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Jacqueline Conrad-Morgenstern

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Beschreibung

"Ich mach das Herz mir weit und nehm dich nun, ach, fremder Tod, in mein verletztes Leben. Ein Sternenstück von mir will ich dir geben, das soll in meinem himmelweiten Innern ruhn." Als meine Mutter zu Beginn einer Krebserkrankung einen schweren Schlaganfall erleidet, werde ich innerhalb kürzester Zeit zum dritten Mal mit dem möglichen Tod eines geliebten Menschen konfrontiert. Gemeinsam mit meiner schwerkranken Mutter gerate ich in den Strom eines Gesundheitssystems, das den einzelnen Menschen immer mehr aus dem Blick zu verlieren scheint. Als schließlich nach meiner Großmutter und Tante auch meine Mutter stirbt, begebe ich mich auf die Suche nach Möglichkeiten, das Geschehene zu verstehen, und werde dafür mit einem wunderbaren Bild vom Leben und Tod beschenkt. An Deiner Seite erzählt von einer innigen Mutter-Tochter-Liebe, die einen tiefen Riss erfährt und sich im Neuen wiederfindet.

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Für Mama

Inhaltsverzeichnis

Abschied

Erster Teil

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

In meinem Innern

Zweiter Teil

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Abschied

Schau, wie leicht der Staub des Lebens

schimmernd zu den Sternen steigt.

Sterbend hoffte ich vergebens

auf ein Wunder, das mir bleibt.

Und es trug mich, denn ich sank

körperlos in Licht und Sternen,

trug mich fort und ich ertrank

still in himmelweiten Fernen.

Und in tausend Kreisen schwebe

ich durch absichtslose Zeit.

War mein Tod nicht. Denn ich lebe

und mein Herz wird mir so weit.

Lieben kann ich dich und sehen.

Jetzt, da ich dein Engel bin,

streife ich mit zartem Wehen

deiner Trauer tiefsten Sinn.

Erster Teil

1

Ein Feiertag Ende Mai.

Ich schalte mein Telefon ein und es piepst. Papa. Eine Nachricht von Papa, morgens um neun, das bedeutet etwas.

„Ich bin mit Mama im Krankenhaus. Sie ist heute Morgen im Bad umgefallen. Ich habe den Notarzt gerufen. Die Mama kann nicht sprechen.“

Mist, denke ich. Morgen hätte die Bestrahlung begonnen. Morgen hätte es endlich angefangen.

Meine Mutter ist siebzig Jahre alt. Sie hat ein nichtkleinzelliges Lungenkarzinom und vier winzige Metastasen im Kopf.

Ein Zufallsbefund. Eine Katastrophe.

Jedenfalls für Mama, denn das Schlimmste, was sie sich je vorstellen konnte, war es, an Krebs zu erkranken.

Dann ist sie an Krebs erkrankt.

Mist, denke ich. Jetzt ist eine Sicherung durchgeknallt.

„Kann ich dich anrufen?“, schreibe ich zurück.

Ich rufe ihn an.

„Es sieht nicht gut aus.“ Papas Stimme klingt nicht hysterisch, nicht verweint. Nur leise und gedrückt. „Man weiß nicht, was es ist. Sie hat irgendetwas im Kopf. Man versucht, es durch die Leiste zu entfernen.

Man kann nicht sagen, ob es gelingt. Aber wenn man es nicht macht, dann kann sie daran auch sterben.“

Auch sterben …

„Ist es denn ein Schlaganfall?“

„Davon haben sie nichts gesagt.“

„Was soll es denn sonst sein?“

„Das weiß man nicht.“

„Man muss ihr was zur Beruhigung geben. Sie hat sicher furchtbare Angst.“

Die ganzen letzten Wochen hatte sie furchtbare Angst, unfassbare Angst vor dem, was da kommen würde.

„Sie ist ganz ruhig. Sie liegt hier und hält meine Hand.“

„Sag ihr ganz liebe Grüße. Und sag Bescheid, sobald irgendwas passiert“, sage ich und verstehe gar nichts.

Es vergeht eine halbe oder eine ganze Stunde.

„Man hat Mama in den OP gebracht. Ich gehe jetzt nach Hause. Gegen elf ist die Operation vorbei. Dann rufe ich im Krankenhaus an.“

„Okay“, schreibe ich. „Ich gehe mit Julius eine Runde spazieren. Ich warte auf deinen Anruf.“

Ich verstehe gar nichts.

Wir fahren zum Stadtrand. Überall blühen Mohnblumen.

Ich laufe hinter Julius her, und dann überkommt mich das Gefühl, dass gerade etwas beginnt. Ich fange an zu zittern. Mein Magen knurrt, aber er hat sich verschlossen. Einen Schluck Wasser nimmt er, sonst nichts.

Ich fange an zu beben, zu weinen, zu schluchzen.

Es ist elf Uhr. Elf Uhr vierzehn. Elf Uhr fünfundzwanzig. Elf Uhr zweiundvierzig … Papa ruft nicht an.

„Mama ist tot, oder?“ Ich sehe Julius hysterisch an. „Dann hätte ihre Angst endlich ein Ende. Dann soll sie jetzt einschlafen. Sie ist sicher tot.“

„Nein, hör auf damit. Sie ist nicht tot. Jetzt ruf deinen Vater an.“

Ich kann nicht. Ich brauche einen Ort zum Sitzen. Einen Ort, der mich hält. Einen Ort, der unter meinem Herzschlag nicht kaputtgeht.

Ich gehe ein paar Schritte in einen Wiesenweg und lasse mich zwischen die Halme und Mohnblumen fallen. Ich rufe Papa an und er nimmt den Hörer ab.

„Ach so, du bist es“, sagt er und schluckt einen Happen Essen hinunter. „Ich habe erst mal was gegessen.“

„Was ist denn nun?“, japse ich in den Hörer.

„Ach so. Sie hat die OP überstanden. Aber ich soll um dreizehn Uhr wieder anrufen, wie es weitergeht.“

„Papa …“, sage ich lang gezogen. „Ich habe gedacht, dass sie tot ist.“

„Ach so, nein“, beruhigt er mich.

„Ich kann nicht in das Krankenhaus, Papa. Ich schaffe das nicht.“

„Nein, brauchst du ja erst mal nicht. Ich melde mich wieder.“

Dann verliert sich der Tag. Es passiert nicht mehr viel, außer dass Papa am Abend noch zweimal anruft.

„Es war doch ein Schlaganfall. Man konnte den Thrombus entfernen.

Wir sollen morgen ins Krankenhaus kommen, mit Mamas Patientenverfügung.“

Mit Mamas Patientenverfügung. In meinem Kopf überschlagen sich die Gedanken. Und gleichzeitig steht alles still.

Ich will das nicht.

Aber ich bin die einzige Tochter. Papa kann das nicht alleine machen.

Ich werde müssen, und es steht außer Frage, dass ich diese Verantwortung übernehmen werde.

Ich beginne, hysterisch zu weinen. Mein Brustkorb hebt und senkt sich wild unter meinem Schluchzen. Ich verliere die Beherrschung.

Nach all den Wochen, in denen ich gegen Mamas Verzweiflung angekämpft hatte. Nach all den Wochen, in denen ich Tag und Nacht bereit war, mit ihr zu telefonieren, zu ihr zu fahren, sie festzuhalten. Ich ließ mir für jede Angst, für jeden neuen Zweifel, für jeden Anflug von Panik etwas Neues einfallen, um die Zeit des Wartens auf den Beginn der Therapie erträglicher zu machen. Ich versuchte, mit ihr zu fühlen, so gut es ging, ich hielt sie in meinen Armen, ich hatte manchmal das Gefühl, ich würde sie tragen.

Ich habe starke Arme. Es macht mir nichts aus, sie zu tragen. Wir sind ein gutes Team, meine Mama und ich.

Aber an diesem Abend verliere ich die Beherrschung.

Ich rufe eine Freundin an und versuche, zwischen dem Schluchzen ein paar verständliche Worte herauszubringen. Da klopft mein Vater in das Telefongespräch.

„Mamas Zustand hat sich verschlechtert. Sie hat einen Schock.“

Ich kann nichts tun, außer mich von den Weinkrämpfen schütteln zu lassen. Irgendwann schlafe ich ein. Als ich am nächsten Morgen erwache, ist nichts passiert. Kein Anruf, keine Nachricht auf dem Telefon.

Ich gehe davon aus, dass das bedeutet, dass Mama noch am Leben ist.

2

„Wir treffen uns kurz vor zwei am Krankenhaus. Der Arzt hat ab vierzehn Uhr Sprechstunde.“

„Ist gut“, sage ich und krame nach der Patientenverfügung meiner Eltern. Sie liegt erst seit ein paar Wochen auf meinem Schreibtisch.

„Lies es mal“, hatte Mama gesagt. „Und wenn du sie gelesen hast, legen wir sie irgendwohin, wo wir alle Zugriff haben.“

„Ist gut.“, habe ich gesagt, und sie nicht gelesen.

Natürlich habe ich sie nicht gelesen. Es ist ja noch ewig Zeit, bis sie Bedeutung bekommen könnte, habe ich gedacht.

Jetzt lese ich sie auch nicht. Es ist mir egal, was drinsteht. Ich werde es noch früh genug herausfinden.

Ich bin schon um kurz nach eins am Krankenhaus.

Ich weiß auch nicht, warum. Ich habe Angst, mich ferngesteuert zu fühlen. Ich habe Angst, dass Papa kommt und sagt, wir müssten da sofort rein. Ich will da aber nicht sofort rein.

Ich will mich erst auf die Stimmung einlassen. Ich taumele die Straße rauf und runter. Das Krankenhaus ist eine riesige Baustelle. Neben dem Seiteneingang, an dem ich warte, ist die onkologische Ambulanz.

Ich setze mich auf den Bordstein.

Es ist unglaublich heiß für den ersten Tag im Juni.

Ein älterer Herr kommt aus der Onkologie. Er hustet fürchterlich. Er ist gelb. Er sieht mich an. Dann zündet er eine Zigarette an. Er muss sich beim Husten auf ein Fensterbrett stützen und raucht trotzdem. Er raucht und sieht mich an.

Es ist erst kurz vor zwei.

Ich stehe auf und gehe weg, schaue auf mein Handy, trinke Wasser und suche ständig irgendetwas in meinem Rucksack. Ein Bonbon, ein Taschentuch, mein Lippenbalsam, die Uhr …

Dann kommt Papa. Er kommt mit dem Fahrrad.

Er stellt es irgendwo im Schatten ab. Er hat eine Packung Eier in der Satteltasche.

„Mama hat so viele Eier gekauft. Und Crème fraîche. Du kannst mal in den Kühlschrank schauen, wenn du Zeit hast. Das wird sonst alles schlecht.“

Wir umarmen uns kurz und ich schlucke die Tränen weg.

„Papa“, sage ich. „Vielleicht muss ich mich hinsetzen, bevor ich Mama sehe. Vielleicht schaffe ich es sonst nicht.“

Er nickt und geht zügig voran.

Keine Chance auszuweichen. Keine Fluchtmöglichkeit.

Er schiebt Türen auf und drückt auf Taster, damit sich die Türen von alleine öffnen. Wir rennen vorbei an der Notaufnahme.

Überall Menschen.

Ich klammere mich an die gelbe Mappe mit der Patientenverfügung.

Ich will mit dem Aufzug fahren. Wir müssen in den dritten Stock.

„Ich möchte gerne erst mit dem Arzt reden, bevor ich Mama sehe.“

Papa nickt.

Dann stehen wir an der Tür zur Intensivstation. Wir müssen warten.

Klingeln und warten.

Wagen mit Wäsche werden hinein- und herausgeschoben. Immer bleibt die Tür einen Moment offen und ich starre hinein.

Irgendwann kommt eine Schwester und fragt, ob wir schon mit dem Arzt gesprochen hätten.

„Nein“, sage ich. „Aber wir möchten gerne.“

Die Schwester nickt und bringt uns in ein Zimmer.

Der Arzt kommt sofort und bittet uns, Platz zu nehmen. Er ist jung, sieht frisch gewaschen und gekämmt aus. Sein Kittel ist sauber, seine Fingernägel auch. Er spricht mit Wiener Dialekt, und ich weiß nicht, wie verbindlich oder reserviert ich sein soll.

Mit seinem Wiener Dialekt und dem sauberen Gesicht wendet er sich Papa zu, und ich stelle schnell fest, dass er sich nur Papa zuwendet.

Er spricht nicht mit mir. Möglicherweise stört es ihn sogar, dass ich auch hier sitze.

Ich sitze aber auch hier.

Er erzählt von der Schwere des Schlaganfalls, dass der Thrombus weiß war und man glaube, es könnte ein Teil des Tumors sein. Man habe es in die Pathologie geschickt. Der Arzt lässt uns in seinen Computer schauen und erörtert die Blutwerte.

„Wir haben hier keine Geheimnisse. Ihre Frau braucht Blutgerinnungshemmer. Die können wir ihr aber nicht geben, weil sonst das frisch operierte Gefäß platzen kann. Wenn es dann ins Gehirn einblutet, dann blutet es richtig. Und was das bedeuten würde, können Sie sich sicher denken. Auf der anderen Seite kann es ohne Blutverdünner zu weiteren Schlaganfällen kommen.“

„Wann kann man ihr wieder Blutverdünner geben?“, frage ich ihn.

Mit einer kurzen, schnellen Bewegung schaut er mich an: „Zehn Tage.“

Sofort schaut er Papa wieder an. „Wissen Sie“, sagt er lang gezogen, „Sie kennen Ihre Frau am längsten. Sie hängen sicher sehr an ihr. Aber im Falle eines Herz-Kreislauf-Versagens würden wir im Hinblick auf die Krebsdiagnose eine Wiederbelebung nicht für sinnvoll halten.

Aber das entscheiden natürlich Sie.“

Ich fasse es nicht. Ich bin überhaupt nicht anwesend für diesen Arzt.

Ich hänge auch an meiner Mutter. Ich kenne sie fast genauso lange.

Ich verliere die Beherrschung und fange an zu weinen. „Wissen Sie, ich liebe meine Mutter. Aber ehe sie furchtbar leiden muss, soll sie lieber einschlafen.“

Alles passiert automatisch. Das, was ich sage. Das, was der Arzt sagt.

Er schaut mich an, und ich höre seine Stimme, die aus einem Computer kommen könnte.

„Tut mir leid“, sagt er rasch und fragt nach der Patientenverfügung, um darin zu lesen.

„Hm … sie wollte keine künstliche Ernährung. Aha, da sind wir jetzt schon in einer schwierigen Situation. Na ja, aber Sie haben die Vorsorgevollmacht, Herr Conrad, Sie entscheiden, was gemacht wird.“ Er nickt Papa zu.

Und ohne dass wir zuvor darüber gesprochen hätten, ist klar, dass das Einstellen der Ernährung zu diesem Zeitpunkt nicht infrage kommt.

Mama ist schwer krank. Aber es ist möglich, dass sie wieder gesund wird. Nichts ist selbstverständlicher, als so zu entscheiden.

Dann gehen wir zu ihr, und mein Herz schlägt kräftig und stolpert nicht.

Jetzt sehe ich sie. Sie liegt in einem Bett, den Oberkörper hochgelagert, Infusionen und Schläuche, die Augen geschlossen, vollkommen verändert und doch meine Mutter.

Ohne dass ich es kontrollieren kann und auch ohne dass ich auf die Idee komme, dass sie es hören könnte, sage ich: „Ach du Scheiße, Papa. Das wird doch nichts mehr. Dann soll sie lieber einschlafen.“

Es geht nicht um mich.

Es geht nicht darum, dass ich eine Tochter wäre, deren Mutter zu früh gestorben ist. Es geht darum, dass dieser Mensch hier nicht leiden muss.

Ich stelle alles zurück.

Papa zuckt mit den Schultern. „Ich glaube auch nicht. Wenn sie einschlafen würde, wäre es vielleicht besser für sie.“

Ich halte ihre Hand und starre sie an.

Dann starre ich die anderen Patienten an. Der Mann im Nachbarbett schreit und jammert. Der andere Mann im Bett ganz am Fenster ist pflegerisch versorgt worden und schreit nicht. Und die junge Frau im Bett gegenüber sitzt aufrecht und telefoniert mit dem Handy.

Ich muss immer wieder hinsehen. Sie telefoniert und regt sich über Missstände an ihrem Arbeitsplatz auf. Ich verstehe nicht, was sie auf dieser Intensivstation macht und wie sie es hier aushalten kann.

Dann kommt der Arzt mit dem Wiener Dialekt herein, steif wie ein frisch gestärktes Tischtuch. Er notiert irgendwelche Sachen in Tabellen, dann dreht er sich mit einem Ruck zu uns um: „Wir bekommen gleich einen Neuzugang. Ich möchte Sie bitten, das Zimmer zu verlassen.“

Wir bewegen uns nicht schnell genug. Der Arzt zieht meine Tasche hinter der Tür vor, drückt sie mir in die Hand und schaut mich wieder nicht an. Ich habe keine Zeit mich von Mama zu verabschieden.

Ich gebe mir die Schuld dafür, halte mich für nicht souverän, weil ich mich von diesem Arzt ignorieren und hetzen lasse, und schon stehen wir wieder draußen, vor der Tür der Intensivstation.

Am nächsten Tag ist Mama dick im Gesicht.

Wir fragen, warum. Der Pfleger meint: „Ach, ist sie dick im Gesicht?

Dazu kann ich nichts sagen, ich sehe sie gerade zum ersten Mal.“

Ich halte ihre Hände, streichele ihren Kopf. Sie macht ein Auge einen winzigen Spalt auf. Sonst passiert nichts.

Dann, am dritten Tag, sitze ich im Krankenhaushof unter dem Fenster der Intensivstation.

Die Sonne brennt und ich finde keinen Schatten. Ich lausche hinauf, zu den piepsenden Überwachungsmonitoren. Eine Frau hustet, röchelt, hustet. Mein Herz fängt an, hart gegen meine Rippen zu schlagen. Ich denke, dass es Mama ist.

Bis Papa kommt, bin ich mir sicher, dass sie gerade stirbt, im dritten Stock dieses Krankenhauses, an diesem Frühlingstag.

Ich sage ihm nichts und renne wieder hinter ihm her. Wege entlang, durch Türen, die man mit Tastern an der Wand öffnen kann, die Treppen hinauf, weil der Aufzug nicht kommt.

Papa erzählt, dass er hier in diesem Treppenhaus physiotherapeutische Übungen machen musste, nachdem er vom Apfelbaum gefallen und an der Wirbelsäule operiert worden war.

Papa erzählt. Und ich bekomme kaum Luft.

Dann sind wir vor der Intensivstation und warten, dass irgendetwas passiert.

„Glaubst du, dass Mama tot ist?“, frage ich und versuche, meine Atemlosigkeit zu verbergen. „Da hat gerade eine Frau so gehustet und geröchelt. Ich denke, dass das Mama war.“

„Ach Quatsch“, sagt er, und dann kommt endlich eine Schwester, die wir fragen können.

Wir nennen Mamas Namen, die Schwester greift in ihre Kitteltasche und schaut auf ein zusammengefaltetes Stück Papier.

„Warten Sie einen Moment“, sagt sie ernst. „Da muss ich fragen.“

Also doch.

Mein Herzschlag ist so heftig, dass ich es unter meinem T-Shirt sehen kann. Ich rutsche auf dem Stuhl hin und her, lehne mich an, stehe auf und werde fast verrückt in der Ungewissheit.

Endlich geht die Tür wieder auf und die Schwester kommt. „Frau Conrad ist verlegt worden, auf die Stroke Unit.“

Ich gehe mit Papa wieder durch Flure und Gänge und an Baustellengerüsten vorbei. Wir fahren mit dem Aufzug in irgendein Stockwerk und stehen vor der nächsten verschlossenen Tür, an der wir klingeln müssen.

Mein Magen brennt.

Dann wird uns aufgemacht.

Ein neues Zimmer, neues Personal und nur eine Frage in meinem Kopf: Wie geht es ihr heute?

Mama liegt genau so wie gestern, in einem Krankenhaushemdchen, und macht die Augen nicht auf. Sie hat einen Blasenkatheter, Infusionen für Flüssigkeit und Essen und ist an einen Monitor angeschlossen, über den ihre Vitalwerte sichtbar werden. Ihre Haare liegen erstaunlich gut für ihre Situation.

Sie hat immer noch wahnsinnig hohen Blutdruck. Das ist nicht gut.

Es ist heiß, sie hat kleine Schweißperlen auf der Haut, und ich fange an, ihr die Stirn und die Handgelenke mit nassen Tüchern zu kühlen.

Ich laufe ständig im Zimmer umher und mache irgendetwas, damit in der Stille mein pochendes Herz nicht zu laut wird.

Wir fragen nach einem Arzt, nach jemandem, der Auskunft geben kann. Bald kommt eine Ärztin, die nicht gut Deutsch spricht. Sie ist zurückhaltend, macht einen hilflosen Eindruck, und ich muss mich sehr anstrengen, um sie zu verstehen.

„Ihre Mutter ist in einem sehr ernsten Zustand. Wir können ihr keine Blutverdünner geben. Man wartet damit vierzehn Tage nach einer Gefäßoperation. Das bedeutet, dass sie einen weiteren Schlaganfall bekommen kann. Außerdem hat sie Fieber und einen Blaseninfekt.“

Sie zuckt mit den Schultern und klammert sich an die Unterlagen, die sie im Arm hält.

Wir bedanken uns höflich für die Auskunft und bleiben noch ein bisschen.

Ab und zu reden wir laut mit Mama. Wir wissen nicht, ob sie uns hört. Ich halte ihre Hand und sitze ein bisschen an ihrem Bett.

Am nächsten Tag ist ein neuer Arzt da. Es ist ein junger Assistenzarzt und wir sehen uns gemeinsam die Bilder der CT an. Die linke Hirnhälfte ist großflächig betroffen, in der rechten hinteren Hirnhälfte ist noch ein kleinerer Schlaganfall zu sehen.

„Wenn der Schlaganfall in der linken Gehirnhälfte war, dann ist die rechte Körperseite betroffen. Und leider auch das Sprachzentrum.“ Er sieht uns an: „Außerdem hatte sie mehrere Lungenembolien. Leider habe ich keine besseren Nachrichten.“

In meinem Kopf ist absolute Leere. Ich bin nicht in der Lage, die Fakten zu betrachten. Ich befinde mich in einem Vakuum, und darin stelle ich mir die Konsequenzen nicht vor.

Der Arzt kommt noch einmal mit uns in Mamas Zimmer. Er lehnt sich an die Wand und fragt nach ihrem Zustand vor dem Schlaganfall.

Ich erzähle, dass meine Eltern vor ein paar Wochen noch gemeinsam im Urlaub an der Ostsee waren, dass die Krebsdiagnose ein Zufallsbefund war, es überhaupt keine Symptome gegeben und man ihr, zumindest äußerlich, nichts angemerkt hatte.

„Außer dass sie eine Depression entwickelt hat …“, sage ich.

„Ach so“, meint der junge Arzt. „Ich dachte, sie hatte schon Symptome der Krebserkrankung.“

Papa schüttelt den Kopf. „Nein. Wir haben noch lange Strandspaziergänge gemacht.“

Der Arzt sieht Mama eine Weile an und sagt dann: „Scheiße.“

Danke, denke ich, besser hätte ich es auch nicht sagen können.

Ich nicke. „Wir wollen trotzdem am Freitag in die Thoraxklinik nach Heidelberg fahren. Da ist der Termin, an dem besprochen werden sollte, wie man mit dem Krebs umgehen will.“

„Ja, das ist gut, machen Sie das. Wir können Ihnen die Kopie der Krankenakte mitgeben. Und vielleicht können Sie einen kurzen Film darüber machen, in welchem Zustand Frau Conrad ist.“

„Wir sollen einen Film machen? Mit dem Handy?“

Ich sehe den Arzt und dann meine Mutter an. „Nein, das machen wir nicht, das geht zu weit“, sage ich.

„Nein, das muss ja auch nicht sein. Ich dachte nur, so könnten sich die Kollegen in Heidelberg ein besseres Bild machen.“

Dann lässt uns der Arzt alleine. Papa steht am Fußende vom Krankenbett und zeigt mit dem Finger auf Mamas großen Zeh. Sie wackelt damit.

„Das hat sie gestern noch nicht gemacht“, sagte er.

„Wirklich?“, frage ich. „Das bedeutet, dass etwas zurückkommt. Das ist ja fantastisch.“

Wir entscheiden uns, hoffnungsvoll zu sein. Wir warten einfach ab.

Wir geben nicht auf.

Draußen ziehen Gewitterwolken auf. Eine Schwester kommt und gibt Mama ein zusätzliches Medikament gegen den hohen Blutdruck.

Und endlich, in der schwülen Hitze, fällt eine Sintflut vom Himmel.

3

Als ich zu meinem Auto gehe, ist die Luft frisch und ich fühle mich leichter. Mama hat mit einem Zeh gewackelt. Es kann alles wieder gut werden, denke ich.

Am nächsten Tag ist wieder ein neuer Arzt da. Dieses Mal ist es der Oberarzt der Stroke Unit. Er ist mir sympathisch. Ein robuster älterer Mann mit trockener Haut, festem Haar und einem ebensolchen Händedruck.

Mama wackelt inzwischen nicht mehr mit dem großen Zeh, sie strampelt mit beiden Beinen.

Der Arzt stützt sich auf das Bettgitter und sieht sie an. Seit fünf Tagen hat sie die Augen nicht aufgemacht.

„Die Frage ist nun: Wo soll es hingehen? Der schwere Schlaganfall, die Krebsdiagnose … Hm.“

Er zieht ein zusammengefaltetes Bündel Papier aus seiner Kitteltasche und liest darin. Ich finde es bemerkenswert, dass es im Zeitalter, wo beinahe alles digitalisiert ist, noch immer Krankenhausärzte gibt, die mit Zetteln in der Tasche zurechtkommen.

„Ja, wo soll es hingehen …“, sagt er noch einmal.

„Na, immerhin ist der Blutdruck heute viel besser“, helfe ich ihm aus der Ratlosigkeit.

Er nickt. „Auf jeden Fall kann sie heute oder morgen auf die allgemeine neurologische Station verlegt werden. Unsere Behandlung hier ist beendet. Na, wir schauen mal, wo es hingeht.“

Mehr sagt er nicht und dann geht er.

Schade.

Schließlich wird Mama noch am selben Tag auf die neue Station verlegt.

Ich zähle die positiven Ereignisse. Von der Intensivstation auf die Stroke Unit, dann auf die Neurologische. Sie hat schon fünf Tage ohne Blutverdünner überlebt. Sie bewegt die Beine. Der Blutdruck ist gesunken. Sie ist zäh. Das ist gut.

Ich renne neben dem Bett her, das ein Pfleger eilig durch Gänge und in Aufzüge schiebt. Ich halte Mamas Hand, die ganze Zeit, und bemühe mich, in der allgemeinen Geschäftigkeit im Krankenhaus niemandem im Weg zu sein.

Ich drehe mich zu Papa um, der hinter dem Bett herläuft. Er wischt sich die Augen.

Dann sind wir auf der neurologischen Station.

Neue Ärzte und sehr junges, ausschließlich weibliches Pflegepersonal.

Es könnten sogar noch Schülerinnen sein, denke ich.

Mama bekommt ein Bett in einem Doppelzimmer, nicht am Fenster, sondern an der Tür.

Papa und ich bekommen erklärt, wie man die Fernbedienung für das Bett richtig benutzt und dass wir beachten müssen, dass das Bettgitter auf beiden Seiten oben sein muss, wenn wir Mama alleine lassen, und dass der Urinbeutel immer tiefer hängen muss als die Blase ist.

Manchmal macht Mama die Augen auf und schaut uns an, und ich beginne damit, ihr meine Hände aufzulegen. Ich lege sie auf die betroffene Gehirnhälfte. Manchmal lasse ich meine Hand in einem kleinen Abstand über ihrem Haar schweben, und dann fühlt sich unser beider Energie an wie eine samtige, warme Blase. Manchmal lege ich die Hand direkt auf ihren Kopf und das zieht mir meine Energie in kleinen Stichen durch die Haut. Ich lasse es zu, ich gebe ihr, was sie braucht, sie kann alles haben von mir. Ich bin stark genug dafür.

Eine Physiotherapeutin kommt herein, die sich aus irgendeinem Grund abhebt vom Rest der Station. Sie sieht aus, als würde sie ihren Beruf schon sehr lange ausüben. Sie ist groß und hager und trägt ihr graues Haar kinnlang. Sie hat einen riesigen freundlichen Mund, herzliche ungeschminkte Augen und ist vollkommen bei uns. Sie stellt sich vor, schüttelt unsere Hände und sieht uns an. Sie streichelt Mamas Unterschenkel und klopft sie aufmunternd. Mama reagiert sofort positiv auf sie.

„Frau Conrad, schön, dass Sie hier sind. Wir werden jetzt viel zusammen üben.“ Sie redet laut und freundlich und sieht Mama direkt ins Gesicht.

Da macht sie die Augen weit auf und strahlt zurück.

Papa und ich stehen wortlos daneben, und noch bevor ich unserem Staunen Ausdruck verleihen kann, wendet sich die Physiotherapeutin uns zu. „So, wir brauchen Sachen zum Anziehen, eine Sporthose, T-Shirts und Pullover und vor allem bequeme Schuhe. Am besten solche mit Klettverschluss. Die können wir am einfachsten anziehen. Sonst kann sie ja nicht raus aus dem Bett“, lacht sie freundlich und schaut Mama wieder an.

„Wirklich?“, frage ich begeistert. Ich dachte nicht, dass es hier jemand gibt, der es für möglich hält, dass man Mama wieder etwas lernen kann.

„Ja, das können wir machen.“ Ich merke ihm die Freude an, überhaupt irgendetwas tun zu können.

„Ja, natürlich. Das können wir gleich heute machen. Dann fahren wir jetzt und kommen nachher wieder.“

„Ja, toll!“, sagt die Physiotherapeutin. „Dann bis später. Ich bin den ganzen Tag hier.“

Wir schweben nach Hause und mit der gewünschten Kleidung zurück ins Krankenhaus. Mama schläft und wir bleiben an ihrem Bett, ich halte immer ihre Hand, und manchmal gehe ich mit Papa einen Kaffee trinken.

Am nächsten Tag treffen wir uns wieder vor dem Krankenhaus, rennen zusammen die Wege entlang, an die wir uns noch nicht gewöhnt haben, und ich starre den Stationsgang entlang.

„Ist das Mama?“, frage ich und kneife die Augen zusammen, weil ich schlecht sehe.

„Nein.“ Papa schüttelt den Kopf. Ich starre noch ein bisschen.

„Doch, das ist Mama. Sie sitzt im Rollstuhl.“

Unsere Schritte fliegen über den blank geputzten Flur. Genau eine Woche nach ihrem schweren Schlaganfall sitzt sie aufrecht in einem Rollstuhl und schaut sich um. Ich flippe aus vor Freude. Wir umarmen und herzen sie. „Mama, du bist ja wach. Das ist ja der Wahnsinn!“

Ich mache ein Foto von ihr und schicke es meinem Cousin.

„Wenn du mich fragst, dann grenzt dieses Foto an ein Wunder“, schreibt er sofort zurück.

Ja, es ist ein Wunder. Es ist ein Fest.

Mama schaut uns an und dann immer wieder von uns weg, den Flur hinunter. Sie schaut, als würde sie uns täuschen und etwas Zeit gewinnen wollen, bevor wir bemerken, dass sie nicht sprechen kann.

Das musst du nicht, Mama, denke ich, das haben wir schon bemerkt.

„Du siehst heute aus wie Gertrud Müller“, sage ich und streiche ihr das glatte, fettige Haar noch etwas glatter. Gertrud Müller ist eine alte Dame, die wir beide kennen und die trotz ihres biederen Aussehens immer sehr vornehm tat und ein spitzes Mündchen machte.

Mama sieht mich an und prustet kurz. Wir lachen zusammen, und ich lache noch etwas länger, weil ich mich so freue, dass sie mich verstanden hat.

Papa gibt ihr ein Plüschschweinchen, das ich ihr nach der Krebsdiagnose geschenkt hatte, in die gesunde Hand und sie hält es fest. Wir erzählen irgendetwas, ich entwirre ihre Haare ein bisschen mit den Fingern.

Was für ein großartiger Tag.

Dann fangen wir an, Dinge ins Krankenhaus zu schleppen. Gesichtscreme, eine Haarbürste, Trockenshampoo und Lippenbalsam. Eine Zeitschrift und dann noch eine weitere.

Ulrich, Mamas Schwager, kommt und bringt einen Igelball mit und noch ein anderes Gerät, um das Greifen neu zu erlernen.

„Das ist noch von meinem Vater“, sagt er.

Ich komme auf die Idee, dass sie Musik hören sollte, die sie mag, und dass sie etwas braucht, was ihre Sinne anregt. Und weil mir so schnell nichts Besseres einfällt, besorge ich erst einmal Säckchen mit getrocknetem Lavendel.

Dann spiele ich Mama Musik vor, aber es scheint nicht die richtige zu sein. Sie reagiert nicht darauf und ihre Augen bleiben wie meistens geschlossen. Nach dem fünften Mal „Atemlos durch die Nacht“ komme ich auf die Idee, dass es die Bettnachbarin stören könnte.

Sie lacht und sagt, dass es ihr egal sei. Aber ich lasse es trotzdem bleiben.

Wir reden oft mit der netten Physiotherapeutin. Sie erklärt uns, was es bedeutet, eine Aphasie erlitten zu haben, dass Mama aber unbedingt Reize braucht, damit sie sich nicht in sich zurückzieht, weil man dann von außen nicht mehr viel machen könne.

Aha, denke ich, aha. Dann sind wir auf dem richtigen Weg.

Ich fange an, Mama vorzusingen. Aus irgendeinem Grund scheint mir das sinnvoll zu sein. Ich singe Volkslieder. Den Begriff Volkslied mag ich nicht sehr, aber mir fällt nichts anderes ein.

Also singe ich Volkslieder. Ich kenne viele, mein Großvater hat immer mit mir gesungen. Umso erstaunlicher ist es, wie wenige Lieder mir jetzt einfallen.

Ich singe Im Harz da ist es wunderschön, Das Rennsteiglied und