You Are My TRUTH - Felicitas Brandt - E-Book
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You Are My TRUTH E-Book

Felicitas Brandt

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Beschreibung

Willkommen zurück in Bibertal Lexie, Emma und Gideon dachten, sie würden für immer Freunde bleiben. Doch dann fand für immer ein Ende: Lexie lief davon. Heute lebt sie bunt, chaotisch und stets voller Koffein mit ihren unterschiedlichsten tierischen Mitbewohnern in Bibertal und steckt ihr Herz in die Arbeit des nahegelegenen Wildparks. Doch dann führt Gott Gideon ebenfalls nach Bibertal. Nach einem misslungenen Feuerwehreinsatz soll er sich hier erholen. Bald merken die beiden: Trotz der vergangenen Jahre sind immer noch Gefühle füreinander da. Und als im Wildpark ein Feuer ausbricht, steht plötzlich viel mehr auf dem Spiel als eine alte Freundschaft ... Der 2. Band der Way.Truth-Life-Serie von der beliebten Autorin Felicitas Brandt. Der christliche Roman aus dem neuen Genre Faithful New Adult enthält wieder jede Menge Romantik, Freundschaft, Humor und Glauben. Band 1: "You are my WAY" Band 2: "You are my TRUTH" Band 3: "You are my LIFE" (erscheint voraussichtlich im Herbst 2025) Wenn du diese Tropes gerne liest, ist "You are my TRUTH" genau richtig für dich: - Second Chance - Friends to Lovers - Found Family - Slow Burn

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Seitenzahl: 461

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Felicitas Brandt

You are my Truth

Die Bibelstellen sind der Schlachter-Übersetzung entnommen.

Bibeltext der Schlachter. Copyright © 2000 Genfer Bibelgesellschaft.

Wiedergegeben mit freundlicher Genehmigung. Alle Rechte vorbehalten.

Rechtenachweis für S. 71 und Umschlagseite 2: „Du bist ein Gott, der mich sieht“

Text (zu 1. Mose 16,13) und Musik: Hans-Joachim Eißler, Gottfried Heinzmann

© 2022 Praxisverlag buch+musik bm gGmbH, Stuttgart

© 2024 Brunnen Verlag GmbH, Gießen

Lektorat: Carolin Kotthaus

Umschlagillustration: Adobe Stock

Umschlaggestaltung: Daniela Sprenger

Satz: Brunnen Verlag GmbH

ISBN Buch 978-3-7655-2155-3

ISBN E-Book 978-3-7655-7866-3

www.brunnen-verlag.de

Für Judith ♥

Inhalt

Personenregister

Was bisher geschah

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Epilog

Die Autorin

Leite mich in deiner Wahrheit und lehre mich, denn du bist der Gott meines Heils; auf dich harre ich allezeit.

Psalm 25,5

Personenregister

Emma ist im Frühjahr nach Bibertal gezogen und arbeitet dort als Buchhändlerin. Sie ist mit Finn liiert und lebt in einem Bungalow zwischen den Grundstücken von Lexie und Finn. Lexie und sie kennen sich seit dem Kindergarten, haben sich aber aus den Augen verloren.

Gideon, Emmas Zwillingsbruder, ist Feuerwehrmann in München. Er vermisst seine Schwester und spielt mit dem Gedanken, nach Bibertal zu reisen, um sie zu besuchen. Wie Emma kennt auch er Lexie seit seiner Kindheit und hatte schon damals Gefühle für sie.

Finn ist ein ehemaliger Reitsportprofi und lebt zusammen mit seiner Schwester und Nichte auf einem Anwesen außerhalb von Bibertal. Seine Vergangenheit ist düster, doch durch die Hilfe seiner Freunde und schließlich auch Emma hat er zurück ins Leben gefunden.

Aylin, Finns ältere Schwester, ist Krankenschwester und Mutter. Sie ist eine leidenschaftliche Reiterin und Künstlerin, leidet aber unter dem Druck ihres Jobs und der Angst, ihrer Tochter Auri nicht gerecht zu werden.

Auri, Aylins Tochter, liebt ihr Pony Archibald, ihre Hunde Nemo und Marlin, Kinoabende mit ihrem Onkel – und Popcorn!

Lexie ist Finns Nachbarin und kam vor einigen Jahren nach Bibertal, um für die Tierschutzorganisation Second Chance den Aufbau eines Bärengeheges zu übernehmen sowie die Ansiedlung und Überwachung der Tiere zu verwalten. Ihre Adoptivmutter ist die bekannte Fotografin Yara Flemming.

Ian kam kurz nach Lexie nach Bibertal. Über seine Herkunft ist nicht viel bekannt, umso wilder sind die Gerüchte, die man sich in Bibertal erzählt. Er arbeitet im Dankbar, dem besten Restaurant von Bibertal, und lebt gemeinsam mit seinem Hund Jamie in einem kleinen Häuschen im Wald.

Noah ist der örtliche Tierarzt und ein fester Bestandteil der Freunde-Truppe. Durch seine Arbeit ist er in Bibertal gut vernetzt. Lexie und er unterstützen sich beruflich, wo sie nur können.

Amal ist Finns bester Freund und Polizist. Er ist mit seiner Jugendliebe Nanni verheiratet und sehr aktiv in ihrer kleinen Kirchengemeinde. Außerdem liebt er komplizierte Brettspiele.

Nanni ist Lexies Freundin und erwartet mit Amal zusammen ihr erstes Baby. Außerdem ist sie die Nichte von Emmas Chefin im Buchladen und hat Emma zu ihrem Job verholfen. Sie ist Lexies Anker, doch mehrere Fehlgeburten überschatten ihr sonniges Wesen.

Sabine ist Emmas und Gideons Mutter, hat jedoch kein gutes Verhältnis zu ihren Kindern. Sie ist eine erfolgreiche Reporterin und für eine gute Story würde sie so ziemlich alles tun.

Was bisher geschah

Bibertal ist das Zuhause einer bunten Gruppe von Menschen mit den unterschiedlichsten Geschichten. Im Frühjahr kam Emma Keller hierher, nahm einen Job im Buchladen an und verliebte sich in Finn Iversen. Allen Umständen zum Trotz wurde aus Emma und Finn ein Paar und Emma durfte in Bibertal ihr Zuhause finden. Und sie traf auf eine alte Kindheitsfreundin: Lexie.

Lexie ist fester Bestandteil der Bibertaler Gemeinschaft und arbeitet für die Tierschutzorganisation Second Chance im Wildreservat. Vor Jahren traf sie eine schwere Entscheidung – und die holt sie jetzt ein …

Triggerwarnung

Hi du,

dieses Buch enthält Elemente, die triggern können.

Diese sind: Fehlgeburt, Adoption.

Es sind nicht die Hauptthemen dieser Geschichte, es betrifft nur wenige Szenen, aber ich möchte dich trotzdem darauf hinweisen, damit du dich schützen kannst.

Solltest du in dieser Hinsicht Bedenken oder Rückfragen haben, melde dich gerne bei mir oder anderen Lesern, die das Buch kennen.

Deine Felicitas

Prolog

Als Gideon Keller heute Morgen aufgestanden war, hatte er nicht geahnt, dass dies der Tag war, an dem er sterben würde.

Wenn er es gewusst hätte, hätte er einiges anders gemacht. Zum Beispiel hätte er sich bei Starbucks den White Mocca gegönnt, auf den er schon die ganze Woche Lust gehabt hatte.

Er hätte sich auch ein Schokocroissant gekauft statt den Gemüse-Smoothie.

Und er hätte gestern Abend doch noch die letzte Folge seiner aktuellen Serie geschaut und sie nicht aufgrund der späten Uhrzeit auf heute verschoben.

Ganz sicher wäre er nicht zur Arbeit gegangen, sondern hätte sich in sein Auto gesetzt und wäre quer durchs Land gefahren, um seine Zwillingsschwester Emma zu besuchen.

Und sie.

Wenn Gideon Keller gewusst hätte, dass dies sein letzter Tag auf Erden werden würde, hätte er ihn definitiv anders gestaltet. Und er hätte wohl niemals einen Fuß in das einsturzgefährdete Haus im Hochweg 27 gesetzt.

Aber er hatte es nicht gewusst.

Ein weiteres Mal stemmte er sich mit aller Macht gegen den Balken, der auf ihn hinuntergekracht war, doch der rührte sich nicht und nagelte ihn weiter auf dem Boden fest.

Keuchend rang Gideon nach Atem. Sein Helm war ihm vom Kopf geschlagen worden, vermutlich hatte er ihm das Leben gerettet. Doch jetzt lag er zusammen mit seiner Schutzmaske genau außerhalb seiner Fingerspitzen und der giftige Rauch kroch ungehindert in seine Lunge.

Hektisch huschte sein Blick über das wenige, was er erkennen konnte.

Als er den Flur des Hauses durchquert hatte, hatte er nicht bemerkt, dass ihm jemand folgte. Der Stoß zwischen die Schulterblätter traf ihn völlig unvorbereitet und bereits im nächsten Moment gab der Boden unter ihm nach.

Die Polizistin draußen vor dem Gebäude hatte ihn gewarnt, dass das Haus baufällig war, fast schon eine Ruine. Doch das war nicht das einzige Problem. Seit dem Moment vor einigen Tagen, als Gideon aus seinem Verdacht eine Anklage gemacht hatte, hatte er sich selbst ins Fadenkreuz gestellt. Und jetzt war jemand hinter ihm her. Und er war klug.

Gideons rechte Hand tastete nach seiner Hosentasche, bis ihm einfiel, dass er sein Handy nicht bei sich hatte – es hing auf der Wache am Ladekabel.

Panik flammte in ihm hoch. Er würde Emma nicht mehr sprechen können. Es würde keinen Besuch geben, wie er ihn gestern in ihrem Telefonat angekündigt hatte. Kein Wiedersehen mit Finnegan, der sich einfach in Emmas Herz geschlichen hatte und jetzt so etwas wie sein Schwager in spe war.

Und er würde auch sie nicht wiedersehen.

Lexie.

„Jesus, warum?“, keuchte er. „Warum jetzt?“

Doch da war keine Antwort auf seine Frage.

Etwas Nasses lief ihm übers Gesicht. Er fürchtete sich nicht vor dem Tod, er wusste, wo er die Augen aufschlagen würde. Und doch …

„Ich bin noch nicht fertig“, flüsterte er. „Bitte, Jesus. Wenn ich noch ein bisschen Zeit bekommen könnte … nur ein bisschen.“

Da bemerkte er den Schatten. Umhüllt von Rauch war er nicht mehr als ein vager Umriss inmitten von Grau. Gideon blinzelte, versuchte etwas zu erkennen, doch der Rauch verschleierte sein Gegenüber und trieb ihm die Tränen in die Augen.

Er wollte rufen, doch die Worte wurden von einem Husten erstickt. Pure Qual loderte in seiner Brust auf. Der Schemen machte einen Schritt auf ihn zu und Panik entzündete sich in all seinen Nervenenden. Noch einmal stemmte er sich gegen das Gewicht auf seiner Brust und für einen kurzen Moment schien es, als würde die Last leichter werden. Da stöhnte das Haus auf wie unter einer schweren Last. Der Schatten hielt inne. „Ich krieg dich“, keuchte Gideon. „Du kannst nicht ewig so weitermachen.“

Es war unheimlich zu wissen, dass man angestarrt wurde, aber dem anderen nicht in die Augen sehen konnte. Der Schemen machte eine Bewegung, eine spöttische Geste – und verschwand.

Hektisch blinzelte Gideon, versuchte eine Bewegung zu erahnen. Gab er auf? Kam er zurück und brachte es zu Ende? Die Erschöpfung drückte ihn zu Boden.

Gideon fielen die Augen zu. Ein lächelndes Gesicht tauchte vor seinem inneren Auge auf und er hörte die Stimme seiner Schwester.

„Gideon, ich muss dir etwas sagen. Es ist Lexie. Sie ist hier. In Bibertal.“

Schwere ergriff ihn und fühlte sich an, als würde er langsam im Boden versinken. Irgendwo da draußen waren seine Kollegen und versuchten, ihn zu finden. Ob sie rechtzeitig kommen würden?

Das Atmen schmerzte. Müdigkeit glitt über ihn hinweg.

Und dann war da nichts mehr.

Kapitel1

„Ich glaube, jetzt hab ich es!“ Triumphierend pappte ich die kleine weiße Kugel auf das zerdellte Fondant. Es hielt ungefähr zehn Sekunden, dann rutschte Olafs Kopf in Slow Motion von seinem Schneemann-Körper herunter und platschte auf die Arbeitsfläche.

Aylin Iversen warf mir einen Blick zu, der in mir den Wunsch weckte, ihren Kopf ebenfalls in die mehlige Fläche zu drücken.

„Spar es dir!“ Ich hob einen mit Fondant verschmierten Zeigefinger. „Keinen Mucks.“ Frustriert starrte ich auf Olafs Kopf. „Und wenn ich Sekundenkleber nehme?“

„Für eine Figur auf einer Kindergeburtstagstorte? Im Ernst, Lexie?“

„Sie werden ja wohl kaum die Figuren essen!“, hielt ich dagegen. „Immerhin gibt es Torte!“

Aylin wirkte nicht überzeugt. Seufzend sammelte ich Olafs Kopf wieder ein und versuchte, den Knick aus seiner Möhrennase zu biegen.

„Das war eine miese Idee“, brummte Aylin. „Wir brauchen Zoey!“

„Wir üben doch bloß. Du weißt, sie kann den Laden nicht allein lassen. Jetzt wo Emma …“ Der Rest des Satzes verlor sich irgendwo auf meinen Lippen.

Aylin warf mir einen seltsamen Blick zu, schwieg aber. Stille Leute waren sie, diese Iversens. Doch mit ihren Blicken konnten sie ganze Romane füllen.

Das Summen meines Handys rettete mich aus diesem Moment. Ich las die Nachricht und stöhnte auf. „Es ist Nanni, sie kann nicht kommen. Das Baby mag die Hitze nicht.“

„Wer tut das schon“, brummte Aylin. Verschwitzte Haarsträhnen klebten an ihren Schläfen. „Okay, komm, wir machen die Muffins für die Schule, die sie morgen mitbringen kann. Und wegen der Torte rede ich noch mit Zoey.“

„Wir kriegen das hin“, versuchte ich ihren irren Blick zu dämpfen. „Na los, sag mir die Zutaten und ich arbeite.“ Schwungvoll klatschte ich ein bereitliegendes Paket Mehl auf die Kücheninsel, das prompt aufriss und eine weiße Wolke aufsteigen ließ.

Hustend wich ich zurück und stieß mit der Hüfte schmerzhaft gegen eine Küchenschublade, die ich dummerweise offen stehen gelassen hatte. „Eure Küche ist zu klein“, beschwerte ich mich.

„Oh, sollen wir vielleicht lieber zu dir rübergehen?“, erkundigte sich Aylin mit vor Sarkasmus triefender Stimme. „Ach, ich vergaß – du hast ja immer noch keine Küche!“

Ich widerstand dem Drang, ihr die Zunge rauszustrecken, nur mühsam. „So wichtig sind Küchen gar nicht. Ich besitze einen Sandwichtoaster, eine Kaffeemaschine und einen Kühlschrank. Und ich komme wunderbar zurecht.“

„Du bist den ganzen Winter rübergekommen, weil dein Wasserkocher kaputt war und du unseren benutzt hast.“

„Das … ja.“ Widerwillig musste ich ihr da zustimmen. Meine Küche sollte ja eigentlich auch schon vor vier Wochen geliefert worden sein, aber es hatte ein paar Schwierigkeiten gegeben und nun stand ich immer noch ohne da. Dafür hatte der Rest meines kuscheligen Heims mittlerweile sehr gut Form angenommen. Bis auf die ein oder andere Ecke.

„Hast du inzwischen Strom?“, fragte Aylin und begann, das Mehl abzumessen.

„Schon ewig“, behauptete ich und studierte die Angaben im Rezept, während ich fachmännisch die Backpulver-Tütchen schüttelte. „Bad und Schlafzimmer sind fertig. Das Arbeitszimmer auch. Na ja, bis auf den Aktenschrank. Und ein paar Regale fehlen hier und da. Und ich muss noch einige Kisten auspacken. Und im Sofa fehlen noch ein paar Schrauben … Weißt du, wo Finn seinen Akkuschrauber hat?“

„In der Garage.“

„Super.“ Geschickt riss ich die Tütchen auf. „Wo steckt das Geburtstagskind eigentlich?“

„Oben.“

Entsetzt sah ich zur Decke. „Und wenn sie runterkommt?!“

„Was hätte ich tun sollen? Meine drei Babysitter sind unterwegs oder hier mit mir in der Küche.“ Aylin wischte sich energisch die Haare aus dem Gesicht. „Ich hatte keine Wahl.“

Ich beschloss zu schweigen, häufte das Backpulver in die Schüssel und wollte nach dem Zucker greifen, doch Aylin zog es aus meiner Reichweite. „Lexie.“

„Was?“

„Hör auf durchzudrehen.“

„Bitte? Es geht mir gut!“

„Du hast gerade drei Esslöffel Backpulver in die Schüssel gekippt anstatt Teelöffel. Willst du die gesamte Klasse frühzeitig von ihren Milchzähnen befreien?“

Verdutzt starrte ich auf den Löffel in meiner Hand. „Oh.“

Seufzend zog Aylin die Schüssel zu sich und machte sich an die Korrektur meines Desasters. „Okay, leg schon los.“

„Womit?“

„Du platzt doch bald. Nanni wird nicht kommen, Emma ist nicht hier. Ich werde fünf Minuten deine Freundin sein. Und dafür verwüstest du nicht meine Küche.“

„Ach, und was warst du die letzten anderthalb Stunden?“

Wieder einer dieser Blicke – einer von denen, bei dem sie ihrem Bruder Finn so unfassbar ähnlich sah.

„Okay, okay, ich möchte die 5-Minuten-Freundin!“, ruderte ich hastig zurück und griff mir an den Kopf. Zu spät erinnerte ich mich an die Fondantspuren an meinen Fingern. „Vielleicht bin ich … ein bisschen neben der Spur. Auf der Arbeit ist viel los und Grumpy … ist Grumpy, aber eben irgendwie mehr als sonst.“

„Du meinst Gregor, den Typen vom Wildpark?“

„Du kennst ihn?“

„Jeder kennt ihn.“ Aylin zuckte mit den Schultern.

Ich knabberte an meiner Unterlippe herum und wischte Mehl von meinen Shorts. Selbst meine Flip-Flops waren bestäubt. Vielleicht hätte ich doch die Schürze annehmen sollen, die Aylin mir entgegengestreckte, als ich hier aufgetaucht war und ihr meine Hilfe angeboten hatte.

Okay – aufgezwungen. Ich hatte sie ihr aufgezwungen. Aber ich konnte es einfach keine Sekunde länger bei mir aushalten, als Emma geschrieben hatte, dass sie auf dem Rückweg von München waren. Zu dritt!

Mein Herz kam schon wieder ins Stolpern.

Aylin räusperte sich, während sie den Zucker abwog und zu den anderen Zutaten gab. „Die Zeit läuft.“

Unfähig, mein Innerstes in Worte zu fassen, schüttelte ich den Kopf und griff nach einem Lappen. „Ich weiß nicht, was ich dir sagen soll!“

„Oh, ich bitte dich! Seit ich dir gesagt habe, dass Emma mit meinem Bruder losgefahren ist, weil ihr Bruder im Krankenhaus liegt, bist du ein nervliches Wrack.“

Der Lappen rutschte mir aus der Hand, klatschte direkt auf meinen nackten Fuß, und als ich mich danach bückte, stieß ich mir den Kopf am Griff des Backofens. Das war’s! Ich werde mich einfach hier auf den Boden legen und nicht weiterbewegen. Nie wieder.

Aylin seufzte erneut, ließ den Zucker Zucker sein, holte eine Karaffe aus dem Kühlschrank und schenkte zwei großzügige Gläser voll mit dunkelbrauner Flüssigkeit ein. Auffordernd nickte sie zur Sitzecke hinüber und schob mir ein Glas zu, als ich mich setzte. Ich schloss die Finger um das kühle Glas und schnupperte. „Ist das Zoeys Eiskaffee?“

„Jep.“

„Hat sie dir etwa das Rezept verraten?!“

Aylin hob nur vielsagend die Brauen und nippte genüsslich an ihrem Getränk. Ich tat es ihr gleich und wäre vor Wonne am liebsten dahingeschmolzen. Niemand brühte so hervorragenden Eiscafé wie Zoey, die Besitzerin des besten Cafés von Bibertal und Umgebung.

„Also.“ Aylin musterte mich über ihr Glas hinweg. „Emma bringt ihren Bruder mit her und du bist noch kopfloser als sonst. Ich habe der ganzen Sache zugestimmt – wie könnte ich es auch abschlagen –, aber du machst mich nervös. Wen hole ich mir da ins Haus, Lexie? Sag ehrlich, ist er ein Swiftie? Singt er unter der Dusche? Bitte sag nicht, dass er auf Zucker verzichtet und nur Markenklamotten trägt, die man von Hand waschen muss.“

Ein ungläubiges Lachen platzte über meine Lippen, während vor meinem inneren Auge das Bild eines sechzehnjährigen Jungen auftauchte, über und über bedeckt mit Holzspänen und einem blutigen Daumen, weil er sich geschnitten hatte. „Gideon Keller würde ohne Zucker nicht mal einen Tag überstehen. Vermutlich nicht einmal einen halben.“

Ich dachte an die Martinsumzüge zurück, wo wir Taschen voller Süßkram nach Hause getragen hatten, an seine Geburtstage, an denen seine Augen nichts so sehr zum Leuchten gebracht hatte wie seine Lieblingsschokoriegel.

„Ach du Schande.“ Aylins Augen wurden rund und sie wies auf mein Gesicht. „Es geht gar nicht darum, dass er ein Idiot ist. Du magst ihn.“

„Das habe ich nicht gesagt.“

„Musst du nicht. Dieses verträumte Lächeln sagt alles. Es klebt seit Wochen auf dem Gesicht meines Bruders.“ Alyin sprang auf und ging zurück an die Arbeit, während ich mir ins Gesicht fasste, als könnte ich besagtes Lächeln dort irgendwie erfühlen. „Warte mal, du hast gedacht, dass …“

„… du ihn nicht leiden kannst. Dass er ein Trottel ist, eine totale Dumpfbacke. Dass du Emma das aber nicht sagen kannst und es dir unangenehm ist, wenn er hier auftaucht.“ Aylin lachte auf. „Oh Mann, so ist es viel besser. Zumindest für mich.“ Sie deutete mit dem Schneebesen in meine Richtung. „Weiß er, was du für ihn fühlst?“

„Ich fühle überhaupt nichts!“, ächzte ich. „Niemand fühlt hier irgendwas, es sind hundert Jahre vergangen seit damals.“

„Wart ihr ein Paar?“

„Wir waren Kinder!“

„Also ja.“ Aylin runzelte die Stirn. „Wird es dramatisch? Ich will kein Drama auf dem Geburtstag meiner Tochter, verstanden?“

„Es wird nicht … Niemand wird … Ich habe nicht vor … Er wird vielleicht gar nicht …“ Mit einem Stöhnen vergrub ich mein Gesicht in meinen Händen. Die Freundin Aylin war schonungslos. Vermutlich hatten wir uns deshalb noch nie derartig ausgetauscht. „Denkst du, dass ich –“

„Freundinnen-Zeit ist um“, verkündete meine Mitbäckerin fröhlich. „Bin nicht länger zuständig. Kannst du mir die Muffinform aus der Schublade unterm Ofen holen? Und dann legst du diese Papierförmchen rein.

Zu perplex für Widerworte machte ich mich an die Arbeit. Die Kiste in meinem Hinterkopf, die mit Gideons Namen darauf, stand noch immer einen winzigen Spalt offen und immer wieder entwischte ein Bild daraus oder ein Gefühl und mischte sich in mein Jetzt.

Gideon Keller war seit der ersten Klasse mein bester Freund gewesen – und mehr. Wir hatten diverse Kindergartenhochzeiten hinter uns gebracht und Freundschaftsbänder geknüpft – und ohne seine geflüsterten Antworten hätten weder Emma noch ich die Schule geschafft. Wir waren immer ein Dreiergespann gewesen, vollkommen sorglos und bis zur letzten Faser verbunden. Bis mir eines Tages klar geworden war, dass ich mich in meinen besten Freund verliebt hatte …

Ein Ofenhandschuh flog mir gegen den Kopf. „Wenn du das fertig hast, kannst du den Teig einfüllen. Immer zwei Löffel.“ Aylin verzog die Lippen. „Bitte ohne Sauerei.“

Jetzt streckte ich ihr doch die Zunge heraus und in ihrem Gesicht zuckte es belustigt. „Wenn du willst, kann ich Auri und die Muffins zur Schule fahren“, bot ich an. „Je nachdem, wie du Schicht hast.“

„Finn hat das schon angeboten, aber danke dir.“ Aylins Miene verdüsterte sich. „Ich hatte Urlaub eingetragen, aber wir sind so unterbesetzt, dass mir der gestrichen wurde. Schon wieder.“

Ich schob mir einen Finger voll Teig in den Mund, unsicher, wie weit ich mit einer Antwort gehen durfte. „Das ist echt blöd. Du tauschst doch auch oft für andere die Schichten …“

Sie knurrte nur statt einer Antwort und starrte böse in das Backbuch. Ich wollte ihr gern sagen, dass sie nach Strich und Faden ausgenutzt wurde, dass sie zu hart arbeitete und irgendwann vermutlich zerreißen würde bei dem Versuch, ihren Job zu machen und Auris Mutter zu sein. Aber was hätte das geändert? Ich war mir ziemlich sicher, dass sie das schon wusste.

Als die Hunde draußen zu bellen begannen und das vertraute Geräusch von Finns Wagen sich näherte, fühlte es sich an, als würde mein Herz zwischen den Rippen hindurchspringen und die Flucht ergreifen. Ich spürte Aylins Blick auf mir, als ich aus der Küche und in den Flur huschte. Meine Flip-Flops platschten auf den Fließenboden. Durch den Glasstreifen neben der Tür konnte ich den Hof überblicken. Finn hielt vor der Garage, der Wagen war mit einer staubigen Schicht bedeckt. Emma stieg als Erste aus. Selbst auf die Entfernung konnte ich die Schatten unter ihren Augen sehen. Sie öffnete die hintere Tür … und da war er.

Breite Schultern schoben sich aus dem Wagen, ein kurzer Haarschopf, dunkelrot wie das Fell eines Eichhörnchens. Gideon überragte seine Schwester um ein ganzes Stück. Er war zu einem wahren Riesen herangewachsen, ein Riese mit heller Haut, dem das T-Shirt über der Brust spannte.

In mir ziepte es schmerzhaft. Ich fand so viel Vertrautes in seinem Gesicht – und gleichzeitig doch nicht. Er hatte sich verändert. Natürlich, wie auch nicht?

Und dann war da noch der große Bluterguss auf der linken Gesichtshälfte, bei dem mein Magen kurz absackte. Ein Verband über dem rechten Unterarm, ein kurzes, schmerzerfülltes Zucken, als er sich nach der langen Fahrt streckte.

„Er ist eingestürzt“, hörte ich Emmas Stimme in meinem Kopf. „Ist einfach durch die Decke gekracht. Es ist ein Wunder, dass er sich nichts gebrochen hat.“

Ein Wunder.

Von denen war ich in letzter Zeit einigen begegnet.

„Lexie.“

Ich wirbelte herum. Wann war Aylin hinter mir im Flur aufgetaucht? Ich starrte sie an, wie das sprichwörtliche Reh im Scheinwerferlicht. Ihr Blick glitt über meine Schulter und musterte die Ankömmlinge.

„Ich …“, würgte ich hervor, doch mehr Worte waren da einfach nicht. Mein Kopf war vollkommen leer.

Sie sah mir ins Gesicht, seufzte leise und wies zur Küche. „Niemand fühlt hier irgendwas, hm? Na, geh schon, den Rest schaffe ich auch allein.“

„Danke“, hauchte ich und flitzte an ihr vorbei.

„Aber Lexie, denk daran!“, rief sie mir nach, als ich schon fast an der Küchentür angekommen war. „Kein Drama auf der Geburtstagsfeier meiner Tochter!“

Gideon

Ziemlich groß.

Das war Gideons erster Gedanke, als Finns Wagen mit ihm auf der Rückbank die Einfahrt der Iversens hinunter und auf das Haus zufuhr.

Seine Zwillingsschwester drehte sich zu ihm um. „Geschafft“, verkündete sie strahlend. „Wie fühlst du dich?“

So wie das letzte Mal, als du gefragt hast, dachte er, sagte jedoch laut: „Ganz okay.“

Emmas Blick glitt prüfend über ihn hinweg, doch sie gab sich tatsächlich damit zufrieden und wandte sich wieder nach vorn. Finn griff nach ihrer Hand und drückte sie sanft.

Gideon unterdrückte ein Stirnrunzeln. Als er Emma von Finn erzählt hatte, hatte er nicht damit gerechnet, dass der ehemalige Reitprofi sich als sein zukünftiger Schwager entpuppen würde. Sein Beschützerinstinkt regte sich, immerhin kannte er Finn nicht wirklich gut. War er überhaupt gut genug für Emma?

Sollte sie das nicht selber entscheiden?, flüsterte eine leise Stimme in seinem Hinterkopf. Gideon schloss für einen Moment die Augen. Er war müde. So müde. Trotz der zwei Tage im Bett, bei denen er kaum mehr getan hatte, als vor sich hin zu dämmern und sich den Kopf zu zerbrechen.

Finn raunte Emma etwas zu und parkte vor einer geräumigen Garage. Gideon drückte die Türklinke hinunter und schob sich aus dem Wagen, um ihnen einen Moment zu gönnen. Sein Körper protestierte und freute sich gleichzeitig über die Bewegung nach der langen Fahrt. Und diese Luft! Er atmete tief ein. Wald und Sonne, Gras und irgendetwas Erdiges. So viel besser als der Krankenhausgeruch!

Die Haustür ging auf und Gideon hielt unwillkürlich die Luft an. Doch das kleine Mädchen, das nun nach draußen flitzte, dicht gefolgt von zwei gigantischen Hunden, war definitiv nicht Lexie. Sie trug eine hellblaue Latzhose und auf ihrem Kopf thronte ein Kranz aus Gänseblümchen. Neugierig rannten die Hunde auf ihn zu und er streckte ihnen die freie Hand entgegen, um sich ausführlich beschnuppern zu lassen, ehe er ihnen die Köpfe tätschelte.

Gideon schlug sich schon lange mit dem Gedanken herum, einen Hund zu adoptieren, doch seine Wohnung war zu klein und seine Arbeitszeiten zu mies, um ein Tier zu halten.

„Nemo, aus!“, befahl das kleine Mädchen. Einer der Hunde hatte Anstalten gemacht, an Gideon hochzuspringen. „Hallo, ich bin Auri“, fuhr die Kleine fort und streckte ihm geschäftsmäßig eine Hand entgegen.

Gideon schüttelte sie und bemühte sich dabei um ein ernstes Gesicht. „Sehr erfreut, ich bin Gideon.“

„Das wusste ich schon“, verkündete sie stolz. „Mama sagt, du wohnst jetzt bei uns, weil ein Haus auf dich draufgefallen ist.“ Sie musterte ihn von oben bis unten. „Dafür siehst du eigentlich ganz gut aus. War es ein kleines Haus? Wir haben ein kleines Haus im Garten. Emma wohnt dort. Du siehst ein bisschen aus wie Emma. Bedeutet das, ein Zwilling zu sein? Mia aus der 2b ist auch ein Zwilling, aber ihre Schwester sieht überhaupt nicht so aus wie sie. Tut es weh, wenn ein Haus auf dich drauffällt? Marlin ist mal auf mich draufgesprungen, das war schon schwer.“

„Auri!“ Eine Frau war aus dem Haus getreten. Lange blonde Haare reichten ihr beinahe bis zur Hüfte und ihre Arme wiesen Spuren von Mehl auf. „Vergiss nicht, Luft zu holen zwischen den Worten“, riet sie und drückte dem Gänseblümchenmädchen einen Kuss auf den Scheitel, ehe sie Gideon zunickte. „Hi, ich bin Aylin Iversen, Finns Schwester.“

Die Krankenschwester, schoss es Gideon durch den Kopf.

Ihre Augen waren tiefblau und blickten sehr ernst. Er war nicht gut darin, das Alter von Leuten zu schätzen, doch er vermutete sie irgendwo in seinem Jahrgang, vielleicht ein bisschen älter.

„Sie ist meine Mama“, krähte Auri und schmiegte sich an Aylin. „Meine ganz allein.“

„Freut mich“, brachte Gideon schließlich hervor. Auri hatte seinen Kopf ziemlich zum Summen gebracht. „Ich bin Gideon Keller.“ Einer der Hunde zupfte an seinem Hosenbein und Gideon machte eine ungeschickte Bewegung. Schmerz zuckte durch seine Rippen und das Lächeln verrutschte auf seinem Gesicht.

„Marlin, Nemo, aus!“, befahl Aylin und die Hunde wichen brav zurück. Aylins Blick wurde fachmännisch. „Wie schlimm sind die Schmerzen?“

„Aushaltbar“, gab er zurück. „Ein paar Prellungen.“ Plus eine Rauchvergiftung, eineQuetschung im rechten Oberschenkel und zahlreiche blaue Flecken, davon ein besonders schönes Exemplar mitten im Gesicht. Oh, und soll ich noch von dem Ärger auf der Wache anfangen? Oder damit, dass ich meine Schwester angelogen habe? Gideon unterdrückte ein Seufzen. Er wünschte sich sein Bett herbei – oder besser noch einen Pool, in dem er schwerelos dahintreiben konnte. Wo bleiben eigentlich Emma und –

Als hätte sie seine Gedanken gehört, trat seine Schwester neben ihn und legte sich seinen Arm über die Schultern. „Hey, ihr zwei“, begrüßte sie ihre Mitbewohnerinnen, doch Auri winkte nur und schlang die Arme um Finns Bein, wobei es sie kein bisschen störte, dass ihr Onkel mit zwei Koffern beladen war und ordentlich ins Wanken kam.

Aylin griff ein und Gideon ließ sich von Emma ins Haus führen.

„Das Gästezimmer ist gleich hier“, erklärte sie. „Du hast sogar ein eigenes Bad. Da vorne geht es zur Küche und zum Wohnzimmer.“ Sie beugte sich vor und stieß die weiß lackierte Tür auf.

Dahinter kam ein geräumiges Zimmer zum Vorschein. Tageslicht fiel durch zwei große Fenster und dahinter entdeckte er in einiger Entfernung eine Pferdekoppel. Eine zweite Tür führte vermutlich in das erwähnte Bad. Das Bett in der Ecke, unter einem der Fenster, war groß und verlockend.

„Ich hätte dich wirklich gern im Bungalow untergebracht, aber dann müsstest du auf der Couch schlafen und hier ist ein Bett und –“

„Emma, es ist gut“, beruhigte er seinen Zwilling. „Das reicht mir völlig, danke.“ Er löste sich von ihr und ging zwei Schritte in den Raum hinein. Sein Gehirn realisierte, dass Lexie nicht hier zu sein schien, und sandte die unterschiedlichsten Signale aus.

Erleichterung.

Enttäuschung.

Verwirrung.

„Ich hole dir gleich ein Glas Wasser, dann kannst du deine Medikamente nehmen. Und dich ausruhen, bevor es Abendessen gibt.“ Emma ging um ihn herum, um ihm ins Gesicht zu sehen. „Tut mir leid, dass ich dich entführt habe.“

„Tut es nicht.“ Er schmunzelte. Das schlechte Gewissen stand seiner Zwillingsschwester ins Gesicht geschrieben, doch gleichzeitig sah er auch eine eiserne Entschlossenheit in ihren Augen. „Du bist nicht aufzuhalten.“

„Deine Wohnung ist im dritten Stock und der Arzt hat gesagt, es ist besser, wenn du ein sicheres Umfeld hast. Außerdem wolltest du mich sowieso besuchen kommen. Jetzt bist du beurlaubt und hast Zeit.“

„Und darum hast du mich entführt.“

„Ich … nun ja.“ Emma strich sich die langen roten Haare zurück. Sie hatte Farbe bekommen, seit er sie das letzte Mal vor einigen Monaten gesehen hatte, am Flughafen, kurz vor ihrer Reise nach Bibertal – dem Ort, an dem seine Schwester ihr Glück gefunden hatte. Dem Ort, von dem sie ihm bei eigentlich jedem Telefonat vorgeschwärmt hatte.

Er hatte es kaum erwarten können herzukommen und alles mit eigenen Augen zu sehen. Das Iversen-Haus, den Buchladen, den See und den Wald, das Dankbar und die Menschen, die Emma hier so herzlich aufgenommen hatten. Und Finn.

Von dem großspurigen Reiter von damals schien nicht viel übrig geblieben zu sein; Gideon hatte ihn beinahe nicht erkannt, als er in sein Krankenzimmer getreten war. Das Leuchten in Emmas Augen, wenn sie ihn ansah, strahlte bis zu den Sternen hinauf und Finn wiederum sah sie an, als wäre sie das Kostbarste auf diesem Planeten. Tja, damit hatte er auf jeden Fall recht!

„Hey.“ Finn klopfte an die offen stehende Tür und streckte den Kopf herein. „Wie klingen Burger zum Abendessen?“

„Fantastisch“, antwortete Gideon, als Emma ihn erwartungsvoll ansah.

„Gut, dann schmeißen Auri und ich den Grill an. Aylin wird auch dabei sein und vielleicht kommt Noah noch, er wollte sich Moses ansehen.“

„Ich komme gleich und helfe“, versprach Emma und Finn verschwand mit einem „Lasst euch ruhig Zeit!“.

Irgendwo bellte einer der Hunde. Gideon sah erneut aus dem Fenster. So ungewohnt er auch war nach all den Häuserfassaden der letzten Jahre, an diesen Anblick konnte er sich definitiv gewöhnen. „Wo ist der See?“

„Auf der anderen Seite, du kannst ihn von der Terrasse aus sehen. Komm aber nicht auf die Idee, schwimmen zu gehen, bevor deine Rippen wieder in Ordnung sind.“

Gideon verdrehte die Augen. Seine Verletzungen waren eher schmerzhaft als bedrohlich. Gott hatte auf ihn aufgepasst.

Er betrachtete die Fensterbank, die jemand mit Pflanzen dekoriert hatte. Jemand, der entweder sehr mutig war oder keine Ahnung hatte, welchen Standort diese Pflanzen bevorzugten. Die eine sah schon ziemlich ramponiert aus.

„Willst du drüber reden?“, fragte Emma hinter ihm. Er spürte ihren Blick wie eine Berührung.

Er drehte den Kopf. „Worüber?“

Der Blick, den sie ihm zuwarf, sprach Bände und Gideon seufzte. „Em, wir sind alle erwachsen. Und es ist Jahre her. Bestimmt hat sie mich längst vergessen. Wir werden schon miteinander umgehen können, mach dir keine Gedanken.“

„Ich habe sie gebeten, dir erst mal deinen Freiraum zu lassen.“

„Das hättest du nicht tun müssen.“

„Ja nun, habe ich aber. Nachdem du schon nicht ganz freiwillig hier bist, dachte ich, du könntest wenigstens das zu deinen Bedingungen entscheiden.“

Gideon schüttelte den Kopf und unterdrückte irgendetwas zwischen einem Schnauben, Stöhnen und Lachen, dann streckte er einen Arm aus. „Komm her.“ Emma sah ihn misstrauisch an und er winkte mit den Fingern. „Komm schon her, ich soll mich doch schonen.“

Emma kam auf ihn zu und Gideon zog sie in eine Umarmung. „Danke, Schwesterchen. Ich weiß es wirklich zu schätzen, was du alles tust. Aber du musst dir nicht so viele Gedanken machen. Es geht mir gut.“

„Als die Ärztin angerufen hat …“ Emmas Stimme brach und Gideon zerriss es innerlich. Sie erwiderte seine Umarmung behutsam, um ihm nicht wehzutun. „Für einen Moment dachte ich, ich hätte dich verloren.“

„Ich bin hier. Ein bisschen angekratzt, aber das gibt sich wieder. Wirst schon sehen.“

„Versprich mir, dass du mir ehrlich sagst, wenn es dir hier zu viel wird und es dir nicht gut geht.“

„Versprochen.“ Er gab ihr einen Kuss auf die Stirn und löste sich aus der Umarmung. „Ich würde gern vorm Essen duschen, okay? Krankenhausgeruch und so.“

„Klar. Denk dran, die Türen zu schließen, wenn du nicht plötzlich über einen der Hunde stolpern willst. Marlin liegt mit Vorliebe in Türrahmen.“

„Werde ich mir merken.“

Einen Moment lang starrte er auf die Tür, die Emma hinter sich zuzog, und genoss die Stille, die sich über ihn legte. Nichts piepte. Kein Radio, kein Fernseher, keine Autos vor dem Fenster. Nur Stille.

Einen Tag vor dem Brand war sein Mitbewohner aus der Wohnung ausgezogen und hatte Gideon mit Stille zurückgelassen. Aber das war eine andere gewesen als diese hier.

Er humpelte zu seinem Koffer hinüber und zog den Reißverschluss auf. Seine Bibel rutschte heraus und plumpste aufs Bett. Gideon bewahrte sie vor dem Absturz, das rissige Leder fühlte sich vertraut an unter seinen Fingern.

Vor dem Einsatz war er in der Gemeinde gewesen. Er hatte Bereitschaft gehabt und die Wache lag nur zwei Straßen entfernt. Als der Alarm kam, joggte er mit der Bibel in der Hand zurück. Die Kollegen warfen ihm seltsame Blicke zu, sagten aber nichts, während er hastig in seine Ausrüstung sprang und sie ausrückten.

Während der Fahrt versuchte er, sich den Psalm aus der Predigt ins Gedächtnis zu rufen, Psalm 25. Doch er hatte nur einen Vers zusammenbekommen: Leite mich in deiner Wahrheit und lehre mich, denn du bist der Gott meines Heils; auf dich harre ich allezeit.

Leise sprach er die Worte in den Raum hinein und füllte die Stille, die ihn in Finns Haus umgab. Die Bibel war auf der Wache zurückgeblieben, doch Nora hatte sie ihm später ins Krankenhaus gebracht und dafür gesorgt, dass eine Krankenschwester sie zu seinen Sachen legte.

Nora.

Gideon seufzte. Er sollte sie wohl anrufen, ihr persönlich sagen, dass es ihm gut ging und wohin er verschwunden war. Immerhin waren sie Freunde.

Er verschob das Telefonat auf später und zog frische Kleidung aus dem Koffer.

Die Visitenkarte der Polizei rutschte aus seinen Sachen hervor. Gideon starrte auf das kleine Stückchen Papier. Er hatte Emma nichts von der Gestalt im Feuer gesagt, auch nichts davon, was er die letzten Monate getrieben hatte. Es fühlte sich nicht gut an, ihr das alles zu verschweigen, doch er redete sich ein, dass es besser so war. Mit einer Hand rüttelte er an dem Koffer, bis die Karte zwischen seine Sachen rutschte und außer Sichtweite verschwand.

„Es ist besser, wenn Sie sich zurückziehen, Herr Keller. Es ist zu gefährlich geworden. Von jetzt an machen wir allein weiter. Wir lassen es wie eine Untersuchung aussehen – das ist üblich, wenn ein Feuerwehrmann verletzt wird. Wir finden den Kerl schon. Erholen Sie sich, überlassen Sie alles uns.“

Seufzend rieb Gideon sich über das Gesicht und wandte sich ab. Auf dem Weg ins Bad blieb sein Blick an einer weiteren Pflanze auf dem Nachttisch hängen. Kurz entschlossen schnappte er sich den Topf und tauschte sie mit einer anderen von der Fensterbank. „Hier solltest du besser klarkommen“, murmelte er. „Wasser hole ich dir gleich auch noch.“

Ein bisschen kam er sich wie die Pflanzenpolizei vor.

Aber was wusste er schon?

Er war sich ja gerade nicht einmal so richtig sicher, wo er selbst hingehörte.

Kapitel2

Meine Finger zitterten ein bisschen, als ich die Nummer wählte.

Es klingelte so lange, dass ich schon aufgeben wollte, doch dann ertönte Yaras Stimme. „Hey, Schatz. Wusstest du, dass Leoparden –“

„Er ist hier.“

Yara stockte. „Könntest du das spezifizieren?“

„Gideon. Er ist hier. In Bibertal.“ Ich versuchte Atmen und Sprechen gleichzeitig zu bewältigen. Padme wuselte um mich herum und schnappte nach dem Saum meines Rockes. „Er hatte einen Unfall auf der Arbeit und Emma will, dass er sich hier erholt, und er … ist jetzt hier. Bei den Iversens.“ Ich schnappte nach Luft und lehnte mich gegen den Türrahmen meines Wohnzimmers. Unausgepackte Kisten blickten mir vorwurfsvoll entgegen und ich sah hastig in eine andere Richtung.

„Das tut mir leid. Ist er schlimm verletzt?“

„Ein paar Kratzer und blaue Flecken.“

Irgendetwas raschelte auf der anderen Seite der Leitung. „Und hast du mit ihm geredet?“

Ich schüttelte den Kopf und biss auf meiner Unterlippe herum. Padme knurrte frustriert, weil ich sie ignorierte. Halbherzig hob ich eins ihrer Spielzeuge vom Boden auf und warf es quer durchs Wohnzimmer, aber sie schaute bloß hinterher und rührte sich nicht.

„Ich werte das mal als Nein“, fuhr Yara fort. „Alexandria, warum denn nicht? Nach deinem Anruf letztes Mal, da dachte ich …“

Oh, ich erinnerte mich ziemlich gut an dieses Gespräch, als ich sie angerufen hatte mit den Worten: „Es war alles eine Lüge“ und dann schluchzend und weinend von Sabines Machenschaften erzählt hatte. Gideons Mutter hatte ihm verheimlicht, dass ich damals zurückgekommen war, um ihn wiederzusehen, und dass sie mir vorgelogen hatte, er würde nichts von mir wissen wollen. Sie hatte mir sogar einen Brief in Emmas Namen geschrieben. Und ich Trottel war darauf reingefallen.

Ich hatte dieser Frau nie vertraut, doch das … das hatte alles in ein völlig anderes Licht gestellt. Oder? „Das ist doch nichts, was man am Telefon bespricht. Und außerdem … ist er nicht am Zug?“

„Wie meinst du das?“

„Emma hat ihm gesagt, dass sie mich getroffen hat. Dass ich in Bibertal lebe. Er hätte sich doch bei mir melden können, wenn es ihm etwas bedeuten würde, oder nicht?“

„Das könnte man auch genauso gut andersherum sehen.“

„Was soll ich denn sagen? Hi, ich bin’s, deine Freundin, die dir vor ungefähr zehn Jahren das Herz gebrochen hat. Wollte mal hören, wie’s dir so geht?“

„Vielleicht etwas weniger drastisch. Vielleicht –“

„Was, wenn er nicht mit mir reden will?“, fiel ich ihr ins Wort. „Was soll ich dann tun?“

Yaras Stimme wurde ganz weich. „Schatz, du zögerst es hinaus. Das tust du immer, wenn du dich vor etwas fürchtest! Du drückst dich davor und lässt es lieber im Schwebezustand, quälst dich selbst mit deinen Gedanken, aber erträgst lieber das als einen möglichen schlimmen Ausgang. Und das weißt du, wir haben so oft darüber gesprochen. Du hast dich in letzter Zeit so gut geschlagen, das abzulegen. Mach jetzt keinen Rückzieher.“

Mit einem Stöhnen ließ ich mich auf mein Sofa plumpsen und lehnte den Kopf nach hinten. Wahrheit war manchmal so … wahr! Yara hatte recht und das wusste ich sehr genau. Es kam mir nur einfach gerade alles so viel vor.

Als Emma vor ein paar Monaten plötzlich in Finns Küche gesessen hatte, war meine komplette Welt ins Schleudern geraten. Bibertal war einer meiner Neustarts gewesen, ein endgültiger, so dachte ich, doch dann tauchte die Vergangenheit plötzlich direkt vor mir auf und zwang mich zur Konfrontation. Am liebsten wäre ich davongelaufen, anstatt mich dem anklagenden Blick meiner ehemals besten Freundin zu stellen, doch ich spürte, dass mein Glück in Bibertal davon abhing. Und ich liebte diese Stadt wie kaum einen Ort auf dieser Welt, ich wollte darum kämpfen.

Also hatte ich mich dem Moment gestellt. Es hatte mir so unendlich viel abverlangt, auch wenn es gut ausgegangen war. Emmas Anblick hatte tausend Dinge in mir hochgewirbelt. Und jeden Gedanken an Gideon hatte ich in eine dick gepolsterte Schublade gesteckt und ganz tief in meinem Unterbewusstsein vergraben, einfach weil ich nicht fähig war, mich auch noch mit ihm auseinanderzusetzen.

Doch jetzt war mit Emma und mir alles gut und Gideons Präsenz rieselte aus den Ritzen seiner Kiste direkt in meine Gedanken hinein. Ich musste mich dem stellen. Aber es war so viel einfacher, ihn noch ein Weilchen weiter wegzusperren.

Nur noch einen Moment.

Ich schloss die Augen und hob den Arm, unter dem Padme gerade ihren großen Kopf durchzuquetschen versuchte, um ihn auf meinem Schoß abzulegen. „Ich habe Angst.“ Drei Worte. Zwölf Buchstaben. Und dieser schale Geschmack im Mund.

„Ich weiß.“ Yaras Stimme klang schrecklich weit weg. Ich wünschte, sie wäre hier. Ich wünschte, ich könnte ihren Geruch nach Pfefferminzbonbons und Granatapfel-Shampoo einatmen, während sie mir sacht über den Rücken streichelte. „Aber du bist nicht allein. Du kannst mit Nanni reden und mit mir. Sogar mit Emma. Und ich bete für dich.“

Ich blinzelte gegen den Druck hinter meinen Augen an und holte tief Luft. „Danke schön.“ Es war eher ein Schniefen als eine Antwort. Padme hechelte auf meinem Schoß und legte eine Pfote auf meinen Oberschenkel. Mit der freien Hand streichelte ich über das dichte Fell.

„Soll ich kommen?“, erklang Yaras Stimme an meinem Ohr und ich verdrehte die Augen.

„Du bist am anderen Ende der Welt.“

„Ich brauche vielleicht ein paar Stunden, aber dann wäre ich durchaus bereit, dir den Kopf zurechtzurücken. Und auch allen anderen, wenn das nötig sein sollte.“

Unwillkürlich musste ich schmunzeln. „Klingt, als hättest du eine Liste.“

„Diese Frau steht jedenfalls ganz weit oben.“ Yara war wirklich kein Mensch, der jemanden schnell verurteilte oder auf eine innerliche schwarze Liste setzte. Sabine, Emmas und Gideons Mutter, jedoch hatte genau das geschafft. „Ich würde ihr so gerne mal die Meinung sagen.“

„Ja, na ja, stell dich hinten an.“

Yara gab ein unwilliges Geräusch von sich. Erleichterung breitete sich langsam in mir aus. Das Problem war nicht gelöst, nicht annähernd. Aber ich fühlte mich nicht länger vollkommen allein damit und die Düsternis, die schon an mir zu kratzen begonnen hatte, verschwand. Ach, Vater, ich bin dir so dankbar für diese Frau!

„Sag mal, weißt du, ob Emma ihrem Bruder gesagt hat, was damals passiert ist?“, hakte Yara nach.

Ich verzog das Gesicht. „Ich hab sie gebeten, es nicht zu tun. Das Verhältnis zwischen ihnen ist schon schlimm und ich will nicht … ich will nicht, dass es wegen mir noch schlimmer wird. Es ist ewig her. Sie jetzt dafür zu hassen, das hilft doch niemandem.“

Einen Moment lang blieb es still, während sie über meine Worte nachdachte und dann antwortete: „Aber für dich wäre es leichter. Dann wüsste er, dass du es probiert hast.“

„Vielleicht. Keine Ahnung. Womöglich ändert das auch gar nichts.“

Die Stille auf der anderen Seite war ziemlich wortreich, doch Yara hielt sich zurück. „Vielleicht besuchst du ihn, wenn es ihm besser geht. Oder rufst ihn zumindest an. Bitte keinen theatralischen Brief, so was funktioniert außerhalb von Nicholas-Sparks-Filmen nicht.“

Jetzt lachte ich doch auf und Padme wuffte, erleichtert über meinen Stimmungswechsel. „Ich werde das beachten.“

„Du kannst mich jederzeit anrufen.“

„Du bist toll.“

„Ich weiß. Du bist aber auch ganz okay.“

„Was machen die Leoparden?“

„Sind noch etwas schüchtern, aber bald habe ich sie und dann sind wir hier fertig. In ein paar Wochen, denke ich.“

„Und danach?“

„Ich habe mir gedacht, ich komme auf dem Heimweg bei dir vorbei. Wie klingt das?“

„Wundervoll.“

„Meinst du, du hast bis dahin ein funktionierendes Haus oder muss ich mir ein Hotel suchen?“

„Du kannst bei Freddy im Stall schlafen, wenn dir mein Häuschen nicht passt. Aber ich warne dich: Er schnarcht.“

„So wie mein Kameramann. Er bringt die ganze Savanne zum Beben. Kein Wunder, dass die Leoparden uns nicht trauen.“

„Wofür sind die Bilder noch mal? Einen Kalender?“

„Ein Buch. Ziemlich interessant sogar. Ich reserviere dir ein Belegexemplar.“

„Klingt gut.“ Ich schob Padme ein wenig zur Seite, weil mein Oberschenkel einzuschlafen drohte, und machte es mir bequem. „Erzähl mir von Afrika und den Leoparden.“

„Nun, es ist so, wie du es kennst. Warm und wunderschön. Momentan folge ich einem Männchen, ich nenne ihn Rea und er …“

Kapitel3

Stirnrunzelnd betrachtete ich die Felder auf dem Bildschirm vor mir und beugte mich noch ein kleines bisschen weiter vor, während ich energisch auf meinem Kaugummi herumkaute. Das Ding hatte schon vor Minuten jeglichen Geschmack verloren, aber es half mir, mich zu konzentrieren. Mit zusammengekniffenen Augen überprüfte ich das Videomaterial. Die Qualität der Nachtaufnahmen war nicht großartig, doch es zeigte mir, was ich wissen wollte.

„Wenn Sie noch näher rangehen, stoßen Sie sich die Nase.“

Schmunzelnd richtete ich mich auf und drehte mich auf meinem Drehstuhl zu dem Mann hinter mir um. Er hatte die muskulösen Arme vor der Brust verschränkt und musterte mich finster. Gregor Grimm verfügte über ein nicht besonders großes Repertoire von Gesichtsausdrücken, wenn er sich mit mir herumschlagen musste. Und Furcht einflößend finster war davon definitiv sein liebster. „So besorgt um mich?“, flötete ich und zwirbelte eine Haarsträhne zwischen meinen Fingern. „Was ist denn da los, Gregor?“

„Vielleicht will ich auch bloß keine Flecken auf meinem Bildschirm“, brummte er. „Kommen Sie bald mal zu einem Ergebnis?“

„Bin ich schon. Die Jungtiere verhalten sich unverändert, aber ich mache mir Sorgen um unsere Lady. Sie ist unruhig. Sie wandert zwischen ihren Lieblingsplätzen umher, hält sich aber nie lange auf. Irgendetwas macht ihr zu schaffen.“

Die Falte zwischen Gregors buschigen Brauen vertiefte sich. „Bei ihrem Fressverhalten ist nichts auffällig, ich habe das überprüft.“

„Gut, das ist gut.“ Ich drehte mich wieder zurück und kaute auf meinem Kaugummi herum, ehe ich aufsprang. „Ich geh mal nach ihr sehen.“

„Warum?“

„Weil ich so ein Gefühl habe.“

„Ein Gefühl“, wiederholte er spöttisch. „Und dann? Halten Sie Händchen und fragen nach, ob sie über irgendwas reden möchte?“

„Ach, Gregor, kann es sein, dass jemand mal wieder Ihr Händchen halten sollte?“, rief ich über die Schulter und machte mich auf den Weg im Wissen, dass er mir folgen würde wie ein schlecht gelaunter Schatten.

Gregor Grimm mochte mich nicht besonders. Er arbeitete schon seit bald zwanzig Jahren für Second Chance und hatte alles an diesem Standort hier quasi mit seinen eigenen Händen aufgebaut. Dieser Wildpark war sein Baby. Und ich war die zu fremde, zu junge Frau mit den verrückten Launen, die ihm von der Chefetage vor die Nase gesetzt worden war. Vermutlich würde ich mich an seiner Stelle auch nicht mögen.

Ich runzelte die Stirn und grinste. Blödsinn, ich würde mich auf jeden Fall mögen, immerhin war ich ziemlich großartig. Jedenfalls an den meisten Tagen.

Ich stiefelte aus dem Raum mit den Überwachungsvideos hinaus und wandte mich nach links. Der Weg würde so zwar länger dauern, führte aber an der Waffenkammer vorbei, und ich wusste, dass Gregor dort anhalten wollte. Er würde niemals unbewaffnet in das Bärengehege gehen. Es war zum einen Vorschrift, zum anderen auch ziemlich klug. Selbst wenn ich Kalani gut und lange kannte – ihre Babys sogar seit ihrer Geburt –, so waren es doch immer noch waschechte Braunbären mit Zähnen und Klauen und sehr viel mehr Muckis, als ich sie hatte.

Gregor überholte mich mit energischen Schritten, zog seinen Ausweis vom Gürtel und entsperrte die Sicherheitstür. „Sie müssen nicht mitkommen“, rief ich ihm noch nach, auch wenn ich wusste, dass es zwecklos war.

„Damit Sie sich fressen lassen und das hier alles eingestampft wird und ich meinen Job verliere? Nein danke. Ich gehe mit!“, grollte er über die Schulter. „Wehe, Sie warten nicht.“

Ich lehnte mich brav an die Wand des Korridors und widerstand nur mühsam dem kindischen Drang, eine Kaugummiblase in seine Richtung zu pusten. Erst als die Tür hinter ihm zufiel, lächelte ich ein bisschen.

Ich mochte Gregor. Wir blieben beim Sie, nannten uns aber inzwischen beim Vornamen. Das war ein Fortschritt, eine Weile lang hatte er nämlich gar nicht mit mir gesprochen. Ich war es gewohnt, dass man mich unterschätzte oder nicht für voll nahm, und kam damit klar. Bei Gregor war es so, dass er das Beste für den Wildpark wollte. Er war sein Ein und Alles und die Arbeit lag ihm sehr am Herzen. Zum einen hatte ich sein System durcheinandergeworfen, zum anderen fürchtete er einfach jeden, der hier etwas gefährden könnte. Damit konnte ich umgehen.

Außerdem vermutete ich, dass er allergisch gegen bunte Klamotten war. Beim Wichteln letztes Jahr hatte ich ihm schreiend bunt gebatikte Socken geschenkt. Das Entsetzen in seiner Miene war absolut köstlich gewesen!

Meine Finger tippten unruhig gegen die Wand, während das Grinsen langsam aus meinem Gesicht rieselte. Meine Gedanken huschten fort, an Orte, wo sie nicht hingehörten. Zum Beispiel zum Iversen-Haus, wo gerade … Nein! Ich baute ein gewaltiges, undurchdringliches Tor vor diesen Gedankengang. Ich würde auf gar keinen Fall darüber nachdenken, dass Gideon Keller gerade in Finns Gästezimmer saß. Oder in seiner Küche. Oder sonst wo.

Nein, das hatte definitiv nichts in meinen Gedanken zu suchen.

Warum auch?

Mit geschlossenen Augen drückte ich meinen Hinterkopf gegen die Wand. „Du bist so blöd, Lexie!“

Jemand räusperte sich und ich unterdrückte ein Seufzen, während ich die Augen öffnete und in Gregors zweifelnde Miene blickte. Das war ja so klar.

„Brauchen Sie noch einen Moment oder haben Sie es sich vielleicht anders überlegt …?“

„Mir geht es wunderbar, Gregor.“ Ich stieß mich von der Wand ab und schritt den Gang hinunter. Gregor folgte mir. Sein Schatten neben dem meinen hatte jetzt einen spitzen Umriss über der Schulter, wo er das Betäubungsgewehr trug. Dazu eine Schreckschusspistole an seinem Gürtel.

Ich verzichtete auf eine Waffe, das würde Gregor nur noch nervöser machen. Ich konnte schießen, ziemlich gut sogar. Ich hatte schon Jobs gehabt, bei denen es nötig gewesen war, mit Betäubungsgewehren bewaffnet zu sein. Ein einziges Mal war ich gezwungen gewesen, auf ein Tier zu schießen. Es war ein tollwütiger Hund gewesen, der eine Schafherde in Angst und Schrecken versetzte. Es hatte sich nicht gut angefühlt und ich betete, dass ich es nie wieder würde tun müssen.

Wir verließen das geräumige Gebäude durch einen Seitenausgang. Kinderlachen drang zu uns herüber. Meine Kollegin Ikram führte heute eine Grundschulklasse durch die Anlage. Wir waren ein beliebtes Ziel für Schüler und Studenten, aber auch Umweltgruppen und ganz selten mal ein Firmenevent. Ikram achtete während der Planung darauf, dass es genug Zeitabstände zwischen den Besuchen gab. Zwar konnten wir Spenden, Helfer und Unterstützung jeder Art supergut gebrauchen, doch die Ruhe der Tiere stand bei ihr immer an erster Stelle. Vermutlich war sie mit den Kindern gerade bei dem Rehkitz, das vor zwei Wochen im Wald gefunden worden war. Beim Anblick des süßen Tieres vergaßen die Kinder das traurige Schicksal der kleinen Waise in der Regel schnell.

Ich stopfte auch diesen Gedanken zurück in die Tüte, aus der er gekrochen war, und holte tief Luft. Was ich brauchte, war eine Ablenkung. „Und, Gregor, wie läuft es zu Hause? Geht es Helen gut?“

„Sicher“, kam es kurz und knapp zurück.

Ich verdrehte die Augen und geriet prompt ins Stolpern. Mit rudernden Armen kämpfte ich um mein Gleichgewicht und Gregor musste hastig in Deckung gehen, damit ich ihm keine scheuerte. „Da war ein Luftloch“, verkündete ich würdevoll und richtete meine Jacke. Auch wenn der Sommer sich von seiner besten Seite zeigte, war es hier im Schatten von Bäumen und Bergen noch reichlich frisch.

„Auf den letzten Bildern war Kalani am Wasserfall unterwegs, wir müssen hier lang“, erwiderte mein Begleiter vollkommen emotionslos und bog ab.

Der Weg zum Wasserfall war Teil der Route des Parks, die unsere Gäste während der Öffnungszeiten nutzen konnten. Einen Blick auf unsere Bären zu erhaschen, war ein ziemlicher Bonus für die Tour. Der untere Bereich war mit Sicherheitszäunen abgesperrt, von oben hatte man jedoch eine fantastische Sicht über das Gelände und gerade Kalani hielt sich gerne dort auf.

„Also, Helen“, begann ich erneut. „Ihr Geburtstag steht an. Haben Sie sich schon was überlegt?“

Gregors Schultern versteiften sich. „Ist das nicht ein bisschen persönlich?“

„Ach, schon okay, das macht mir nichts“, erwiderte ich fröhlich. „Ich helfe Ihnen gerne.“ Und ich muss dringend mein Gehirn beschäftigen. „Ich finde essen gehen ja immer sehr nett. Das wäre doch was, oder? Klar, es heißt immer ‚Blumen und Schmuck‘, aber ich würde eine gute Crème brûlée jederzeit irgendwelchen Glitzersteinchen vorziehen.“

Gregor ignorierte mich. Insgeheim fragte ich mich, ob er gerade wohl darüber nachdachte, das Betäubungsgewehr auf mich zu richten. Tja, Schlaf fehlte mir ohnehin.

Ganz zu Anfang hatte ich alles versucht, um seine Zuneigung zu gewinnen. Wir hatten uns gestritten, ich hatte versucht, mich einzuschleimen … Einmal hatte ich ihm einen Kuchen gebacken, aber anscheinend Salz und Zucker vertauscht! Das war so richtig in die Hose gegangen. Mittlerweile waren wir an einem Punkt, wo ich ihn eigentlich richtig gernhatte und er mich nicht vor einen Laster schubsen würde. Damit konnte ich umgehen.

Das Sicherheitstor tauchte vor uns auf und ich wartete, dass Gregor den Code eingeben würde, doch er hielt plötzlich inne und rührte sich nicht mehr.

„Worauf warten wir?“, fragte ich verwundert.

Die Antwort kam in Form eines Jeeps auf uns zugeholpert. Der Fahrer hatte dichtes schwarzes Haar, ein breites Grinsen und sah aus wie der Zwillingsbruder von Sung Kang. Jedenfalls laut meiner Mutter.

Als die zwei sich das erste Mal getroffen hatten, hatte sie ihn doch tatsächlich um ein Selfie gebeten. Ich war vor Peinlichkeit beinahe im Boden versunken und unendlich dankbar, dass Gregor das nicht mitbekommen hatte. Chan hatte es mit Humor genommen und zog mich manchmal noch damit auf. Angeblich war es ihm nicht zum ersten Mal passiert.

„Sie haben Verstärkung gerufen?“, rief ich und starrte Gregor mit großen Augen an. „Ohne was zu sagen? Warum?“

„Sie sind nicht bei der Sache. Keine Ahnung, was gerade bei Ihnen los ist, aber irgendwas stimmt nicht und ich gehe nicht mit Ihnen da rein, wenn Sie nicht vollkommen konzentriert sind. Also wird Chan uns den Rücken freihalten.“

Mit offenem Mund starrte ich ihn an und fühlte mich gemein verraten. Chan sprang aus dem Jeep, schnappte sein Gewehr und zog mich mit dem freien Arm fest an sich. Er hatte als Tierpfleger in einem kleinen Zoo gearbeitet, in dem die Zustände nicht so gut gewesen waren. Als er sich dafür einsetzte, dass es den Tieren besser ging, setzte man ihn kurzerhand an die Luft. Ich hatte ihn sofort eingestellt.

„Schön, dich zu sehen, Lex. Gregor.“ Die Männer nickten sich zu. „Ein kurzer Ausflug zu unserer Lady?“

„Die Frau Professorin hat ‚ein Gefühl‘“, kam es von Gregor. Ich war versucht, ihm die Zunge herauszustrecken, aber das wäre unprofessionell und diesen Sieg gönnte ich ihm nicht.

„Schön, dass du mitkommst“, sagte ich stattdessen freundlich zu Chan und machte einen Schritt auf das Tor zu. Gespräch beendet, auf geht’s an die Arbeit, Jungs.

Gregor öffnete das Tor und zückte sein Walkie-Talkie. Noch eine Vorschrift. Man meldete sich, sobald man das Bärengehege betrat, und wurde vom Sicherheitsraum aus per Kamera überwacht.

„Okay, alle bereit?“ Er hob das Funkgerät an die Lippen, doch ich schnappte es ihm kurzerhand weg und schüttelte heftig den Kopf.

„Mein Satz!“, drohte ich ihm und sah die beiden an. „Alle bereit?“ Ich drückte den Sprechknopf und raunte bedrohlich: „Wir gehen rein!“

Chan verbiss sich ein Lachen, während Gregor aussah, als würde er mich am liebsten irgendwo runterwerfen.

Wir marschierten stumm. Das war keine Vorschrift, aber ich hielt es immer so. Ich sog die Umgebung in mich auf und betete um Schutz für mein Team und mich. Dabei spürte ich, wie sich ein tiefer Frieden auf mich legte. Ich liebte diese Arbeit so sehr!

Gregor checkte etwas auf dem kleinen Monitor in seiner Hand und ging voran. Die Bären waren alle mit einem Sender ausgestattet, sodass wir immer wussten, wo sie sich befanden, und nicht von ihnen überrascht werden konnten. Außerdem gab es in regelmäßigen Abständen Käfige und Stationen, in denen wir uns in Sicherheit bringen konnten, sollte Gefahr drohen. Ja, es hatte vielleicht ein klein wenig etwas von Jurassic Park. Nur sehr viel besser.

Bisher hatte ich sie nicht in Anspruch nehmen müssen, doch das Wissen, dass sie da waren, beruhigte mich. Ich war nicht leichtsinnig, ich würde niemals einen Tiger im Wohnzimmer halten – so wunderschön diese Tiere auch waren und so toll ich es finden würde. Jedenfalls abgesehen von dem Geruch. Aber Kalani und ihre Jungen kannte ich seit Jahren und ich bildete mir ein, ihr Verhalten gut einschätzen zu können.