Yiquan - Jumin Chen - E-Book

Yiquan E-Book

Jumin Chen

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Beschreibung

Yiquan ist eine bemerkenswerte chinesische Heil- und Kampfkunst, die Körper und Geist gleichermaßen schult. Mit ausgeklügelten Vorstellungsbildern und einfachen Bewegungen bis zum regungslosen Stehen erreichen Sie einen ursprünglichen Zustand der Ganzheit. Sie werden schnell Vitalität und Lebensfreude gewinnen, sich kraftvoll, beweglich und gesund fühlen. So können Sie den Herausforderungen des Alltags gelassen begegnen. Ein umfangreicher Theorieteil liefert profundes Hintergrundwissen über die geistigen Wurzeln chinesischer Heilkunst und die Zusammenhänge zwischen Bewegung und Gesundheit.

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Inhalt

Yiquan

TEIL I: yiquan - Theoretischer Hintergrund

Was ist Yiquan

Begründer des Yiquan: Der legendäre Wang Xiangzhai

Die geistigen Wurzeln des Yiquan

Bewegung einst und heute

Gesundheit durch Yiquan

Trainingsinhalt

Zhanzhuang – Stehen wie ein Baum

Shili – Die Kraft testen und beibehalten

Mocabu – Das Training der Schritte

Tuishou – Pushing Hands

Fali – Die Kraft explodieren lassen

Sanshou – Freikampf

Shisheng – Einsatz der Stimme

Die fünf Hauptkategorien von Yiquan: Shen und Yi, Qi, Li und Xing

Drei wichtige Prinzipien für die Praxis

Trainingserscheinungen

Yiquan im Sport

TEIL II: yiquan - Die Übungen

Grundstellung Pingbu – der Parallelstand

Grundregeln für die Haltung

Grundvorstellung – Stehen im Wasser

Trainingsplan

Zhanzhuang – Stehen wie ein Baum

1. Wuji Zhuang (Natürliche Position)

2. Fu’an Zhuang (Berühren – Drücken)

3. Tuobao Zhuang (Tragen – Umarmen)

4. Chengbao Zhuang (Dehnen – Umarmen)

5. Ticha Zhuang (Ziehen – Stechen)

Zhanzhuang im Liegen

Zhanzhuang im Sitzen – Yangsheng Zhuang

Übungen im Rollstuhl

Yiquan gegen Rückenbeschwerden

Shili – Die Kraft testen und beibehalten

1. Pingtui Shili (Schieben – Ziehen)

2. Poshui Shili (Heben – Senken)

3. Kaihe Shili (Öffnen – Schließen)

Mocabu – Reibende Schritte

Mocabu – Reibende Schritte im Sitzen

Stufe IV

Neue Grundstellung: Dingba Bu – T-Acht-Stellung

Zhanzhuang – Stehen wie ein Baum

1. Hunyuan Zhuang – die Übung der ausbalancierten Kraft

2. Gougua Zhuang (Haken - Hängen)

Shili – die Kraft testen und beibehalten

Übung 1: Gougua Shili

Übung 2: Piangua Shili – Seitlich haken

Übung 3: Yaofa Shili – Schaukeln

Übung 4: Shen Gui Chu Shui Shili – der Schildkröter steigt aus dem Wasser

Fali – Die Kraft explodieren lassen

Tuishou – die schiebenden Hände

Übung 1: Gleichgewichtstraining zu zweit

Übung 2: Tuishou mit einer Hand

Übung 3: Tuishou mit Doppelhänden

Duli Zhuang – Auf einem Bein stehen – Stufe V

Shili – Stufe V

Übung 1: Fu’an Shili mit Dingba Bu

Übung 2: Gemischtes Shili – Hunhe Shili

Sanshou – freier Kampf

Shisheng – Einsatz der Stimme

Nachwort

JUMIN CHEN

 

 

YIQUAN

 

MIT MEDIZINISCHEM ASPEKT

 

 

 

 

KÖRPER UND GEIST ZUGLEICH KULTIVIEREN

 

 

Impressum

© Verlagshaus der Ärzte GmbH, Nibelungengasse 13, 1010 Wien, Österreich

www.aerzteverlagshaus.at

2. Auflage 2020

 

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere das der Übersetzung, des Nachdrucks, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf fotomechanischem oder ähnlichem Weg und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben auch bei nur auszugsweiser Verwendung, vorbehalten.

 

ISBN 978-3-99052-276-9

Umschlagfoto: Nikos Stavlas

Grafik Umschlag: Grafikbüro Lisa Hahsler, 2232 Deutsch-Wagram

Buchgrafik: Xiaosong Wang

Projektbetreuung : Mag. Michael Hlatky

Lektorat: Stefanie Zweckl und Joachim Paul; Lektorat 2. Auflage: Veronika Gmachl

 

Sämtliche Angaben in diesem Buch erfolgen trotz sorgfältiger Bearbeitung und Kontrolle ohne Gewähr und müssen vom jeweiligen Anwender im Einzelfall anhand anderer Literaturstellen auf ihre Richtigkeit überprüft werden. Eine Haftung des Autors oder des Verlages aus dem Inhalt dieses Werkes ist ausgeschlossen.

VORWORT

 

In einer Zeit, in der die Themen Lifestyle-Erkrankungen wie Metabolisches Syndrom oder Burn Out allgegenwärtig sind, bietet gerade das Wissen der chinesischen Gesundheitslehre einen unermesslichen Schatz zur Erhaltung und Wiedererlangung der eigenen Gesundheit. Zahlreiche Werke sind diesbezüglich bereits erschienen. Kaum jedoch ein Buch präsentiert sowohl historische als auch physiologische Hintergründe in einer derart klaren und verständlichen Form wie dieses Buch. Jumin Chen schafft es, das Wissen und die Erfahrung seiner jahrzehntelangen Tätigkeit als Lehrer in China und in Europa in dieses Buch zu integrieren. Zahlreiche bildhafte Vergleiche erleichtern das Verständnis der spannenden Materie.

Die wohldurchdachten Bilder unterstützen beim eigenständigen Üben. Sie helfen, sich die Bewegungsabläufe besser einzuprägen, um so in weiterer Folge auch eigenständig üben zu können. Gleichzeitig verweist Jumin Chen auf zahlreiche Möglichkeiten der Integration der Übungen zur Optimierung des Heilungsprozesses beziehungsweise der Befindlichkeit verschiedener Krankheitsbilder. Ein chinesisches Sprichwort sagt:

„Du kannst einen guten Arzt bezahlen, aber keine Gesundheit kaufen!“

Um die muss man sich selbst bemühen. Dieses Buch kann dabei wunderbar unterstützen. Vergessen Sie nicht – der Mensch, der den Berg versetzte, war derselbe, der anfing, kleine Steine wegzutragen. Beginnen Sie Ihr Haus der Gesundheit zu bauen – es ist nie zu spät!

Ich wünsche allen gesundheitsinteressierten Menschen viel Freude und Erfolg mit diesem Buch.Prof. Dr. Andrea Zauner-DunglDUNGL MEDICAL-VITAL RESORT Zentrum für Traditionelle Chinesische Medizin & Komplementärmedizin Donau-Universität Krems

VORWORT

 

Am Anfang unserer Freundschaft kooperierte ich mit Jumin, indem ich viele meiner Athleten zu ihm schickte, um Yiquan zu erlernen und zu praktizieren. Die meditativen Elemente des östlichen Trainings, seine Wirkung auf die Körperenergie, die konzentrativen Fähigkeiten und die Gesundheit des Menschen schaffen eine ideale Ergänzung zu meinen Trainingsprogrammen. Erst Anfang dieses Jahres schafften Jumin und ich den nächsten Schritt: er ließ sich in meinem Zentrum ergometrieren und wir untersuchten ihn sowohl bei seinen Übungen als auch beim moderaten Ergometertraining. Nach einer Grunduntersuchung erstellte ich für Jumin ein Trainingsprogramm, das er über Wochen auf dem Ergometer befolgte. Bereits nach wenigen Tagen fühlte Jumin, wie das moderate Ausdauertraining seine Methode unterstützte. Nach einigen Wochen machten wir die Untersuchungen wieder und bekamen die Bestätigung: Er war fitter geworden, konnte seine Übungen intensiver und mit weniger Belastung ausführen.Wir haben im Kleinen geschaut, was passiert, wenn man zwei, rein äußerlich betrachtet sehr unterschiedliche Trainingsmethoden kombiniert, und den Erfolg, den wir uns dadurch erwarteten, auch bestätigt bekommen. Es wäre wünschenswert, wenn auch größere Gesundheitsstrukturen sich öffneten, um andere wirkungsvolle Wege zur Besserung der Gesundheit zuzulassen.Es gibt keinen Therapeuten, der einen Klienten gesünder machen kann – aber Therapeuten können Wege aufzeigen, die zur Gesundung und Steigerung der Lebensqualität führen. Jumin und ich konnten zeigen, dass die richtige Kombination von Wegen genussvoller und sicherer ans Ziel bringt.Jumin ist ein Meister seines Fachs, der sich Neuem nicht verschließt, der seinen Weg geht und doch bereit ist, diesen zu verbreitern. Mit seiner Expertise und Offenheit bringt er viele Menschen in ihre Mitte und ist so ein Botschafter für eine gesunde, selbstverantwortliche Lebensführung – eine Lebensführung, die im Licht der gesundheitlichen Lage der Bevölkerung mehr und mehr an Wert gewinnen wird.Ich wünsche ihm auf seinem Weg alles Gute und viel Erfolg – denn sein Erfolg ist auch der Erfolg seiner Klienten.

Heinrich Bergmüller

Eisenstadt, im Juli 2009

VORWORT

 

Für meinen lieben Freund

Jumin Chen hat mich um ein kurzes Vorwort gebeten, um meine Erfahrungen mit Yiquan zu schildern. Ich „durfte“ eine lebensbedrohliche Krankheit erleben und vor allem überleben. 2003 bekam ich einen bösartigen Gehirntumor (Medulloblastom). Nach zwei Operationen, Chemotherapie und 36 Bestrahlungen wurde aus einem jungen 33-jährigen ein Häufchen Elend. Trotz all der Behandlungen wuchs der Tumor weiter, doch es war nach dieser Tortur nicht mehr möglich, wieder zu operieren. Nachdem ich in der klassischen westlichen Medizin keine Chance mehr sah, versuchte ich es mit alternativen Methoden. Werner Tautermann regulierte 14 Mal meinen Energiekreislauf. Auf sein Anraten ging ich in einen seiner Kurse. Anschließend kam Mag. Wendtner bei der Chemotherapie zu mir und versuchte zu helfen. Beide Freunde rieten mir, Jumin Chen um Rat zu fragen. Als ich zu Jumin kam, hatte ich unter anderem Bewegungsstörungen, Gedächtnisverluste und Sprachstörungen. Zu dieser Zeit schlief ich zwischen 17 und 18 Stunden täglich und die verbliebene, kurze Zeit war ich immer noch von Müdigkeit geplagt. In Disziplin (vier Jahre Bundesheer) und Selbstdisziplin (Zithersolist) besonders gut geschult, begann ich mit Jumin das Yiquan-Training. Schon nach einem Monat intensiven Übens konnte ich erste Erfolge beobachten. Durch strenge Disziplin gelang es mir, unter seiner sehr liebevollen Art Fortschritte zu erlangen. Als ich drei Monate nach Trainingsbeginn zur Kontrolluntersuchung ins Landeskrankenhaus Salzburg ging, konnten es selbst die Ärzte kaum glauben: der Tumor war verschwunden! Es war einer der schönsten Tage meines Lebens.Heute besuche ich regelmäßig eine Meditationsgruppe und fühle mich durch tägliches Yiquan-Training besser, gesünder und glücklicher als je zuvor. Ich hoffe, dass Yiquan noch mehr Leuten helfen kann.

Michael Ginsberger

Salzburg, im Juli 2009

Zum Geleit

 

Yiquan übt anscheinend eine besondere Anziehungskraft aus, denn in den Kursen finden die meisten Schüler die einfachen Übungen sehr spannend. Seit einigen Jahren bitten mich meine Kursteilnehmer, ein Buch über Yiquan zu schreiben, um einen Überblick zu diesem System zu bekommen. Es war keine leichte Aufgabe, aber ich finde es sehr sinnvoll, diese alte traditionelle chinesische Methode zu veröffentlichen, weil ich selbst schon viel von Yiquan profitiert habe. Ich muss sagen, es ist ein Schatz. Ein Schatz, der noch nicht durch Mystifizierung und Fälschung, wie es leider so oft in der Vergangenheit mit anderen Übungssystemen geschehen ist, zerstört ist. Daher sind wir Wang Xiangzhai dankbar, dass er diese Kunst weitergegeben hat. Einerseits versuchte er, durch Wissenschaft die Theorie, Prinzipien und Übungsformen der traditionellen chinesischen Methode zu erklären, andererseits gab er die Essenz der inneren Kampfkunst durch Erklärung der inneren Arbeit weiter.

Um den Sinn einer chinesischen Kunst zu verstehen, ist es wichtig, dass man von innen lernt. Nur durch äußere Beobachtung und Perfektionierung der Bewegungen bleibt das Ergebnis oberflächlich. Je länger ich trainiere, desto stärker spüre ich diese „einfache Kunst“. Daher verstehe ich, wie wichtig ein systematischer Trainingsinhalt von Shen und Yi ist.

Viele Schüler sagen, dass ich Menschen gut motivieren kann, konsequent zu üben. Zwar bin ich in dieser Richtung nicht begabt, doch motivieren mich meine Schüler mit ihrem eigenen Erfolg ebenso, sodass ich fleißig übe und ich so durch deren Erfolge die anderen weiter motivieren kann. Daher möchte ich mich zuerst bei allen Schülern von mir bedanken. Durch die Bemühungen meiner Schüler und Freunde konnte das Buch über Yiquan endlich erstellt werden. Die deutsche Sprache ist nicht meine Muttersprache, daher habe ich nicht das gleiche sensible Sprachgefühl wie im Chinesischen. Dank sagen möchte ich deshalb meinem Schüler Michael Bouda für die Ausformulierung und Verbesserung des Textes. Dank auch an Stefanie Zweckl und Joachim Paul für ihre unermüdlichen Bemühungen beim Lektorieren des Buches.

Weiter möchte ich mich bei Sven Röckle, Dr. Danilé Martin und Ralph Schnitzler für die Anregungen und Texte bedanken.

Nicht zuletzt sei Sven Christinger, Reinhold Kobler, Stefan Österreicher für Korrekturlesen und Thomas Huber für seinen Textbeitrag besonders gedankt.

Spezieller Dank sei Veronika Gmachl, Reinhold Kobler, Werner Caspers, Marco Spadin, Sven Christinger, Thomas Farnbacher und Joachim Paul für die bereitwillige Mitwirkung bei den Fotoaufnahmen zu Tuishou und der Kampfszenen.

Ich hoffe, dass ich mit diesem Buch einen Beitrag für diejenigen leisten kann, die schon lange nach einer ganzheitlichen Gesundheitsmethode suchen, sowie für diejenigen, die grundlegende Kenntnisse der chinesischen Kampfkunst erstreben.

Allen Lesern und Übenden wünsche ich Gesundheit und ein langes Leben.

Jumin Chen

Luzern, März 2020

TEIL I:YIQUAN -THEORETISCHER HINTERGRUND

 

Was ist Yiquan

Yiquan ist eine traditionelle chinesische Heil- und Kampfkunst, die im Westen noch relativ unbekannt ist, obwohl Elemente daraus im Qigong, Taiji und den inneren Kampfkünsten enthalten sind. Das Wort Yiquan (sprich i’tschüan) enthält den Begriff Yi, die Vorstellungskraft, und quan, was wortwörtlich Faust bedeutet, hier aber als die Kunst eines Systems verstanden wird.

Das Spektakuläre an diesem System ist, dass durch ausgeklügelte Vorstellungsbilder Empfindungen erzeugt werden, die im Körper Reaktionen auslösen, die Muskelbewegungen bis in tiefe Schichten bewirken, sowie den Blutkreislauf und den Stoffwechsel anregen. Diese tiefgreifenden Veränderungen ermöglichen es dem Körper, Selbstheilungskräfte zu aktivieren.

Für die Kampfkunst bedeutet das, dass innere Kraft aufgebaut wird, die explosionsartig freigesetzt werden kann. Die Kampfkunst dieses Systems hat aber nicht das bloße Schlagen zum Ziel, ihr Ideal ist ein entspannter Zustand ohne schlaff zu sein, Geschicklichkeit und Schnelligkeit, um den Gegner aus der Balance zu bringen und ihn im Notfall kampfunfähig zu machen.

Im Yiquan sind keine komplizierten Bewegungsabläufe notwendig, um ein perfektes Einvernehmen von Körper und Geist zu erreichen. Es ist ein einfaches Übungssystem, das keine Geräte und keine extra Ausrüstung benötigt. Um sich konzentrieren zu können, ist ein ruhiges Plätzchen sinnvoll. Die Effizienz beim Aufbau von Kraft, Geschicklichkeit, Vitalität und Lebensfreude kommt allen Altersstufen zugute. Auch bei körperlichen Beeinträchtigungen oder Schwäche gibt es Übungen, die eine spürbare Verbesserung in kurzer Zeit bringen können. Yiquan kann auch im Sitzen und Liegen ausgeführt werden. Für Rollstuhlfahrer ist ein eigenes Kapitel enthalten.

Wang Xiangzhai, der Begründer von Yiquan, war ein unermüdlicher Forscher und sein Ziel war, die chinesische Kampfkunst von allem Mystischen und Verschleiernden zu befreien. Neueste Forschungen bestätigen mittlerweile seine Erkenntnisse.

Begründer des Yiquan: Der legendäre Wang Xiangzhai

Die Entstehungsgeschichte einer Kunst wird meist schnell überlesen, um sofort an die Praxis zu gehen und schnelle Resultate zu erzielen. Beim Yiquan jedoch ist ein tiefes Verständnis der Prinzipien wichtig, nach denen Wang Xiangzhai, der Begründer des Yiquan, sein ganzes Leben gesucht und geforscht hat. Ich möchte Sie deshalb einladen, im folgenden Kapitel einen Hauch des Geistes zu erspüren, der das Leben und Wirken des Meisters umgab und schließlich als Frucht die Übungen des Yiquan hervorbrachte.

 

Vom Xingyiquan ...

Wang Xiangzhai (1886–1963) war seinerzeit Schüler des damals berühmtesten Xingyiquan-Meisters (Form-Geist-Boxen) Guo Yunshen, dessen Kampfkunstfähigkeiten bis heute legendär sind. Als sehr geschickter und fleißiger Schüler zog Wang bald die Aufmerksamkeit seines Lehrers auf sich. Aufgrund seiner besonders guten charakterlichen und intellektuellen Voraussetzungen lehrte Guo Yunshen vor allem ihm die Geheimnisse von Zhanzhuang, die Stehen-wie-ein-Baum-Übungen. Wang profitierte viel von Zhanzhuang und wurde einer der besten Kampfkünstler Chinas. Später stellten diese Übungen den wichtigsten Teil des Yiquan-Trainings dar.

 

Nach dem Tod seines Lehrers trainierte Wang bis zu seinem 22. Lebensjahr all das, was er bis dahin gelernt hatte, so gründlich wie er konnte. Danach begab er sich auf Arbeitssuche nach Peking und trat der Armee bei. Schon bald war Wang in den Kampfkunstkreisen Pekings sehr bekannt und geschätzt. Man ernannte ihn zum Leiter der

Abteilung für Kampfkunst, in der einige berühmte Kämpfer wie Sun Lutang (1860–1933) und Shang Yunxiang (1864–1937) arbeiteten.

Im Alter von 33 Jahren beschloss Wang, durch China zu reisen, um von anderen Meistern zu lernen. Auf seiner siebenjährigen Wanderschaft tauschte er sich mit vielen großen Lehrern der unterschiedlichsten Kampfkünste (Weißer-Kranich-Boxen, verschiedene Xingyiquan-Stile, Baguazhang, Taijiquan) aus und vervollständigte so allmählich Theorie und Praxis seines eigenen Kampfkunstsystems.

 

... zum Yiquan

Um 1925, während Wang in Peking Xingyiquan lehrte, bemerkte er, dass seine Schüler zu sehr auf äußere Formen und festgelegte Abläufe fixiert waren und dadurch nur geringe Fortschritte machten. Sie ließen das Wesentliche, die innere Arbeit, die für ihn die Essenz der Kampfkunst darstellte, weg. Daraufhin änderte Wang die Trainingsmethodik und auch die Bezeichnung des Kampfkunstsystems. Er stellte die Zhanzhuang- (Stehen wie ein Pfahl) und Shili-Übungen (Trainingsmethoden zum Erfühlen der inneren Kraft) in den Mittelpunkt des Trainings mit dem Ziel, zu den Wurzeln der Kultivierung des intuitiven Potentials des Menschen zurückzukehren. Yiquan war geboren.

 

Unbesiegbar

1928 gab es einen der größten Wettbewerbe in der chinesischen Kampfkunstgeschichte. Wangs Schüler Zhao Daoxin gewann das Turnier. Daraufhin wurde der Meister nach Shanghai eingeladen und gründete die Yiquan-Gesellschaft Shanghai. Später besiegte Wang den damaligen Boxweltmeister im Schwergewicht, den Ungarn Inge. Ein diesbezüglicher Bericht in der Londoner „Times“ machte auch den Westen auf das chinesische Boxen in der Form des Yiquan aufmerksam.

 

1937 kehrte Wang nach Peking zurück. Er lehrte Yiquan und feilte weiter an der Theorie seines Systems. Der zu dieser Zeit in Peking sehr bekannte Xingyiquan- und Tantui-Meister Hong Lianshun, Nachbar von Wang, forderte ihn heraus, als er von dessen unbeschreiblichen Fähigkeiten hörte. Nachdem er dem Meister unterlag, wurde Hong Lianshun Wangs Schüler und gab alle seine eigenen Schüler an ihn weiter. Unter ihnen befand sich auch Yao Zhongxun (1917–1985), der später offiziell Wang Xiangzhais Nachfolger wurde.

 

Wang entwickelte Yiquan bis ca. 1940 weiter und perfektionierte diese Kunst. In der Zeit der japanischen Besatzung forderte er per Zeitungsinserat alle Meister anderer Kampfkünste zu Vergleichskämpfen und einem Austausch auf. Viele chinesische, aber auch europäische und japanische Kämpfer stellten sich der Herausforderung, doch keiner konnte Wang besiegen. Etliche von ihnen wurden Schüler des Meisters. Später, als sich Wang mehr und mehr zurückzog, nahmen seine besten Schüler, insbesondere Yao Zhongxun, an seiner Stelle die Herausforderungen an. Erst wenn jemand einen der Meisterschüler von Wang Xiangzhai besiegen konnte, durfte er gegen ihn selbst antreten.

 

Dachengquan

Aufgrund der hervorragenden therapeutischen Wirkung und unglaublichen Effizienz im Kampf erreichte Yiquan in dieser Zeit das höchste Niveau. Daher schenkten einige Prominente diesem System einen neuen Namen: Dachengquan, die vollendete Kampfkunst. Der Meister konnte sich nicht für diesen Begriff begeistern, weil er die tiefe Überzeugung hatte, dass Kampfkunst eine sich kontinuierlich weiterentwickelnde Wissenschaft ist, die für äußere Einflüsse stets offen bleiben sollte, also niemals vollendet sein kann. Trotz Wangs Bedenken setzte sich der Name Dachengchuan für einige Jahre durch und wird auch heute noch von manchen Praktizierenden verwendet. Die meisten Schüler Wangs kehrten aber zum ursprünglichen Namen Yiquan zurück. Im zweiten Buch von Wang wurden die traditionellen Ansätze gänzlich aufgegeben und dabei die Trainingsmethoden auf verschiedenen Konzepten aufgebaut.

 

Wangs Gesundheitsgruppe

Wang Xiangzhai galt sowohl als hervorragender Kampfkunst Experte als auch als Meister des Chan (Zen). Daneben war er unter anderem als Dichter, Maler und Kalligraph bekannt. In seiner späteren Lebenszeit widmete er sich besonders der Gesundheitserhaltung und Krankheitsvorbeugung sowie der Heilung von Erkrankungen durch Yiquan. Anfänger des Kampfkunsttrainings verwies Wang an Meister Yao und er selbst unterrichtete die Gesundheitsgruppe. Das Training fand im Ahnentempel, dem heutigen Kulturpalast des arbeitenden Volkes, statt. Viele konnten sich von Krankheiten heilen, die mit herkömmlichen Methoden nicht zu kurieren waren. Der therapeutische Wert und das Fehlen jeglicher Nebenwirkungen konnten später auch wissenschaftlich nachgewiesen werden.

 

Nach 1949 war es unter dem kommunistischen Regime und aufgrund der allgemeinen politischen Umstände nicht von Vorteil, Yiquan als Kampfkunst zu betreiben, schon gar nicht öffentlich. Daher unterrichtete Wang in den folgenden Jahren beinahe ausschließlich die Gesundheitsübungen des Yiquan. Seine Gruppe wechselte in einen Park in Peking, wo sie unbehelligt üben konnte.

 

Amtliche Anerkennung des Yiquan

Prof. Yu Yongnian und He Jingping präsentierten den Behörden eine wissenschaftliche Ausarbeitung über den therapeutischen Wert der Zhanzhuang-Übungen, woraufhin diese an vielen Kliniken in China eingeführt wurden. Auch Wang selbst arbeitete in Krankenhäusern, bis er letzten Endes auch die Gesundheitsgruppe an Yao Zhongxun übergab. Der Meister starb am 12. Juli 1963 in Tianjin.

 

Wang Xiangzhai wird uns mit seinen weisen Aussagen durch das Buch begleiten.

 

Während die gesundheitlichen Aspekte des Zhanzhuang frei geübt und gelehrt werden konnten, war die Weiterentwicklung des Kampfes immer noch nur eingeschränkt möglich. Trainiert wurde in sehr kleinen Zirkeln, denn die Zeit der Kulturrevolution zwang die Kampfkunst mehr und mehr in den Untergrund. Yao Zhongxuns Familie wurde zur Arbeit aufs Land geschickt. Selbst in dieser schweren Zeit unterrichtete er seine beiden Zwillingssöhne Yao Chengrong und Yao Chengguang in der Kunst des Yiquan. Nach seiner Rückkehr 1970 nach Peking fand Meister Yao ein freundlicheres Klima vor und begann umgehend mit der Verbreitung des Systems. Er arbeitete mit Sportwissenschaftlern verschiedenster Disziplinen zusammen, gründete 1984 die Yiquan Forschungsgesellschaft Peking und wurde deren erster Präsident. Ein Jahr später verstarb Meister Yao.

 

Yiquan heute

Gegenwärtig kann sich Yiquan in ganz China frei entfalten und verbreiten. Langsam entwickelt es sich zu einer der bekanntesten Kampfkünste Chinas und wird zunehmend weltweit trainiert. Ganz in der Tradition Wang Xiangzhais und ihres Vaters Yao Zhongxun, nach deren Auffassung „Wissen allen Menschen gehört“ und es keine Geheimnisse geben darf, unterrichten Yao Chengrong und Yao Chengguang diese Form mit größtem Respekt. Beide gründeten ihre eigenen Yiquan-Schulen in Peking, in denen Schüler aus der ganzen Welt

lernen.

 

Die geistigen Wurzeln des Yiquan

 

Daoismus

Im alten China bezeichnete man jene Menschen, die mit der Natur im Einklang lebten, als Daoisten (bzw. Taoisten) oder „Schüler des Weges“, einer Lebensweise, die in der Philosophie des Weisen Lao Zi wurzelt. Die Daoisten glauben, dass die höchste Lebensstufe jene ist, in der Körper und Geist im Einklang mit ihrer natürlichen Bestimmung handeln. Krankheiten und vorzeitiges Altern treten dann auf, wenn ein Element des täglichen Lebens im Gegensatz zur natürlichen Ordnung steht, und wenn man dieses Element in Ordnung brächte, würden sich Krankheiten von selbst ausheilen und weitere vermieden werden. Genau genommen begründete diese Philosophie nicht Lao Zi alleine. Sie war vielmehr das Ergebnis alten chinesischen Denkens, das sich, schon lange bevor Lao Zis Schriften erschienen, entwickelt hatte. Diese Vorstellungen wurden später systematisiert und einer bestimmten Quelle zugeschrieben, die uns heute als Lao Zi bekannt ist. Vermutlich war er eine fiktive Person, ein Symbol eines über Jahrhunderte gesammelten Wissens, welches auf Naturbeobachtung basiert.

Als die Daoisten der Frage nachgingen, was das Wichtigste sei, um ein Leben im Einklang mit dem Rhythmus der Natur leben zu können, stießen sie auf das zentrale Konzept der Lebensenergie Qi, der 5 Elemente und der Polarität der Kräfte Yin und Yang. Während die westliche Medizin nur zwei Steuerungssysteme anerkennt und behandelt – die Nerven und das über Blutgefäße agierende Hormonsystem – kannten die Daoisten ein drittes System: das Energienetz der Meridiane, in denen die universelle Lebensenergie Qi zirkuliert.

Würden wir uns wie Tiere bewegen und wie sie atmen, so dachten die Daoisten, könnten auch wir Krankheiten vermeiden und unsere Lebensjahre in Gesundheit verbringen. Damit legten sie den Grundstein für die Entwicklung der Traditionellen Chinesischen Medizin, des Qigong zur Gesundheits- und Lebenspflege und der sogenannten inneren chinesischen Kampfkünste.

 

Das Buch der Wandlungen

Das klassische Buch der Wandlungen, Yijing (I-Ging), enthält die Kosmologie des alten China von der Philosophie über die Medizin, Wissenschaft und Staatsführung bis hin zur Kampfkunst. Das Werk beschreibt den Kosmos in 64 Symbolbildern, die als sogenannte Hexagramme dargestellt sind, die aus einer Kombination von sechs durchgehenden oder unterbrochenen Linien bestehen. Im Westen ist es vor allem als Weisheits- und Weissagungsbuch bekannt.

Im Zentrum dieses Buches steht die Yin-Yang-Lehre, ein dynamisches Denkmodell der Gegensätze, deren Polarität im einheitlichen Urgrund (im Yijing Taiji) aufgehoben ist. Sie erscheinen als Manifestation nach außen, treten miteinander in Wechselwirkung, wandeln sich um, lösen sich wieder im Wuji auf. Der ständige Wandel ermöglicht Regulation und Anpassung, d. h. die Harmonie zwischen Yin und Yang. In dieser Theorie liegen die dialektische Denkweise, die Erkenntnistheorie, die Ganzheitslehre von Körper und Geist sowie die Handlungsweise, die keine Intention durchscheinen lässt, begründet. Auf medizinisch-physiologischer Ebene manifestiert sich das Prinzip der Harmonisierung durch Wandel u. a. als Homöostase, Heilung oder Gesundheitserhaltung.

 

Der Gelbe Kaiser

Der Klassiker der Medizin, das Huangdi Neijing, übersetzt das „Testament des Gelben Kaisers“, ist das erste systematisch aufgebaute Buch über die chinesische Medizin und wurde 500 v. Chr. verfasst. In diesem und den Werken daoistischer Meister wie Guanzi, Lao Zi und Zhuangzi wurden die Theorien des Yijing weiterentwickelt. Durch Parabeln, satirische und humoristische Geschichten sowie Anleitungen zu geistigen und körperlichen Übungen versuchten sie, den Suchenden auf dem Weg zur höchsten Weisheit zu begleiten. Aus diesen Anleitungen haben sich Gesundheitsübungen und Kampfkunst entwickelt.

Weiterentwicklung

Buddhistisches Gedankengut verbreitete sich nach und nach in der Han Dynastie (206 v. Chr. bis 502 n. Chr.), und im Shaolin Tempel soll der Mönch Da Mo (Bodhidharma) ein Übungssystem erarbeitet haben, das zur Verbesserung der Gesundheit, der Meditationsqualität und der Selbstverteidigungstechniken führte. Es liegt also in der Tradition begründet, dass die Kampfkunst auch Gesundheitserhaltung, Fähigkeit zur Selbstverteidigung und Erkenntnis im Sinne der Erlangung der Lebensweisheit und der persönlichen Entwicklung (Selbsterkenntnis) in einem fördert.

 

Daoistisches Gedankengut im Yiquan

Es ist interessant, vorweg einige Aussagen daoistischer Meister mit Trainingsinhalten des Yiquan direkt gegenüberzustellen:

 

Im Dao De Jing spricht Lao Zi wiederholt von „Tun im Nicht-Tun“ (z. B. Lao Zi 37, Wu wei er wu bu wei). Beim Yiquan ist „Bewegung in Nicht-Bewegung lebendige Bewegung“.

 

Nicht-Tun bzw. Nicht-Bewegung findet Anwendung im Zhanzhuang (den Stehübungen), Tun und Bewegung in weiteren Trainingsteilen, wie Shili, Mocabu, Fali etc. Im Nicht-Tun drückt sich auch das Prinzip der Natürlichkeit, des Spontanen aus, das Lao Zi und Zhuangzi besonders betonten (z. B. Lao Zi 25: Dao ist „natürlich“). Im Training sollte man das Prinzip der Natürlichkeit bewahren, nicht unnatürlich üben.