Das Lied der Banshee - Corina Bomann - E-Book

Das Lied der Banshee E-Book

Corina Bomann

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Beschreibung

"Eigentlich dachte ich, es sei mein Glückstag, als Thomas mich zu diesem Konzert einlud. Doch dann versuchten ein paar Schläger, mich umzubringen. Danach war nichts mehr wie vorher. Ein Typ namens Macius erklärte mir, dass ich eine Banshee sei. Ja klar! Ich bin eine Todesfee! Ich dachte, er hat sie nicht mehr alle! Doch in meiner Lage sollte ich ihm wohl vertrauen, denn wann trifft man schon den Sohn eines Wassergottes? Besonders einen, der so verdammt heiß aussieht." Aileen ist eigentlich eine normale Siebzehnjährige - bis sie eines Tages von ihrem magischen Erbe erfährt. Sie ist ein Götterkind, eine Banshee. Fortan ist sie bedroht von magischen Ungeheuern, denn zwischen Licht und Dunkelheit tobt ein unbarmherziger Krieg. Der Wächter der Welt, der die Verbindung von Menschen und Göttern missbilligt, setzt alles daran, sie zu vernichten. Doch sie kann sich bei ihrem Kampf auf ganz besondere Hilfe verlassen: ein Wassermann, ein Oni, Nymphen und Sirenen stehen ihr bei. Allerdings ist das Leben einer Banshee nicht so einfach - besonders, wenn sie unsterblich in einen attraktiven jungen Mann verliebt ist. Denn ihre Herkunft bringt so einige Komplikationen mit sich ... Ein rasanter Young Adult-Fantasy – Roman mit mutiger Heldin, großer Liebe und einer farbigen Mythenwelt! Von Spiegel-Bestseller-Autorin Corina Bomann! ACHTUNG! Der Roman erschien im Jahr 2011 bereits unter dem Pseudonym "Janika Nowak". JANIKA NOWAK ist das Pseudonym von CORINA BOMANN! Die Autorin hat die Rechte an dem Buch zurückerhalten und es unter ihrem eigenen Namen und dem selben Titel neu herausgegeben.

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Seitenzahl: 542

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Corina Bomann

DAS LIED DER BANSHEE

Fantasy-Roman

Originalausgabe 2018

© 2018 Corina Bomann, Potsdam

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – ausdrücklich nur mit Genehmigung der Autorin wiedergegeben und verbreitet werden.

Das Buch erschien bereits im Jahr 2011 mit gleichem Titel unter dem Pseudonym Janika Nowak im PAN-Verlag. Die Rechte sind an die Autorin zurückgefallen und sie gibt das Buch nun unter eigenem Namen und dem gleichen Titel heraus. 

Covergestaltung: Corina Bomann unter Verwendung eines Fotos von Mayer George (www.shutterstock.com)

ISBN: 978-3-96353-000-5

Über das Buch

„Eigentlich dachte ich, es sei mein Glückstag, als Thomas mich zu diesem Konzert einlud. Doch dann versuchten ein paar Schläger, mich umzubringen. Danach war nichts mehr wie vorher.  Ein Typ namens Macius erklärte mir, dass ich eine Banshee sei. Ja klar! Ich bin eine Todesfee! Ich dachte, er hat sie nicht mehr alle! Doch in meiner Lage sollte ich ihm wohl vertrauen, denn wann trifft man schon den Sohn eines Wassergottes? Besonders einen, der so verdammt heiß aussieht.“

Aileen ist eigentlich eine normale Siebzehnjährige - bis sie eines Tages von ihrem magischen Erbe erfährt. Sie ist ein Götterkind, eine Banshee. Fortan ist sie bedroht von magischen Ungeheuern, denn zwischen Licht und Dunkelheit tobt ein unbarmherziger Krieg. Der Wächter der Welt, der die Verbindung von Menschen und Göttern missbilligt, setzt alles daran, sie zu vernichten. Doch sie kann sich bei ihrem Kampf auf ganz besondere Hilfe verlassen: ein Wassermann, ein Oni, Nymphen und Sirenen stehen ihr bei. Allerdings ist das Leben einer Banshee nicht so einfach - besonders, wenn sie unsterblich in einen attraktiven jungen Mann verliebt ist. Denn ihre Herkunft bringt so einige Komplikationen mit sich ...

Ein rasanter Young Adult-Fantasy – Roman mit mutiger Heldin, großer Liebe und einer farbigen Mythenwelt! Von Spiegel-Bestseller-Autorin Corina Bomann!

Die Autorin

Corina Bomann, 1974 in Parchim geboren, lebt mit ihrer Familie in Berlin. Sie hat bereits erfolgreich Romane für Erwachsene und Jugendliche geschrieben, bevor ihr mit "Die Schmetterlingsinsel" der absolute Durchbruch gelang. Seither gehört sie zur ersten Garde deutscher Unterhaltungsschriftstellerinnen.

Mehr erfahren Sie unter: www.corina-bomann-buecher.de.

Prolog

Die Zeit des Erwachens war gekommen. Der Wächter spürte, wie sich sein altes Herz wieder zu regen begann. Der Traum, den er geträumt hatte, zog sich langsam zurück.

Bilder tauchten vor seinem geistigen Auge auf. Die Erinnerung an eine Zeit, in der die Götter die Wächter geschaffen und ihnen ein Bewusstsein gegeben hatten. Ihren Auftrag. Er erinnerte sich an seine erste Wacht, die genau eintausend Jahre gedauert hatte. Grüne Landschaften waren vor seinen Augen vorbeigezogen, außerdem Menschen, die gerade erst gelernt hatten, sich Behausungen zu bauen.

Nun war es erneut so weit. Das Zeitenrad hatte sich gedreht und war wieder bei ihm angekommen. An einem anderen Ort der Welt versank sein Vorgänger in einen Traum, der mehr als zwölftausend Jahre andauern würde.

Zwölf Wächter sollt ihr sein und ein jeder tausend Jahre achtgeben auf die Schöpfung, bevor der Kreis von neuem beginnt ...

Das waren die Worte der Götter gewesen, als sie den ersten von ihnen auserkoren hatten. Der Erwachende hatte sie nun wieder deutlich vor sich. Was hatten die Menschen in all dieser Zeit geschaffen? Waren sie den Göttern ähnlicher geworden? Hatten sie die Welt in das Paradies verwandelt, das sich die Götter einst erträumt hatten?

Meine Aufgabe wartet. Wenn die Menschen Hilfe brauchen, werde ich sie ihnen geben. Die Götter sollen stolz sein auf sie und mich ...

Schließlich öffnete er sein Auge.

Seiner steinernen Gruft hatte die Zeit nichts anhaben können. Nur hier und dort fehlte einer der grob gehauenen Brocken, die die Decke des Ortes bildeten, der früher einmal sein Tempel gewesen war. Diverse Statuen und Altäre zeugten noch davon.

Der Wärter erhob sich und näherte sich einem steinernen Becken, das eine Quelle einfasste. Mit einem langen Fingernagel ritzte er sich ins Handgelenk.

Als der Blutstropfen wie eine schwarze Perle ins Wasser fiel, leuchtete das Becken auf. Ein blauer Schimmer legte sich auf die abgezehrten Züge des Wächters und spiegelte sich in seinem kristallenen Auge. Dampf erhob sich und verbarg das Wasser.

Strom der Zeit, tu dich auf und zeige mir die Gegenwart.

Plötzlich strömte eine Vielzahl von Geräuschen auf ihn ein. Stimmen, unzählige Stimmen, die alle redeten, riefen, schrien, dazu andere Geräusche, die er sich nicht erklären konnte.

Er versuchte zu verstehen, was er hörte. Er hatte damit gerechnet, dass die Menschheit sich vermehrt und verändert hatte, doch solch eine Kakophonie hatte er nicht erwartet.

Waren diese Laute ein gutes oder ein schlechtes Zeichen?

Mit einer Handbewegung wischte er den über dem Becken wabernden Nebel fort. Jetzt konnte er sehen, was mit der Welt passiert war.

Das Grün der Wiesen und Wälder war Irrgärten aus Stein gewichen. Die Menschen hatten ihre Welt in ein Mausoleum verwandelt, in dem sie ein Wettrennen veranstalteten. Seltsame Gebilde bewegten sich fast schneller als das Auge. Überall war Lärm.

Sah die Welt wirklich so aus? Oder versagte vielleicht seine Magie?

Mit langen Schritten folgte er dem Gang, der einst in die Felsen gehauen worden war und in einer Barriere aus Geröll endete. Vor seinen ausgestreckten Händen schmolz sie jedoch hinweg wie eine Eiswand und gab schließlich den Weg nach draußen frei.

Nachtluft wehte dem Wächter entgegen, aber selbst sie hatte sich verändert.

Gestank.

Wie hatte es nur so weit kommen können? Wie hatte das reine Götterblut der Wächter versagen können? Waren die unwürdigen Bastarde, denen die Kräfte der Götter gar nicht zustanden, etwa so mächtig geworden?

1. Kapitel

 

Morgens um halb acht war die U-Bahn voller blassgesichtiger Zombies. Einige von ihnen hatten Kopfhörer in den Ohren, die an ihren Smartphones klemmten, andere vertieften sich in ihre Lektüre. Keine Ahnung, wie oft ich neben einem Studenten gesessen hatte, der die kurze Fahrt dazu nutzen wollte, Mathe oder ein anderes Fach zu pauken.

Diesmal war es aber kein Mathe-Nerd, neben den ich mich nach dem Einsteigen setzte, sondern eine genervt wirkende Mutter, die bereits in der U-Bahn war und verzweifelt versuchte, ihre hyperaktive, etwa zwei Jahre alte Tochter zu bändigen. Das Mädchen hatte es sich in den Kopf gesetzt, die Fahrt auf dem Sitz tanzend zu verbringen und dabei aus dem Fenster zu schauen.

Ich lächelte der Kleinen in dem pinkfarbenen Overall aufmunternd zu, was sie mit einem erfreuten Quieken quittierte. Dann lehnte ich den Kopf gegen die Scheibe und bemühte mich, die Gespräche auszublenden, die aufflammten, nachdem sich die Türen geschlossen hatten.

Ich hatte schlecht geschlafen und war in der Nacht mehrmals aus seltsamen Träumen aufgewacht, an die ich mich aber nicht mehr richtig erinnern konnte. Das kam häufiger vor und morgens in der U-Bahn musste ich immer höllisch aufpassen, dass ich nicht einschlief und meine Station verpasste.

Ein Ruck ging durch die Bahn, als sie schließlich anfuhr. Im Takt der auftauchenden Tunnellichter erschien und verblasste mein Spiegelbild, das mich aus verschlafenen Augen anblickte. Es mochte Sommer sein oder Winter, meine Hautfarbe änderte sich nie. Immer das gleiche blasse Elfenbeinweiß. Auch meine Haarfarbe war immer noch dieselbe wie bei meiner Geburt vor siebzehn Jahren: ein verblichenes Weizenblond. Meine Augen hatten sich im Gegensatz dazu mit der Zeit erheblich verändert.

Es war so was wie ein Naturgesetz, dass die Farbe von Kinderaugen mit den Jahren nicht gleich blieb ‒ aber meist wurde sie dunkler. Meine Augen dagegen wurden mit jedem Jahr heller, so, als würde jemand die Farbe aus ihnen herauswaschen. Früher hatten sie nachtblau geleuchtet, mittlerweile waren sie bei einem kaum noch wahrnehmbaren Eisblau angekommen. Ich stand jeden Morgen vorm Spiegel und überprüfte ihre Farbe, denn ich hasste es, dass sie heller wurden. Das war doch nicht normal! In letzter Zeit bildete ich mir manchmal sogar ein, ein rosafarbenes Schimmern auf der Iris zu sehen. Vielleicht war ich ja ein Albino?

Meine Obsession mit meinen Augen war sicher auch nicht normal, aber schließlich hat jedes Mädchen etwas, das es nicht an sich mochte. Bei mir waren es eben die Augen. Ansonsten gab es nicht viel zu meckern, da ich recht groß und schlank war. Außerdem verschwand mein Körper ohnehin meist unter weiten Shirts und Jeans oder in der blauen Kluft aus Latzhose und Jacke, die ich seit dem Beginn meiner Tischlerlehre die meiste Zeit des Tages und auch jetzt trug.

»Aileen, nun setz dich endlich hin!«, schimpfte die Mutter neben mir ungehalten und riss mich aus meinen Gedanken.

Unwillkürlich musste ich grinsen, denn die kleine Sitzplatzsurferin trug den gleichen Vornamen wie ich. Aileen.

Das letzte Vermächtnis meiner verstorbenen Mutter. Mein irisches Erbe, wie mein Vater früher immer behauptet hatte, bevor er den Alkohol zu seinem Hauptlebenszweck auserkoren hatte.

Irisches Erbe? Ich sah eher wie eine Schwedin aus ‒ na ja, wie das Stereotyp einer Schwedin. Die irischen Merkmale waren vermutlich irgendwo in den Weiten des Genpools verloren gegangen. Übrig geblieben war nur ein verblichenes Mädchen mit seltsamen Augen.

Das Kind neben mir fing an zu weinen, denn die Mutter hatte es nun gewaltsam auf den Sitz gezwungen. Es hörte auch dann nicht auf, als die Computerstimme den Namen der nächsten Station plärrte und neue Passagiere einstiegen.

Ein Kinderwagen wurde an uns vorbeigeschoben, als mir plötzlich Zimtgeruch in die Nase stieg. Er entströmte dem Anzug des Mannes, der sich mir gegenüber hinsetzte. Seltsames Aftershave.

Die kleine Aileen verstummte angesichts des Mannes schlagartig und auch mich fesselte sein Anblick.

Ich hatte noch nie einen echten Mafioso gesehen, aber dieser Mann kam meiner vom Kino beeinflussten Vorstellung ziemlich nahe. Sein Nadelstreifenanzug war vermutlich aus einem teuren Stoff maßgeschneidert worden, darunter trug er ein weißes Hemd und eine silberne Seidenkrawatte. Seine Schuhe glänzten im Schein der Waggonbeleuchtung, als seien sie mit Lack überzogen. In der Hand hielt er einen Gehstock, dessen silberner Knauf mit einem großen blauen Edelstein verziert war. In diesem übertriebenen Aufzug fiel er unter den restlichen Passagieren ebenso auf wie eine Bikiniträgerin zwischen Skifahrern.

Ich war nicht die Einzige, die ihn misstrauisch beäugte, aber das lag vielleicht auch daran, dass er nicht sonderlich gesund aussah. Seine Wangen hatten im künstlichen Licht der U-Bahn einen kränklichen Grünton. Ansonsten sah sein Gesicht zwar asketisch, aber trotzdem attraktiv aus, irgendwie aristokratisch. Die Augen waren dunkelgrün, in seinem Haar war allerdings dermaßen viel Gel, dass sie aussahen wie nass, und seine Lippen waren schmal und so blutleer, dass man sie glatt übersehen konnte.

Als der Mann meinen Blick auffing, hob er eine Augenbraue und unterzog mich ebenfalls einer gründlichen Musterung. Sofort betrachtete ich mit größtem Interesse meine Schuhspitzen. Mist. Was starrte ich auch einen Fremden in der U-Bahn an?

»Nächster Halt Onkel Toms Hütte.«

Als Sekunden später der Zug hielt, sprang ich auf und ging zur Tür. Dabei blickte ich mich kurz nach dem Fremden um. Offenbar hatte er nicht die Absicht, ebenfalls auszusteigen, doch er sah mir direkt in die Augen, weshalb ich mich schnell wieder umdrehte. Selbst als ich draußen war, meinte ich seinen Blick noch immer wie eine kalte Berührung im Rücken zu spüren. Aber vermutlich war das nur der Luftzug.

Als die U-Bahn wieder anfuhr, schüttelte ich mich, um das komische Gefühl loszuwerden. Was war denn nur los mit mir? Das war weiß Gott nicht die seltsamste Begegnung, die ich je in der U-Bahn gehabt hatte. In Berlin liefen genug schräge Vögel herum.

Sonst machte ich es wie die meisten Berliner: Seltsames einfach ignorieren oder sich im Stillen darüber lustig machen. Aber diesmal war es etwas anderes.

Wahrscheinlich musste mein Verstand nur in die Gänge kommen, um diese Begegnung zu verdrängen. Also besorgte ich mir einen heißen Kaffee, setzte mit dem Pappbecher in den Händen den Weg in die Werkstatt fort und beschloss, den seltsamen Mann zu vergessen.

Als ich eine Stunde später am Sägetisch der Tischlerwerkstatt Kienau stand und versuchte, das Brett gemäß der Markierung des Gesellen am Sägeblatt vorbeizuführen, brütete ich erneut über der Begegnung mit dem Fremden. Das mit dem Vergessen hatte ja super funktioniert.

Warum hatte er mich bloß so angestarrt? Als wollte er sich jedes Detail meines Gesichts merken. Suchte er etwa Mädchen für irgendeinen Club? Eine, die einem Eiszapfen ähnelte und eine seltsame Augenfarbe hatte, war vermutlich eine Seltenheit. Eine, die bestimmt alle Kunden verscheuchen würde ...

Aber was auch immer der Grund für sein Starren war, ich würde den Kerl so oder so nie wiedersehen. Daher konzentrierte ich mich auf das Brett, in das sich die Zähne des Sägeblatts gierig hineinfraßen und zum Dank dünnes Holzmehl ausspuckten.

Beim Treppenbau musste man sehr gewissenhaft sein, schon ein paar Millimeter Abweichung konnten dazu führen, dass die Treppe krumm und schief wurde ‒ und der Meister einen Anfall bekam.

Bei meinen ersten Versuchen hatte ich mich angestellt wie der erste Mensch, aber mittlerweile gelang es mir recht gut. Ich konnte sogar schon Ornamente sägen.

Meine Mitbewohnerinnen im Wohnheim wunderten sich häufig genug über meinen Job, der zugegebenermaßen für ein Mädchen ziemlich ungewöhnlich war. Doch erstens arbeitete ich gern mit Holz und zweitens ... mochte ich das schrille Kreischen der Säge irgendwie. Es gab mir ein Gefühl der Sicherheit, fast Geborgenheit. Das hatte ich natürlich noch nie jemandem erzählt. Ich wollte ja nicht endgültig zum Sonderling abgestempelt werden.

Plötzlich tippte mir jemand auf die Schulter.

Verdammt noch mal!

Obwohl ich erschrak, gelang es mir, die Hände ruhig zu halten und weiterzumachen, bis das Brett fertig war. Danach schaltete ich die Säge ab. Während das kreisrunde Blatt allmählich langsamer wurde, blickte ich Thomas vorwurfsvoll an.

»Kannst du nicht warten, bis ich fertig bin?«

Thomas war vielleicht drei Jahre älter als ich und längst fertig mit der Lehre, dennoch benahm er sich manchmal wie ein dämlicher Praktikant. Wenn er den Chef beim Sägen gestört hätte, hätte er sich die Standpauke seines Lebens abholen können. Aber ich war ja nur der Lehrling.

»Du solltest eigentlich wissen, dass man andere beim Sägen nicht stört!«

»Ja, das weiß ich«, gab er frech grinsend zurück. »Aber abgesehen davon, dass deine Konzentration unerschütterlich ist, wollte ich dich was fragen.«

»Hätte das nicht bis nachher Zeit gehabt?« Ich war echt sauer. Zwar war sein Vertrauen in meine Fähigkeiten nett, doch manchmal reichte schon ein Zucken zur falschen Zeit und der Daumen war ab. Dann erwischte ich mich dabei, wie ich mir die Sägespäne vom Blaumann strich. Eine alberne Geste, wenn man bedachte, dass ich gleich wieder wie ein Schneemann aus Holzmehl dastehen würde. Aber wenn Thomas in der Nähe war, wollte ich einfach gut aussehen. Selbst wenn es blöd war ...

»Der Meister will gleich mit mir los und du sollst Zeit haben, deine Entscheidung zu überdenken.«

Na, wenn das mal nicht kryptisch war! »Meine Entscheidung?«

»Ich würde heute Abend gern mit dir ins Huxleys gehen. Um sieben spielen dort die Flying Mushrooms.«

Ich kannte seine Vorliebe für abgefahrene Indie-Bands und er hatte mich schon auf mehrere wirklich gute Konzerte mitgenommen. Aber Fliegende Pilze?

»Wessen Vorband sind die?«, fragte ich säuerlich. Auch ohne viel Ahnung vom Musikgeschäft zu haben, wusste ich, dass kleinere Bands es nur mit viel Mühe ins Huxleys schafften.

»He, das sind die neuen Überflieger aus England«, protestierte Thomas. Wenn es um seine Bands ging, mutierte er zum Pressereferenten. »Du wirst sehen, sie sind toll. Und wenn sie eines Tages groß rauskommen, kannst du immer behaupten, bei einem ihrer ersten Deutschland-Konzerte ...«

»Überflieger?«, unterbrach ich spottend. »Wegen der Pilze? Wenn ja, solltest du mir mal welche besorgen, dann könnte ich nach Hause fliegen, statt mich in der U-Bahn zu quälen.«

»Thomas, wo steckst du?« Die Stimme von Hans Kienau bellte durch die Werkstatt. Er schätzte es gar nicht, wenn seine Gesellen nicht pünktlich waren.

Indem ich seine Band veräppelt hatte, hatte ich Thomas länger aufgehalten als geplant.

»Überleg es dir.«

Die Spöttelei schien er mir also nicht übelgenommen zu haben.

»Und sag mir Bescheid, wenn ich wieder zurück bin. Ich habe zwei Karten reserviert.« Damit rannte er los.

Lächelnd blickte ich ihm nach und überlegte, ob ich ihn am Nachmittag noch ein bisschen weiter ärgern sollte.

Doch was das Konzert anging, hatte ich meine Entscheidung schon in dem Augenblick getroffen, in dem er mich gefragt hatte.

 

Gott sei Dank war heute Freitag. Ich mochte meinen Job und machte häufig genug freiwillig Überstunden, aber nach fünf langen Arbeitstagen war ich dankbar, wenn das Wochenende nahte.

»Also, kommst du mit?«

Thomas rieb sich über die Brust. Sein Blaumann hatte ein paar Ölflecke abbekommen, als er zusammen mit dem Meister eine neue Garagentür eingebaut hatte.

Wir machten gerade die Werkstatt zu. Er hatte sich ein wenig zurückfallen lassen, damit die anderen nicht mitbekamen, was er zu mir sagte. Wäre ja auch peinlich, zuzugeben, dass er was mit dem Lehrling unternahm.

»Klar.« Ich grinste breit. Ich hatte mich entschlossen, ihn nicht weiter zu ärgern und mir lieber Gedanken über mein Outfit zu machen. »Freu mich schon.«

Ich wollte möglichst gleichgültig klingen, war mir aber nicht sicher, ob ich es hinbekommen hatte. Die Aussicht, einen ganzen Abend mit Thomas zu verbringen, beschleunigte meinen Puls ziemlich. Blöde Hormone!

Thomas mochte eine Nervensäge sein, aber er war eine attraktive Nervensäge. Eins fünfundachtzig groß, durchtrainiert vom Holzschleppen, mit einem Gesicht, gegen das sogar Ryan Gosling wie ein hässlicher Gnom aussah.

Das Schönste an ihm waren jedoch seine Augen: ein wunderschönes Goldbraun, mit grünen Pünktchen verziert. Wenn ich nicht aufpasste, starrte ich ihn manchmal verträumt an. Bisher hatte das noch niemand mitbekommen ‒ nicht mal Thomas selbst, der in dieser Hinsicht zum Glück etwas unaufmerksam war. Diese blöde Schwärmerei passte mir gar nicht in den Kram, aber ich war eben auch nur ein Mädchen.

Zwischen Thomas und mir lief nichts. Als ich angefangen hatte, in der Werkstatt zu arbeiten, hatte ich mich natürlich prompt verknallt. Aber erstens wäre es dämlich, etwas mit einem Arbeitskollegen anzufangen (zumal ich ohnehin das einzige Mädchen war) und zweitens war ich mir ziemlich sicher, dass Thomas mich als seine kleine Schwester betrachtete. Er hatte mich vom ersten Tag an unter seine Fittiche genommen, hatte mir Dinge erklärt und mich vor den scherzhaften Sticheleien der Kollegen in Schutz genommen, ohne dass ich mir dabei je doof oder schwach vorgekommen wäre. Thomas war einfach nett. Wir waren auch schon mehrmals zusammen weggegangen, was ich vermutlich seinem Beschützerinstinkt und dem Umstand zu verdanken hatte, dass ich bei Unterhaltungen über Wochenendpläne nie etwas hatte beitragen können. Ich war nun mal ein ziemlicher Einsiedler.

Da Thomas nie etwas unternahm, um mir näherzukommen, blieben wir Kollegen und Freunde. Eigentlich war mir das auch ganz lieb so. Mittlerweile war ich sogar so gut wie über das Verknalltsein hinweg. Wenn ich nicht in seinen wunderschönen Augen versank, die mich nahezu magisch anzogen ...

So wie jetzt gerade! Ich wandte sofort den Blick ab.

»Alles in Ordnung?«, fragte Thomas, den mein Schweigen sicher wunderte.

Ich räusperte mich. »Äh ... klar. Natürlich ist alles in Ordnung. Ich hab doch gesagt, dass ich mitkomme.«

Es war ein Wunder, dass Thomas mich nicht für die größte Zicke auf Erden hielt, doch wenigstens bekam er nicht mit, dass ich auf ihn stand.

Manchmal tat er mir fast leid, er konnte schließlich nichts dafür, dass ich mich hin und wieder wie eine Zwölfjährige benahm, die unvermutet ihrem Lieblingsschauspieler gegenüberstand. Aber wenn ich mich seinetwegen dämlich verhielt, musste er es zumindest aushalten, dass ich ihn böse anfuhr.

Tatsächlich schien es Thomas nicht allzu sehr zu stören. Er grinste nur.

»Also gut, dann bis heute Abend, Kratzbürste. Ich nehme mal nicht an, dass du dich von mir abholen lässt, oder?«

»Ich komme mit meiner Freundin U-Bahn.«

Er seufzte und ich grinste in mich hinein.

 

2. Kapitel

 

Eine halbe Stunde später traf ich im Wohnheim ein, einem grauen Klotz unter noch graueren Klötzen am Stadtrand von Berlin. Zwar gab es in der Nähe so etwas wie eine Grünanlage, doch besonders jetzt, da sich das Wetter allmählich dem Winter zuneigte, half das auch nicht viel. Der plattgetretene und von der Sonne verbrannte Rasen sah trostlos aus. Die Blätter der wenigen Bäume verfärbten sich langsam braun, ohne sich vorher mit Rot oder Gelb aufzuhalten. An der Tristesse dieses Wohngebiets konnten auch die bunten Gardinen, die einige Fenster schmückten, nichts ändern.

Außer mir lebten hier noch einige andere Auszubildende verschiedener Sparten, die entweder keine andere Wohnung in Berlin bekommen hatten oder nur wenig Geld für eine Unterkunft ausgeben konnten.

Ich hätte eigentlich gar nicht hier wohnen müssen, denn ich war gebürtige Berlinerin. Mein Vater lebte nach letztem Stand der Dinge immer noch in Mitte.

Von mir aus könnte er allerdings genauso gut auf einem anderen Planeten hausen!

Ich habe sechzehn Jahre lang ertragen, dass mein betrunkener Vater nie da war, wenn ich ihn brauchte. Als ich alt genug war zu begreifen, was mit ihm los war, habe ich versucht, ihn von seiner Sucht abzubringen, doch er wollte nichts davon hören. Als er mir für den Versuch, seine Schnapsflaschen in den Müll zu befördern, eine Ohrfeige gab, kapierte ich endgültig, dass ihm der Alkohol wichtiger war als seine Tochter.

Manchmal fragte ich mich, ob unser Leben anders ausgesehen hätte, wenn meine Mutter nicht bei meiner Geburt gestorben wäre. Wäre mein Vater nicht alkoholkrank? Wäre ich ein normales Mädchen, das nicht beinahe jede Nacht von seltsamen Träumen heimgesucht würde?

Aber alle Grübelei der Welt half nicht, mein Leben zu verändern, also war ich, sobald ich meinen Lehrvertrag in der Tasche hatte, ins Wohnheim gezogen. Ich hatte es einfach satt.

Nun wohnte ich hier. Drittes Haus, vierter Stock, Zimmer Nummer 130. Als eine der wenigen Glücklichen musste ich es mir nur mit einer anderen teilen, während in manchen Zimmern bis zu vier Mädchen versuchen mussten, miteinander auszukommen. Wie gut das funktionierte, konnte man jeden Abend an dem durch die Flure hallenden Geschrei mitverfolgen.

Als ich durch die Haustür trat, strömte mir der Geruch von Sellerie in die Nase. Offenbar war unsere Kochgruppe wieder aktiv. Sie bestand aus vier Mädchen, die regelmäßig die Küche blockierten und einen dumm anstarrten, wenn man irgendwas in die Mikrowelle steckte.

Das Linoleum auf den Treppenstufen quietschte leise unter meinen Turnschuhen, während ich meinem Stockwerk zustrebte. Ein paar Mädchen aus der zweiten Etage kamen mir plappernd entgegen, beachteten mich aber nicht weiter.

Durch das ständige Treppensteigen war ich mit der Zeit so fit geworden, dass ich nicht mal keuchte, als ich endlich den vierten Stock erreichte.

Der Gang, von dem die Zimmertüren abgingen, hatte das Flair eines Amtsgebäudes, mal abgesehen von den Hip-Hop-Bässen und den Klängen einer misshandelten Gitarre, die aus zwei Zimmern drangen.

Bevor ich meinen Schlüssel rauskramen konnte, trat mir auch schon meine Zimmergenossin Bettina entgegen. Heute trug sie ihr schokoladenbraunes Haar hochgesteckt und obwohl sie in einem rosafarbenen Nicki-Anzug steckte, der kein Gramm zu viel verzieh, sah sie toll aus. Überhaupt war Bettina ein Feuerwerk an Farben ‒ nicht nur wegen ihrer Garderobe. Ihre Augen waren knallgrün und die Lippen in einem schrillen Pink geschminkt, das zu den Ohrringen passte.

Sie stammte ursprünglich aus einem kleinen Nest in der Prignitz und war anfänglich vollkommen hin und weg vom Leben in Berlin gewesen.

Mittlerweile entlarvte man sie nicht mehr als Landei und wenn wir beide nebeneinanderstanden, würde man mich wahrscheinlich für das Mädchen vom Dorf halten. Eine ausgeblichene graue Maus mit komischen, zu hellen Augen. Aber das war mir gleich. Meine Kollegen hatten kein Problem mit meinem Aussehen, doch es wäre auch albern, wenn ich aufgetakelt zur Arbeit käme. Für Bettina hingegen gehörte es beinahe zur Job-Beschreibung, denn sie lernte in einer schicken Boutique in Mitte.

»Hey, Aileen, wie war’s heut bei den Spechten?«

Ich verdrehte die Augen. »Spechte« war ihre scherzhafte Bezeichnung für Tischler. Als ob wir den ganzen Tag über nur Löcher bohren würden.

»Ganz gut.« Ich verkniff mir eine Bemerkung über die Parfümdrosseln, die in ihrem Laden ein und aus gingen.

»Dein Vater hat auf dem Heimtelefon angerufen und dich gebeten, zurückzurufen.«

Diese Nachricht ließ meine Laune sofort in den Keller sinken.

»Hat er gesagt, was er wollte?«, fragte ich desinteressiert, denn es war gut möglich, dass er die Nummer im Vollrausch gewählt hatte und im Nachhinein selbst nicht mehr wusste, aus welchem Grund.

»Nein, er wollte es dir persönlich sagen.«

»Klang es wichtig?«

Bettina seufzte. »Ruf ihn an, dann wirst du ja sehen.«

Sie wusste nichts von meinen Schwierigkeiten zu Hause und ich hatte auch nicht vor, sie einzuweihen.

»Okay«, sagte ich daher nur, während ich mich fragte, ob ich es wirklich tun sollte. Die wenigen Male, die ich mich bei ihm gemeldet hatte, hatte ich bitter bereut und hinterher Mühe gehabt, meine Tränen vor Bettina zu verbergen.

»Übrigens, ich gehe heute Abend aus«, fügte ich betont beiläufig hinzu. Ich kannte die magische Wirkung, die das Wort »ausgehen« auf Bettina hatte. Nicht dass ich ihr unbedingt von Thomas erzählen wollte, aber ich brauchte unbedingt ein bisschen Ablenkung. Ich wollte heute Abend nicht an meinen Vater denken. Nicht, wenn ich ein paar schöne Stunden mit Thomas verbringen wollte.

Ich hatte meine magischen Fähigkeiten ‒ na gut, nennen wir sie Manipulationsfähigkeiten ‒ nicht überschätzt: Was auch immer Bettina vorgehabt hatte, als sie aus dem Zimmer gegangen war, sie vergaß es augenblicklich und folgte mir wie an einer unsichtbaren Leine durch die Tür.

»Du gehst aus? Wohin denn? Und mit wem?«

Die Fragen peitschten mir nur so hinterher.

»Wolltest du nicht gerade aus der Tür?« Ich grinste, aber da Bettina hinter mir stand und mich nicht sehen konnte, machte das nichts.

»Das kann warten«, winkte sie ab und ließ sich auf ihr Bett fallen. Das protestierende Knarren des Gestells ignorierte sie geflissentlich, während sie sich eines ihrer Kissen schnappte, die Arme darumlegte und mich nicht aus den Augen ließ.

»Los, erzähl, mit wem gehst du heute wohin? Als deine Zimmergenossin sollte ich das wissen, nur für den Fall, dass du als Sexsklavin verschleppt wirst und ich die Polizei alarmieren muss.«

Ich lachte auf. »Sexsklavin? So schlimm ist es nun nicht. Ich gehe nur ins Huxleys.«

»Ins Huxleys, soso. Und wer begleitet dich?« Ein erwartungsvolles Lächeln huschte über ihr Gesicht.

»Traust du mir etwa nicht zu, allein irgendwohin zu gehen?« Ich ging so gut wie nie weg, schon gar nicht allein ‒ was wir natürlich beide wussten ‒, aber das hielt mich noch lange nicht davon ab, das Gegenteil zu behaupten. »Ich bin die Berlinerin hier, schon vergessen?«

»Du ziehst nie alleine los«, konterte Bettina und warf theatralisch die Hände in die Luft. »Ihr Berliner glaubt, schon alles von eurer Stadt gesehen zu haben, deshalb bleibt ihr lieber gleich zu Hause hocken. Jetzt rück schon raus mit der Sprache!«

»Angesichts von Berlins florierendem Nachtleben muss die Stadt ja jeden Abend von ganzen Horden von Touristen überfallen werden. Wenn wir eingeborenen Berliner nicht ausgehen ...«

Bettina drückte sich das Kissen vors Gesicht und schrie ihre Frustration hinein. Ich konnte das Lachen nicht länger zurückhalten und sie sah mich daraufhin böse an. »Du bringst mich noch ins Grab. Mensch, du bist siebzehn, da müsstest du jeden Tag was losmachen.«

»Aber nicht, wenn ich jeden Morgen um sechs aufstehe und wie eine Blöde schufte.«

»Das tun wir doch alle! Egal, wer ist denn jetzt der Typ?«

Wenn ich sie jetzt noch länger auf die Folter spannte, würde sie mir vermutlich an den Hals springen. Kurz überlegte ich, wie viel ich ihr erzählen sollte. Ich hatte Thomas Bettina gegenüber noch nie erwähnt. Schließlich dachte ich schon genug an ihn, da wollte ich nicht auch noch über ihn reden. Vor allem, wenn es nichts zu erzählen gab. »Einer von der Arbeit.«

Bettina zog ihr angewidertes »Bäh, der ist sicher alt«-Gesicht und bevor sie damit herausplatzen konnte, kam ich ihr zuvor.

»Es ist der Geselle, der letztes Jahr ausgelernt hat.«

Sogleich glätteten sich ihre Gesichtszüge wieder. »Ist er knackig? Was für Haare hat er? Augenfarbe? Und sein Hintern?«

»Er sieht gut aus, hat braune Haare und braune Augen.« Mein Urteil über Thomas’ Hintern behielt ich lieber für mich.

»Klingt langweilig. Ich hab eher was für Blonde oder Rothaarige übrig.«

»Er ist nicht langweilig!« Das hatte jetzt etwas heftiger geklungen als geplant. Bettina zog wissend die Augenbrauen hoch. Oh mein Gott, jetzt ahnte sie sicher etwas!

»Jetzt muss ich mich aber fertig machen«, sagte ich schnell, um nicht einem weiteren Verhör unterzogen zu werden.

»Behalt einfach deinen Blaumann an, darin kennt er dich schon«, spöttelte Bettina.

»Haha, sehr witzig.«

Damit tauchte ich in meinen Schrank ab und kramte ein paar halbwegs ansehnliche Hosen und T-Shirts hervor. Schweigend betrachtete Bettina meine Auswahl und begann dann in ihrem Schminkkoffer herumzuwühlen, ohne Zweifel auf der Suche nach irgendeinem blöden Zeugs, zu dem sie mich überreden würde. Ich wusste, dass das Thema Thomas noch lange nicht abgeschlossen war, aber mein Outfit war jetzt erst mal wichtiger.

»He, was ist das für ein Lied, das du da summst?«

Ich schreckte auf und stieß mir den Kopf am Regalbrett des Schranks. »Was?«

»Na, du summst. Das ist ganz schön nervig.« Bettina ließ zwei knallrote Pumps, die sie aus ihrem Schrank gezogen hatte, an ihren Fingern baumeln. »Oder merkst du vor lauter Vorfreude auf dein Date gar nicht mehr, was du machst?«

Hatte ich wirklich gesummt? Mir war eine Melodie durch den Kopf gegangen, irgendwas balladenartiges, das ich mal im Radio aufgeschnappt haben musste. Aber mir war echt nicht aufgefallen, dass ich sie laut gesungen hatte. Seltsam.

»’tschuldigung. Ich war in Gedanken.«

»Vielleicht solltest du öfter bei dir selbst reinhören, sonst verpasst du noch was.«

Erst verdrehte ich die Augen, aber dann grinste ich. »Ich kann entweder mir beim Denken oder dir beim Plappern zuhören. Beides zusammen geht nicht.«

»Na, dann ist die Entscheidung ja wohl klar. Schließlich brauchst du dringend jemanden, der dich mit Make-up versorgt.«

Zehn Minuten später stand ich vor dem halbblinden Spiegel des Gemeinschaftswaschraums. Das Mädchen, das mich daraus anblickte, erschien mir fremd.

In Jeans, Pullover oder Blaumann fühlte ich mich wohl, das abgeschnittene und damit fast bauchfreie lila Shirt über der schwarzen Skinny-Jeans wirkte in meinen Augen dagegen wie eine Verkleidung.

Natürlich war Bettina schuld. Ich hatte eigentlich etwas anderes anziehen wollen, aber sie hatte mich zu diesem Outfit überredet. Die hochhackigen Schuhe hatte ich allerdings rundheraus abgelehnt und auf meine bewährten Ballerinas bestanden. Wenn ich den farblich zu dem Shirt passenden Lidschatten ebenfalls verschmäht hätte, wäre das Resultat vermutlich ein Blutbad gewesen.

Während ich versuchte, Farbe auf meine Lider aufzutragen, was mich sicher aussehen lassen würde, als hätte mir jemand zwei Veilchen verpasst, bemerkte ich plötzlich eine Bewegung im Spiegel.

Blitzschnell wirbelte ich herum. Hatte da etwa jemand durch das Klofenster gespannt? Ich ging ein paar Schritte auf das Fenster zu, konnte jedoch niemanden entdecken. Wahrscheinlich hatte ich mir die Bewegung nur eingebildet oder es war einfach nur der Baum vor dem Fenster. Oder der Spanner war bei meinem Anblick vor Schreck vom Ast gefallen.

Ich drehte mich um und setzte meine Schminkarbeit fort. Zeit, auf Spannerjagd zu gehen, hatte ich ohnehin keine, denn ich musste spätestens in ein paar Minuten los. Bis zum Huxleys war es eine lange Bahnfahrt, außerdem musste ich danach noch ein Stück laufen. Mal abgesehen davon, würde sich das Problem ohnehin schnell erledigen. Wenn der Spanner nicht gerade ein entlaufener Orang-Utan war, würde er bald als Gipsmumie im Krankenhaus enden. Das war neulich einem Mitbewohner aus dem ersten Stock passiert, der es witziger fand, über den Baum in sein Zimmer zu klettern, anstatt die Treppe zu nehmen. Jetzt lachte er bestimmt nicht mehr. Letztlich lag das Gemeinschaftsbad aber nicht im ersten, sondern im dritten Stock.

Nachdem ich die Kriegsbemalung halbwegs zufriedenstellend beendet hatte, kehrte ich in mein Zimmer zurück.

»Na, hab ich doch gesagt. Die Klamotten stehen dir richtig gut und der Lidschatten passt perfekt!«

Bettina hatte sich inzwischen ebenfalls in Schale geworfen und das rote Cocktailkleid schmiegte sich wie eine zweite Haut an ihre Kurven.

»Du siehst toll aus.« Ich unterdrückte einen neidischen Seufzer und bemühte mich, mir nicht wie ihre hässliche Stiefschwester vorzukommen. Bettina sah atemberaubend aus. Käme ich in solch einem Aufzug ins Huxleys, würden Thomas sicher Stielaugen wachsen. Doch wenn ich mich schon in meinem aktuellen Fummel fremd fühlte, wie würde es mir dann erst in einem hautengen Kleid ergehen? Außerdem bezweifelte ich, dass es mir auch nur annähernd so gut stand wie Bettina mit ihrer perfekten Figur. Gegen sie wirkte ich fast wie ein unbehauener Klotz.

Bevor ich in Selbstmitleid badete oder endgültig die U-Bahn verpasste, schnappte ich mir Jacke und Tasche, wünschte ihr einen schönen Abend und war aus der Tür, ehe sie etwas erwidern konnte.

Freitagabend war die U-Bahn voller Leute, die in irgendeinen Club oder auf eine Party wollten.

Schrill geschminkte Mädchen, neben denen ich sogar mit meinem lilafarbenen Lidschatten wie eine graue Maus wirkte, kicherten albern, als hätten sie gekifft, während Jungs mit gegelten Haaren ein wenig tapsig daneben standen. Einer von ihnen trug einen Anzug wie der Mann heute Morgen in der Bahn, doch bevor mein Unwohlsein zurückkehren konnte, drehte er sich um und lächelte mich breit an. Nein, das war nicht der bleiche Typ mit dem Gehstock. Der junge Kerl sah eher nach angehendem Banker aus. Es war schwer auszumachen, ob er von der Arbeit kam oder zu einer Party wollte.

Bei den Typen, die direkt hinter mir eingestiegen waren, würde ich allerdings jede Wette eingehen, dass sie nicht in einen Club wollten. Sie trugen schwarze Bomberjacken, waren bullig wie Schränke und ihre Hosen steckten in Springerstiefeln.

Sie machten zwar keinen Krach oder fielen sonst wie unangenehm auf, aber ihre Präsenz reichte aus, dass ich mich komisch fühlte. Außerdem starrten sie mich an.

Erst der Typ heute Morgen und jetzt das! Mein Tag war offenbar nicht komplett ohne ein oder zwei Abenteuer in der U-Bahn. Aber das waren sicher nur Türsteher auf dem Weg zur Arbeit oder so was. Vielleicht hielten sie mich ja für zu jung, um derart aufgetakelt unterwegs zu sein. Manche Leute schätzen mich um einiges jünger als siebzehn.

Ich versuchte, ihren Blicken auszuweichen, doch irgendwie nützte das gar nichts. Sie starrten mich weiterhin an, als wollten sie mir unter die Haut kriechen.

Langsam wurde mir wirklich unwohl. Es konnte doch kein Zufall sein, dass sie es vorzogen, stehen zu bleiben und mich anzuglotzen, obwohl noch genügend Plätze frei waren.

Gab es an mir irgendwas, das sie veranlassen könnte, mir eine Tracht Prügel zu verabreichen? Passte ihnen meine blasse Haut oder meine Schminke nicht? Mein Aufzug? Wer konnte schon sagen, woran sich Schlägertypen wie diese störten.

Ich schaute weiterhin demonstrativ in eine andere Richtung und registrierte, dass sich die Bahn Station für Station zusehends leerte. Ja, wollte denn keiner ins Huxleys? Ich dachte, da spielten heute die Überflieger aus England.

Doch das schien den anderen entgangen zu sein.

Grüppchen um Grüppchen stieg aus. Meine Beobachter blieben. Und starrten mich an.

Schließlich saßen nur noch zwei Jungen in Hip-Hop-Klamotten und ich mit den Kleiderschränken im Waggon. Ich bezweifelte, dass die beiden mir im Notfall zu Hilfe kommen würden, denn abgesehen davon, dass sie dünne Bohnenstangen waren, waren sie zu sehr mit ihren Smartphones beschäftigt, auf denen sie sich gegenseitig irgendwelche Lieder vordudelten.

Ich war auch echt blöd! Warum musste ich unbedingt allein ins Huxleys fahren? Es wäre viel schöner gewesen, wenn Thomas mich abgeholt hätte!

»Nächste Station Hermannplatz.«

In meiner Panik hätte ich beinahe die Ansage überhört.

Als mir klar wurde, dass ich endlich aussteigen konnte, sprang ich von meinem Sitz auf und stürmte zur Tür. Nicht gerade die richtige Methode, um furchtlos zu wirken, aber das war mir egal. Während ich meine Tasche umklammerte, drückte ich auf den Öffnen-Knopf. Sobald die Bahn hielt, hastete ich nach draußen. In der festen Überzeugung, dass die Kerle ebenfalls aussteigen und mich verfolgen würden, bereitete ich mich auf den Sprint meines Lebens vor.

Doch als das Geräusch der sich schließenden Türen ertönte, blieben Rufe und Stiefelgetrampel aus. Ich wandte mich um und beobachtete, wie die Bahn wieder anfuhr. Die Schläger waren dringeblieben, wenngleich ich hätte schwören können, dass sie mich durch das Fenster weiter beobachteten.

Ich atmete tief durch. Okay, anscheinend hatte ich ein ernsthaftes Problem: Ich litt unter Verfolgungswahn. Kaum sah mich jemand etwas länger an als normal, unterstellte ich ihm verbrecherische Absichten. Das war nicht gut.

Aber egal, falls ich paranoid werden wollte, hatte das auch noch bis morgen Zeit.

Das Huxleys war natürlich proppenvoll. Menschenmassen warteten vor dem Eingang und es kamen immer noch mehr Leute herbei. Ein paar von denen hätten ja auch wirklich mal U-Bahn fahren können.

Der Andrang überraschte mich. War ich die Einzige, die die »Flying Mushrooms« nicht kannte? Oder erhoffte sich die Hälfte des Publikums einfach nur eine Kostprobe magischer Pilze?

Ich renkte mir fast den Hals aus bei dem Versuch, Thomas in der tobenden Menge ausfindig zu machen.

Nicht, dass ich etwas gegen größere Menschenmengen hatte, doch nach der Begegnung mit den seltsamen Gestalten in der U-Bahn wäre es mir lieber gewesen, ich hätte ihn auf Anhieb gefunden. Mehr als verrückt gekleidete, aufgekratzte Mädchen, gegen die die kichernden Tussis in der Bahn geradezu ruhig wirkten, konnte ich zunächst aber nicht ausmachen.

Im nächsten Augenblick entdeckte ich einen der schwarzgekleideten Kerle aus der U-Bahn.

Ich blinzelte und als ich wieder hinsah, war der Mann verschwunden. Waren das doch die Ordner für das Konzert? Oder war ich jetzt endgültig paranoid geworden?

Das war total absurd. Was sollten denn ein paar völlig Fremde von mir wollen?

Aber was, wenn sie doch nach mir suchten? Mein Herz pochte unangenehm laut in der Brust.

Das war so ziemlich der schlechteste Moment, um mich zu überraschen. Als mir jemand von hinten auf die Schulter tippte, schrie ich laut auf und wirbelte herum. Anstatt irgendeiner finsteren Gestalt blickte ich Thomas ins Gesicht.

Erleichtert atmete ich auf, doch gleich darauf stockte mir erneut der Atem, denn Thomas hatte sich herausgeputzt. Das dunkelblaue Hemd, das er unter seiner Jacke trug, sah zu den engen schwarzen Jeans einfach umwerfend aus, außerdem ging ein angenehmer Duft nach Aftershave von ihm aus. Nicht das Aftershave, das er sonst benutzte, nein, diesmal war es ein anderes, das irgendwie erdiger roch. Sinnlicher. Auch wenn ich mir doof dabei vorkam, das Wort auch nur zu denken.

»He, was ist denn mit dir los? Hast du einen Geist gesehen?«

Es wäre ja auch zu viel erwartet, dass er meinen Panikanfall nicht bemerkt, dachte ich. Sollte ich Thomas von der seltsamen Begegnung erzählen? Ich war schon drauf und dran, den Mund zu öffnen, als mir aufging, dass das vermutlich keine gute Idee wäre. Dann würde ich vor ihm nur wie eine dumme Gans dastehen. Oder wie eine paranoide Gans. »Ich hab mich bloß erschrocken«, sagte ich schnell.

Außerdem wollte ich nicht, dass Thomas sich zu meinem selbsternannten Bodyguard aufschwang. Er würde sicher darauf bestehen, mich zum Wohnheim zu begleiten ‒ selbst wenn er mich für bescheuert hielt. Bei meinem Glück würden wir dann gewiss auf Bettina treffen, die mich die ganze Nacht mit Fragen löchern würde. Und mal ehrlich, ich hatte mein Pensum an unheimlichen Begegnungen für heute schon übererfüllt. Allein das sollte mir eine ruhige Heimfahrt garantieren.

»Ist wirklich alles in Ordnung?«, fragte Thomas angesichts meiner Sprachlosigkeit noch einmal. »Du bist doch sonst nicht so still.«

»Es ist nur das Gedränge, ich gehe nicht so oft auf Konzerte, weißt du.« Das war in meinen Augen die beste Ausrede.

»Keine Bange, ich bin ja bei dir. Ich werde dich vor den Dränglern beschützen.«

Ha, wusste ich es doch! Fehlte nur noch, dass er den Arm um mich legte und anfing mich »Kleines« zu nennen wie in einem schlechten Sechziger-Jahre-Film. Aber glücklicherweise verkniff er sich das ‒ na ja, gegen den Teil mit dem Umarmen hätte ich eigentlich nichts gehabt.

Dann griff Thomas nach meiner Hand und wir stürzten uns in die Menge Richtung Einlass.

Das Konzert war wirklich toll. Ich hätte es ihm gegenüber niemals zugegeben, aber auf Thomas’ Musikgeschmack war Verlass. Als Musikproduzent hätte er sich bestimmt eine goldene Nase verdienen können.

Nassgeschwitzt vom Herumhüpfen verließen wir inmitten einer tobenden Menschenmasse das Huxleys. In meinen Ohren pfiff es seltsam, aber daran waren wir selbst schuld, weil wir zu Anfang neben einer der Verstärkerboxen standen und uns die Bässe voll erwischen konnten. Unter Ellbogeneinsatz gelangten wir von den Boxen weg und weiter nach vorn, wo ich mich davon überzeugen konnte, dass die Mädchen in der ersten Reihe wirklich Grund zum Kreischen hatten. In seinen engen Jeans und dem offenen weißen Hemd sah der Sänger extrem sexy aus. Da vergaß ich sogar für einen Moment Thomas neben mir!

Das Tanzen, die wirklich guten Lieder und der Anblick des Sängers vertrieben auch jeden Gedanken an eingebildete oder echte Verfolger. So konnte ich den Abend in vollen Zügen genießen.

»Soll ich dich nach Hause bringen?«

Die Frage hatte ich natürlich erwartet, jetzt, da wir wieder draußen standen.

Thomas schwitzte genau wie ich, duftete aber immer noch himmlisch. Konnte nicht jemand mal so ein Deo für Frauen erfinden? Ich fühlte mich mittlerweile nicht mehr so, als sei ich in der richtigen Verfassung für eine Umarmung.

»Nein danke. Ich bin ein großes Mädchen, ich finde schon allein nach Hause.«

Thomas öffnete den Mund, um zu widersprechen, aber ich gab ihm bereits einen Kuss zum Abschied auf die Wange.

»Vielen Dank für den tollen Abend, du musst mir unbedingt eine Spotify-Liste mit den besten Liedern schicken.«

»Klar, mach ich.« Thomas zögerte kurz. »Pass auf dich auf, Aileen.«

Noch nie zuvor hatte er meinen Namen so sanft ausgesprochen. Ich war kurz davor, meinen Entschluss rückgängig zu machen, doch dann kam ich wieder zur Vernunft. Ich würde nur auf allerhand dumme, romantische Gedanken kommen, wenn wir zusammen durch den Mondschein spazierten. Thomas war ein Kollege und Freund. Basta!

»Du auch. Bis Montag!«

Damit drehte ich mich um und hatte das dumme Gefühl, gerade einen Riesenfehler zu machen.

Aber wer brauchte schon ein Liebesleben?

Dass allerdings nicht mein Liebesleben ein Grund zur Sorge war, hätte ich nicht erwartet.

Zwei Häuserecken weiter bereute ich, allein losgegangen zu sein. Ich hörte Schritte und ein kurzer Blick über die Schulter bestätigte, dass drei oder vier grobschlächtige Kerle hinter mir waren. Ihre Sohlen knirschten über den Gehsteig und jagten mir einen Schauer über den Rücken. Es war zu dunkel, um ihre Gesichter zu erkennen, trotzdem war ich mir ziemlich sicher, dass es die Typen aus der U-Bahn waren.

Ich zog meine Jacke enger zusammen. Bildete ich es mir nur ein oder wurde es tatsächlich merklich kühler? Es war ohnehin bitterkalt, aber seit ein paar Metern hatte ich das Gefühl, mitten in eine gigantische Kühltruhe gelaufen zu sein.

Es war absurd ‒ als ob ich mitten in einen schlechten Horrorfilm geraten wäre. Die dumme Blondine, die am Anfang des Films dran glauben muss. Die Schritte hinter mir klangen jedoch nur allzu real.

Sollte ich einfach losrennen? Dann machte ich mich vielleicht zur Idiotin, denn immerhin bestand die Möglichkeit, dass alles nur ein blöder Zufall war. Aber ich hatte mal in einer Sendung über Selbstverteidigung gesehen, dass man nicht als Opfer auftreten sollte. Außerdem wurden die dummen Blondchen immer gekillt, wenn sie wegrannten, während die wehrhafte Heldin am Ende übrig blieb.

Also drehte ich mich um und stemmte die Hände in die Hüften.

Vielleicht hätte mir vorher jemand sagen sollen, dass das Leben kein Film ist.

Die Schläger hielten für einen überraschten Moment inne, sahen sich an und zuckten dann mit den Schultern, als wollten sie sagen, »wenn sie es denn so will«.

Ich holte gerade Luft, um sie höflich, aber entschieden zu fragen, ob es ein Zufall war, dass wir uns heute schon mehrfach über den Weg gelaufen waren, da stürmten sie los.

Meiner Kehle entrang sich ein ersticktes Keuchen, ich stolperte zurück und wäre in meiner Hast beinahe hingefallen. Im nächsten Moment sprintete ich auch schon durch die Straße und schwor mir, meinen offensichtlich sehr zutreffenden Verfolgungswahn nie wieder als Einbildung abzutun.

Ich stürmte um die nächste Hausecke, wobei eine Katze bösartig kreischend zur Seite stob. Die Kerle klebten weiterhin an mir wie ein Bienenschwarm und wahrscheinlich würde das auch die nächsten Blocks so bleiben. Entrinnen konnte ich ihnen nicht.

Erst jetzt realisierte ich in vollem Umfang, dass mein Leben in Gefahr war. Warum sonst sollten meine Verfolger so hartnäckig sein?

Mein Herz raste. Auf einmal bekam ich vor Angst kaum noch Luft. Ich brauchte Hilfe, einen Ausweg, irgendwas. Die Eiseskälte stach wie mit Nadeln auf mich ein. Die Stiefelschritte hinter mir klangen laut wie Kanonenschüsse.

Vielleicht konnte ich mich ja verstecken, wenn ich lange genug aus ihrem Sichtfeld verschwand? Wie dumm diese Idee war, merkte ich erst, als ich auf dem Hinterhof eines verlassenen Hauses zum Stehen kam.

Keuchend schaute ich mich um. In meiner Panik irrte mein Blick so schnell umher, dass ich kaum etwas wahrnahm. Doch es gab auch nicht viel zu sehen. Blanke Backsteinwände, durchbrochen nur von dem Tor hinter mir und einigen Fenstern hoch über meinem Kopf. Zwei tote Topfpflanzen in einer Ecke, ein paar Fetzen Müll und vertrocknete Blätter verstreut auf dem Pflaster.

O Gott, ich saß in der Falle.

Dem zufriedenen Grinsen der Schläger nach zu schließen, war ihnen das ebenfalls klar, als sie wenige Sekunden nach mir durch den Torbogen stürmten und mich in Windeseile einkreisten.

Hatten sie schon vorhin so bleiche Gesichter gehabt? Im Neonlicht der U-Bahn sah kaum jemand normal aus, aber nach dieser Hetzjagd hätten sie doch rot wie Feuerlöscher sein müssen! Gingen normalen Leuten etwa auch solche absurden Gedanken durch den Kopf, wenn sie überfallen wurden? Oder war das nur bei mir so? Vermutlich hatten die Panik und diese furchtbare Kälte mein Gehirn in einen Eisblock verwandelt.

»Hast du geglaubt, dass du uns entkommen kannst?«, zischte einer von ihnen.

Ich wollte ihm antworten, dass alles ein furchtbares Missverständnis sein müsse, dass ich nicht wisse, wovon sie überhaupt redeten. Doch ich brachte keinen Ton heraus.

Da ich in ihren Augen offenbar nichts zu sagen hatte, stürzten sich die Kerle nur Sekundenbruchteile später auf mich.

Ich sprang nach hinten, stieß mit der Schulter gegen die Mauer und wurde zurückgerissen, als einer von ihnen seine Hände wie Schraubstöcke um meine Arme legte.

»Was wollt ihr von mir?«, kreischte ich. »Hilfe! Hilfe! Bitte.« Es musste doch noch jemand in der Nähe sein, der mir beistehen konnte.

Aber niemand erschien. Ich war allein ... allein mit diesen vier Männern.

Ich versuchte, einen ruhigen, vernünftigen Ton anzuschlagen, doch meine Stimme überschlug sich. »Ich habe nur zwanzig Euro dabei. Ihr könnt alles nehmen. Bitte, ich will nur ...«

Weiter kam ich nicht, denn einer der Kerle holte aus. Ich zuckte zurück, die Hände hinter mir hielten mich und er schlug mir mit der Faust ins Gesicht.

O Gott, ich hatte nicht gewusst, dass ein Schlag so weh tun konnte!

Schmerz explodierte in meinem Kopf und mir wurde schwarz vor Augen. Ich schmeckte Blut in meinem Mund und konnte nicht sagen, ob ich mir selbst auf die Zunge gebissen hatte oder ob meine Lippe aufgeplatzt war.

Was ... was geschah hier? Das konnte mir unmöglich wirklich gerade passieren.

Leider blieb es nicht bei diesem einen Schlag. Jemand stieß mich nach vorn, eine Faust landete in meinem Magen, eine andere auf meinem Rücken. Mein Körper bog sich hin und her, ohne dass ich etwas tun konnte. Meine Eingeweide schmerzten und an Luft holen war nicht mehr zu denken. Die Kerle schleuderten mich herum, als sei ich eine Flickenpuppe. Weder mein Schreien noch meine schwachen Versuche, die Hiebe abzuwehren und mein Gesicht zu schützen, konnten etwas ausrichten. Ein Schlag landete so hart auf meinem Ohr, dass ich das Gefühl hatte, mein Trommelfell würde platzen. Kurze Zeit später drosch eine Faust auf meinen Kiefer ein, dann noch eine. Das Knirschen hallte durch meinen gesamten Kopf, Schwindel erfasste mich, die Sicht verschwamm vor meinen Augen.

Ein weiterer heftiger Schlag gegen die Schläfe riss mich schließlich von den Füßen und ich blieb wimmernd auf den Pflastersteinen liegen.

O Gott, bitte, bitte ... lass es vorbei sein ... bitte!

Ich wusste nicht, ob ich die Worte laut aussprach oder ob sie sich nur als Litanei in meinem Kopf wiederholten. So oder so halfen sie nichts ...

Erneut schlugen die Männer auf mich ein, dann traten sie zu. Mit ihren schweren Stiefeln traten sie gegen meinen Rücken, meine Hüften und meine Beine. Um meinen Bauch zu schützen, krümmte ich mich wie ein Fötus zusammen.

Als mich ein harter Fußtritt in den Rippen traf, war ich mir sicher, sterben zu müssen. Ich betete, dass ich ohnmächtig werden möge. Doch mein Körper hielt durch.

Irgendwann wurde ich hochgerissen. Als weitere Schläge ausblieben, blickte ich benommen auf. Mein rechtes Auge und meine Lippen fühlten sich geschwollen an, ich schmeckte Blut und Tränen verklebten mir die Augen.

Ich wollte nur noch, dass es aufhörte.

Aber dann blitzte etwas vor mir auf.

Das Mondlicht fing sich auf einem länglichen Gegenstand, den ich Sekundenbruchteile später als Dolch erkannte.

Sie wollten mich töten. Sie wollten mich wirklich töten!

Ich hatte nicht geahnt, dass ich noch mehr Angst haben könnte, doch der Anblick des Dolches löste etwas in mir aus, was die Schläge nicht vermocht hatten. Verzweifelt wehrte ich mich und versuchte mit aller Kraft, mich loszureißen.

»Nein, bitte, was auch immer ich getan haben soll, ich war’s nicht!« Ich krümmte und wand mich, trat um mich, warf den Kopf zurück. Es gelang mir tatsächlich, einen Arm loszureißen, doch sofort packten mich die Hände wieder und hielten mich erbarmungslos fest.

Der Mann mit dem Dolch musterte mich mit kalten Augen, dann riss er den Arm hoch.

 

3. Kapitel

 

Ich schloss die Augen und schrie aus vollem Halse, mit allem, was in mir war. Der Ton hallte von den Wänden wider, wurde lauter, viel lauter, als meine Stimme es vermocht hätte. Es hörte sich an, als würde dieser Schrei meine Seele tragen oder als würde die Erde selbst schreien, denn das Geräusch, das über den Hof hallte, hatte etwas zutiefst Urtümliches in sich ‒ und klang gleichzeitig völlig unmenschlich.

Schmerzen spürte ich nicht. Fühlte es sich so an, wenn man starb? Hatte ich das Messer bereits im Herzen?

Plötzlich ließen mich meine Häscher los. Sofort brachen meine Knie ein und ich fiel zu Boden. Schmerzen zuckten durch Knie und Hände.

Ungläubig blinzelnd öffnete ich die Augen und starrte auf die Pflastersteine unter meinen Händen, auf das Blut, das aus meinem Gesicht auf den grauen Boden tropfte.

Nach einigen endlos erscheinenden Momenten hob sich mein Blick.

Was ich dann sah, ließ mich an meinem Verstand zweifeln. Die Angreifer lagen am Boden und bei jenem, der mir am nächsten war, erkannte ich, dass ihm Blut aus Nase und Ohren rann.

Mehrere Sekunden starrte ich wie gebannt auf die Szene vor mir, bevor ich mich mit einem Aufschluchzen in Bewegung setzte. Ich krabbelte rückwärts, weg von dem Mann mit dem Dolch, und kam schwankend auf die Beine. Der Blutgeschmack in meinem Mund war Übelkeit erregend, doch übergeben konnte ich mich nicht.

Blut. Da war überall Blut an meinen Händen. Blut, das eben noch nicht da gewesen war. Winzige Glasscherben klebten an meiner Haut, kleine Schnitte verteilten sich über die Handflächen.

Ich sah wieder von meinen Händen hoch und merkte, dass der ganze Hof glitzerte. Überall lagen Glassplitter, als hätte sie jemand über den Innenhof ausgeschüttet. Kein einziges Fenster hatte mehr Scheiben, nur hier und da hingen noch Scherben wie Zähne in den Rahmen.

Ich fühlte mich taub, konnte mir nicht erklären, was passiert war. Irgendwann ging mir auf, dass ich noch immer verwirrt zwischen den bewusstlosen Schlägern stand.

Ich rannte los, so schnell ich konnte.

Wie ich zum Wohnheim gekommen war, konnte ich später nicht sagen, denn ich hatte den Weg wie in Trance zurückgelegt. Ich konnte nicht mal sagen, ob ich die U-Bahn genommen hatte oder in einen Bus eingestiegen war. Erst als ich vor der Tür stand und instinktiv die Schlüssel aus meiner Tasche zog, kam ich wieder zu mir.

Essensgeruch stieg mir in die Nase. Von oben dröhnte mir donnernder Heavy Metal entgegen. Das war Niko, den alle heimlich »den Vampir« nannten, weil er sich tagsüber nicht blicken ließ. Nur abends ging bei ihm die Anlage an und spielte »Doom of Hell« rauf und runter.

Ich wollte mich nur noch in mein Bett verkriechen. Zum Glück begegnete ich niemandem, als ich die Treppen zu unserem Stock erklomm. Auch Bettina war nicht da, als es mir nach mehreren misslungenen Versuchen endlich gelang, unser Zimmer aufzusperren.

Klar, ich hätte ins Krankenhaus oder zumindest zur Polizei gehen müssen, aber der Gedanke kam mir nur flüchtig, wenn überhaupt.

Ich war mir nicht sicher, ob ich sofort einschlief oder ohnmächtig wurde, als ich mich auf mein Bett fallen ließ.

Ich träumte. Wie immer war es zuerst nur ein leises Summen, dann erschienen Bilder wie aus einer Nebelbank. Unfähig, mich ihnen zu entziehen, tauchte ich in sie ein.

Dunstschwaden waberten über einen trügerischen grünen Grasteppich, Irrlichter blinkten in der Ferne auf. Ich stand in einem Moor, von dem ich wusste, dass es sich in Irland befand.

Doch statt tiefer in den Sumpf vorzudringen, suchte ich meinen Weg hinaus und lief irgendwann zwischen Baumstämmen hindurch, deren Rinde sich rau an meinen Fingern anfühlte.

Selbst im Traum wusste ich, dass das nicht richtig war. Einem Teil meines Verstandes war klar, dass der Baum nicht echt war, nichts weiter als ein Traumbild. Er hätte sich nur nicht so ... real anfühlen dürfen.

Aber so waren sie immer, meine Träume: verwirrend echt, aber dann auch wieder sprunghaft und so, als würde ich eine Erinnerung erleben, die nicht meine eigene war.

Der Wind strich mir durchs Haar, ein kalter Hauch. Ich musste dringend mein Ziel erreichen, also lief ich schneller. Wo dieses Ziel war, konnte ich nicht sagen.

Als ich die letzten Bäume hinter mir ließ, blieb ich stehen. Vor mir erhob sich ein altes Schloss auf einem Hügel. Sein Fuß ragte aus den Nebelschleiern auf, die alles einhüllten, weiter oben spiegelte sich das Mondlicht in den Fenstern. Ich lief weiter, bis ich seine Mauern erreicht hatte.

Plötzlich wusste ich, dass der Mann, dem dieses Schloss gehörte, sterben würde. Ich kannte weder seinen Namen, noch wusste ich, wie er aussah, aber ich war mir sicher, dass der Tod in sein Schlafzimmer Einzug halten würde ‒ entweder schon in dieser oder der nächsten Nacht.

Die Erkenntnis erfüllte mich mit solch einer tiefen Traurigkeit, dass ich zu weinen begann. Ich spürte, wie Tränen über meine Wangen liefen. Aus dem Weinen, das tief aus meinem Herzen kam, wurde eine Melodie.

Ich sang sie ganz selbstverständlich, selbst dann noch, als ein Licht hinter einem der Fenster aufflammte und eine Gestalt auftauchte. Als ich das Knarren eines sich öffnenden Fensters hörte, blickte ich auf und sah in das Gesicht einer Frau. Das rote Haar fiel ihr, zu einem Zopf geflochten, über die Schulter. Über dem Nachthemd trug sie einen samtenen Mantel. Ihr Blick wanderte suchend durch die Dunkelheit.

Dann entdeckte sie mich.

Sogleich verzerrte sich ihr Gesicht in namenlosem Schrecken, ihr Mund öffnete sich zu einem stummen Schrei und sie wich vom Fenster zurück.

Das verwunderte, aber rührte mich nicht. Ohne weiter auf das offenstehende Fenster zu achten, blickte ich wieder auf jenes, hinter dem sich der Todgeweihte befand. Ich sang, bis sich das Traumbild auflöste und zu vollkommener Schwärze wurde.

 

Am nächsten Morgen erschien mir der Angriff der Männer wie ein Alptraum. Als ich aufwachte, glaubte ich im ersten Moment wirklich, alles nur geträumt zu haben, doch die Schmerzen beim Gähnen belehrten mich schnell eines Besseren. Vorsichtig tastete ich meine Wangen ab. Die Entdeckung von Schorf ließ mich zusammenzucken. Als ich dann vorsichtig das Shirt anhob, bekam ich erst recht einen Schrecken. Das Lila des Blutergusses an meinem Rippenbogen konnte vermutlich mit dem verschmierten Lidschatten auf meinen Lidern konkurrieren.

Alles in allem ging es mir aber erheblich besser als erwartet. Gestern Abend war ich völlig benommen vor Schmerzen gewesen und nicht in der Lage, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Jetzt tat zwar jede Bewegung weh, doch es ließ sich aushalten. Letztlich war es nicht schlimmer als ein übler Muskelkater. Hatte ich die Situation gestern in meiner Panik völlig überbewertet?

Den Dolch konnte ich mir kaum eingebildet haben, aber vielleicht waren die vermeintlich endlosen Minuten des Prügelns in Wirklichkeit nur ein paar Hiebe gewesen. Es war ja nicht so, als ob ich Erfahrung darin hatte, verprügelt zu werden und die Schwere des Ganzen einschätzen konnte. Vielleicht kamen ein paar blaue Flecke ja noch nach.

Langsam erhob ich mich und spähte hinüber zu Bettina, die in ihrem Bett lag und leise schnarchte. Vermutlich war sie irgendwann nach Mitternacht zurückgekommen.

Wenn sie erst mal wach war, würde die große Fragerunde beginnen. Nein, vielmehr würde sie nachbohren wie der Foltermeister eines schrägen Geheimdienstes und mich erst wieder aus ihren Fängen lassen, wenn ich ihr haarklein den Hergang meines Dates geschildert hatte. Andererseits verschlug es ihr vielleicht auch die Sprache bei meinem Anblick.

Um den Schaden erst mal selbst zu begutachten, flüchtete ich ins Bad. Offenbar war ich im Haus die Erste, die auf den Beinen war. Ich konnte nicht einmal sagen, wie spät es war, aber die Stille war mir nur recht.

Ich bot wirklich ein jämmerliches Bild im Badezimmerspiegel. Meine Hose hatte über den Knien Risse, das Shirt war ebenfalls zerfetzt und voller Schmutz. Der Dreck war sogar bis zu meiner Unterwäsche vorgedrungen, Schmutzschlieren klebten auf meiner Haut.

Vorsichtig schälte ich mich aus den Lumpen, in der Erwartung, noch mehr Blessuren an meinem Körper zu entdecken.

Doch nichts. Bis auf den einen blauen Fleck an der Rippe wirkte mein Körper unversehrt und auch mein Gesicht sah bei näherer Betrachtung besser aus, als ich es erwartet hätte. Offenbar hatten die Kerle ganz genau gewusst, wie man anderen Schmerzen zufügte, ohne groß Spuren zu hinterlassen. Vielleicht verlorene Liebesmüh, wenn man sowieso vorhatte, jemanden umzubringen, aber jetzt kam es ihnen zugute. Ich sah echt nicht aus wie das Opfer eines brutalen Überfalls.

Rasch stellte ich mich unter die Dusche und zog den roten Vorhang zu. Während das Wasser wohltuend warm auf mich niederprasselte, schloss ich die Augen. Ein paar Minuten später schnappte ich erschrocken nach Luft und verschluckte mich prompt an dem Wasser, das mir übers Gesicht lief.

Ich hatte schon wieder gesummt. Und diesmal erkannte ich das Lied. Es war dasselbe wie aus meinem Traum. Hatte ich etwa an einer Mauer gestanden und gesungen? Ich erinnerte mich kaum noch an den Traum, außer an das Singen und an ein Gefühl der Trauer, aber ich war mir sicher, dass ich das Lied wiedererkannte. Seltsam. Was mein Unterbewusstsein da wohl verarbeitete?

Als ich mit dem Duschen fertig war, stellte ich mich erneut vor den Spiegel. Die Schrammen im Gesicht wirkten, als hätte ich mit einer Katze gekämpft und nicht mit vier brutalen Schlägern. Nicht dass ich unglücklich darüber gewesen wäre, nicht wie ein Boxer nach der zehnten Runde auszusehen, doch seltsam kam es mir schon vor.

Nachdem ich mich in mein Badetuch gewickelt und meine zerfetzten und schmutzigen Klamotten in den Mülleimer befördert hatte, kehrte ich zu meinem Zimmer zurück. Bettina schnaufte noch immer vor sich hin. Dafür zirpte mein Handy.

Wer konnte so früh schon etwas von mir wollen?

Mein Vater hatte meine Handynummer nicht, er wusste ja nicht einmal, dass ich mittlerweile ein Mobiltelefon besaß.

Vielleicht hätte ich ihn gestern besser zurückrufen sollen?

Als ich zum Handy griff, las ich: Bin auf dem Weg zu dir, was hältst du von Frühstück und einem Spaziergang durch den Tiergarten?

Thomas! Der hatte mir gerade noch gefehlt! Auch wenn ich nicht schlimm lädiert war, die Kratzer waren nicht zu übersehen. Wenn er sie an mir entdeckte, würde er sicher wissen wollen, woher sie stammten. Dann würde er sich bestimmt die Schuld an dem Zwischenfall geben und ich würde ein Brecheisen brauchen, um Thomas davon abzuhalten, mich in den nächsten Wochen nach Hause zu bringen.

Aber wäre das eigentlich schlecht?

Vielleicht würden die Schläger erneut nach mir Ausschau halten. Wenn ich Thomas von dem Angriff erzählte, würde er mich sicher zur Polizei schleifen. Doch mal ehrlich: Auch wenn ich den ganzen Zwischenfall am liebsten vergessen würde, musste ich so oder so zur Polizei. Was, wenn die Typen das nächste Mal ein anderes Mädchen angriffen und sie nicht so glimpflich davonkam wie ich?

Da Thomas bereits unterwegs war, antwortete ich ihm, dass ich schon was vorhätte, er aber mitkommen könne.