Yallah Mord! - Bülent Ceylan - E-Book
NEUHEIT

Yallah Mord! E-Book

Bülent Ceylan

5,0

  • Herausgeber: edition a
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2024
Beschreibung

Seit Jahren begeistert Bülent Ceylan Tausende Menschen mit seinen Shows. In seinem ersten Kriminalroman bietet er noch mehr echtes Bülent- Feeling und kombiniert sein Pointen-Feuerwerk mit jeder Menge Spannung und überraschenden Wendungen. Er selbst wird darin zum Ermittler. Wer hat den Kühlhausbesitzer Lasse Hoppsen umgebracht? Und wer schickt Bülent mysteriöse Botschaften nach Hause? Um den Fall zu lösen, schlüpft Bülent in seine bisher aufregendste Rolle: die des Detektivs. Schon bald wird ihm klar, dass sie mordsgefährlich ist. Rasant, absurd und liebenswürdig: Bülent Ceylan löst seinen ersten Fall!

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Seitenzahl: 263

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Beliebtheit




YALLAH MORD

Eine Krimikomödie

Bülent Ceylan:

Yallah Mord!

Alle Rechte vorbehalten

© 2024 edition a, Wien

www.edition-a.at

Cover: Bastian Welzer

Coverillustration: Bernd Ertl

Satz: Bastian Welzer

Gesetzt in der Bene

Gedruckt in Deutschland

1 2 3 4 5 – 27 26 25 24

ISBN: 978-3-99001-753-1 eISBN 978-3-99001-754-8

Inhalt

SONNTAG

20.30 Uhr, Capitol, Mannheim

21 Uhr, Kühlhalle Der frische Finne, Industriegebiet Rheinau, Mannheim

21.30 Uhr, Capitol, Mannheim

22 Uhr, Wohnung von Hasan, Waldhof, Mannheim

MONTAG

8 Uhr, Haus der Familie Ceylan, Nähe Mannheim

9.30 Uhr, Polizeirevier Mannheim-Innenstadt, Quadrat H4

12 Uhr, Café Florian, Weinheim

19 Uhr, Kühlhalle Der frische Finne, Industriegebiet Rheinau, Mannheim

19.30 Uhr, Kühlhalle Der frische Finne, Industriegebiet Rheinau, Mannheim

DIENSTAG

9 Uhr, Oststadt, Mannheim

9 Uhr, Wohnung von Hasan, Waldheim

9.20 Uhr, Pelz-Palast, Oststadt, Mannheim

12 Uhr, Ludwig-Frank-Gymnasium, Neckarstadt-Ost, Mannheim

15 Uhr, Friseur Hakans Haarem, Klein-Istanbul, Mannheim

21 Uhr, Bloomaul, Nähe Flugplatz Mannheim City, Mannheim

21.30 Uhr, Bloomaul, Nähe Flugplatz Mannheim City, Mannheim

21.40 Uhr, Bloomaul, Nähe Flugplatz Mannheim City, Mannheim

22 Uhr, Parkplatz vor dem Bloomaul, nahe Flugplatz Mannheim City, Mannheim

MITTWOCH

9 Uhr, Kühlhalle Der frische Finne, Industriegebiet Rheinau, Mannheim

11 Uhr, Haus der Familie Ceylan, Nähe Mannheim

12.30 Uhr, Fleischerei Roh, Oststadt, Mannheim

13 Uhr, Fleischerei Roh, Oststadt, Mannheim

15 Uhr, Polizeirevier Mannheim-Innenstadt, Quadrat H4

19 Uhr, Café Florian, Weinheim

DONNERSTAG

9 Uhr, Lindenhof, Mannheim

11.30 Uhr, Kühlhalle Der frische Finne, Industriegebiet Rheinau, Mannheim

12 Uhr, Aslans Falafelstand, Jungbusch, Mannheim

13.30 Uhr, Wohnung von Mompfred, Ludwigshafen

18 Uhr, Alte Feuerwache, Mannheim

FREITAG

9 Uhr, Interreligiöser Raum, Mannheim

10 Uhr, Kühlhalle Der frische Finne, Industriegebiet Rheinau, Mannheim

20 Uhr, Bloomaul, Flugplatz Mannheim City, Mannheim

21.30 Uhr, Bloomaul, Flugplatz Mannheim City, Mannheim

SAMSTAG

8 Uhr, Haus von Familie Ceylan, Nähe Mannheim

9 Uhr, Bloomaul, Flugplatz Mannheim City, Mannheim

10 Uhr, Kühlhalle Der frische Finne, Industriegebiet Rheinau, Mannheim

10 Uhr, Wohnung von Hilde, Lindenhof, Mannheim

10 Uhr, Fleischerei Roh, Oststadt, Mannheim

10.30 Uhr, Kühlhalle Der frische Finne, Industriegebiet Rheinau, Mannheim

10.35 Uhr, Kühlhalle Der frische Finne, Industriegebiet Rheinau, Mannheim

10.30 Uhr, Lindenhof, Mannheim

10.45 Uhr, Kühlhalle Der frische Finne, Industriegebiet Rheinau, Mannheim

11.05 Uhr, Kühlhalle Der frische Finne, Industriegebiet Rheinau, Mannheim

11.07 Uhr, Kühlhalle Der frische Finne, Industriegebiet Rheinau, Mannheim

11.25 Uhr, Kühlhalle Der frische Finne, Industriegebiet Rheinau, Mannheim

SONNTAG

8 Uhr, Wohnung von Hilde, Lindenhof, Mannheim

10 Uhr, Wohnung von Mompfred, Ludwigshafen

EPILOG MONTAG

20 Uhr, SAP-Arena, Mannheim

UFFBASSE!

20.30 Uhr, Capitol, Mannheim

Und plötzlich war die Luft weg. Meine Lunge schrie um Hilfe, mein Herz schlug wie ein Presslufthammer, doch das alles half nichts. Kein einziges Sauerstoffmolekül verirrte sich in meine Luftröhre. So musste sich ein Fisch an Land fühlen. Mit dem Unterschied, dass ein Fisch zurück ins Wasser geworfen werden konnte. Mich ins Wasser zu werfen, würde kaum helfen.

Die Musik dröhnte aus den Boxen, ließ den Boden vibrieren. Mein Name schallte durch den Saal, getragen von den Hunderten Menschen im Publikum.

Der Moment kam. Ich wusste nie, wann es so weit sein würde. Etwas in mir sagte: Jetzt oder nie. Und dann sprang ich auf die Bühne, in das Licht der Scheinwerfer.

Als hätte ich mit dem Sprung eine unsichtbare Wand zum Einsturz gebracht, die all den Sauerstoff von mir ferngehalten hatte, füllten sich endlich meine Lungen. Das Adrenalin brachte meinen Körper zum Beben, fuhr in Wellen durch mich hindurch, füllte mich aus, bis ich kurz davor war, zu platzen. Um das zu vermeiden, half es, wie ein Verrückter den Kopf hin- und herzuschleudern. Headbangen, wie es in der Fachsprache heißt. Zumindest mir half das immer.

Damit fiel die ganze Angst von mir ab, die ich selbst nach mehr als fünfundzwanzig Jahren Bühnenerfahrung noch immer verspürte. Die hässlichen Fragen, die in meinem Hirn auftauchten: Kannst du es noch? Hast du es überhaupt jemals gekonnt? Als Antwort möchte ich am liebsten laut schreien. Was ich dann auch tue. Deswegen starten alle meine Shows auf diese Art. Ich will damit nicht bloß dem Publikum beweisen, dass ich nach wie vor die Kraft habe, es mitzureißen. Ich will es mir selbst beweisen.

Übertreiben durfte ich es aber nicht. Bei einem meiner Auftritte hatte ich einmal meinen Hals so wild in alle Richtungen geworfen, dass ein heftiges Knacken in meiner rechten Schulter zu hören war. Geräuscheffekt war das keiner, zumindest nicht vom Tontechniker. Danach fühlte sich meine rechte Körperhälfte an wie paralysiert. Zum Glück konnte ich Kiefer und Zunge noch bewegen, die beiden wichtigsten Instrumente des Comedians.

Während mich das Mannheimer Publikum mit Applaus, Zurufen und Pfiffen willkommen hieß, strich ich mir die Haare aus dem Gesicht und band sie mit einem Haargummi zusammen.

»Moooooonnem!«, schrie ich. Die Halle tobte. Bevor ich auf Tour ging, spielte ich immer eine Probevorstellung im Capitol. Es war früher ein Kino gewesen, ehe es in eine Veranstaltungshalle verwandelt worden war. Mit der Backsteinfassade und dem Neon-Schriftzug über dem Eingang verbreitete es bei den Besuchern ein Gefühl von Ehrfurcht. Vor vielen Jahren, als ich mir nie hatte vorstellen können, einmal im Capitol zu spielen, überkam mich jedes Mal ein wohliges Schaudern, wenn ich daran vorbeiging. Mittlerweile war es zu meinem Wohnzimmer geworden, wo ich neue Programme ausprobieren und testen konnte. Das Publikum hier kannte mich, die Besucher waren fast so etwas wie gute Freunde. Und wie gute Freunde ließen sie sich keinen Blödsinn erzählen. Wenn meine Witze hier funktionierten, dann funktionierten sie auch im Rest von Deutschland.

Mit einem Lächeln trat ich an den Rand der Bühne und breitete meine Arme aus. Ich atmete die Atmosphäre ein, badete in der Mischung aus Vorfreude und Erwartung, die mir entgegenschlug. Hier zu stehen, war das verrückteste, beängstigendste und großartigste Gefühl, das es gab.

»Dann fangen wir mal an«, sagte ich, »der Türk ist schließlich zum Arbeiten da.« Der erste Lacher war stets eine Einladung. Das Publikum erlaubte mir damit, es zu überraschen, mit ihm zu flirten, es aufzuziehen, solange es einen guten Abend haben würde. Damit konnte es losgehen. Nun war das Feuer in mir entfacht.

Es trieb mich von einer meiner Bühnenfiguren zur nächsten. Zuerst war ich Anneliese, die selbst ernannte Pelzmantel-Aristokratin, die sich um eine gebildete Aussprache bemühte, die ihr aber nie so recht gelingen wollte. Ständig hatte sie Stress mit ihrem Mann, der vom Bauchnabel abwärts weniger in ihr zum Zucken brachte als ihr 85-jähriger Gynäkologe.

»Etiketti!«, schrie sie, um sich Aufmerksamkeit zu verschaffen. Das Publikum hielt gespannt inne. »Was haben mein Mann und der Buchstabe Q gemeinsam? Eine große Null mit einem kleinen Schwänzchen dran!« So unverfroren würde Bülent nie sprechen, das konnte nur Anneliese. Das Publikum liebte sie dafür.

Als Nächstes kam Mompfred Bockenauer zum Vorschein. Dafür zog ich einen grauen Hausmeisterkittel an und setzte mir eine ausgeleierte Schiebermütze auf den Kopf. Zum Schluss nahm ich eine rote Wasserpumpenzange, oder, wie Mompfred sagte, eine Bummbääääwassssazong, in die Hand. In seinem Kurpfälzischen Dialekt sprach er nicht, er spuckte. Die erste Reihe hätte vor der Show eigentlich Regenmäntel bekommen müssen. Mompfred war ein stets schlecht gelaunter Hausmeister, der mit seiner Ehefrau Waltraud in einem ewigen Rosenkrieg steckte. Eine Hassliebe, wobei selbst ich nicht wusste, wo genau der Hass endete und die Liebe begann. Wie Waltrauds Geburtstagsgeschenk an ihren werten Gatten bewies: ein Gutschein für eine Stunde Anti-Aggressions-Training.

»Hat der Psychiater gesagt zu mir«, begann Mompfred, und sein Mund verwandelte sich in einen Springbrunnen, »›Herr Bockenauer, ich werde Sie jetzt pro-ho-vozieren und Sie dürfen ned re-ha-gieren.‹ Hab ich genickt. Hat er gesagt: ›Prolet, alter Sack, Erbsenzähler, du Elender, deine Pumpwasserzange funktioniert ned!‹ Hab mir aber nichts anmerken lassen. Bisschen gespuckt hab ich, aber sonst nix. Dann sagt er am Schluss: ›Sehr gut gemacht, Herr Bockenauer, wir sind jetzt fertig, Sie haben den Test bestanden.‹« Mompfred lächelte, während vor ihm sein Speichel durch die Luft flog wie feiner Sprühregen. »Hab ich gesagt: ›Primaaa!‹ Und dann hab ich ihm erst mal die Fresse poliert.«

Kaum war die erste Reihe wieder trocken, kam auch schon die nächste Figur an die Reihe. Dafür zog ich mir einen roten Umhang über, setzte mir eine blonde Langhaarperücke auf und nahm einen riesigen Hammer in die Hand, wie ihn der nordische Gott Thor in der Marvel-Filmreihe schwingt. So hieß auch meine Figur: Thor, eine Abkürzung von Fikthor. Aber weil das seinem Vater zu lange gewesen war, hatte sich die Mama aussuchen dürfen: entweder Fik oder Thor. Keine schwere Entscheidung.

Thor war innerlich ein Kind geblieben, lachte viel und kannte zahlreiche Wortspiele, die mit seinem Namen zu tun hatten: »Wie nennt man meinen Babysitter? Thorhüter. Die anderen Kinder ließen mich beim Fußballspielen nie mitmachen, also endete die Partie thorlos.« Thor war so unschuldig, dass ihn die meisten Menschen süß fanden und Sympathien für ihn entwickelten. Sie seufzten mitfühlend, wenn er davon erzählte, wie er wegen seines großen Hammers oft gehänselt wurde. Ein Problem, das ich persönlich zum Glück nicht kannte.

Ich warf die Perücke und den Umhang ab, schlüpfte in einen Trainingsanzug und setzte eine Baseballkappe auf. Die Schultern zog ich hoch, der Blick wanderte zu meinen Schuhspitzen, und schon war ich der schüchterne Harald. Harald war der ungeschickte Typ von nebenan, der immer Pech bei den Frauen hatte. Manchen meiner Fans ging Haralds Liebesleben so zu Herzen, dass sie ihm Blumen schickten. Dabei war ich nicht sicher, ob Harald nicht doch selbstbewusster war, als er immer tat. Vielleicht verkaufte er sich aus taktischen Gründen absichtlich unter Wert. Aber was wusste ich schon? Ich kontrollierte diese Figuren nicht mehr, als sie mich kontrollierten.

»Ich hab immer so Probleme mit den Frauen«, begann Harald. »Also hab ich mir einen Ratgeber besorgt. Darin stand ein komisches Wort, das ich noch gar nicht kannte: Körperpflege … nein, falsch, das war’s nicht. Es war metrosexuell. Was soll das sein? Sex im Supermarkt?« Harald nahm die Mütze ab und kratzte sich ratlos an der Stirn. »Stand dort, ich muss die Frau in mir entdecken. Die Frau in mir? So rum kenn ich das gar net. Wo soll ich die suchen? Normalerweise liegt einem die Frau auf dem Magen oder auf die Tasch’. Aber hab ich es eben probiert und bin zum Douglas, dort, wo es immer so gut riecht. Seh ich dort eine schöne Flasch’, riecht auch gut, frag ich die Verkäuferin: ›Was ist in der Flasche?‹ Sagt die: ›Das ist keine Flasche, das ist ein Flakon.‹ ›Aha‹, sag ich, ›also eine vornehme Flasche. Wie der Olaf Scholz?‹«

Mittlerweile rann mir der Schweiß wie ein Wasserfall den Rücken hinab. Meine Arschritze war zu einem weiteren Niagarafall geworden. Was die Zuseher nicht mitbekamen, war die körperliche Anstrengung, die mir die Stunden auf der Bühne abverlangten. Danach tat mir oft jeder einzelne Knochen weh. Alle Energie, die ich hatte, gab ich meinen Figuren. Ich ließ sie völlig von mir Besitz ergreifen, lieh ihnen meine Gliedmaßen und meine Stimme. Oft musste ich mich konzentrieren, dass sie nicht während meiner eigenen Showeinlagen, also während ich ich war, Bülent, aus mir herausbrachen. Das konnte passieren, ich nannte das Comedy-Tourette. Ich begann einen Satz als Bülent und beendete ihn als Mompfred oder Anneliese.

Meine bekannteste Figur hatte ich mir an diesem Abend für den Schluss aufgehoben. Als die Zuschauer den rosa Kamm bemerkten, den ich mir in die Hosentasche steckte, schrien sie begeistert auf. »Hasan!«, hörte ich bereits die Ersten rufen. Der Kamm gehörte unverkennbar zu Hasan, dem Macho, der andauernd Sprüche klopfte und nichts so gern küsste wie seinen eigenen Bizeps. Für ihn hatte ich mir etwas ganz Besonderes ausgedacht. Er sollte der Höhepunkt meines neuen Programms werden.

Wie bei Tausenden Vorstellungen zuvor nahm ich den Kamm aus meiner Hose, um ihn mir selbstgefällig durch die Haare zu ziehen. Doch kaum hielt ich ihn in der Hand, begann ich zu zittern. Ich konnte ihn nicht nach oben heben. Er fühlte sich schwer an wie ein Block Granit.

Der Schweiß auf meiner Stirn wurde eiskalt. Was war los? Schnell steckte ich den Kamm weg und versuchte es mit einer anderen Bewegung. Hasan posierte gern für sein Publikum, hob die Arme und spannte die Muskeln an. Doch auch das gelang nicht. Meine Arme fühlten sich schwach und schlaff an. Ich konnte sie kaum heben, geschweige denn anspannen. Was war bloß los mit mir? Bemerkte das Publikum meine Schwierigkeiten? So schnell wie möglich musste ich die Kurve kriegen. Vergiss den Kamm und die Muskeln, sagte ich mir. Dann eben gleich zum Sketch. Mein Gehirn arbeitete auf Hochtouren, doch keines der Worte, die es ausspuckte, ergab Sinn für mich. Dabei hatte ich die Hasan-Nummer gestern noch zu Hause geprobt! Ich kannte jeden Beistrich und jede Pause auswendig. In diesem Moment jedoch war mein Hirn völlig leer.

Stille auf der Bühne ist für einen Comedian ungefähr so angenehm wie im Bett. Ich will nicht, dass die Menschen schreien, weder vor der Bühne noch im Bett, aber keine Reaktion zu bekommen, war das Schlimmste, was passieren konnte. Dann waren sie für mich verloren, überließen sich ihren eigenen Gedanken und Überlegungen. Jede Ablenkung, etwa ein klingelndes Handy oder ein zu langes Husten, konnte eine Vorstellung zerstören. Und nun stand ich hier auf der Bühne und mir wollte kein Wort einfallen, während Hunderte Augenpaare zu mir hochblickten. Was war bloß los?

21 Uhr, Kühlhalle Der frische Finne, Industriegebiet Rheinau, Mannheim

René Weck kam sich vor, als wäre er in einem großen Gefrierfach gelandet. Tiefkühlpizza, Eiscreme, Gemüse. Er wandte den Blick von dem Fenster, durch das er auf die gefrorenen Kisten in dem Kühlcontainer sehen konnte. Minus zwanzig Grad. Bevor er hierher versetzt worden war, hatte er sich Mannheim unwirtlich vorgestellt, aber so schlimm nun auch wieder nicht.

Die Halle erinnerte René an einen Flugzeughangar, nur standen statt Flugzeugen Kühlcontainer darin und erfüllten die Luft mit einem feinen Summen, als wären in allen Ecken Bienenwaben verborgen.

Dabei kam das Geräusch von den Generatoren, die für die notwendigen Temperaturen in den Containern sorgten. In der Mitte der Halle ragte wie ein einsamer Monolith ein einzelner Kühlschrank zwischen den Containern auf. Wegen dieses Kühlschranks waren sie hier.

Vor etwas mehr als zehn Minuten war auf der Wache ein Notruf eingegangen. Ein gewisser Tobe Ohrn, Mitarbeiter der Kühlhalle Der frische Finne, gab an, zur Arbeit gekommen zu sein, um einige Lieferungen vorzubereiten, die Montagfrüh abgeholt werden sollten. Als er die Halle betreten hatte, hatte er gesehen, was auch René nun sah. Er hatte diesen Kühlschrank vorgefunden, der offenbar nicht hierhergehörte. Was er darin entdeckt hatte, ließ ihn die Polizei rufen.

Tobe Ohrn hatte sie vor der Kühlhalle empfangen und ihnen zuerst das verwüstete Büro gezeigt. Doch in die Halle wollte er nicht mitkommen. Ein Beamter musste im Vorraum mit ihm warten, wo Tobe endgültig die Nerven verlor, zusammensackte und sich in eine Ecke kauerte.

»Stehen Sie nicht im Weg, Weck«, schnauzte Inspektor Grieß René an. Der groß gewachsene Inspektor mit dem dünnen Schnauzbärtchen hatte nie ein gutes Wort für seine Untergebenen übrig, doch für René hatte sich der Inspektor sogar besonders schlechte Worte aufgehoben: Er habe ihn überhaupt nur mitgenommen, damit er, der sich erst vor Kurzem aus Schwaben nach Mannheim hatte versetzen lassen, mal »richtige Polizeiarbeit« erleben könne. Gemeinsam mit seinem Kollegen Mark Ohnesorg beobachtete René jetzt, wie der Inspektor vor den Kühlschrank trat und ihn mit finsterer Miene musterte.

Mark war ein gutmütiger Kerl, der seinen Nachnamen zum Lebensmotto erhoben hatte. Niemand hatte sich über die Legalisierung von Cannabis so sehr gefreut wie der breitschultrige, friedsame Polizeibeamte. Bei Razzien war er unersetzlich, wie René gehört hatte, weil er präziser als jeder Spürhund Drogen unterschiedlichster Zusammensetzung sicherstellen konnte. »Hunde haben einen verdammt guten Riecher«, pflegte Mark zu sagen, »aber sie können sich nicht in die Kiffer hineinversetzen.« Nach der Legalisierung musste Mark seine Fähigkeiten anderweitig einsetzen. Vielleicht ja bei Mordermittlungen.

»Sieh sich das mal einer an«, sagte Grieß, als er die Tür des Kühlschranks öffnete. René bemerkte erst jetzt, wie groß das Ding war. Ungefähr zwei Meter. Es war aus Edelstahl gefertigt, seine Oberfläche schimmerte kühl. René, der bisher nur die Rückseite des Kühlschranks gesehen hatte, ging um ihn herum und stellte sich hinter Grieß. Was war es, das der Inspektor so angestrengt anblickte? Kurz danach kam auch Mark neben ihnen zu stehen. »Heilige Scheiße«, entfuhr es seinem Kollegen.

Das Innere des Kühlschranks besaß keine Fächer oder Ablageflächen, stattdessen war an der Oberseite eine Eisenstange angebracht, an der ein Karabiner befestigt war. An diesem Karabiner hing das Ende eines Gürtels. An dessen anderem Ende hing ein Kopf. Der dazugehörige Körper schwebte reglos ein paar Zentimeter über dem Boden.

»Das muss Lasse Hoppsen sein«, sagte Grieß. Die Leiche war von Tobe Ohrn sofort als die seines Chefs identifiziert worden. Hoppsen hatte kurze blonde Haare, einen kaum sichtbaren Flaum über der Oberlippe, milchweiße Haut und eine schmächtige Statur.

»Das ist ein Wildtierkühlschrank«, unterbrach Mark das angestrengte Starren der drei Beamten.

»Ein was?«, fragte Grieß, der es nicht leiden konnte, wenn jemand etwas wusste, das er nicht wusste, was öfter vorkam, als es sein Ego verkraften konnte.

»Darin werden erlegte Wildtiere gekühlt«, erklärte Mark. »Die armen Tiere werden kopfüber an einem Haken aufgehängt, der an diesem Karabiner angebracht wird.« Mark war wohl der einzige vegane Polizist in Mannheim. Die Vorstellung, dass ein Tier statt einem Menschen in diesem Ding hängen könnte, verstörte ihn sichtlich mehr als das Bild, das sich ihnen jetzt bot.

René holte Plastikhandschuhe aus der Innentasche seiner Jacke und streifte sie sich über. Dann trat er vorsichtig näher. Er ging noch einmal um den Kühlschrank herum. »An der Rückseite sind ein paar Knöpfe angebracht«, erklärte er Grieß. »Vermutlich kann man damit den Karabiner hinauf- und hinunterfahren. Das Opfer wird sich kaum selbst erhängt haben.«

»Wie kommen Sie darauf?«, fragte Grieß.

René deutete um sich. »Es gibt keinen Stuhl oder ähnliches in der Nähe. Hoppsen hätte ja irgendwie hochsteigen und sich dann fallen lassen müssen. So sieht es aus, als hätte jemand das Opfer an den Karabiner gehängt und die ganze Vorrichtung dann in die Höhe gezogen.«

»Und von selbst kommt er nicht an die Knöpfe auf der Rückseite«, ergänzte Mark, der verstanden hatte.

»Also war es Mord!«, rief Grieß aus. »Habe ich mir gleich gedacht.«

Auf der hellbraunen Wildlederjacke des Opfers entdeckte René einige schwarze Haare, die unmöglich von Lasse Hoppsen stammen konnten. Gehörten sie dem Täter?

Er bemerkte die silberne Uhr am Handgelenk des Toten. Als er sie berührte, fühlte er, dass sie kälter war als die Haut des Opfers. Hatte das etwas zu bedeuten? Und wenn ja, was?

René ging in die Knie. Am Boden des Kühlschranks konnte er keine Spuren eines Kampfes ausmachen, keine Kratzer im Aluminium. Allerdings entdeckte er etwas anderes: einen rosa Kamm. Vorsichtig nahm er ihn in die Hand und richtete sich wieder auf.

»Was haben Sie da, Weck?«, bellte der Kommissar.

René zeigte ihm den rosa Kamm.

»Wollen Sie sich die Haare machen oder was?«

»Ich kenne den Kamm!« Eine Stimme ließ die drei Beamten herumfahren. Tobe Ohrn war ihnen offenbar nachgekommen. Nun blickte er entsetzt auf den Kamm in Renés Hand.

»Tatsächlich?«, fragte Inspektor Grieß misstrauisch. »Und wem gehört er?«

»Der gehört meinem Kollegen«, sagte Tobe und war jetzt genauso bleich wie sein kürzlich verblichener Arbeitgeber. »Der gehört dem Hasan!«

21.30 Uhr, Capitol, Mannheim

Hunderte Augenpaare bohrten sich in mich wie Nadelstiche. Meine Lederjacke musste mittlerweile fünf Kilogramm schwerer geworden sein, so viel Schweiß hatte sie aufgesogen. Mit aller Kraft versuchte ich, Hasan in mir wachzurufen, doch er blieb verschwunden, so unsichtbar wie ein Veganer am Oktoberfest.

»Das ist mal wieder typisch«, improvisierte ich, »die Deutschen zahlen und der Türke verdient, ohne zu arbeiten.« Ein Ruck ging durch das Publikum. Dann ertönte der erste Lacher. Die Spannung löste sich auf. Ich atmete erleichtert durch.

Die Hasan-Nummer ersetzte ich mit anderen Pointen und brachte das Programm routiniert zu Ende. Doch den restlichen Abend wollte mir das, was ich soeben erlebt hatte, nicht mehr aus dem Kopf gehen. Zum Abschluss sang ich einen meiner Songs und war froh, dass ich im letzten Moment die Nummer »Yallah Hopp«, die viel von Hasan enthielt, gegen »Wenn Metaller traurig sind« getauscht hatte. Wenn mir bei einer meiner Nummern eine Pointe nicht einfiel, konnte ich improvisieren. Aber einen ganzen Song zu vergessen, das wäre etwas anderes.

Das Publikum schien zum Glück nichts von meinem Ausfall bemerkt zu haben. Die Mannheimer bedachten mein neues Programm mit viel Applaus. Normalerweise war ich in einem solchen Moment erleichtert und gelöst, wusste ich doch, dass meine Tour nun unter einem guten Stern stand. Diesmal jedoch waren meine Gedanken bei Hasan. Wohin war er heute Abend bloß verschwunden?

»Großartige Idee, Bülent«, sagte Dirk, mein Manager, nachdem ich von der Bühne gegangen war. Dirk und ich arbeiteten nun schon seit so vielen Jahren zusammen, er kannte mich bereits, als ich noch halb so lustig war. »Meister der Zahlen« wurde er innerhalb des Teams genannt, denn niemand fand so viel Freude am Zählen und Rechnen wie er. »Dass du die Hasan-Nummer einfach auslässt, damit hat niemand gerechnet.«

»Ich auch nicht«, sagte ich, aber so leise, dass Dirk es nicht hörte.

»Oh Gott, Bülent!« Caroline schmiss sich mir um den Hals. Sie war meine zweite Managerin und im Gegensatz zu Dirk zeigte sie ihre Emotionen stets offen. »Du hast mir einen ganz schönen Schrecken eingejagt!« Theatralisch griff sie sich ans Herz und lachte. »Bei der Tour machst du das bitte nicht.«

»Keine Sorge«, sagte ich. Die Vorpremiere war für das ganze Team, das mittlerweile zu meiner zweiten Familie geworden war, ein sehr wichtiger Abend. Monate des Planens und Organisierens gipfelten in diesen zwei Stunden. Alle konnten zum ersten Mal die Früchte ihrer Arbeit sehen. Ich wünschte, ich hätte mich ihrer Erleichterung anschließen können.

»Ich muss zur Physio«, sagte ich und lächelte entschuldigend. Comedy ging nicht nur auf die Lachmuskeln, sondern in meinem Fall auch ganz schön auf den Rücken. Ohne regelmäßige Physiotherapie könnte ich vermutlich schon lange nicht mehr so wild auf der Bühne herumspringen. Vielleicht war an der Sache mit Hasan bloß eine böse Verspannung der Lendenwirbel schuld?

Auf dem Weg in meine Garderobe fing mich Didi ab. Didi war der Tourmanager, auch »Captain« genannt. Mit seinem Ziegenbart und der Lederjacke hätte er auch als Manager von Guns N’ Roses durchgehen können. Seit seinem siebzehnten Lebensjahr organisierte er Touren und hatte ein paar wilde Geschichten auf Lager.

»Hast du eine Minute?«, fragte er mich.

Ich folgte ihm ins »Kontrollzentrum«, wie wir sein Büro nannten, das er immer dort aufschlug, wo wir gerade eine Show spielten. Die Stifte und Zettel lagen alle in aufeinander abgestimmten Winkeln auf der Arbeitsplatte. Selbst die Kabel der Computer waren mit Klebeband so fixiert, dass sie ein geordnetes, aber undurchschaubares Labyrinth ergaben. Undurchschaubar für alle, außer für Didi.

»Auf dem Weg zur Physio?«, fragte er mich mit seiner brummigen Stimme.

»Ja«, sagte ich. »Bin ganz schön verspannt.«

Er setzte sich auf seinen Stuhl und rückte einen der Bleistifte einen Millimeter nach links. Das tiefe Glück, das er dabei empfand, leuchtete kurz in seinen Augen auf. »Das mit Hasan«, sagte er dann leise, ohne mich anzusehen, »das war nicht geplant, oder?«

»Wie meinst du das?« Ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen.

»Wenn du mit dem Publikum spielst, dauern deine Pausen für gewöhnlich zwischen fünf und zwölf Sekunden«, sagte Didi. »Diesmal waren es über fünfzehn. Das war nicht geplant, oder?«

»Kurzschluss«, sagte ich und zuckte mit den Schultern.

»Ist alles in Ordnung?« Er blickte mich besorgt an.

»Ja, klar«, beteuerte ich. Mit einem Lächeln verabschiedete ich mich aus dem Büro und verschwand in meiner Garderobe.

Im Raum herrschte gedämpftes, oranges Licht. Ein paar Pflanzen standen in den Ecken. Erst nach einigen Jahren auf Tour war mir aufgefallen, dass ich in meiner Garderobe nie niesen musste, obwohl ich ziemlich leicht allergisch reagierte. Bei genauerer Untersuchung hatte ich entdeckt, dass die Pflanzen aus Plastik waren. Es rührte mich, wie sehr mein Team an mich dachte.

Der Physiotherapeut war noch nicht da. Das gab mir Zeit, meine stinkende, verschwitzte Lederjacke auszuziehen und erst einmal eine halbe Wasserflasche auszutrinken. Dann setzte ich mich an den Tisch mit dem großen Spiegel, vor dem ich mich vorbereitete. Neben Schminksachen und Haarpflegemitteln stand dort ein kleines Pferd, das ich von meinen Kindern geschenkt bekommen hatte. Ein Glücksbringer, der mich überallhin begleitete. Somit waren sie immer an meiner Seite. Ich nahm das kleine Holzpferd in die Hand und musterte es. Auch wenn ich vorhin versucht hatte, es nicht zu zeigen, ließ mich die Frage nicht los: Wo war Hasan nur abgeblieben?

22 Uhr, Wohnung von Hasan, Waldhof, Mannheim

Der blonde Zopf hüpfte vor René hin und her. Wenn ihm eines der Haare in die Nase geriete, müsste er niesen und würde somit die gesamte Operation gefährden. Dabei konnte er sich kaum etwas Schöneres vorstellen, als sein Gesicht in den nach Rosen duftenden, langen Haaren von Lisa Meistersinger zu versenken.

Die Beamten vor ihm blieben stehen und bezogen Stellung. Sie waren umgehend vom Tatort zur Wohnung des Verdächtigen gefahren und standen nun im langen Flur eines Wohnhauses vor der Tür von Hasan. Für Inspektor Grieß war die Sache klar: Nach einem kurzen Telefonat mit der Zentrale hatte er herausgefunden, dass Hasan bereits einige Vorstrafen wegen diverser kleiner Vergehen gesammelt hatte. Er arbeitete erst seit wenigen Monaten im Kühlhaus. Nun war sein Chef tot, mit schwarzen Haaren, wie Hasan sie hatte, auf der Kleidung und einem Kamm, wie Hasan ihn für ebendiese schwarzen Haare benutzte, unter der Leiche. Und das Büro war verwüstet worden. »Es braucht kein Genie, um eins und eins zusammenzuzählen«, hatte Grieß gesagt, als er Verstärkung angefordert und zu Hasans Wohnung beordert hatte. »Wir haben es mit einem klaren Fall von Raubmord zu tun.«

Gut, hatte René gedacht, Genie sind Sie nämlich keins. Ein paar Details ließen ihm keine Ruhe. Aber jetzt war nicht die Zeit, mit seinem Vorgesetzten darüber zu diskutieren, der ohnehin nicht das vertrauensvollste Verhältnis zu dem frisch versetzten Polizisten hatte.

Grieß klopfte fest gegen die Tür. »Aufmachen!«, schrie er.

Keine Reaktion.

»Wir sollten vielleicht sagen, dass wir von der Polizei sind«, flüsterte Mark.

»Damit er sich vorbereiten und womöglich eine Waffe ziehen kann?«, zischte Grieß zurück.

»Wird er nicht ohnehin eine Waffe ziehen, wenn wildfremde Menschen spätabends gegen seine Tür schlagen?«, fragte Lisa in ihrem bezaubernden Mannheimer Dialekt, von dem René anfangs nur jedes zweite Wort verstanden hatte. Zumindest hatte es ihm einen Grund gegeben, ihre Lippen im Auge zu behalten.

»Polizei!«, schrie Grieß und machte sicherheitshalber einen Schritt zurück. Er wollte als Erster die Verhaftung durchführen, nicht eine Kugel in den Bauch.

Langsam öffnete sich die Tür einen Spaltbreit und der Kopf einer Frau tauchte auf. René hatte Mühe, unter der ganzen Schminke ein Gesicht auszumachen. Die Wimpern waren so lang, dass René das Gefühl hatte, eine Sonnenuhr um zwölf Uhr mittags zu betrachten. Die Finger, die sich um die Kante der Tür legten, hatten so lange, spitze Nägel, dass die Frau vermutlich keine Gabeln benötigte. Die Lippen waren aufgepumpt wie eine Luftmatratze.

»Wie kann ich Ihnen helfen?«, fragte die Frau schüchtern.

»Wir sind von der Polizei«, sagte Inspektor Grieß und zeigte seinen Dienstausweis. »Wir sind hier, um mit Ihrem Mann zu sprechen.«

»Hasan?«, fragte die Frau. »Der ist gerade nicht da.«

»Seltsam«, sagte Grieß beinahe freundlich. »Dabei steht sein Mercedes vor der Tür.« Dass es sich bei dem schwarzen SLG mit den Chromfelgen, der vor dem Wohnhaus parkte, um Hasans Wagen handelte, war klar geworden, nachdem die Beamten einen Blick auf das Nummernschild geworfen hatten: MA-KR 6969. »Macker 69«, hatte Lisa gesagt. »Geistreich.«

»Können Sie ein andermal wiederkommen?«, fragte die Frau. »Bitte?«

Als Antwort stieß Grieß mit einer heftigen Bewegung die Tür auf. Die Frau taumelte einige Schritte nach hinten. »Das ist kein Freundschaftsbesuch«, herrschte er sie an. »Das ist eine Mordermittlung. Wohnung durchsuchen!«

»Sie müssen meinen Vorgesetzten entschuldigen«, hörte René Lisa leise zu der eingeschüchterten Frau sagen. Am liebsten hätte er sie an Ort und Stelle nach einem Date gefragt, traute sich aber nicht. Wenn der vermeintliche Mörder von Lasse Hoppsen sich doch noch in der Wohnung befand und sich bei seinem Fluchtversuch auf René stürzen würde, dann wollte der Polizist nicht, dass seine letzte Abfuhr eine so endgültige war.

Hasans Wohnung war eine einzige große Geschmacksverirrung. An den Wänden hingen Fotos, die den Hausherren in unterschiedlichen Siegerposen zeigten. In der kleinen Küche standen ein massiver schwarzer Tisch und Stühle mit vergoldeten Armlehnen. Es knirschte, als René den Raum betrat. Er warf einen Blick auf den Boden und erkannte die dicken, braunen, etwas haarig aussehenden Schalen von Paranüssen. Im Bad fand René einen rosa Plüschteppich und eine Hello-Kitty-Zahnbürste. Über dem Ehebett hing ein Bild, das zwei Gazellen bei der Paarung zeigte. »Da kommt man ja richtig in Stimmung«, murmelte Lisa, die hinter René ins Zimmer getreten war. Keine Tierliebhaberin, speicherte René in Gedanken ab.

Grieß suchte jeden Zentimeter der Wohnung ab, sogar die Besteckschublade öffnete er, doch von Hasan keine Spur. René blieb im Schlafzimmer stehen und dachte nach. Etwas kam ihm seltsam vor. Die Küche hatte ein Fenster, das in einen Innenhof ging. Das Schlafzimmer, das zwei Räume weiter lag, ging auch auf die Hofseite, doch ein Fenster gab es nicht. Dort, wo eines hätte sein können, stand ein großer Schrank. Könnte es sein ...?

Langsam ging René auf den Schrank zu. Bereits der Gedanke raubte ihm den Atem. Sein Herzschlag wurde mit jedem Schritt schneller. Er hoffte, nie anzukommen, doch wie die meisten seiner Hoffnungen stellte sich auch diese als trügerisch heraus. Zitternd griff er nach dem Knauf. Er dachte an Lisa. Und wie sich seine Chancen bei ihr drastisch verringern würden, wenn er sich jetzt in die Hosen machen oder schreiend aus der Wohnung laufen würde. René hätte am liebsten die Augen geschlossen. Mit einem Ruck öffnete er die Schranktür.

Nichts. Dahinter waren bloß ein paar Hemden, Hosen und Jacken aufgehängt, die wild glitzerten. Kein Hasan. Eine Sekunde lang dachte René, die Welle der Erleichterung hätte seinen Magen erfasst und ihm die angestaute Luft entweichen lassen. Dann jedoch bemerkte er, dass nicht er den feuchten Luftzug verursacht hatte. Er steckte das Gesicht zwischen die Klamotten, die mit ihrem Geruch nachdrücklich eine Waschmaschine forderten. Er hatte sich nicht getäuscht: Von der Rückwand des Schranks drang ein Luftzug zu ihm.

René packte die Kleidung und warf sie aufs Bett.

»Suchst du was für dich?«, fragte Mark, der ins Schlafzimmer gekommen war und sich gelangweilt auf das Ehebett fallen ließ.

Ohne zu antworten, beugte sich René vor, bis sein Oberkörper im Schrank verschwand, und tastete die Rückwand ab. Da, eine kleine Rille! Er schob zwei Finger hinein und rüttelte daran. Langsam gab ein Teil der Rückwand nach und ließ sich zur Seite schieben. Mark war mit einem Schlag nicht mehr gelangweilt. Er sprang auf und bezog hinter René Stellung.

»Krass«, sagte er. »Ein versteckter Fluchtweg. Das ist ja wie in einem Krimi!«

»Natürlich ist das wie in einem Krimi«, presste René hervor, während er den Weg freilegte. »Du bist immerhin bei der Polizei!«

Sein Kollege hatte allerdings recht. Das war ein Fluchtweg! René steckte den Kopf durch die Öffnung und atmete die kühle Nachtluft ein. Hasan hatte die Rückwand des Schranks so präpariert, dass er von dort durch ein Fenster zu einer Regenrinne gelangen konnte, die an der Wand hing. An ihr musste er nach unten gerutscht und über den Innenhof entkommen sein.

»Grieß wird das gar nicht gefallen«, murmelte René, als er den Kopf wieder zurückzog und sich aufrichtete. Er seufzte. Die Hoffnung seines Vorgesetzten, den Fall mit einem Schlag zu lösen, war damit ebenso verschwunden wie der Hauptverdächtige. Wo konnte Hasan nur stecken?

8 Uhr, Haus der Familie Ceylan, Nähe Mannheim

»Verdammt!« Ein Auto fuhr mir über den linken großen Zeh, und ich schrie vor Schmerz auf. Ich hätte es besser wissen müssen. Jeder Schritt war gefährlich. Jede unbedachte Bewegung ein Gesundheitsrisiko.