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Seit Jahrzehnten zählt die XCOM-Saga mit zum Besten, was das Genre der rundenbasierten Science- Fiction-Strategiespiele zu bieten hat. Der ungleiche Kampf einer letzten Widerstandsgruppe der Erde gegen eine übermächtige außerirdische Bedrohung, hält weltweit Millionen Spieler in ihrem Bann. Panini präsentiert den ersten offiziellen Roman zu XCOM 2 und schildert den heldenhaften Kampf der XCOMs gegen die Alien-Aggressoren!
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Seitenzahl: 202
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von Rick Barba
Aus dem Englischen von
Andreas Kasprzak
Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Englische Originalausgabe:
“XCOM2:Escalation” by Rick Barba, published by Insight Editions, San Rafael, USA, 2017.
Cover Art by Alex Garner
© 2017 Take-Two Interactive Software and its subsidiaries. Take-Two Interactive Software, Inc., 2K, Firaxis Game, XCOM, and their respective logos are trademarks of Take-Two Interactive Software, Inc. All Rights Reserved. All other marks are property of their respective owners.
No similarity between any of the names, characters, persons and/or institutions in this publication and those of any pre-existing person or institution is intended and any similarity which may exist is purely coincidental. No portion of this publication may be reproduced, by any means, without the express written permission of the copyright holder(s).
Übersetzung: Andreas Kasprzak
Lektorat: Thomas Gießl
Redaktion: Mathias Ulinski, Holger Wiest
Chefredaktion: Jo Löffler
Umschlaggestaltung: tab indivisuell, Stuttgart
Satz und E-Book: Greiner & Reichel, Köln
YDXCOM001E
ISBN 978-3-7367-9974-5
Gedruckte Ausgabe:
ISBN 978-3-8332-3698-3
1. Auflage, Juli 2018
www.paninibooks.de
Wenn wir uns nicht gegen das scheinbar Unvermeidliche stemmen, werden wir nie erfahren, wie unvermeidlich das Unvermeidliche wirklich war.
Terry Eagleton, Warum Marx recht hatte
INHALT
1
Schnitter
2
Jäger
3
Scharmützler
4
Assassine
5
Avenger
6
Fährten
7
Kontakt
8
Steinbruch
9
Anomalie
10
Felsschlucht
11
Quid pro quo
12
Indigo-Pass
Über den Autor
1
Sanft, ja fast liebevoll ließ Alexis Petrow ihren Zeigefinger über den Abzug des Vektorgewehrs gleiten. Die Karbonitridbeschichtung der Waffe bot für Situationen wie diese die perfekte, gut geölte Geschmeidigkeit. Mit einem Druckpunkt von nicht einmal zweihundert Gramm genügte bereits das leichteste Antippen, um ein Kupfermantelgeschoss abzufeuern, das mit einer Geschwindigkeit von eintausend Metern pro Sekunde das Zielobjekt durchschlug.
»Tretet ins Licht, ihr schleimigen kleinen Mistkerle«, flüsterte sie.
Mit dem Auge am Zielfernrohr wartete Petrow ungeduldig auf ihre Beute, die sich sechshundert Meter weiter unten tummelte. Ihr lief das Wasser in ihrem ausgetrockneten Mund zusammen. Ein dünner Speichelfilm bildete sich auf ihrer Zunge, wie bei einem Pawlow’schen Hund beim Ertönen der Glocke. Ihr Magen verkrampfte sich vor Hunger und Hass gleichermaßen. Der Feind ist Nahrung.
Rechts von ihr murmelte eine tiefe Stimme irgendetwas Zusammenhangloses.
»Wie war das, CK?«, raunte sie.
»Mir gefällt die Sache nicht«, knurrte der große Mann, der auf dem Felsvorsprung rittlings auf einem Stein saß. Auch er blickte durch das Zielfernrohr seines Gewehrs. »Die waren jetzt – wie lange – da drin? Eine Stunde? Dabei ist der Ort mittlerweile seit zehn Jahren verlassen.« Er spie aus. »Wonach zur Hölle suchen die?«
CK Munger war ein wahrer Berg von einem Mann. In seinen fleischigen Händen wirkte selbst ein wuchtiges Lasergewehr wie ein Kinderspielzeug. Nur wenige Schnitter waren derart massig wie er, da so große Typen im Hochgebirge, in dem sie für gewöhnlich operierten, normalerweise nicht allzu gut zurechtkamen. CK jedoch konnte einen Felssturz mit dem Geschick eines Pumas erklimmen. Das mit anzusehen, war wirklich bemerkenswert.
Petrow wandte sich nach links. »Was siehst du, Natter?«
»Nichts, Boss.« Jean Natter war eine zierliche Frau mit der Stimme eines kleinen Mädchens. Allerdings wollte man nicht, dass sie einem auf den Fersen war. Nicht, wenn sie Hunger hatte.
Mit einem Mal raunte CK: »Es geht los!«
Weiter unten tauchten nacheinander drei Sektoiden aus einem halb eingestürzten Haus auf. Zwei davon waren ältere X-Rays von kaum einem Meter Größe. Der andere gehörte zur neueren Brut und war fast doppelt so groß. Petrow nahm den mittleren Sektoiden mit ihrem Zielfernrohr ins Visier. Sie sah den Bastarden an, dass sie instinktiv witterten, dass irgendetwas im Argen war. Sie duckten sich und bewegten sich mit großer Vorsicht. Allerdings betrug die Reichweite ihrer psionischen Fähigkeiten nicht mehr als sechshundert Meter.
»Drei Tangos, markiert«, sagte sie leise.
»Bestätige, drei markiert«, entgegnete CK.
»Eins, zwei, drei«, flüsterte Natter.
Petrows Schützenteam war hervorragend ausgebildet. Selbst die einfache Feldaufklärung hatte bereits mehrere Feindkontakte bestätigt.
CK spuckte erneut aus und schaute zu ihr rüber. »Was denkst du, Boss?«, fragte er.
»Lasst uns zuschlagen«, schlug Petrow vor.
»Verstanden.« CK klang zufrieden.
»Ich nehme den Linken«, sagte Natter. »Das wird ein sauberer Kopftreffer.«
CK lachte leise. »Yoda besteht ja quasi bloß aus Rübe, Mylady«, sagte er. »Nicht zu verfehlen.« Er presste seine Augenhöhle dichter an sein Zielfernrohr. »Okay, dann übernehme ich den Rechten.«
Petrow nickte grimmig.
»Ich hab Gollum direkt im Visier«, meldete sie.
Sie richtete ihr Fadenkreuz auf den hässlichen, grinsenden Kopf des Neubrüters aus. Dann strich sie behutsam über den empfindlichen Elite-Abzug.
»Auf mein Zeichen«, sagte Petrow.
»Bereit.«
»Bereit.«
Petrow atmete langsam aus. »Jetzt!«
Auf den ersten Blick sahen die Aliens nicht sonderlich appetitlich aus. Jedenfalls nicht nach klassischen menschlichen Maßstäben.
Petrow erinnerte sich an das erste Mal, als sie einen Muton ausgeweidet hatte. Der Gestank ließ ihr fast die Sinne schwinden. Gleichwohl, ordentlich gewürzt und zubereitet, war Mutonfleisch erstaunlich zart und schmackhaft. Einige Schnitter amerikanischer Herkunft bezeichneten es in Anlehnung an ihre Dr.-Seuss-Kinderbücher, die sie vor dem Krieg gelesen hatten, als »Bratgrinch«.
Sektoiden hingegen stellten sie kulinarisch betrachtet vor ganz andere Herausforderungen.
Zum einen war ihre Haut dick wie Segeltuch, was Sinn ergab, wenn man bedachte, dass die Viecher im Grunde vollkommen nackt herumliefen, ganz gleich bei welchem Wetter. Allerdings waren Sektoiden-Körperflüssigkeiten auch nicht gerade der Knaller. Sobald es einem schließlich gelungen war, die Haut zu knacken, erinnerte der dampfende gelbe Schleim, der daraufhin herausströmte, verdächtig an etwas, das aus einer Zylinderkopfdichtung troff.
Erstaunlicherweise ließ sich daraus jedoch eine exzellente Bratensoße zubereiten.
»Natter, pack die Innereien ein«, sagte Petrow.
»Wird sofort erledigt, Boss«, entgegnete Natter. Mit ihrem Klappspaten schaufelte sie Erde über die Flecken, die nach dem Schlachten auf dem Boden zurückgeblieben waren.
»Spar dir die Mühe«, sagte Petrow. »Wir müssen verschwinden, bevor diese Typen vermisst werden.« Sie schaute zur Kammlinie hinauf. »Das Ganze gefällt mir nicht.«
»Warum nicht? Was ist los?«
»Keine Ahnung.«
CK kam aus der Hütte. »Da drin ist nicht das Geringste«, verkündete er. »Alles leer.«
Petrow wischte ihr Aufbrechmesser sauber, klappte es zusammen und schob es in eine ihrer Taschen. »Aber die waren da eine Ewigkeit drin, CK«, wandte sie ein.
»Ja, ich weiß.«
»Was haben die in der Hütte getrieben?«
CK warf ihr einen Blick zu. »Gepennt?«, sagte er.
»Sektoiden brauchen keinen Schlaf.«
»Ich weiß.« Er zuckte die Schultern.
Petrow schlang sich eine Jagdtasche über die Schulter. »Okay, wie auch immer«, sagte sie. »Lasst uns das Fleisch ins Lager schaffen.«
Während sich CK die andere Tasche schnappte, versiegelte Natter einen Plastikbeutel voller Sektoiden-Organe und verstaute ihn in ihrem Feldsack. Schnitter waren ausgesprochen stolz auf ihre Effektivität und »Wirtschaftlichkeit« in allen relevanten Bereichen – bei der Fortbewegung, beim Klettern, beim Kampf, beim Sammeln von Ressourcen und bei ihrem Verbrauch. Nichts wurde vergeudet, nicht einmal Eingeweide. Und normalerweise »säuberten« sie die Stellen, an denen sie ihre Beute erlegt hatten.
Doch Petrow war nervös.
»Abrücken!«, sagte sie.
Fünfzehn Jahre in den Wilden Landen hatten sie gelehrt, auf ihren Instinkt zu vertrauen.
Sie schleiften ihre Beute den alten Schattentalpfad gleich unter dem Teufelsdaumen hinunter.
Es war ein kühler, wolkenloser Herbsttag. Lücken in der Baumlinie gaben den Blick auf die leuchtenden Türme von Neu-Denver frei, die sich vierzig Meilen weiter östlich in den Himmel schoben. Die neue Stadt war unmittelbar neben der alten errichtet worden, die seitdem zu einer Giftmüllhalde und einem Massengrab verkommen war. Einige schätzten, dass unter der Harzkuppel, die fünfzig Quadratmeilen der Innenstadt des alten Denver und der angrenzenden Wohngebiete bedeckte, einhunderttausend Leichen verscharrt lagen.
»So viele nichts ahnende Schafe«, sagte CK, während er seinen Blick über den Horizont im Osten schweifen ließ.
»Aber ich wette, sie schlummern friedlich«, sagte Petrow.
CK wog seine Jagdtasche in der Hand. »Hey, ich werde heute Nacht ebenfalls schlafen wie ein Baby«, sagte er.
Natter starrte die neue Stadt mit dunklen Augen an. »Am liebsten würde ich sie allesamt abschlachten und ihre Kinder essen«, erklärte sie mit ihrer Kleinmädchen-Stimme.
Das brachte Petrow zum Kichern. »Himmel, Natter!«, sagte sie tadelnd.
Natter sah sie an. »Ich hasse sie so sehr«, entgegnete sie.
»Warum?«
»Weil sie Feiglinge sind.«
Petrow drehte sich um, um weiter dem Pfad bergab zu folgen. »Ich bin mir nicht sicher, ob das fair ist.«
»Sie haben aufgegeben«, sagte Natter, die ihr hinterherging. »Genau wie XCOM.«
Das war die allgemein verbreitete Meinung unter den Schnitter-Angehörigen: dass XCOM schwach gewesen war, ein katastrophaler Fehlschlag. Unter Druck war die viel gepriesene Organisation zusammengebrochen wie ein billiges Kuppelzelt.
»Wie alt bist du?«, fragte Petrow. »Einundzwanzig?«
Natter zuckte die Schultern. »Weiß ich nicht genau.«
»Wie bitte?!«
Natter trottete noch einige Schritte weiter, ehe sie sagte: »Irgendwer hat mich irgendwo gefunden.«
»Dann … erinnerst du dich also nicht daran, wie es vor der Invasion war?«
»Nö.«
»Ich schon«, sagte Petrow. »Ich bin dreißig. Mein Dad wuchs zwar in Chicago auf, aber ursprünglich stammen seine Leute aus Bulgarien. Er hat mir mal erzählt, dass sein eigener Vater, mein Opa, während der Sowjet-Ära in Sofia einige schlimme Dinge getan hätte.« Ihr Lächeln war schief. »Und er meinte, dass er das alles ohne zu zögern noch mal machen würde. Weil er seiner Familie dank seiner Taten Essen und Komfort bieten konnte.«
»Schon Scheiße«, sagte Natter.
Jetzt meldete sich CK zu Wort. »Hört zu, ich versteh das, wisst ihr?«, sagte er. »Die meisten Leute sind zu dem, was wir tun, nicht fähig.« Er vollführte mit seinen riesigen Händen eine Geste, die alles um sie herum einschloss. »Wenn ich hungernde kleine Kinder hätte, ja, dann würde ich sie vermutlich auch in die Neuen Städte schaffen.«
Petrow warf ihm einen Seitenblick zu. »Natter hingegen würde sie essen.«
CK runzelte die Stirn. »Alle?«, fragte er.
Natter nickte. »Ja«, sagte sie.
»Aber vorher würdest du mich umbringen, richtig?«
»Nur wenn wir im Lager wären und ich dich anschließend nicht durch die Gegend schleppen müsste.«
Hinter den Widerstandszellen entlang der Gebirgskette, die die Front bildete, lag ein geschäftiger Sommer.
Feindliche Patrouillen drängten von Neu-Denver aus bis in die höher gelegenen Pässe – eine ausgesprochen besorgniserregende Entwicklung, zumal diese Zunahme an Aktivität einem bestimmten Muster folgte. Zuerst überfielen ein paar altmodische Alien-Stoßtrupps – bestehend aus Sektoiden, Mutons, Chryssaliden und vielleicht noch einigen Schwebern als Unterstützung – eine Siedlungsregion und terrorisierten dort die Bewohner.
Dann, ein oder zwei Tage später, setzte ein Transportschiff ein Bataillon ADVENT-Soldaten in dem Ort ab.
Die Soldaten boten allen verwundeten Siedlern medizinische Hilfe an, versorgten sie mit Nahrung und Frischwasser und verhielten sich halbwegs menschlich (was sie in gewisser Weise natürlich auch waren), ehe sie in den Neuen Städten neue Mitstreiter zu rekrutieren begannen. Allerdings waren die Hochland-Überlebenden ein skeptisches Völkchen, das zu Alufolienhauben-Paranoia neigte, weshalb die Rekrutierungsbemühungen nur selten von Erfolg gekrönt waren.
Boulder hatte es am schlimmsten erwischt. Einst eine vornehme Universitätsstadt, war der Ort heute kaum mehr als eine heruntergekommene Ansammlung von Feuerstellen, ein erbärmlicher Zufluchtsort für Überlebenskünstler und andere hartherzige Neandertaler. ADVENT stattete der Stadt regelmäßige Besuche ab und zog niemals wieder von dannen, ohne zuvor einige gründliche Verhöre durchgeführt zu haben.
Die Gerüchte, die anschließend die Runde machten, waren stets dieselben: ADVENT suchte nach Hinweisen auf XCOM.
Petrow empfand das als Beleidigung. Sie hatte schon seit Jahren keinerlei Anzeichen von XCOM mehr gesehen. Die Einheimischen wussten alle, dass die Schnitter diejenigen waren, die die Show an der Front am Laufen hielten.
Petrows Team gehörte zu einem einundzwanzig Leute zählenden Jagdtrupp, der von Neu-Samara aus losgeschickt worden war, dem »Regierungslager« des Schnitter-Klans. Sämtliche Schnitter-Enklaven östlich der Kluft legten Vorräte für den Winter an. Bislang konnte ihre Ausbeute sich sehen lassen: Keine zwanzig Jahre, nachdem große Schneisen des Front-Gebirgszugs während des Krieges in Schutt und Asche gelegt und verseucht worden waren, waren Elche, Hirsche und Kleinwild wieder zurückgekehrt. Die Wälder an den östlichen Hängen waren nicht mehr länger grau oder von der Stille des Todes beherrscht.
Wildbret war natürlich eine tolle Sache. Allerdings hatten die Schnitter im Laufe der Jahre Gefallen an Alien-Fleisch gefunden und das, was sie früher aus reiner Verzweiflung aßen, zu wahren Delikatessen verfeinert. CK und Natter hatten sich monatelang über die besten Rezepte gestritten.
Als sie jetzt den Kamm umrundeten, ging die große Debatte weiter.
»Du bist ja irre«, grunzte CK. »Wie um alles in der Welt kann man das Stroganoff nicht mögen?«
»Weil’s widerwärtig ist«, sagte Natter.
»Was daran soll widerwärtig sein?«
Natter schaute ihn schweigend an.
»Ach, komm schon! Hast du vielleicht was gegen Sektoiden-Lende?«
»Ganz im Gegenteil«, sagte Natter. »Ich liebe Sektoiden-Lende.«
»Und?«
»Und warum sollte man eine vorzügliche Mahlzeit ruinieren, indem man Sauerrahm dazugibt?«, sagte Natter. Sie schüttelte den Kopf. »Allein schon von dem Gedanken wird mir übel.«
Unterdessen blickte Petrow zum Teufelsdaumen hinauf, einer geschwungenen Granitspitze, die sich fünfzig Meter über der Schulter des Bärengipfels erhob. Der Daumen war so ziemlich der vertrauteste Orientierungspunkt in Petrows Leben. Sie war in einem Schnitter-Lager in den Moränen unterhalb des Indianergipfels aufgewachsen und war bei Versorgungstouren über den nördlichen Schattentalpfad bis hin zu den Boulder-Siedlungen schon Dutzende Male an dem Felsdaumen vorbeigekommen.
CK folgte Petrows Blick.
»Warst du jemals oben auf diesem Ding?«, fragte er. »Ich meine, also, oben auf der Spitze?«
»Ein paarmal«, entgegnete Petrow.
CK nickte. Einige Sekunden lang schwiegen sie und schauten zum Daumen hinauf.
»Ist es schwer, da hochzuklettern?«, fragte er dann.
»Nee«, sagte Petrow. »Der Aufstieg über die Böschung ist kniffliger als die Kletterei selbst.« Sie verengte die Augen zu Schlitzen. Irgendetwas da oben sah anders aus als sonst. »Was ist das?«
Auch CK fixierte Petrow. »Woher soll ich das wissen?«, sagte er. »Das ist schließlich dein Daumen.«
Plötzlich weiteten sich Petrows Augen. »Was zur Hölle …«
Sie ließ den Trageriemen der Jagdtasche von ihrer Schulter gleiten und zog das Vektorgewehr aus der Schlinge. Petrow hielt den Schaft an ihre Schulter und das Zielfernrohr an ihr Auge, ehe sie das Fadenkreuz auf die Spitze des Daumens richtete.
»Es ist weg«, sagte sie.
»Was ist weg?«, fragte CK.
»Irgendwas Großes, da oben.« Sie ließ das Gewehr sinken.
»Vielleicht ein Falke.«
Petrow runzelte die Stirn. »Ich habe noch nie einen drei Meter großen Falken gesehen.«
»Drei Meter?«
»Was immer das war, es war groß«, sagte Petrow.
Sie sah erst Natter und dann CK an. Offensichtlich wusste keiner von ihnen, was sie davon halten sollten. Dann schien Natter unvermittelt etwas in den Sinn zu kommen. Sie legte den Kopf schief.
Petrow entging die Geste nicht und sie fragte: »Was ist, Jeannie?«
»Vermutlich kann man von dort oben das Lager sehen«, sagte Natter.
Einen Moment lang schauten sie einander an. Dann begann Petrow, den Pfad hinunterzurennen.
»Hurensohn«, zischte sie.
Sie ließen die Jagdtaschen zurück.
2
Petrow war noch nicht einmal zur Hälfte den Kamm hinaufgeeilt, als in der Ferne Schüsse krachten.
Das Basislager ihrer Einheit befand sich eine halbe Meile das Schattental hinauf, neben einem Bachlauf, auf der Rückseite der Kammlinie, zu der auch der Teufelsdaumen gehörte. Der Pfad führte in einem weiten Bogen um den Kamm herum, bevor er sich am Bach entlang durch das Tal schlängelte. Und genau wie Natter angemerkt hatte, war von der Spitze des Daumens aus das Lager komplett zu überblicken.
Sie brauchten zehn Minuten, um den Bach zu erreichen. Mittlerweile konnte Petrow weiter vorn Schreie hören.
Grässliche Schreie. Gequälte Schreie.
Lieber Gott!, dachte sie; ihr Nacken kribbelte alarmiert.
Mit Handzeichen wies Petrow CK und Natter an, sich aufzuteilen und sich dem Lager von den Flanken her zu nähern. Mit gezogenen Pistolen stürmten die beiden an gegenüberliegenden Felswänden entlang durch das niedrige Gestrüpp. Weiter links von sich entdeckte Petrow eine Felsbank, die aus der Talwand aufragte. Sie kletterte hastig nach oben und ließ sich hinter dem Stamm eines schon lange toten Baums bar jeder Borke in eine Felsspalte gleiten.
Weiter oben reckte sich der Teufelsdaumen über das Tal. Petrow nahm erneut ihr Vektorgewehr aus der Schlinge und legte es an ihrer Schulter an. Durch das Nightforce-Nachtsichtfernrohr spähte sie rasch nach oben, um den Gipfel der Felsnadel nach Gegnern abzusuchen, entdeckte jedoch nichts. Dann suchte sie die hoch gelegenen Felsvorsprünge zu beiden Seiten des Tals ab. Wieder nichts.
Weiter den Canyon hinauf, machten zwei dicht aufeinanderfolgende Gewehrschüsse dem grässlichen Heulen ein jähes Ende.
Schlagartig herrschte vollkommene Stille.
Petrow hoffte, dass das ein gutes Zeichen war. Abgesehen von zwei oder drei Wachtposten, die sie ein Stück weiter das Tal hinauf platziert hatten, sollte sich eigentlich ihr gesamter Trupp im Lager aufhalten. Fünfzehn Schnitter konnten es ohne Weiteres mit einem ganzen Bataillon Aliens oder ADVENT-Soldaten aufnehmen. Und jede feindliche Streitkraft von dieser Größe, die sich am Boden bewegte, wäre schon längst von ihren Spähern registriert worden.
Gleichwohl, die Schreie beunruhigten sie. Sie klangen gequält, wie von einem angeschossenen Tier.
Weiter vorn konnte Petrow Natter ausmachen, die sich noch immer an die linke Seite der Talwand drückte. Die zierliche Frau huschte wie ein Buntfalke von Baum zu Felsen. Es hatte nicht den Anschein, als hätte sie bereits irgendetwas entdeckt; sie schaute sich aufmerksam nach allen Richtungen um. Eine Sekunde später verschwand Natter aus Petrows Blickfeld. Die Bäume in dem abschüssigen Tal tauchten die flache Felssohle in tiefe Schatten und boten ihnen damit ein gewisses Maß an Deckung, versperrten ihnen aber andererseits die Sichtlinien. Darum schob Petrow ihr Gewehr in die Schlaufe zurück und zog stattdessen ebenfalls ihre Pistole. Sie rollte sich von der Felsbank, landete leichtfüßig auf dem Boden und lief stromaufwärts am Bach entlang.
Die Stille war längst verstörend geworden. Petrow duckte sich hinter eine Felszunge rechts im Bachbett. Das Lager selbst befand sich nach wie vor außer Sicht, aber sie wusste auch so, dass es sich unmittelbar hinter der nächsten Biegung befand, ungefähr fünfzig Meter voraus. Einige Sekunden lang lauschte sie angestrengt. Doch es war nicht der geringste Laut zu hören.
Dann erregte eine flüchtige Bewegung auf der anderen Seite des Bachlaufs ihre Aufmerksamkeit.
Sie atmete erleichtert auf, als sie erkannte, dass es CK war. Ungeachtet seiner bärenhaften Statur huschte er lautlos um einen Felsbrocken herum und stieß den taktischen Warnpfiff der Schnitter aus, den kurzen, nur aus zwei Tönen bestehenden Ruf der Bergmeise. Dann begann er, jemandem auf der anderen Seite des Canyons Handzeichen zu geben: Vorsicht, deine linke Flanke! Alarmiert sprang Petrow auf und sprintete leichtfüßig den Bachlauf hinauf, während sie CK über die Schulter einen flüchtigen Blick zuwarf. Als er ihren Vorstoß bemerkte, bekam er große Augen.
Er wirbelte zu ihr herum und hob die Hände, um ihr hastig zwei Signale zu geben: Stehen bleiben! In Deckung!
Dann explodierte sein Hinterkopf in einer Wolke aus rotem Nebel.
Sein Körper fiel hart und schwer zu Boden.
In den sieben Jahren, die sie CK Munger kannte, seit jenem ersten Tag, als er auf der Suche nach Essen und einer Chance, ADVENT zu bekämpfen, in ihr Lager spaziert war, hatte Petrow den Hünen jemals weder hart noch schwer hinstürzen sehen. Stattdessen bewegte er sich stets mit schier unmöglicher Anmut.
Während sich ihr Blick vor Zorn rot umwölkte, vernahm Petrow einen weiteren Schrei.
Diese Stimme …
Das konnte nur Natter sein.
Doch wie die vorherigen Schreie hatte auch dieser einen gutturalen, unmenschlichen Nachklang.
»Nein«, flüsterte Petrow.
Sie schob ihre Pistole zurück ins Halfter und schlich zu einer üppigen Pappel an der Biegung, die halb im Wasser stand. Mit dem Auge am Zielfernrohr, schwenkte sie ihr Vektorgewehr stromaufwärts. Ihre Glieder waren wie erstarrt, als sie sich hinter dem Stamm hervorlehnte, und mit jedem Zentimeter, den sie sich weiter vorbeugte, offenbarte ihr das Zielfernrohr größeres Grauen.
Überall im Lager waren Schnitter-Leichen verstreut. Einige hatte es vollkommen überraschend erwischt – beim Tragen eines Kochtopfs, beim Schüren des Feuers, beim Verlassen eines Zelts. Andere hatten sich offenbar zur Wehr gesetzt oder es zumindest versucht. Jetzt lagen sie mit ihren Waffen in den Händen niedergemäht hinter Felsen und Bäumen. Offensichtlich hatte ihnen kein Ort ausreichend Deckung geboten. Sie waren nirgends sicher gewesen.
Gleichwohl, einige Unglückselige hatten ein anderes Schicksal erlitten.
Drei Schnitter-Soldaten – Petrows alte Freunde, Waffengefährten, Sippenmitglieder – waren irgendwie außer Gefecht gesetzt worden. Dann hatte man sie aufgeknüpft und aufgeschlitzt – dem Ausdruck, der sich auf ihren Gesichtern eingebrannt hatte, lebendig und bei vollem Bewusstsein.
Übelkeit und Hass brannten in Petrows Kehle.
Als sie das Vektorgewehr hin und her schwang, auf der Suche nach einem Ziel und Vergeltung, vernahm sie direkt über ihrem Kopf ein metallisches Zing.
Als Petrow wieder zu sich kam, war sie von öliger Dunkelheit umgeben und ein sengender Schmerz durchfuhr ihre Schultern.
Man hatte ihr einen Lappen um Augen und Mund gebunden. Ihre Arme und Beine waren über ihr an eine Stange gefesselt, die waagerecht über zwei Felsblöcken lag. Mit dem Bauch nach unten hing sie da. Ihr Körpergewicht streckte ihre Gliedmaßen so weit, dass sie fast aus den Gelenken gerissen wurden. Sie wollte schreien, doch der Knebel hinderte sie daran.
Am beunruhigendsten aber war, dass ihr Bauch entblößt war. Ihr Mantel, ihr Shirt und ihre engen Hosen waren gerade genug aufgerissen worden, um ihren Bauch vom Nabel bis zum Brustbein freizulegen. Sie spürte, wie ein eisiger Hauch über ihre nackte Haut strich.
Da ertönte über ihr eine Stimme, so unmöglich tief, dass sie fast künstlich klang.
»Eigentlich hatte ich vor, dich bei lebendigem Leib auszuweiden, so wie ich es auch mit einigen deiner Brüder getan habe«, sagte die Stimme wie beiläufig. »Doch ich glaube, ich habe es mir anders überlegt.«
Petrow spürte, wie die Stange hochgehoben wurde und man ihren Körper behutsam bäuchlings zu Boden sinken ließ. Sie war dankbar dafür, dass das Brennen in ihren Schultern zumindest ein wenig nachließ. Dann fühlte sie, wie die Stange an ihrem Rücken hinabglitt, als sie unter den Fesseln herausgezogen wurde.
»Ich nehme dir nicht übel, dass du die Meinen getötet hast«, erklärte die Stimme in ruhigem Ton; sie konnte ihr tiefes Vibrato bis in ihre Eingeweide spüren. »Schließlich sind meine Soldaten kaum mehr als fehlgeschlagene Experimente.«
Irgendetwas Massiges umspannte ihren Unterarm und dann spürte sie, wie ihre Handgelenkfesseln durchtrennt wurden. Der Schraubzwingengriff riss sie in eine sitzende Position, als wäre sie eine Lumpenpuppe. Dann wurden auch die Fesseln um ihre Fußknöchel durchgeschnitten.
Jetzt war die Stimme ganz nah an ihrem Ohr.
»Jeder Schnitter wird sterben – ausgeweidet«, sagte die Stimme. »Bis dahin – viel Spaß mit deiner Mahlzeit.«
Petrow lauschte, als sich langsame, schwere Schritte von ihr entfernten. Dann griff sie hektisch nach dem hinter ihrem Kopf verknoteten Stofffetzen. Als sie den Lappen endlich von ihren Augen riss, sah sie direkt über dem Schattental einen Halbmond am schiefergrauen Himmel stehen. Sie war stundenlang ohnmächtig gewesen.
Am anderen Ufer des Bachs glitt eine monströse Gestalt durch einen Hain dunkler Krüppelkiefern. Das Ding – was immer es war – schleuderte etwas mit demselben metallischen Zing! von sich, das sie schon zuvor gehört hatte. Dreißig Meter weiter oben schlug der Fels Funken.
Dann schwang sich der riesige, flatternde Schatten geradewegs die Schluchtwand hinauf und verschwand.
3
Darox berührte behutsam die Stelle, wo sie seinen Schädel aufgebohrt und das Implantat herausgerissen hatten.
Die grobe Inzision, die über Kreuz mit Metallnähten verschlossen worden war, fühlte sich über dem Hinterhauptbein noch immer taub an, und orangefarbenes Blut sickerte aus dem Einschnitt hervor. Er tupfte Hanföl auf die angeschwollene Stelle auf seiner Kopfhaut, wie man ihn angewiesen hatte. Während des Eingriffs war er bei vollem Bewusstsein gewesen.
Jetzt hockte er im Schneidersitz auf einer Flechtmatte in seiner Hütte und erkundete den neuralen Fluss freier Gedanken, die seinen präfrontalen Kortex durchströmten. Seit der Extraktion hatte er zwei Stunden lang meditiert. In Kürze würde der Festritus der Scharmützler beginnen.
Draußen rüttelte jemand an der Vorderklappe, die die Tür der Hütte bildete.
»Komm rein«, sagte Darox.
Die Klappe schwang nach innen und eine groß gewachsene, breitschultrige Gestalt in einem onyxschwarzen Körperpanzer trat geduckt in den Raum. »Bist du in Ordnung?«, fragte er.
Darox nickte. Sie sahen einander mit großen, silberfarbenen, pupillenlosen Augen an.
Der andere, der den Namen Mahnk trug, nickte flüchtig und fragte: »Fühlst du dich anders als vorher?«
»Ja«, entgegnete Darox. Er zögerte. »Na ja, ein bisschen.«
Sie hatten gesagt, dass der Eingriff ihn verändern würde, und tatsächlich fühlte er sich anders. Allerdings hatte er irgendwie mehr erwartet – eine Woge der Emotionen vielleicht, oder eine Offenbarung. Er ließ seinen Blick über die graue, metallene Brustplatte schweifen, die an einem Haken an der Wand hing. Etwas daran kam ihm verändert vor. Dabei war nichts wirklich anders als zuvor, nicht im physischen Sinne. Vielmehr war es so, als würde er sie mit anderen Augen sehen. Das war ein seltsames Gefühl. Er sah, wie Mahnk die Schlitze seiner abgeflachten, schlangenartigen Nase rümpfte.
»Kannst du das Festmahl riechen?«, fragte Mahnk.