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Er ist jung. Er ist ein Rebell. Er ist auf dem Weg zur Legende. In Havanna erwartet den fünfzehnjährigen James Bond statt Urlaub eine heikle Mission. Als sein Gastgeber entführt wird, findet James schnell heraus, dass nicht nur dessen Leben in Gefahr ist. Der skrupellose Entführer hat einen Plan, der die ganze Welt bedroht. Mit korrupten Cops und Auftragsmördern auf den Fersen jagt James durch Kuba, um das Schlimmste zu verhindern ... Atemberaubende Spannung, mitreißende Action – das zweite explosive Abenteuer über den coolsten Geheimagenten der Welt aus Steve Coles Young-Bond-Serie! Alle Bände der Serie: Young Bond – Der Tod stirbt nie Young Bond – Tod oder Zahl Young Bond – Schneller als der Tod Weitere Bände sind in Vorbereitung
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Seitenzahl: 389
Steve Cole
James Bond
Tod oder Zahl
Aus dem Englischen von Leo H. Strohm
FISCHER E-Books
Für Tobey
Für den Triumph des Bösen ist nichts weiter nötig, als dass die Guten untätig bleiben. Feigheit lässt das Böse siegen. Mut und Tapferkeit jedoch lassen es untergehen.
(Zugeschrieben Edmund Burke, 1770)
Wenn sie dich entdecken, bist du tot.
Sarila Karatan hastete durch die dunklen Korridore des Laborgebäudes und suchte nach der richtigen Tür. Der Besitzer von Scolopendra Industries musste die Sicherheitsmaßnahmen seit ihrer letzten Einsatzbesprechung noch einmal verstärkt haben: Das private Anwesen befand sich auf einer abgelegenen Nachbarinsel von Kuba, und trotzdem waren hier mehr Wachen unterwegs als auf jeder Militärbasis. Es war eine echte Herausforderung, die bewaffneten Posten – und die vielen aus anderen Ländern importierten, giftigen Tiere – zu umgehen.
Einer ihrer Kontaktleute hatte sie vor diesem Auftrag gewarnt. »Mit Scolopendra sollte man sich lieber nicht anlegen. Er fackelt nicht lange«, hatte er gesagt. »Das ist ein Wahnsinniger mit gewaltigen Plänen und sehr mächtigen Freunden.« Sie hatte gedacht, dass der Kerl bloß neidisch war, weil er den Auftrag gerne selber bekommen hätte, und die Warnung nicht allzu ernst genommen.
Aber jetzt …
Der Korridor führte direkt zu einer schweren Stahltür, in der sich ihre schlanke Gestalt als dunkle Silhouette spiegelte. Genau in der Mitte der Tür war in Kopfhöhe das Logo von Scolopendra Industries zu erkennen – eine spitze, rote Kralle in einem schwarzen Kreis. Sarila streifte ihren Rucksack ab, holte einen Bund Dietriche aus einem kleinen Ledertäschchen und suchte nach dem passenden Exemplar. Es dauerte keine sechzig Sekunden. Sie drehte den Dietrich im Schloss und drückte die massive Klinke nach unten. Zischend gaben die Gummidichtungen nach, und die Tür schwang auf. Draußen vor den schmutzig grauen Fensterscheiben machte sich bereits die Dämmerung bemerkbar. Ein durchdringender Geruch nach Chemikalien lag in der Luft.
Mit dem Rucksack in der Hand betrat Sarila das Laboratorium. Sie betrachtete die milchigen Reagenzgläser und Kolben in den Regalen und spürte ein Kribbeln am ganzen Körper. Es war ein grauenhafter Anblick: In jedem Behältnis lagerte ein Körperteil eines unbekannten Tieres – kleine Gliedmaßen, Haut und Fell abgelöst, so dass das darunterliegende Fleisch deutlich zu erkennen war.
Mach deine Arbeit, dachte sie. Such den Tresor, mach ihn leer, und dann nichts wie weg.
Sie trat vor einen schweren, stabilen Aktenschrank aus Stahl. Er stand vor einer gläsernen Trennwand, die durch den gesamten Raum führte und es ermöglichte, den dahinterliegenden, abgedunkelten Bereich zu beobachten. Wenn ihre Informationen zutrafen …
Ja. Der Tresor – ein dunkelgrüner Würfel – war im Schrank befestigt. Sarila ging in die Knie und drehte am Zahlenrad. Ihr Kontaktmann hatte ihr die dreistellige Kombination mitgeteilt, aber was, wenn sie mittlerweile geändert worden war?
Sie hielt den Atem an, bis die Tresortür aufschwang. Darin lag eine Schatulle mit Scolopendras Schriftzug und dem Logo. Mit schweißnassen Händen holte Sarila sie heraus und steckte sie in ihren Rucksack.
Dann erstarrte sie. Sie hatte etwas gehört …
Ein Wachmann? Draußen?
Nein. Irgendwo ganz in der Nähe. Als würde jemand einen schweren Sack hinter sich her schleifen.
Sarila erkannte schaudernd, dass das Geräusch von der anderen Seite der Glaswand kam. Und dass es sich näherte.
»¿Hola?«
Die Stimme klang schwach. Jung und weiblich. Schmerzerfüllt.
Was zum Teufel? Sarila hob den Kopf und spähte in den düsteren Raum jenseits der Scheibe. Wenn man sie jetzt hier entdeckte …
Unvermittelt klatschte eine blutverschmierte Hand an die Glaswand.
Sarila zuckte zurück und schrie auf. Sie starrte auf die Hand und den dicken, verschmierten, purpurroten Streifen, den sie auf der Scheibe hinterlassen hatte.
»¡Necesitamos ayuda!« Heiser und verzweifelt drang der Hilferuf durch die Scheibe.
Doch Sarila rannte bereits den Korridor entlang. Du hast bekommen, was du wolltest, sagte sie sich und hielt den Rucksack mit beiden Händen fest umklammert. Und jetzt nichts wie weg. Oder bist du ein kleines Kind, das sich von jeder Kleinigkeit ablenken lässt?
Beinahe wäre sie mit einem entgegenkommenden Wachmann zusammengestoßen.
Der Mann hob sofort seine automatische Waffe, eine Bergmann MP18. Aber Sarila war schneller und schleuderte ihm den Rucksack ins Gesicht. Durch die Wucht der schweren Stahlschatulle wurde der Mann rückwärts an die Wand geworfen. Sie nahm seinen Kopf in beide Hände und riss ihn ruckartig zur Seite. Das Knirschen, als seine Halswirbelsäule brach, war bis in ihre Fingerspitzen zu spüren. Leblos sackte der Mann zu Boden.
»Nein.« Sarila setzte den Rucksack wieder auf und griff nach der MP18. »Ich bin kein Kind mehr.«
Ihr professioneller Instinkt schob die Angst beiseite, und sie lief zu dem Fenster, das sie vorhin bereits aufgebrochen hatte. Eine pinkfarbene Sonne hing verschlafen über den hohen, bewaldeten Hügeln. Alles wirkte ruhig. Jetzt musste sie nur noch zum nahe gelegenen Hafen gelangen, bevor –
Die Alarmsirenen schrillten.
Sarila stieß einen unterdrückten Fluch aus und rannte, so schnell sie nur konnte, über das Steppengras auf der Rückseite des Laborkomplexes. Hinter ihr dröhnten die Sirenen, und schon im nächsten Augenblick sah sie zwei Wachen auf sich zukommen. Ohne ihre Schritte zu verlangsamen, eröffnete sie das Feuer. Sie zielte auf die Beine der Männer, die brüllend zu Boden gingen. Sarila rannte einfach an ihnen vorbei. »Sie werden es überleben«, murmelte sie leise.
Mit brennenden Lungen kämpfte sie sich durch ein kleines Wäldchen. Und da, am unteren Ende eines baumbestandenen Abhangs, lag Scolopendras kleiner Privathafen. Sie ließ den Blick über die dort liegenden Boote schweifen – eine Motoryacht, mehrere Motorboote in unterschiedlichen Größen und ein eleganter, zwanzig Meter langer Motorsegler – und blieb bei einem schnittigen Schnellboot aus widerstandsfähigem Mahagoni hängen, garantiert eine Sonderanfertigung. Die offene Kabine im vorderen Teil des Cockpits bot den nötigen Schutz, aber was das Wichtigste war: Es sah schnell aus.
Das muss es sein.
Mit trockenem Mund, durchgeschwitzt und außer Atem jagte Sarila über den Holzsteg des Anlegers. Sie sprang an Bord des Schnellbootes, ließ die MP18 fallen und drückte auf den Startknopf. Der Motor bellte kurz auf und verstummte wieder.
»Komm schon!« Noch einmal drückte sie auf den Starter, dann dröhnte ein kehliges Vibrato durch die Bodenbretter, so dass die spanischen Rufe vom Hügel her kaum mehr zu hören waren.
Die Wachen hatten sie eingeholt.
Sarila setzte ihren Rucksack ab und holte eine Stielhandgranate heraus, das in Deutschland gefertigte »Modell 24«. Sie schraubte die Schutzkappe ab, zog an der Abreißschnur, um die Granate scharf zu machen, und warf sie ins Cockpit des sehr viel größeren Motorseglers. Gleichzeitig drückte sie den Gashebel ihres Bootes bis zum Anschlag durch. Laut röhrend setzte es sich in Bewegung. Komm schon! Eine Hitzewelle fauchte ihr über den Rücken, als die Explosion den Motorsegler zerfetzte. Holzsplitter und andere Kleinteile landeten prasselnd im Wasser und auf dem Dach des Schnellbootes. Sarila hielt Kurs auf den kurzen Kanal zwischen den Klippen, der aufs offene Meer hinausführte.
Sie drehte sich um und sah durch die flirrende Hitze und den aufsteigenden Qualm, wie unzählige Wachleute den Hügel herabliefen, hörte das Rattern der Maschinenpistolen. Sie hoffte inständig, dass sie schon außer Reichweite war, dass sie diesen Auftrag genauso erfolgreich bestehen würde wie die bisherigen.
Plötzlich hatte sie wieder das Bild von der blutverschmierten Hand an der Glasscheibe vor Augen.
Der Wind fachte die Flammen auf dem Motorsegler an, so dass das Feuer jetzt auf das danebenliegende Motorboot übergriff. Ein voller Dieseltank explodierte, und die Wachen wurden reihenweise zu Boden geworfen. Noch einmal ratterten ein paar Maschinenpistolen los, die letzten Zuckungen eines längst geschlagenen Gegners.
Jetzt machte der Kanal einen scharfen Knick, und Sarila verlor die Verwüstung, die sie angerichtet hatte, aus dem Blick. Sie stieß einen erleichterten Seufzer aus … bis sie vor sich ein anderes Boot entdeckte, ein kleines Motorboot mit dem Scolopendra-Logo, der roten Kralle im schwarzen Kreis.
Ihre Muskeln verkrampften sich sofort, doch dann merkte sie, dass das andere Boot sich vom Anwesen entfernte, genau wie sie. Ein junges Mädchen mit langen, dunklen Zöpfen stand am Ruder, nicht älter als fünfzehn oder sechzehn.
Mit gesenktem Kopf, damit ihr Gesicht nicht zu erkennen war, überholte Sarila das Boot mit dem Mädchen. »Deine Geheimnisse kannst du gerne für dich behalten, Scolopendra«, murmelte sie vor sich hin. »Ich verschwinde.«
Wenige Minuten später hatte ihr Schnellboot das offene Meer erreicht. Sarila registrierte erleichtert, dass genügend Treibstoff im Tank war. Sie steuerte nach Osten, wollte sich zwischen mehreren Inselketten hindurchschlängeln und schließlich auf Kuba anlegen. In gut fünf Stunden würde sie sich dann, wie verabredet, in den Sümpfen und Wäldern der Halbinsel Zapata mit ihrem Auftraggeber treffen.
Die Fahrt wurde begleitet vom lauten Dröhnen des kraftvollen Achtzylinders und verging nur schleppend, bis endlich das kubanische Festland in Sicht kam. Der kleine, dicke Turm auf den niedrigen Klippen kam Sarila vor wie ein emporgereckter Daumen, eine freundliche Begrüßung.
Doch durch den Motorenlärm hatte sie das herannahende Wasserflugzeug nicht gehört. Sarila blickte durch das Fenster nach oben und fluchte laut. Da war dieses verdammte Logo wieder, die rote Kralle im schwarzen Kreis: INDUSTRIAS SCOLOPENDRA. Damit hatte sie nicht gerechnet.
Wie ein gewaltiger Raubvogel kam das Flugzeug näher, ging mit wirbelnden Propellern tiefer. Die Kufen links und rechts des korallenfarbenen Rumpfes waren deutlich zu erkennen. Ein Mann lehnte sich aus dem Fenster auf der Co-Pilotenseite. Er hatte eine Maschinenpistole in der Hand und brüllte: »¡Apaga el motor!«
»Ich soll den Motor abstellen?« Sarila schlug das Ruder hart nach Backbord und hielt sich krampfhaft fest, als das Boot sich gefährlich zur Seite neigte. Kugeln durchschlugen den Rumpf und die Kabinenfenster. Sarila duckte sich und barg das Gesicht in den Armen, während es von allen Seiten Glas- und Holzsplitter regnete. Als das dumpfe Prasseln der Einschläge verstummt war, schnappte sie sich die MP18.
»¡Apaga el motor!«, brüllte der Mann noch einmal. Das Wasserflugzeug berührte keine zwanzig Meter von ihr entfernt die Wasseroberfläche. Der Rumpf wirbelte eine Gischtspur auf, bis die Kufen das Flugzeug auf dem Wasser stabilisierten. »¡Apaga el motor!«
»Ich bring dich um!« Sarila stand auf und erwiderte das Feuer. Die Einschusslöcher im Rumpf des Wasserflugzeugs sahen aus wie kleine, schwarze Augen. Jetzt erhob es sich mit dröhnenden Motoren erneut in die Luft. Schnell war es außer Reichweite. Sie hatte den Copiloten verfehlt. Das Flugzeug würde einfach eine Runde drehen und einen erneuten Angriff starten. Wie viel Munition hatte sie noch im Magazin?
Das Schnellboot war nur noch wenige Seemeilen vom Ufer entfernt. Was, wenn sie einfach ihren Rucksack über Bord warf? Vielleicht würden Scolopendras Männer dann nach der gestohlenen Schatulle suchen und sie in Ruhe lassen. Sie konnten ja nicht wissen, dass sie in der Lage war, den Schatz zu bergen. Sie brauchte nichts weiter zu tun, als –
Die nächste Salve ließ das Cockpit erzittern. Blut spritzte aus Sarilas linkem Arm. Sie stieß einen schrillen Schrei aus und ließ die Maschinenpistole fallen, geriet aus dem Gleichgewicht und landete auf dem Deck.
Getroffen. Sie konnte spüren, wie das Blut aus der Wunde pulsierte, die Feuchtigkeit sich ausbreitete, ihr Ärmel klebrig wurde. Das Boot schaukelte wild hin und her, während Sarila mit dem Ruder kämpfte, Gas gab, weiterwollte. Aber sie konnte ihren linken Arm nicht mehr bewegen. Wasser plätscherte ihr um die Füße – das Boot hatte im Kugelhagel zahlreiche Löcher bekommen und nahm genauso schnell Wasser auf, wie ihr Körper Blut verlor. Sie packte die MP18, so fest sie konnte, und starrte ihre Hand an, während sie die Waffe drohend gen Himmel richtete … aber sie konnte nicht mehr klar sehen. Ihre Finger verschwammen mit der dunkelroten Schmierspur auf der gläsernen Trennwand im Laboratorium …
Sarila musste die Augen zugemacht haben, denn als sie sie wieder aufschlug, reichte das dunkle Wasser des Ozeans ihr bereits bis an die Brust. Sie war über dem Steuer zusammengesunken, und umklammerte mit ihrer unverletzten Hand den Rucksack. Das Wasserflugzeug kreiste wie ein Geier über ihr.
Das Land war so nah. Die Küste lag kaum mehr als eineinhalb Kilometer entfernt. Mit Gottes Hilfe, dachte sie, komme ich vielleicht doch noch lebend davon. Es war schon öfter knapp gewesen, aber bis jetzt hatte sie es jedes Mal geschafft.
Noch während das Wasser über ihr zusammenschlug, betete Sarila um das übliche Wunder.
James Bond verfolgte den Jungen durch die schmalen, belebten Straßen. Er hatte Mühe, ihn nicht aus den Augen zu verlieren.
Er wusste, dass es nicht einfach sein würde, den Taschendieb zu schnappen. Der Junge hatte schnelle Beine und kannte sich in den endlosen, kleinen Gässchen der Altstadt von Havanna gut aus. Glühend rot stand die untergehende Sonne am karibischen Himmel. Das stumme Versprechen auf ein Abenteuer hing in der schwülen Abendluft und hatte Hunderte Touristen und Einheimische ins Freie gelockt. Während James sich durch die Menge kämpfte, konnte der Dieb seinen Vorsprung ausbauen.
In der Tat, es würde alles andere als einfach werden, ihn einzufangen.
James lächelte und lief auf die Straße, um dem Gedränge auf dem Bürgersteig zu entgehen. Dann beschleunigte er.
Ein Dodge Pick-up, der fast die ganze Straßenbreite einnahm, kam hupend auf ihn zugedonnert. James bog sich ein Stück zur Seite und wich ihm aus. Um ein Haar hätte der bauchige vordere Kotflügel ihn erwischt, doch James wollte auf keinen Fall Tempo verlieren. Endlich kam er seiner Beute wieder ein bisschen näher! Er sah, dass der Taschendieb das gestohlene Portemonnaie immer noch in der Hand hielt, und schwor sich erneut, dass er es zurückerobern würde.
Es enthielt etwas, das sehr viel wertvoller war als Geld …
»Haltet den Dieb!«, rief James, doch seine englischen Worte bescherten ihm nur böse Blicke der Einheimischen.
Jetzt bog der Taschendieb nach links in eine Seitengasse ab. Ohne zu zögern, rannte James hinterher, drängte sich zwischen einem grauhaarigen Postkartenverkäufer und einem Grüppchen junger Frauen hindurch und murmelte eine undeutliche Entschuldigung. Als er am Eingang der Gasse angelangt war, hatte der Taschendieb fast schon das andere Ende erreicht. Dort verlief eine vielbefahrene Hauptstraße.
James wurde noch einmal schneller, jagte an schlendernden Paaren und Souvenirhändlern vorbei. Sein dunkelblaues Baumwollhemd war durchgeschwitzt und klebte ihm am Rücken, seine weiße Leinenhose war schmutzig, und die neuen, braunen Halbschuhe hatten ihm bereits die ersten Blasen an den Fersen beschert. Doch sein eiserner Wille trieb ihn vorwärts, und als er um die Ecke bog, sah er den Dieb keine zwanzig Meter entfernt am Straßenrand stehen und auf eine Lücke im dichten Strom der Automobile warten.
Jetzt hatte der Taschendieb auch James entdeckt. Sofort stürmte er auf die Straße. Reifen quietschten auf dem Asphalt. Ein Motorrad geriet ins Schleudern und krachte seitlich gegen einen Cadillac Roadster, der daraufhin mit einem rotweißen Alfa Romeo 8C Tourer zusammenstieß. James stürzte sich in das Chaos, dem Taschendieb hinterher. Hupen dröhnten, Schreie ertönten. Ein Lastwagen bohrte sich in das Heck des Cadillacs und schob ihn ein ganzes Stück vorwärts, so dass sein V-förmiger Kühlergrill James nur um Haaresbreite verfehlte. Der Dieb hatte bereits die Straßenmitte erreicht, die Grasfläche auf der anderen Seite fest im Blick, da wurde er beinahe von einem silbernen Lanchester 18 erfasst, der mit quietschenden Reifen gerade noch rechtzeitig bremsen konnte. Der Taschendieb blieb einen Augenblick lag regungslos stehen, dann riss er sich zusammen und wollte um das Heck des Fahrzeugs herumlaufen.
»Nicht mit mir!« James setzte zu einem mächtigen Sprung an und holte den Jungen mit einem Rugby-Tackling, das seine Sportlehrer in Eton in Entzücken versetzt hätte, von den Beinen. Sie landeten als Knäuel im staubigen Rinnstein am Straßenrand.
Der magere Junge drehte sich um, blickte James verärgert an und überschüttete ihn mit einem wütenden spanischen Wortschwall. Jetzt fingen auch die Fahrer der stehen gebliebenen Automobile an, die beiden Jungen anzubrüllen. Der Mann am Steuer des Cadillacs – alt, sonnengebräunt und mit einer dicken Wampe – stieg aus seinem Wagen. James schnappte sich das gestohlene Portemonnaie, stand auf und reckte es in die Höhe. Vielleicht kapierten die Umstehenden ja trotz ihrer Wut, was der Grund für diese wilde Verfolgungsjagd gewesen war.
Doch sie würdigten ihn kaum eines Blickes. Der Taschendieb, der seine Niederlage wortlos akzeptiert hatte, war bereits weitergelaufen, verfolgt vom Fahrer des Cadillacs, der ihn wüst beschimpfte. James erkannte Drohungen, wenn er welche hörte, egal, in welcher Sprache. Aber der Junge interessierte ihn nicht mehr. Er hatte seine Mission erfüllt.
Also drehte er dem ganzen Durcheinander den Rücken zu und warf einen Blick in das Portemonnaie. Zu seiner großen Überraschung enthielt es ein kleines Vermögen – fast fünfhundert Dollar. Doch der eigentliche Schatz steckte hinter den Geldscheinen. Es war ein altes, zerknittertes und verblasstes Foto. Darauf war James’ verstorbener Vater, Andrew Bond, zu sehen. Er stand mit einem anderen Mann vor dem Haus der Familie Bond in der Schweiz und grinste in die Kamera. Der andere Mann war der Besitzer des Portemonnaies: Gerald Hardiman.
James lächelte liebevoll. Seine Eltern waren beim Bergsteigen ums Leben gekommen, als er gerade einmal elf Jahre alt gewesen war, und er vermisste sie immer noch sehr. Dieses Foto, das an einem sonnigen Wintertag in den zwanziger Jahren entstanden war, erinnerte ihn an glücklichere Kindheitstage. Hardiman hatte es gerade wieder in sein Portemonnaie gesteckt, als der Taschendieb zuschlug.
Ohne sich auch nur einmal umzusehen, durchquerte James mit schnellen Schritten den kleinen Park und machte sich auf den Weg zur Malecón, jener breiten, großzügigen Promenade am Ozeanufer, auf der er seine Freunde zurückgelassen hatte.
»Und jetzt«, murmelte er leise vor sich hin, »kann ich mich wieder ausruhen.«
Ausruhen? Wem wollte er damit eigentlich etwas vormachen? Die Verfolgungsjagd hatte ihn mehr belebt als zwanzig Tage Nichtstun, und sein Erfolg hatte ihn in Hochstimmung versetzt. Außerdem zahlte James gerne seine Schulden zurück, und Hardiman hatte ihm schließlich einen großen Gefallen getan. Als er erfahren hatte, dass James und sein Freund Hugo nach einem gefährlichen Abenteuer in Kalifornien gestrandet waren, hatte er sich sofort bereit erklärt, ihnen zu helfen.
Auf der belebten Uferpromenade angekommen, ließ James den Blick über die Menschenmenge gleiten. Er musste daran denken, wie froh er gewesen war, als seine Tante Charmian ihm die Neuigkeiten verkündet hatte. Sie hatte ihn aus Südmexiko angerufen, wo sie gerade mit archäologischen Ausgrabungen beschäftigt war. Eigentlich war sie immer irgendwo mit irgendwelchen Ausgrabungen beschäftigt.
»Ich habe mit Gerald Hardiman gesprochen«, hatte sie gesagt, und trotz des Knisterns und Rauschens in der Leitung hatte ihre Stimme warm und wohltuend vertraut geklungen. »Er will unbedingt, dass ihr zu ihm nach Kuba kommt. Dort kann ich dann zu euch stoßen, sobald ich fertig bin. Mit etwas Glück dauert es nicht länger als eine Woche.«
Der Duft nach Meer und Essen und Blumen hing schwer in der warmen Luft, und James wurde nachdenklich. Er hatte nur positive Erinnerungen an Hardiman, der während James’ früher Kindheit sowohl in London als auch in der Schweiz regelmäßig im Hause Bond zu Gast gewesen war. Die strapaziöse Reise nach Havanna hingegen, die wollte er am liebsten so schnell wie möglich vergessen.
Adam Elmhirst, der britische Geheimagent, durch dessen Hilfe James und Hugo ihren Schulausflug nach Los Angeles – der eigentlich ein Höllentrip gewesen war – einigermaßen unbeschadet überstanden hatten, hatte die beiden Jungen möglichst schnell auf die Reise geschickt: erst mit einer DC-2 nach Dallas, mit Zwischenstopp in Tucson, um aufzutanken. In Dallas hatten sie ein Postflugzeug von American Airlines bestiegen, das sechsmal zwischengelandet war, bevor sie in Atlanta ausgestiegen und mit Eastern Air Transport ins südlich gelegene Miami geflogen waren. Dort hatte Hardiman sie in Empfang genommen und war mit ihnen an Bord eines Pan-Am-Fliegers gegangen, der erst vor wenigen Stunden hier in Havanna gelandet war.
Aber trotz allem, dachte James, jetzt sind wir hier. Er blickte über die Ufermauer, ließ die träge Pracht seines ersten kubanischen Sonnenuntergangs auf sich wirken und lächelte. Jetzt haben wir nichts weiter zu tun, als in angenehmer Gesellschaft zu entspannen und alles zu genießen, was Havanna zu bieten hat.
»Himmel und Hölle, James, da bist du ja! Wir wussten gar nicht, was plötzlich in dich gefahren ist …«
James drehte sich um und sah einen jungen Zwerg mit buschigen Augenbrauen auf der Ufermauer entlanglaufen. Er lächelte. Gemeinsame Reisen und gemeinsam bestandene Abenteuer hatten zwischen Hugo und ihm eine Freundschaft entstehen lassen, die so eng war, wie James es eben zulassen konnte. »Tut mir leid, dass ich so plötzlich weggerannt bin.« Er hielt Hugo das Portemonnaie entgegen. »Alles im Dienst der guten Sache.«
»Du hast die kleine Kanalratte also erwischt! Nicht, dass ich daran gezweifelt hätte.« Hugo schüttelte bewundernd den Kopf. »Da müsste Mr Hardimans Stimmung ja eigentlich besser werden.«
»Wie meinst du das?«
»Na ja, findest du nicht auch, dass er ein bisschen zerstreut wirkt?«
James biss sich auf die Unterlippe. Er wusste genau, was Hugo meinte. Hardimans Gesichtszüge sahen immer ziemlich zerknittert aus, aber in seinen sonst so freundlichen Augen lag ein gehetzter Ausdruck. Auf dem Flug nach Kuba hatte er genau das gesagt, was alle immer sagten – dass James ja so groß geworden sei und so weiter – und hatte sich nach seinen Leistungen in der Schule und im Sport erkundigt – ohne sich jedoch im Geringsten für die Antworten zu interessieren.
»Ich nehme an, er ist einfach müde. Er musste ja früh aufstehen, um uns in Miami abzuholen.« James wischte sich eine Locke aus der Stirn und sah sich um. »Wo steckt er denn überhaupt?«
»Muss ganz in der Nähe sein. Ich bin auf die Mauer geklettert, damit ich dich besser sehen kann. Und weil hier keine anderen Fußgänger unterwegs sind, bin ich schneller vorangekommen als er.«
James kletterte ebenfalls auf die Mauer und stellte sich neben Hugo. Er ließ den Blick über die lebhafte Promenade schweifen: die vielen Touristen, die Straßenhändler mit ihren Postkarten und Sonnenschirmen, die Losverkäufer – jedes nummerierte Los so groß wie ein Autokennzeichen –, die Souvenirhöker und die Musiker in ihren traditionellen Gewändern, die vorbeiflanierenden Liebespaaren ein Ständchen brachten.
»Sieh mal.« Hugo wies auf die Schlagzeile des Diario de la Marina, der an einem Kiosk in der Nähe verkauft wurde. Er übersetzte für James: »Geheimnisvolle Frauenleiche an der Küste angeschwemmt. Angeschossen und ertrunken …«
»Da kommt einem die lange, anstrengende Reise plötzlich gar nicht mehr so schlimm vor, stimmt’s?« James’ Interesse war geweckt. »Worum es da wohl gegangen ist?«
»Du hast doch einen dicken Geldbeutel dabei«, meinte Hugo. »Wieso kaufst du dir nicht eine Zeitung? Ich kann dir den Artikel übersetzen.«
»Da müssen wir erst den Besitzer des Geldbeutels fragen.« James grinste, als er endlich einen großgewachsenen, gebückten Mann in einem zerknitterten Leinenanzug und mit einem Panamahut auf dem Kopf in der Menge erblickte. »Da kommt er gerade.«
»James! Dem Himmel sei Dank!« Gerald Hardiman winkte ihm zu und beschleunigte seine Schritte. »Alles in Ordnung, mein Junge? Hast du das –«
»Alles da.« James sprang von der Mauer und überreichte ihm das Portemonnaie. »Bitte sehr!«
»Oh, bravo. Ganz ausgezeichnet, James.« Hardiman klappte das Portemonnaie auf, sah das Geld und drückte grinsend seine Lippen darauf. »Dank dir bekommen wir heute Abend etwas zu essen!« Sein kräftiger schottischer Akzent passte nicht so recht zu seiner zierlichen Gestalt. »Das muss gefeiert werden, was? Zu Ehren des Eroberers! Wir suchen uns ein erstklassiges Lokal …« Sein Blick fiel auf den Zeitungskiosk. Er verstummte schlagartig, und seine Miene verfinsterte sich.
»Das haben wir auch gerade gesehen.« Hugo warf James einen Blick zu. »Schön schrecklich, damit sich die Zeitung auch gut verkauft.«
»Vermutlich«, sagte Hardiman abwesend. Er holte eine Münze aus seiner Tasche, um ein Exemplar zu kaufen.
In diesem Augenblick bemerkte James auf der anderen Seite der breiten Straße ein wunderschönes Automobil, das seine Fahrt verlangsamte und nur noch im Schneckentempo dahinrollte. Es war ein Hispano-Suiza Coupé de Ville, schwarzrot lackiert. Auf dem nichtüberdachten Fahrersitz saß ein junger Mann mit schwarzer Hautfarbe, während die Fahrgäste hinter ihm in der stilvollen Abgeschiedenheit der Kabine Platz genommen hatten.
Der Fahrer starrte Hardiman an, und James bemerkte die dicke Narbe, die senkrecht von der Nase bis zum Kinn reichte und quer über seine Lippen führte. Es sah fast aus wie eine lange, zu fest zusammengezurrte Naht.
James wies mit einem Kopfnicken auf das Fahrzeug. »Ist das jemand, den Sie kennen, Sir?«
Hardiman drehte sich um, die Münze fiel ihm aus der Hand und landete klimpernd auf dem Bürgersteig.
Plötzlich gab der Hispano-Suiza Gas. Hugo bückte sich und hob die Münze auf. »Wer den Pfennig nicht ehrt, ist des Talers nicht wert.«
Hardiman blieb stumm und starrte dem immer kleiner werdenden Automobil hinterher.
James registrierte, dass Hardiman jetzt die nächstgelegene belebte Straße in der Altstadt von Havanna ansteuerte. Die zusammengerollte Zeitung hielt er wie einen Schlagstock fest in seiner verkrampften Hand. Hier waren so viele Fußgänger unterwegs, dass sie zum Teil auf die Straße gedrängt wurden. Dadurch waren die Automobile gezwungen, im Schritttempo vorwärtszukriechen. Hugo überließ es James und Hardiman, den Weg durch die Menge zu bahnen, und hielt sich dicht hinter ihnen.
»Ich dachte, hier könnten wir essen.« Hardiman deutete auf ein Restaurant, das zwar etwas heruntergekommen wirkte, aber gut besucht war. Es hieß Just Jawin’. »Hier bin ich öfter, wenn ich in der Stadt bin.«
»Kommen Sie denn regelmäßig nach Havanna?«, wollte James wissen. Hardiman war mit den beiden Jungen zuerst in die Calle Villegas gefahren, eine kleine Gasse in der Altstadt. Dort hatten sie in dem muffigen Apartment, das er angemietet hatte, ihr Gepäck untergestellt. Das Haus musste früher einmal wunderschön gewesen sein, aber jetzt machte es einen eher baufälligen Eindruck. Es stand in einem mit vielen Blumen geschmückten, friedlichen Innenhof und wirkte ein bisschen wie ein alter Grabstein auf einem gepflegten Grab. »Eigentlich wohnen Sie doch auf der anderen Seite der Insel, oder?«
»In Trinidad, richtig. Charmantes, kleines Städtchen, hat regelrecht mein Herz erobert. Wenn ich an den Strand von Ancón denke … dort wird es euch bestimmt gefallen.« Hardiman betrat das Restaurant. Musik und das Geräusch zahlreicher Gespräche hüllten sie ein. »Aber trotzdem komme ich oft nach Havanna, wenn ich in den Laboratorien der Universität zu tun habe. Darum habe ich auch das Apartment hier gemietet.«
Klingt vernünftig, dachte James. Hardiman war von Beruf Botaniker und arbeitete in der chemischen Forschung, wo er seltene Pflanzenarten auf ihren möglichen Nutzen für Wissenschaft und Industrie untersuchte. »Haben Sie zurzeit auch im Laboratorium zu tun?«
»Nein, nein«, erwiderte Hardiman hastig. »Ich bin lediglich mit jemandem verabredet, mehr nicht.«
Der Oberkellner kam mit zögerlichen Schritten auf sie zu. »Señor, verzeihen Sie bitte, der Besitzer, er sagt … tut mir leid, aber kein Essen mehr, bevor Sie nicht Ihre Schulden –«
»Moment, Moment.« Hardimans Lächeln wirkte jetzt ein wenig gequält. »Es handelt sich bestimmt um eine Verwechslung. Sehen Sie?« Er holte ein paar Dollarscheine aus seinem Portemonnaie und steckte sie dem Kellner in die Tasche. »Geben Sie uns einen guten Tisch, ja?«
»Ah! Señor, bitte um Vergebung.« Der Kellner strahlte mit einem Mal über das ganze Gesicht und verbeugte sich. Dann brachte er sie an einen Tisch im hinteren Teil, mit Blick auf einen kleinen Hinterhof, dem ein paar vereinzelte Blumenbeete farbige Tupfer verliehen.
Als der Kellner sich entfernte, schickte Hugo ihm einen strengen Blick hinterher. »Der Bursche braucht wohl eine Brille! Was für eine Unverschämtheit!«
»Nur ein kleines Missverständnis«, sagte Hardiman leichthin. »Viele Touristen imitieren meinen Stil, versteht ihr? Ich bin eben ein Trendsetter, was?«
Da sah James, wie der Kellner von einem älteren Herrn mit gebieterischer Miene angesprochen wurde. Sein makelloser Anzug und sein selbstbewusstes Auftreten ließen darauf schließen, dass er der Besitzer des Lokals war. Als der Kellner die Dollarscheine aus seiner Tasche zog, warf der Mann Hardiman einen misstrauischen Blick zu.
»Also dann!« Hardiman legte die zusammengerollte Zeitung neben seinen Stuhl auf den Fußboden. »Werfen wir mal einen Blick in die Speisekarte. Wer hat Hunger?«
Hardiman jedenfalls nicht, das war schnell klar. James fiel auf, dass er die Gerichte, die er für den ganzen Tisch bestellt hatte, kaum anrührte: den Tomaten-Avocado-Salat, das Kochbananen-Omelett, die dunkle Linsensuppe, die Maisteigtaschen mit Reis und schwarzen Bohnen und das ropa vieja, eine Art Rindergulasch mit Oliven und Kapern. James und Hugo waren nach der langen Reise ziemlich ausgehungert und stürzten sich auf das Essen, während Hardiman ihnen zusah und ab und zu ein Lächeln zeigte.
»Wissen Sie noch, wie Sie einmal zum Skifahren bei uns in Chamonix waren?« James hoffte, mit ein paar schönen Erinnerungen den guten, alten Hardiman, den er kannte, zum Vorschein zu bringen. »Ich war damals sechs oder so, und habe Sie bei einem Zusammenprall von der Piste geschubst. Sie sind den halben Mont Blanc runtergerutscht.«
»Du warst anscheinend noch nie besonders zart besaitet, was, James?«, sagte Hugo, bevor er sich an Hardiman wandte. »Was ist dann passiert?«
»Andrew – das war James’ Vater – ist mir durch den Wald hinterhergerast und hat mich gefunden. Ich hatte mich mit beiden Beinen um einen Baum gewickelt, und er hat so einen Lachanfall bekommen, dass er sich kaum aufrecht halten konnte.« Hardimans fröhliches Kichern verstummte schlagartig, als sein Blick durch das Restaurant zur vorderen Fensterfront glitt.
James konnte gerade noch erkennen, wie eine dunkle Gestalt sich vom Fenster löste und die Straße entlangging. »Ist alles in Ordnung, Dr. Hardiman?«
»Wie? Was? Ach so, in Ordnung. Alles in Ordnung, ja.« Er stand abrupt auf und versetzte James und Hugo je einen tollpatschigen Klaps auf die Schulter. »Entschuldigt mich für einen Moment, Jungs. Ich kümmere mich mal um die Rechnung, was?«
Nachdem Hardiman gegangen war, beugte Hugo sich zu James. »Glaubst du wirklich, dass der Oberkellner sich geirrt hat? Vielleicht war Hardiman ja, nun ja, finanziell angeschlagen, und das da draußen vor dem Fenster war ein Schuldeneintreiber?«
»Er hat gesagt, dass es ein Missverständnis war.« James beobachtete, wie Hardiman dem Kellner ein großzügiges Trinkgeld zusteckte. »Jetzt jedenfalls scheint er mehr als genug zu haben.«
Auf dem Weg zurück zum Apartment versuchte James, seine Unruhe in den Griff zu bekommen.
»Ich falle gleich um vor Müdigkeit.« Hugo gähnte. »Gut, dass ich nicht so weit fallen kann.«
James grinste. »Ich dachte, wir spielen noch eine Runde Karten, bevor wir schlafen gehen.«
»Tja, ich bin auch ziemlich erschöpft, Jungs«, sagte Hardiman. Vor der Tür gähnte er und schlug sich dann mit der flachen Hand an die Stirn. »Verdammt, ich wollte doch eigentlich noch Kaffee besorgen. Na ja, der Nachtkiosk ist nur drei Blocks entfernt –«
»Das kann ich doch machen«, fiel James ihm ins Wort. Er war froh, dass er Hardiman behilflich sein konnte.
»Hättest du vielleicht gerne Begleitung?«, erkundigte Hugo sich halbherzig. »Eine langsame, träge, hinderliche Begleitung?«
»Ist schon in Ordnung, Hugo«, erwiderte James. »Nach allem, was ich heute erlebt habe, schaffe ich die paar Häuserblocks wahrscheinlich auch alleine.«
»Du bist ein guter Junge, James.« Hardiman schien dankbar zu sein und drückte ihm einen Silberdollar in die Hand. »Ungefähr zweihundert Meter die Hauptstraße entlang, dann kommt der Laden auf der linken Seite.« Er hielt kurz inne und sah sich um. »Ich weiß, dass du selbst auf dich aufpassen kannst, aber … sei einfach vorsichtig, ja?«
James nickte. »Bis gleich.«
Dann ging er die stille Straße entlang. Die feuchte Nachtluft roch nach Salz und Rauch. Kunstvoll verzierte Straßenlampen verliehen den Schatten einen silbernen Schimmer. In einem Hauseingang stand eine gelangweilt wirkende Frau. Als sie James sah, stieß sie einen Pfiff aus und versprach ihm in gebrochenem Englisch eine Menge Spaß. Er ging hastig vorbei. Hoch über seinem Kopf neigten die Häuser sich zueinander, als würden sie die Köpfe zusammenstecken und sich irgendwelche Geheimnisse zuflüstern.
James war noch keine zwei Häuserblocks weit gekommen, da hörte er das laute Rufen einer Mädchenstimme: »¡Suéltame! ¡No voy contigo!«
Es kam ein Stück weiter vorne aus einer Seitenstraße. James konnte zwar die Worte nicht verstehen, aber auch so waren die Angst und die Wut eindeutig zu erkennen. Noch ein Taschendieb? Er zögerte einen Moment. Das geht dich nichts an. Doch dann wurde laut scheppernd ein Mülleimer umgeworfen. James hatte keine Wahl. Er musste nachsehen.
Im Scheinwerferlicht eines wartenden Automobils erkannte James an der nächsten Kreuzung zwei Gestalten. Ein Mann und ein Mädchen. Sie kämpften miteinander. »¡Está intentado secuestrarme!«
James holte tief Luft und rannte auf die beiden zu. »Hey!«
Der Mann erstarrte, während das Mädchen sich verblüfft zu James umdrehte. Sie war dunkelhäutig, sehr groß und so dünn, dass der Anblick kaum zu ertragen war. Lange, schwarze Haare hingen ihr in das ovale Gesicht, das irgendwie wild und ungezähmt wirkte. Der Mann war jung und schlank und trug einen teuren Anzug. Beim Näherkommen erkannte James die dunkelviolette Narbe, die aus dem Mund des Mannes ein grässliches, runzeliges Kreuz machte.
Eine Gänsehaut lief ihm über den Rücken, als ihm klarwurde, dass das der Mann war, der Hardiman aus dem Hispano-Suiza Coupé de Ville angestarrt hatte … und da stand der Wagen ja, direkt hinter den beiden!
»Englisch?« Das Mädchen streckte die freie Hand nach James aus. »¡Ayuadame! Hilfe!«
»¡Silencio!« Der Mann riss sie zurück und versuchte, sie zum Automobil zu zerren.
»No hagas esto …« Das Mädchen wand sich im Griff des Mannes. »Por favor, Ramón.«
»Ramón?«, wiederholte James. Dann kannte sie den Angreifer also.
Ramón grinste ihn spöttisch an. »Das geht dich gar nichts an, Kleiner.« Zwischen seinen vernarbten Lippen kamen nun weiße Zähne zum Vorschein, die ähnlich gebrochen waren wie sein Englisch. »Geh nach Hause.«
James fragte sich kurz, ob die beiden womöglich nur ein streitendes Liebespaar waren. Sollte er sie nicht besser einfach in Ruhe lassen? Doch das Mädchen sah ihn mit solch riesigen, flehenden Augen an … verdammt, er konnte sich doch nicht einfach umdrehen und weggehen!
In diesem Augenblick tauchte aus einer Gasse hinter dem Automobil eine riesenhafte Gestalt auf. Die Hoffnung ließ James’ Herz schneller schlagen. Vielleicht bekomme ich Verstärkung.
Doch Ramón lächelte. Nicht James bekam Verstärkung, sondern er, und zwar von einem riesigen, kahlköpfigen Muskelberg im Regenmantel. Eine seiner gewaltigen Hände war geöffnet, die andere steckte in einem Lederhandschuh und war zur Faust geballt. Die Drohung, die im Blick dieses Riesen lag, war unmissverständlich.
Ramón grinste, als er James’ Reaktion bemerkte. »Das ist El Puño. Die Faust. Bleib ruhig hier, dann erfährst du, warum er so heißt.«
James spürte den Hauch eines Zweifels. Zwei gegen einen, und das wegen eines Mädchens, das er noch nie zuvor gesehen hatte? Er wollte nicht unbedingt ritterlicher sein als St. Georg, der Drachentöter, aber wenn er jetzt das Weite suchte …
El Puño kam überraschend schnell auf ihn zu und packte James mit der einen Hand am Kragen. James hielt die Luft an, während die Schmerzen für einen kräftigen Adrenalinschub sorgten, und rammte seinem Angreifer das Knie in den Unterleib.
Doch El Puño klappte keineswegs zusammen, wie James gehofft hatte. Er stöhnte nur kurz und schlug ihm dann die behandschuhte Faust gegen die Schläfe.
Es fühlte sich an, als hätte er einen Betonblock an den Schädel bekommen.
Benommen stolperte James rückwärts an die Hauswand. Das war also die Faust. Er musste zugeben, dass dieser hässliche Hüne seinen Spitznamen zu Recht trug! Das Mädchen stieß einen lauten Schrei aus und nahm ihren Kampf gegen Ramón wieder auf.
Der Schrei riss James aus seiner Benommenheit. Mit dem Mut der Verzweiflung stieß er sich von der Wand ab und sprang mit der Schulter voraus gegen El Puños Brust. Der Riesenkerl geriet ins Straucheln und taumelte rückwärts gegen das Automobil. James bückte sich, packte seinen Gegner an den Fußgelenken und zog mit aller Kraft daran. Doch El Puño war zu schwer. Er blieb einfach stehen und schleuderte James mit einem Fußtritt beiseite wie einen Hund.
James schrie lauter, als nötig gewesen wäre, und rollte sich rückwärts über den Boden. Dabei sah er, wie Ramón das Mädchen auf die Rückbank des Hispano-Suiza drängte.
Als El Puño auf ihn zukam, griff James sich eine Handvoll Schmutz und Sand und warf ihm die ganze Ladung mitten in das pummelige Gesicht. Sein Gegner konnte nichts mehr sehen, er hustete, spuckte und taumelte ein Stück zurück.
Jetzt wollte auch Ramón in den Kampf eingreifen, doch das Mädchen streckte seinen dürren Arm durch das Fenster und schlang ihn um Ramóns Hals. Ramón stieß einen lauten Würgelaut aus, während sein vernarbtes Gesicht sich zu einer Grimasse verzerrte. James rappelte sich auf und versetzte ihm einen Faustschlag in die Magengrube. Der Kerl klappte zusammen und riss sich dabei von dem Mädchen los, so dass James ihn herumdrehen und auf El Puño schubsen konnte.
Mittlerweile hatte das Mädchen die Tür geöffnet. Wie ein Schatten huschte sie ins Freie und rannte in die Gasse, aus der El Puño gekommen war. James lief ihr nach.
»Dafür wirst du bluten, Kleiner!«, hörte er Ramón rufen. »Ich schlitze dir das Gesicht in Stücke!«
James sah sich nicht um.
Mit wild pochendem Herzen rannte James davon und wusste genau, dass er sich niemals an die Gefahr und die Aufregung, die sie mit sich brachte, gewöhnen würde. Sie war genau das, was ihn immer wieder aufs Neue reizte. So vieles im Leben war langweilige Routine, aber die Gefahr kannte keine Regeln. Sie konnte überall auftauchen, in jeder beliebigen Form.
»Und sie findet mich immer, ganz egal, wo ich bin«, murmelte er vor sich hin.
Die Gasse führte auf eine Hauptstraße voller Touristen und Partygänger. Die Luft vibrierte vom leidenschaftlichen Klang eines Guaguancó, begleitet von den Rumbarhythmen der Klanghölzer. James konnte das Mädchen nirgendwo entdecken und stieß einen unterdrückten Fluch aus. Jetzt würde er nie erfahren, in was er sich da eingemischt hatte! Es sei denn, Ramón und El Puño fanden ihn wieder. Dann würden sie ihn vermutlich einweihen …
James rannte weiter, drehte sich ein wenig zur Seite, um zwischen einzelnen Grüppchen hindurchzuhuschen, wechselte immer wieder unvermittelt die Richtung. Seine Lungen brannten schon.
Erst, als er sich ganz sicher war, dass er nicht verfolgt wurde – weder zu Fuß noch mit dem Automobil –, ging er wieder langsamer. Seine Kleider waren schweißgetränkt, aber sein Mund war staubtrocken. Es kam ihm vor, als sei es mindestens zehn Grad heißer geworden.
Während der Adrenalinschub langsam verebbte, fing James’ Kopf an zu pochen, und dazu bekam er einen leichten Brechreiz. El Puños Faustschlag hatte ihm eine dicke, eierförmige Beule beschert. Er lehnte sich an eine Hauswand, um wieder ein wenig zu Atem zu kommen, und versuchte zu begreifen, was er gerade erlebt hatte. Zweifellos war es Ramón gewesen, der Hardiman vorhin auf der Malecón beobachtet hatte. Gut möglich, dass er auch die Gestalt gewesen war, die James durch das Fenster des Restaurants bemerkt hatte. Daher war es sehr unwahrscheinlich, dass Ramón rein zufällig beschlossen hatte, seinen Wagen ganz in der Nähe von Hardimans Apartment abzustellen.
Aber was war mit dem Mädchen? Welche Rolle spielte sie bei alledem?
Ich muss unbedingt mit Dr. Hardiman sprechen, dachte James.
Er versuchte sich zu orientieren. Das war nicht allzu schwer, da die steinerne Kuppel des El Capitolo weithin sichtbar die Häuser der Umgebung überragte. Misstrauisch begann er seinen Rückweg in die Altstadt von Havanna. Dabei hielt er sich immer auf möglichst belebten Straßen. Die Wände zwischen den gusseisernen Gittern und Holzrollläden waren mit handgemalten Plakaten beklebt, die auf Veranstaltungen in der Gegend hinwiesen. Die Geschäfte hatten keine Türen – ganz egal, ob Bar, Zigarrenladen oder Schönheitssalon, alles spielte sich direkt auf den schmalen Bürgersteigen ab.
Unterwegs kam James an einem Lebensmittelgeschäft vorbei, das noch geöffnet hatte. Er kaufte den versprochenen Kaffee und dazu eine Glasflasche mit Milch. Sie war warm und kurz davor, sauer zu werden. Als er wieder in der Calle Villegas angelangte, hatte er fast die Hälfte ausgetrunken. Weit und breit waren kein Hispano-Suiza, kein Ramón und auch kein Mädchen zu entdecken.
James klopfte an die Tür. Hardiman öffnete ihm hastig, und auch Hugo streckte seinen Kopf hinter Hardimans Rücken hervor. Beide sahen ziemlich besorgt aus.
»James! Wo hast du denn gesteckt?« Hardiman zerrte ihn schnell hinein und schlug die Tür zu. »Du siehst ja furchtbar aus.«
»Doch nicht etwa noch ein Taschendieb, oder?« Hugo deutete auf die Beule an James’ Kopf. »Was ist dir denn in die Quere gekommen?«
»Zwei Männer! Schlägertypen!« James ging hinter Hardiman die Treppe hinauf in das kleine Wohnzimmer, das mit lauter unterschiedlichen Möbelstücken vollgestopft war. Keines passte zum anderen. Die Vorhänge bauschten sich, als eine leichte Brise zum Fenster hereinwehte. James war froh über die Abkühlung. Hardiman holte ein sauberes, feuchtes Tuch und Jod für die Beule. Dann erzählte James in knappen Worten, was passiert war.
»Das tut mir sehr leid.« Hardiman tupfte James’ Beule mit etwas Jod ab. »Ich hätte dich niemals alleine losgehen lassen dürfen, so mitten in der Nacht. Das war meine Schuld.«
Kann sein, dachte James. »Der Mann hieß Ramón, Sir. Und Sie haben ihn heute auch schon gesehen, unten auf der Malecón. Er hat Sie aus dem rot-schwarzen Automobil heraus beobachtet.«
Hardiman zuckte zusammen. James sah, dass sich auf seinem so vertrauten Gesicht jetzt mehr als nur Sorge spiegelte. Er sah echte Schuldgefühle. »Grundgütiger, ich hätte niemals geglaubt, dass sie auch Kinder angreifen würden.«
James merkte, wie sein Magen sich zusammenballte. »Dann kennen Sie ihn also tatsächlich.«
»Wer ist das denn?« Hugo sah aus wie eine Porzellanpuppe, so weit hatte er die Augen aufgerissen.
»Ramón Mosqueda und sein gewalttätiger Kumpan namens El Puño – die Faust – sind Mitarbeiter eines Mannes, für den ich in der Vergangenheit auch schon tätig war.« Bekümmert wandte Hardiman sich ab. »Er möchte, dass ich mich an einem … einem speziellen Projekt beteilige. Er sagt, dass er mich dafür unbedingt braucht. Ich will damit nichts zu tun haben, aber er ist auf meine Fachkenntnisse angewiesen.«
»Er kann Sie ja nicht zwingen, für ihn zu arbeiten, oder?« James runzelte die Stirn. »Ganz egal, wer er ist.«
»Audacto Solares ist ein Mann, dem man keinen Wunsch abschlägt. Er ist ein großartiger Biologe … unter anderem.« Hardiman hielt kurz inne. »Seit einiger Zeit nennt er sich Scolopendra, in Anlehnung an den lateinischen Fachausdruck für eine Tausendfüßlerart, die er entdeckt hat, den Scolopendra deltadromeus.«
»Na ja, er kann sich ja gerne nach irgendwelchen gruseligen Krabbelviechern benennen«, schaltete Hugo sich ein, »aber warum sollten seine Männer erst Sie verfolgen und dann versuchen, ein Mädchen zu entführen?«
Hardiman erhob sich etwas ungelenk von seinem Stuhl und stellte sich ans Fenster. Das Rattern der Straßenbahnen und das Dröhnen der Automobile hallte durch die dunkle Nacht. »Bist du sicher, dass sie entkommen ist?«
»Sie ist losgerannt, als wäre der Teufel hinter ihr her. Ich habe sie nirgendwo mehr gesehen. Aber ich nehme es an.« James zuckte mit den Schultern. »Was glauben Sie, wer sie gewesen sein könnte?«
»Ich weiß es nicht.« Hardiman knallte das Fenster zu. »Irgendein Mädchen eben.«
»Aber –«
»Bitte, James, lassen wir es auf sich beruhen, ja?« Mit einem Mal war sein Lächeln zurück, zeigte sich wie eine flüchtige Erinnerung an den alten Hardiman auf seinem zerfurchten Gesicht. »Wenn deine Tante jetzt hier wäre, würde sie dir raten, dich ein wenig auszuruhen und deine Beule morgen früh noch einmal zu begutachten, meinst du nicht auch?«
»Kann schon sein«, erwiderte James.
»Dann ruh dich ein wenig aus und kümmere dich morgen früh noch einmal um die Beule.« Hardiman legte James die Hand auf die Schulter. »Ich glaube nicht, dass du eine Gehirnerschütterung hast, aber ich kenne einen Arzt an der Universität. Der soll dich untersuchen.«
»An der Universität?« Hugo zog die Augenbrauen in die Höhe. »Wäre ein Krankenhaus nicht vielleicht –«
»An der Universität ist es einfacher«, unterbrach ihn Hardiman. »Und jetzt ab ins Bett, Jungs. Ich weiß, dass euch eine sehr anstrengende Reise in den Knochen steckt. Dagegen hilft nur Schlaf.« Er deutete auf das zweite Zimmer.
Etwas mühsam standen James und Hugo auf und wünschten ihrem Gastgeber eine gute Nacht. Aber die Erinnerung an das gewalttätige Ende dieses Abends ließ sie nicht schlafen, und so pokerten sie bei Kerzenlicht bis weit nach Mitternacht.
Danach lag James noch lange wach im Bett, ohne sich zuzudecken, und hörte, wie Hugo sich unruhig hin und her wälzte. Es war unglaublich stickig, trotz des geöffneten Fensters. Ein Tischventilator verteilte die warme Luft im Zimmer, und eine stotternde Öllampe warf unruhige Schatten an die stuckverzierten Wände.
»Ich hätte einiges für deine Karten gegeben«, murmelte Hugo. »Aber noch viel mehr würde mich interessieren, was du gerade denkst.«
»Ich habe mir überlegt, wie oft ich eigentlich gewonnen habe«, log James.
»Dreizehn Mal!« Hugo seufzte. »Na ja, wie heißt es so schön? Pech im Spiel, Glück in der Liebe.« Er unterbrach sich kurz. »Die haben wirklich keine Ahnung.«
»Du hast Glück gehabt, dass wir bloß um Streichhölzer gespielt haben.«
»Du hast Glück, dass du alle gewonnen hast. Sonst hätte ich nämlich dein Bett angezündet.«
James lächelte. Eine Minute verging. Er lauschte dem Surren des Ventilators, den spanischen Wortfetzen, die von der Straße heraufdrangen, dem trägen Gesang eines Mannes zum Rhythmus einer Habanera.
»Was meinst du, ob der alte Hardiman weiß, wer das Mädchen war?«, fragte Hugo leise.
»Ja. Und ich glaube, er steckt in Schwierigkeiten. Fragt sich nur, in was für welchen? Er hat gesagt, dass er sich hier in Havanna mit jemandem treffen will. Mit dem Mädchen vielleicht?«
»Na ja, nach allem, was er gesagt hat, kann er seinen alten Boss, diesen Scolo-Dingsbums, jedenfalls nicht gemeint haben.«
»Scolopendra.« James nickte. »Vielleicht hat der ihm ja diese Schlägertypen auf den Hals gehetzt. Weil er wissen will, wo er Hardiman finden kann.«
Da klingelte der Telefonapparat im Wohnzimmer.
»Ein bisschen spät für einen freundschaftlichen Anruf, oder?«, raunte James.
»Vielleicht ist es ja ein unfreundschaftlicher Anruf.«
»Genau das ist meine Befürchtung.« James stand auf und stellte den Lüfter ab. Die plötzliche Stille kam ihnen noch lauter vor als das Surren der Ventilatorblätter. Er hörte das Klicken und das anschließende Scharren, als Hardiman den Hörer abnahm.
»Hallo?« Pause. »Scolopendra – wie sind Sie an diese Nummer gekommen?«
Das ist er. Mit einem unguten Gefühl schlich James zur Tür und machte sie einen Spaltbreit auf, um besser hören zu können.
»Nein, ich hatte keinerlei Kontakt mit ihr.« Hardimans Stimme klang, als würde er sich unwohl fühlen. »Tut mir leid, aber ich weiß wirklich nicht, wo sie sein könnte.«
Das Mädchen, dem ich begegnet bin?, dachte James.