanna vertraute ihr und setzte große Hoffnung in sie. Nur deshalb hatte er zugestimmt, sie in die Schwesternausbildung aufzunehmen.
»Sie wird ihre Sache gut machen«, erwiderte Hanna. »Ich verbürge mich dafür.«
Louis atmete tief durch, dann nickte er und setzte ein Lächeln auf. »Wollen wir?«, fragte er und hielt ihr die Tür auf.
***
Als Dr. Conradi, begleitet von Schwester Hanna, durch die Tür des Unterrichtsraumes trat, wurde es rings um Christina schlagartig so still, dass man eine Nadel hätte fallen hören. Alle Augen richteten sich auf den Klinikleiter. Christina spürte, wie die Aufregung in ihr wühlte. Es ging los!
»Meine Herrschaften, willkommen an Ihrem ersten Tag an der Krankenpflegeschule«, sagte er, nachdem er sich am Kopf der u-förmigen Tafel niedergelassen hatte. Hinter ihm grinste ein bleiches Skelett in den Raum, und an der Schiefertafel sah man die Darstellung eines Auges, die noch vom Unterricht eines höheren Kurses stammte. »Da Sie im ersten Lehrjahr sind, gehören Sie unserem B-Kurs an«, erklärte Conradi, während Schwester Hanna, die auf einem Stuhl an der Seite Platz genommen hatte, sie mit ernster Miene beobachtete. Sie hatte mit Christina ausgemacht, sich während des Unterrichts wie alle anderen auch zu verhalten, ohne Vertrautheit erkennen zu lassen.
»So werden sie dich hoffentlich nicht ausschließen«, hatte sie erklärt. »Wir hatten zuvor noch nie den Fall, dass eine aus unserer Mitte die Ausbildung hier angetreten hätte. Lediglich Schwester Else, die oberste Hebamme, hat den Sprung vom Hausmädchen zur Krankenschwester geschafft – allerdings nicht hier, sondern in Friedensau.«
Dort betrieb die adventistische Gemeinschaft ein Sanatorium und eine große Lehranstalt, das wusste Christina schon. Dass Schwester Else einen ähnlichen Werdegang hatte wie sie, erfüllte sie mit Freude, und sie konnte es kaum abwarten, mit ihr zusammenzuarbeiten.
»Im ersten Jahr werden sich Theorie und Praxis abwechseln, im zweiten Jahr werden Sie größtenteils praktisch arbeiten«, erklärte Dr. Conradi. »Im kommenden Jahr rücken Sie nach vorn auf die A.«
Ein erhabenes Gefühl erfasste Christina. Sie schaute zu ihren Mitschülerinnen und fragte sich, ob es ihnen wohl genauso ging. Auch wenn sie der kleinste der Kurse waren, gehörten sie nun richtig zur Anstaltsfamilie.
Bei Gerhard, den sie vorhin schon vor dem Schulraum gesehen hatte, blieb ihr Blick hängen. Zum ersten Mal betrachtete sie ihn näher. Er war recht groß, hatte scharfkantige Züge und dunkelblondes Haar. Als er den Kopf zur Seite neigte, fiel Christina auf, dass seine Augen dunkelblau waren. Und sie bemerkte auch, dass er in ihre Richtung sah.
Der Blick des jungen Mannes verwirrte sie. In den vergangenen Jahren war sie meist unter Frauen gewesen. Doch während ihres letzten Schuljahres in Schlesien hatte sie sich in einen Burschen verguckt gehabt. Er arbeitete beim Nachbarsbauern als Knecht.
Dann allerdings erkannte sie, dass Gerhard gar nicht sie, sondern Selma anschaute und ihr schließlich zuzwinkerte.
Selma errötete leicht. Abgeneigt schien sie nicht zu sein. Christina presste die Lippen zusammen, um nicht breit zu grinsen. Selma war sehr hübsch, und offenbar war sie keineswegs so scheu und schüchtern, wie sie sie im ersten Moment eingeschätzt hatte.
»Herr Behrend!«, rief ihn der Doktor zur Ordnung. »Ich kann verstehen, dass es für Sie ungewohnt ist, unter lauter jungen Damen zu sein, doch Ihre Sympathiebekundungen für die eine oder andere Mitschülerin heben Sie sich bitte für die Freizeit auf.«
Der Bursche bekam einen roten Kopf und senkte den Blick. Auch Selmas Ohren glühten.
Christina wollte sie nicht anstarren, also senkte sie den Blick auf das Heft vor ihr. Auf ihrem Gesicht erschien ein sehnsuchtsvolles Lächeln. Würde sie irgendwann auch einen Mann finden, der ihr zuzwinkerte? Der Scherze für sie machte und sie wirklich liebte?
»So, wie du von Gerhard angeschaut wurdest, würde ich auch gern angeschaut werden«, sagte Christina, als sie den Unterrichtsraum wieder verließen. Heute hatten sie nach der Schule noch frei, weil es einiges zu erledigen gab. Morgen jedoch würden sie auf die Stationen gehen und ihre für sie zuständigen Stationsschwestern kennenlernen. In Christinas Fall war es Else Rogel, und zumindest für sie war sie keine Unbekannte mehr.
»Ach, der hat sich doch nur einen Spaß gemacht«, wiegelte Selma ab.
»Es schien dir trotzdem gefallen zu haben«, sagte Christina.
»Er ist mir schon gestern bei der Feier aufgefallen«, sagte Selma mit einem Lächeln. »Auch da hat er schon geguckt.«
Christina hob überrascht die Augenbrauen. »Ach ja?«
Selma nickte. »Ich habe es deutlich gespürt.«
Christina stieß sie an. »Und, wann wirst du mit ihm ausgehen?«
Selma hielt inne, ihr Kopf wurde hochrot. »Kommt ganz darauf an, wann er mich fragt.«
»Und wenn du ihn fragst?«
»Das gehört sich nicht«, gab Selma zurück. »Meine Pflegemutter sagt, dass der Mann zuerst fragen muss.«
»Aber woher soll er denn wissen, dass du ihn magst?«
»Ich könnte versuchen, es ihm zu zeigen«, sagte sie, doch dann schüttelte sie den Kopf. »Aber nein, das ist vielleicht nicht richtig. Immerhin habe ich gerade eine Ausbildung begonnen. Ich möchte OP-Schwester werden.«
»Aber das könntest du doch trotz eines Freundes!«
Selma schaute sie verwundert an. »Du bist nicht in unserer Gemeinschaft aufgewachsen, nicht wahr?«
»Was meinst du damit?«
»Man erwartet von uns, dass wir uns nach der Hochzeit nur noch um unseren Ehemann kümmern. Soweit ich weiß, gibt es diese Regelung auch hier im Krankenhaus.«
»Aber mittlerweile gilt sie nur noch für leitende Schwestern«, sagte Christina. Hanna hatte ihr von der alten Regel der Ehelosigkeit erzählt. Diese hatte sich mittlerweile allerdings gewandelt. Das Waldfriede konnte es sich nicht erlauben, auf verheiratete Krankenschwestern zu verzichten. Also durften zumindest jene Schwestern heiraten, die keine Oberin oder Stationsschwester waren.
»Trotzdem, ich glaube, meine Eltern würden wollen, dass ich mich erst einmal auf meine Ausbildung konzentriere«, meinte Selma, doch Christina bemerkte den verträumten Ausdruck in ihren Augen, der etwas ganz anderes sagte.
***
Am späten Nachmittag, nachdem sie das Sprechzimmer aufgeräumt hatte, begab sich Hanna auf ihren täglichen Rundgang. Man merkte bereits deutlich, dass die Tage jetzt, Anfang April, wieder länger wurden. Nach den dunklen, kalten Monaten hatten sie Licht und Sonne bitter nötig.
Im Gegensatz zu den Vorjahren war in diesem Winter die Not nicht mehr so gravierend gewesen, doch sie waren noch weit davon entfernt, den Standard der guten Jahre, die sie in den Zwanzigern gehabt hatten, zu erreichen.
Den Unterschied sah man schon, wenn man das Krankenhaus Waldfriede betrachtete. Das Haus war wie ein Patient mit schlechtem »Heilfleisch«, wie sie es nannten, dessen Wunden länger brauchten als bei einem Menschen mit guter Grundkonstitution. Die Maßnahmen der Alliierten zeigten nur recht wenig Wirkung. Überall wurde geflickt, was ging, doch die Knappheit an Material und Geld machte sich schmerzhaft bemerkbar.
Worte, die Elisabeth einmal zu ihr gesagt hatte, fielen ihr wieder ein. Vielleicht sollte sie wirklich nicht so pessimistisch sein. Bisher hatten sie immer einen Weg gefunden, warum nicht auch jetzt?
»Hanna!«, rief eine Stimme neben ihr. Sogleich hielt sie inne und schaute sich um.
Christina kam zu ihr gelaufen, mit einem breiten Lächeln auf dem Gesicht.
»Hallo, Christina«, begrüßte Hanna ihren Schützling und gab ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange. Dies war eine der wenigen Bekundungen von Zuneigung, die das Mädchen zuließ. »Wie war dein Tag?«
»Sehr schön«, sagte Christina. »Mein Kopf schwirrt noch ein wenig vom Unterrichtsstoff, aber alles ist wahnsinnig interessant. Ich bin auch sehr gespannt auf die Röntgenkunde.« Sie blickte Hanna an, die nicht nur Dr. Conradis Sprechstunde leitete, sondern auch die Apotheke und den Röntgenbereich verantwortete und Röntgenkunde unterrichtete. »Die großen summenden Geräte, die Fähigkeit, in die Menschen hineinschauen zu können … Das finde ich sehr faszinierend. Schade, dass ich damit nicht viel zu tun haben werde.«
»Nun, das kann man nicht wissen. Manchmal müssen selbst Neugeborene geröntgt werden. Ich habe schon welche gehabt, die Brüche erlitten hatten – besonders bei sehr schweren Geburten. Man sollte auch als Kreißsaalschwester und Hebamme mit einem Röntgengerät umgehen können.«
Das Strahlen auf Christinas Gesicht wärmte Hannas Herz. Es war schön zu sehen, dass sie immer mehr Fortschritte machte. Dass sie bald schon so weit sein würde, sich ein eigenes Leben aufbauen zu können.
»Man hat mich übrigens zusammen mit drei anderen Mädchen gleich dem Kreißsaal zugeteilt«, fuhr Christina fort.
»Schwester Else wird sich freuen.«
Christina schaute Hanna an. »Ich weiß gar nicht, wie ich dir für alles danken kann.«
»Nun, dafür, dass du für den Kreißsaal eingeteilt wurdest, kann ich nichts. Das hat Dr. Conradi so entschieden.«
Christina warf ihr einen ungläubigen Blick zu. »Und er hat dabei nicht daran gedacht, was dir gefallen würde?«
Hanna verkniff sich ein Lachen. Selbst Christina hatte bereits mitbekommen, dass ihr Verhältnis zum Doktor ein besonderes war, eine Art der Freundschaft, wie sie auf der Welt nur selten zu finden war. Eine Zeit lang hatte sie gehofft, dass daraus mehr werden würde, doch das Schicksal hatte andere Wege für sie vorgesehen.
»Ich muss schon zugeben, dass er mich um Rat fragt«, sagte sie. »Aber in diesem Fall hat er es allein entschieden.« Sie blickte ihren Schützling an. »Nimm es als großen Vertrauensvorschuss dir gegenüber.«
Christina nickte. »Ich werde ihn nicht enttäuschen, das verspreche ich dir.«
Vor lauter Aufregung war es Christina beinahe unmöglich gewesen, in den Schlaf zu finden. Obwohl sie genau wusste, wie der Kreißsaal aussah, hatte sie ihn sich wieder und wieder ins Gedächtnis gerufen. Die gefliesten Wände, die hohen Fenster mit Blick auf den Park, die niedrige Schrankzeile mit der Waage und dem Wickeltisch. In der Mitte der Gebärstuhl, der stets blank geputzt war.
Wie würde ihr erster Tag als Lernschwester dort verlaufen? Würden sie bei einer Geburt zuschauen können? Mit diesen Fragen im Kopf und leicht zittrigen Knien fand sie sich zu Beginn der Frühschicht in der Wöchnerinnenstation ein.