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"Ylvi und der Drache" ist eine märchenhafte Erzählung über das große Gefühl Trauer, über Verzweiflung und Mut, Hoffnungslosigkeit und Zuversicht, über den Weg durch die innere Wildnis und über das Glück der Verbundenheit. -Ein Buch für Jugendliche und Erwachsene
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Seitenzahl: 49
In herzlicher Verbundenheit allen trauernden Menschen, die auf ihrem Weg sind.
*
Hey, ich bin Ylvi und ich möchte euch meine Geschichte erzählen. Ylvi ist ein Name, der aus dem Norden kommt. Er bedeutet »kleine Wölfin«.
Das passt gut zu mir, wie ich finde, denn ich wohne hoch im Norden, am Rand eines riesigen Waldes. Ich könnte euch erzählen, wie alt ich bin, aber das ist vollkommen unwichtig. Denn ich habe meine Mutter verloren.
*
Eines Tages, mitten im Winter, tauchte eine Schlange auf, in unserem Haus am Waldrand. Niemand hatte sie kommen sehen, niemand hatte einen Namen für sie, und niemand kam, um sie wieder fortzubringen. Und obwohl meine Mutter wusste, dass sie giftig war, hatte sie begonnen, diese Schlange zu füttern.
Die Schlange war erst sehr klein, aber schon bald wurde sie stärker und mit ihr das Gift, das sie in sich trug. Ich hatte Angst vor dieser Schlange. Doch meine Mutter nicht. Sie fütterte sie und sah ihr beim Wachsen zu, bis sie riesig und dunkel war. Schließlich biss die Schlange meine Mutter, und sie starb an ihrem Gift, noch bevor der Sommer ins Land zog.
Der Tod meiner Mutter schnitt mir eine tiefe Wunde in die Brust, während sich die Schlange in einen riesigen, schwarzen Drachen verwandelte, der fortan die Sonne verdeckte. In dieser Dunkelheit konnte ich nichts mehr sehen, nichts mehr hören und nichts mehr fühlen. In dieser Dunkelheit gab es nichts und niemanden mehr für mich.
Als der Sommer vergangen war, schaffte ich es an manchen Tagen, in den Garten hinauszugehen, um einen Apfel zu essen. Doch fast immer blieb ich an dem Ort, an dem ich mich sicher fühlte: in meiner Kammer. Dort lag ich am Boden, und die Zeit floss klebrig, wie das Harz an den Rinden der großen Tannen, die in den Wäldern stehen. Ich hörte ihr dabei zu, wie sie kaum verging, und ich entkam ihr nicht. Und ich entkam auch dem Drachen nicht. Der Drache blieb mein Schatten und ich fürchtete mich vor ihm.
*
Und dann, eines Morgens, kam der Drache so nah, dass er mit seinen Flügeln das Glas meiner Fenster berührte. Das Glas zerbrach in tausend Scherben und es wurde um mich finsterer als jemals zuvor. Und wie ich da lag und die Scherben sich durch meine dünn gewordene Haut bohrten, sah ich den Drachen das erste Mal an. Er war riesig, schwarz und kalt. Und er hatte eisige Augen. Ich war wie von Sinnen vor Angst da hörte ich ihn meinen Namen rufen.
»Ylvi …« Seine Stimme war fremd und nahm mir die Luft zum Atmen.
»Ylvi …« Ich hatte Angst zu ersticken, unter seiner Last und unter diesen Flügeln.
»Ylvi, schau mich doch an.«
»Geh weg!«, schrie ich in dieser Dunkelheit. »Geh weg von mir, ich will dich nicht sehen!«
»Nein«, antwortete der Drache. »Ich gehe nicht weg. Ich bin doch gerade erst angekommen.«
»Aber was willst du denn von mir? Ich kenne dich nicht.«
»Du kennst mich nicht? Ich bin deine Trauer. Und ich möchte dein Freund werden.«
»Ich will aber nicht, dass du mein Freund wirst. Und ich will dich nicht anschauen. Wie könnte ich deine Freundin sein wollen, wenn ich fast ersticke unter dir?«
»Aber du musst mich anschauen, Ylvi. Denn ich bin jetzt ein Teil von dir. Du wirst lernen, dass es besser ist, wenn ich dein Freund bin. Denn gegen etwas zu kämpfen, das ein Teil von dir ist, wird dich schwächer machen.«
Der Drache hatte solch eine Macht über mich, dass es nichts mehr gab außer uns beiden. Das machte mich reglos, und in dieser Reglosigkeit wünschte ich mir selbst zu sterben.
*
Doch ich starb nicht. Wenn ich wach war, hielt mich der Drache, und wenn ich schlief, hielt mich der Drache. Ich war zu schwach, mich gegen ihn zu wehren, und während ich mich langsam an seine Dunkelheit gewöhnte, begann ich zu träumen.
Ich träumte Träume vom Fallen, Träume vom Ertrinken, ich hatte Träume, in denen ich mich in den Wäldern verirrte, und Träume, in denen ich meine Mutter traf. Sie sah ganz jung darin aus, und nichts ließ erahnen, dass sie am Biss einer Schlange gestorben war. Im Traum lief sie vor mir her, und ich versuchte, sie einzuholen und zu berühren. Doch ich schaffte es nicht. Einmal sah ich meine Mutter auf dem Rücken des Drachen. Sie saß sicher zwischen seinen Flügeln und schaute zu mir herunter.
»Ylvi«, rief sie. »Meine Aufgabe war es, deine Mutter zu sein. Nun geh du in die Wälder und finde heraus, wer der Drache in Wirklichkeit ist. Sieh hin zu ihm, sieh in seine Augen. Ylvi, mein Kind, sei mutig.«
*
Da stand ich auf, obwohl mein Herz so schwer war, dass ich es kaum tragen konnte, und ging mit nichts außer diesem Herzen in meiner brennenden Brust hinaus in die Wälder.
Ich fühlte, dass meine Mutter bei jedem Schritt neben mir war, doch trotzdem waren mir die Wege fremd geworden. Der Drache flog über mir. Manchmal war es so dunkel, dass ich auf den unbekannten Pfaden den nächsten Schritt nicht gehen konnte. Manchmal legte ich mich ins Moos und schlief. Die Zeit spielte keine Rolle.
Es strengte mich an, über den Drachen hinwegzusehen. Es strengte mich an, ihn zu betrachten. Und es strengte mich an, aus Träumen zu erwachen, in denen ich mit meiner Mutter war. Doch ich wollte mutig sein.
Dann, mitten im Herbst, als es schien, dass mir die Kraft, mein schweres Herz zu tragen, ausgehen würde, stand eine Frau an meinem Bett im Moos. Erst erschrak ich darüber, doch sie legte mir ihre Hand auf die Stirn und sah mich an.
»Wer bist du?«, fragte ich sie.
»Fürchte dich nicht, Ylvi«, sagte die Frau, und ich sah ein Leuchten in ihren Augen, das so warm war, wie ich es noch niemals zuvor gesehen hatte.