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Rasante Verfolgungsjagden, packende Action und jede Menge Bond-Coolness: Der atemraubende vierte Band der Young-Bond-Serie! Der fünfzehnjährige James Bond findet eine verschlüsselte Nachricht seines Vaters, der vor einigen Jahren unter mysteriösen Umständen ums Leben gekommen ist. Er war einer Verschwörung auf der Spur, die nun das ganze Land bedroht. Zusammen mit einem Agenten des britischen Geheimdienstes begibt sich James auf eine riskante Mission nach Moskau. Er muss die Wahrheit ans Licht bringen, bevor es zu spät ist! Ein packender Action-Krimi für alle Bond-Fans! Alle Bände der Serie: Young Bond – Der Tod stirbt nie Young Bond – Tod oder Zahl Young Bond – Schneller als der Tod Young Bond – Rot wie Rache
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Seitenzahl: 421
Steve Cole
Young Bond
Rot wie Rache
Aus dem Englischen von Leo H. Strohm
FISCHER E-Books
Für Anthony Cole,
meinen Vater,
meinen Freund
Also fragen wir beständig,
Bis man uns mit einer Handvoll
Erde endlich stopft die Mäuler –
Aber ist das eine Antwort?
Heinrich Heine, Zum Lazarus Nummer 1 (1854)
Das Automobil raste durch die Winternacht, geriet auf den Bürgersteig und steuerte direkt auf die Tore einer verfallenen Lagerhalle am Ufer der Themse zu. Anja Kalaschnikowa krallte ihre langen Fingernägel in das Leder der Rückbank. Mit einem Mal schien die Zeit langsamer zu vergehen. Das schummerige Licht einer rostigen Londoner Straßenlaterne drang, einem Scheinwerfer gleich, durch die Windschutzscheibe, während das Röhren des Motors wie dröhnender Applaus in ihren Ohren klang.
Noch vor vierzig Minuten hatte Anja zusammen mit dem Jugend-Ensemble des Ballets Russes de Monte Carlo auf der Bühne gestanden. Wie hatten die anderen Mädchen sie um die schwierige Rolle der Giselle beneidet, zumal sie erst dreizehn Jahre alt war. »Du besitzt eine herausragende Anmut und eine wunderbare Musikalität«, hatte Madame Radek in Paris voller Stolz zu ihr gesagt. »Eines Tages wirst du die besten Ensembles der Welt anführen. Du wirst überall auf der Welt tanzen … Una Prima Ballerina Assoluta!«
Die Tore der Lagerhalle barsten in Stücke, als die große Limousine in die dahinterliegende Dunkelheit raste. Anja wurde gegen hartes, kaltes Leder geschleudert. »Papa!«, kreischte sie.
Doch sie erhielt keine Antwort. Ihr Vater war stumm über dem Lenkrad zusammengesackt, wie eine alte Frau beim Wollespinnen. Schon beim Verlassen des Theaters hatte er blass und verschwitzt ausgesehen, fast so, als hätte er Fieber. Sie wusste, dass er sehr hart und sehr lange gearbeitet hatte, aber trotzdem hatte er darauf bestanden, sie abzuholen und nach Hause zu fahren.
»Im nächsten Jahr wird alles anders«, hatte er ihr versichert. »Im Jahr 1933 wird unser Leben sich verändern.«
Es war schön, dass Papa so zuversichtliche Dinge sagte. Sie waren nur wegen Anjas Ballettkarriere nach London gezogen. Papa hatte zwar schnell Arbeit in einem Architekturbüro gefunden, aber es schien ihm keinen Spaß zu machen. Er hatte abgenommen und sah immer ganz verloren aus – wie ein Zweig im Winter, der alle Blätter verloren hatte. Wenn seine Chefs in der Nähe waren, machte er allerdings immer ein fröhliches Gesicht, das hatte sie mit eigenen Augen gesehen. Aber zu Hause war sein Unglück in letzter Zeit immer größer und mächtiger geworden. Manchmal hatte Anja ein richtig schlechtes Gewissen. Er bestand darauf, sie mit seinem Wagen immer überallhin zu fahren, aber heute Abend hatte er irgendwie geistesabwesend gewirkt. Ständig war er falsch abgebogen, und jetzt …
Dunkelheit umhüllte das schwere Automobil, während es durch das Innere der Lagerhalle pflügte. Nur ein einziger, schwacher Scheinwerfer leistete noch Widerstand. In diesem Moment stieß der Wagen gegen ein unsichtbares Hindernis, bäumte sich auf und flog durch die Luft. Als er auf den Boden prallte, ging die Klappe des Cocktailschränkchens im Fahrgastraum auf. Flaschen, Gläser und Karaffen flogen durch die Gegend, und etwas Schweres traf Anja an der Schläfe. Ihre entsetzten Schreie bildeten einen schrillen Gegensatz zu dem lauten, protestierenden Kreischen der Reifen, während die Limousine in weitem Bogen durch die Halle schlingerte.
Urplötzlich ragte aus den wirren Schatten ein mit Spinnweben überzogener Betonpfeiler hervor. Anja kniff die Augen zusammen, so fest sie nur konnte, und dann brachte die Wucht des Aufpralls ihre gesamte Welt zum Einsturz. Die Autotür wölbte sich nach innen, Fenster zersplitterten in tausend Scherben. Sie wurde durch den Splitterhagel nach vorne geschleudert und stieß mit dem Kopf gegen den Vordersitz. Der Wagen blieb immer noch nicht stehen, sondern schlingerte mit knirschendem Getriebe durch die Lagerhalle. Erneut stieß Anja einen Schrei aus. In der riesigen, höhlenartigen Halle hallte jedes Geräusch vielfach verstärkt durch die Dunkelheit. Sie hielt sich die Ohren zu, und ihr wurde speiübel.
Schließlich kam der Wagen langsam, fast schon sanft, kurz vor einer weißgetünchten Wand zum Stehen. Der einzelne Scheinwerfer strahlte den rissigen Beton an, so dass ein unwirklicher Schimmer in das Passagierabteil des Automobils geworfen wurde. Die Zwei-Liter-Maschine grummelte und brummelte vor sich hin, als sei sie ganz zufrieden mit sich. Dann erstickte das Geräusch und verstummte.
Behutsam schlug Anja die Augen auf – so wie früher, wenn sie als kleines Mädchen in der Nacht wach geworden war und sich vor den Nadeln der Nordmanntanne, die vom Wind an ihr Fenster geschlagen wurden, gefürchtet hatte. Damals hatte sie sich jedes Mal sehnlich die Morgendämmerung und das liebevolle Lächeln ihres Kindermädchens herbeigewünscht. Sie spürte Nässe auf ihren Wangen. Tränen?, dachte sie und befühlte vorsichtig ihr Gesicht. Oder etwas aus der Karaffe?
Sie wischte sich den Mund ab und hatte anschließend klebrige, dunkel verfärbte Finger. Blut.
Der Schock unterdrückte zwar den Schmerz, aber nicht die Furcht. Wie sehe ich wohl aus? Hoffentlich gibt das keine Narbe. Hoffentlich bin ich nicht für alle Zeiten verunstaltet! »Papa?« Sie wollte in der plötzlichen Stille auf keinen Fall zu laut sprechen, aus Angst, dass der Wagen sich womöglich wieder in Bewegung setzte. Die einzigen Geräusche waren das leise Ticken des abkühlenden Motors und ihr bebender Atem. »Papa … bitte …?«
Als die Tür des Automobils aufschnappte und laut quietschend geöffnet wurde, zuckte sie zusammen. Der Scheinwerfer erlosch, und sie konnte gar nichts mehr sehen. Aber sie konnte Papas Sandelholz-Rasierwasser riechen, und dazu noch etwas anderes – einen süßlichen Chemikaliengeruch.
»Papa?«
Ein Taschentuch wurde ihr über die Nase und den Mund gelegt. Papa will das Blut abwischen. Schlagartig fühlte Anja sich geborgen. Das war noch besser, als von ihrem Kindermädchen geweckt zu werden. Papa war hier. Alles würde gut werden.
Ihre Haut fühlte sich kühl an und begann zu jucken. Ein Desinfektionsmittel, natürlich. Sie war sehr müde – genau wie Giselle am Ende des Balletts, wenn sie auf einem Blumenbett liegt und langsam in die Erde hinabgelassen wird. Abend für Abend schwebte sie hinab in das warme Paraffinlicht der Unterbühne, wo es nach Veilchen und Sägespänen duftete, und wartete auf den Applaus, der jeden Moment oben im Zuschauerraum aufbranden musste. Doch jetzt merkte sie, wie sie in eine stärkere, tiefere Dunkelheit hinabglitt, jenseits des Publikums, jenseits von allem.
Ivan Kalaschnikow nahm den Chloroformtupfer vom Gesicht seiner Tochter und wischte sich die Tränen aus den Augen. Die Schnittwunde an Anjas Schläfe sah ziemlich tief aus, aber sie würde wieder verheilen. Ansonsten schien sie unverletzt geblieben zu sein.
Sie hatten den Unfall überlebt, doch die eigentliche Tortur stand noch bevor.
Kalaschnikow ließ den Blick durch die pechschwarze Finsternis schweifen, holte eine Stablampe aus seiner Tasche und leuchtete durch die Lagerhalle. Er hatte den Wagen nicht so zum Stehen gebracht, wie er es geübt hatte. Was auch kein Wunder war. Schließlich war er Architekt und kein Rennfahrer.
Draußen waren in der Ferne das Stampfen eines Schleppers auf der Themse und ein lautstarker Streit zwischen ein paar Betrunkenen zu hören. Schweißnass und schwer atmend stemmte er seine Schulter gegen den Rahmen der Fahrertür und schob die Limousine langsam vorwärts, bis sie neben einem riesigen Stapel mit Gerüststangen zum Stehen kam. Eine leichte Übelkeit ergriff von ihm Besitz. Die Stangen sahen nicht besonders stabil aus, wie sie da an einem moderigen Betonpfeiler lehnten, aber genau so hatte er sie hier hinterlassen.
Alles war vorbereitet.
Kalaschnikow machte die hintere Tür des Wagens auf und richtete den Strahl seiner Stablampe auf Anja, die zusammengerollt auf der Rückbank lag. Das arme Kind. Wie friedlich sie aussah. Behutsam zog er die Schlafende nach draußen, bis ihr rechter Fuß beinahe den schmutzigen Boden berührte, bis es so aussah, als würde sie sich im nächsten Moment aufrichten, aussteigen und ihn umarmen und dabei, wie meistens, ununterbrochen von ihrer aufregenden und wundervollen Abendvorstellung berichten.
»Genau wie Großvater uns immer erzählt hat«, murmelte Kalaschnikow. »Wir werden unter einem hellen, blauen Himmel geboren … Aber wir sterben in einem dunklen Wald.«
Langsam und mit Bedacht ließ er die Autotür wieder zufallen, bis sie gegen das ausgestreckte Bein seiner Tochter stieß. Anschließend trat er gegen die schweren Gerüststangen. Viele Minuten lang stand er wie angewurzelt in der Dunkelheit. Sein Atem wurde rauer. Hoffnungslos, hilflos schüttelte er den Kopf.
Schließlich, als er bereits am ganzen Körper zitterte und schluchzte, stemmte er beide Hände gegen den Stangenstapel. Unter qualvollem Kreischen verdrehten sich die Gerüstbauteile, scharrten über den Beton und gerieten zögerlich ins Rutschen, bevor sie mit unheilvollem Getöse auf das große Automobil stürzten. Die Tür wurde gegen Anjas Schienbein gedrückt. Der markerschütternde Lärm scheuchte die Möwen auf, die auf den verfallenen Dachbalken gehockt hatten, und sie flüchteten keckernd in die Nacht hoch über dem holzkohlegrauen Schatten der Themse.
James Bond duckte sich in den Schatten des Kriegsdenkmals. Ihm war bewusst, dass die Zeit knapp wurde, wenn er das Ziel seiner Suche noch rechtzeitig erreichen wollte. Er musste sich beeilen.
»Einundzwanzig Schritte nach Norden … zweiunddreißig nach Westen.« Er nahm den Blick von der Liste mit den Richtungsangaben in seiner Hand und blickte sich hastig um. Wurde er womöglich beobachtet?
Doch es war niemand in Sicht … noch nicht.
James huschte weiter und ließ das Kriegsdenkmal hinter sich. Die Skulptur des gefallenen Soldaten kam ihm vor wie eine Warnung, während er sorgfältig seine Schritte zählte. Mit einundzwanzig Schritten nach Norden würde er auf dem Paradeplatz landen, der durch die zahlreichen Fenster eines mit Türmchen geschmückten Sandsteingebäudes ohne weiteres zu überblicken war. Und die zweiunddreißig Schritte nach Westen würden ihn direkt an einer Reihe Bleiglasfenster vorbeiführen, wie eine Blechente auf einem Schießstand – es sei denn, er benahm sich wie eine echte Ente und watschelte tief geduckt daran vorbei. Eigentlich durfte er ja gar nicht alleine hier herumschleichen, und falls ihn jemand entdeckte …
James ging in die Hocke, grinste und verfluchte seinen Freund Perry dafür, dass er ihn hierhergelockt hatte. Wohin des Wegs? war ein Spiel, das James als kleiner Junge erfunden hatte. Im Grunde genommen war es eine Schatzsuche mit Hilfe eines Kompasses. Ob irgendwo in einer abgelegenen Wildnis oder am letzten Tag des Sommer-Trimesters 1935 hier auf dem Gelände des Fettes College, die Regeln waren immer gleich: Derjenige, der die Aufgabe stellte, suchte sich einen Anfangs- und einen Zielpunkt und legte anschließend einen willkürlichen Weg zwischen den beiden fest, wechselte die Richtung, wann immer es ihm beliebte, und notierte die Anzahl der Schritte zwischen jeder Richtungsänderung. Am Ziel war, im Idealfall, eine Belohnung für den erfolgreichen Finder versteckt. Aber die Spieler mussten sich genau an die Anweisungen halten, wenn sie den Schatz finden wollten.
Als kleiner Junge hatte James dieses Spiel während eines Urlaubs in Littlehampton zum ersten Mal gespielt, mit seinem Vater. Allerdings war er mit der Anzahl der Schritte durcheinandergekommen, so dass sein Vater den Zielpunkt nie gefunden hatte. Daher war der Kavalleriesoldat aus seiner Spielfigurensammlung, den er unter einem Baum versteckt hatte, leider nie wieder aufgetaucht. Aber zu Ehren dieses unbekannten und für alle Zeiten verschollenen Soldaten hatte er mit seinen Eltern noch viele Male Wohin des Wegs? gespielt.
Während er also geduckt unterhalb der Fenster entlangwatschelte und dabei bis zweiunddreißig zählte, schüttelte James die Erinnerungen ab. Sie fingen an, unangenehm zu werden. Seine Eltern waren beide bereits tot, waren bei einem Kletterunfall in den Aiguilles Rouges, den »Roten Gipfeln« in den französischen Alpen, ums Leben gekommen. Ob ich wohl jemals an sie denken kann, ohne dass es schmerzt?, fragte er sich.
Er warf einen Blick zurück auf das Kriegsdenkmal. Die Inschrift lautete NIEMALS AUFGEBEN, und James nahm das als Aufforderung. Er und Perry hatten Wohin des Wegs? schon öfter gespielt, um damit einen langen und langweiligen Schultag zu beleben. Erst letzte Woche hatte James seinen Freund auf eine riskante Route quer durch den Dienstbotensaal geschickt, wo er im offenen Kamin die Aprilausgabe der Spannenden Detektivgeschichten versteckt hatte. Das Heft hatte er zuvor einem besonders widerlichen Hauspräfekten stibitzt. Was mochte Perry wohl für ihn hinterlassen haben? Er las die letzte Anweisung. Neun Schritte nach Norden.
So gelangte er zu einem gusseisernen Gitterrost, der neben dem Haus im Boden versenkt war. Hinter dem Rost befand sich ein verstaubtes Fenster, durch das Licht in den Kohlenkeller im Untergeschoss fallen konnte. James musste lächeln, als er ein Päckchen entdeckte. Es war mit Wachspapier umwickelt und von unten am Gitterrost festgebunden worden. Die Belohnung gehörte ihm! Es kostete ihn einige Mühe, die Finger durch die Eisenstreben zu stecken und den Rost aus seiner Steinfassung zu heben. Schnell band er das Päckchen los. Es besaß die Umrisse einer Flasche.
Perry hatte eine kurze Nachricht auf das Papier gekritzelt:
J. – Hier hast du was für die lange Fahrt nach Pett Bottom. Auf Sommermonate voller Müßiggang, bevor wir im September wieder anrücken müssen! PM
Lächelnd setzte James den Gitterrost wieder ein. Perry war schon gestern Abend mit dem Nachtzug nach London gefahren, aber James war auf Bitten seiner Tante Charmian noch eine Nacht hiergeblieben. Sie hatte gerade Freunde in Newcastle besucht und wollte, dass er ihr auf der Rückfahrt Gesellschaft leistete. Er hatte ihr angeboten, sich irgendwo in England mit ihr zu treffen, aber sie hatte, warum auch immer, darauf bestanden, ihn am Fettes College abzuholen. Eigentlich musste sie jeden Moment hier sein. Zu dumm, dass Perrys Anweisungen so gut versteckt gewesen waren – James hatte sie erst vor einer halben Stunde in seinem Zimmer entdeckt …
»Aha, James, da bist du also!«
Als Charmians Stimme in seinem Rücken ertönte, zuckte James zusammen und sprang auf. Lächelnd sah sie ihn an, in ihrer grünen Wollhose, den kniehohen Lederstiefeln und der braunen Lederjacke über der cremefarbenen Bluse. Dazu hatte sie sich einen Seidenschal um den Hals geschlungen. Neben ihr stand Dr. Cooper, James’ Hausvorstand. Er war ein gutaussehender Mann mit buschigen Augenbrauen, einem kantigen Gesicht und dunklen Haaren, die hervorragend zu seiner finsteren Miene passten.
»Bond, was um alles in der Welt hast du hier zu suchen?« Cooper bebte. »Deine Tante wollte dich im Haus Glencorse abholen, aber ich wusste nicht einmal, dass du rausgegangen bist. Wir haben von unterhalb beobachtet, wie du auf die Rückseite des Schulgebäudes geschlichen bist. Und was hast du da in der Hand?«
James’ Gedanken überschlugen sich. »Ich … Mir ist eingefallen, dass ich ein Geschenk für Tante Charmian bestellt habe, zum Dank dafür, dass sie mich abholt. Das ist am Empfang für mich abgegeben worden. Also bin ich schnell hier hochgelaufen, um es abzuholen. Und als ich schon wieder auf dem Rückweg war, habe ich einen Schrei gehört.« Er zuckte mit den Schultern. »Irgendwie habe ich gedacht, dass er aus dem Kohlenkeller kommt, und darum wollte ich nachsehen, ob vielleicht jemand Hilfe braucht.«
Tante Charmians Augen funkelten. »Ich höre aber nichts.«
»Dann war es wahrscheinlich nichts Schlimmes«, schlussfolgerte James.
»Ich verstehe«, sagte Dr. Cooper, aber sein Tonfall ließ darauf schließen, dass genau das Gegenteil der Fall war. »Nun ja, Bond. Sehr bedauerlich, dass du solch bewundernswerten Einsatz nicht auch dem Studium der Klassiker zuteilwerden lässt. Aber es ist lobenswert, dass du deiner Tante ein Geschenk besorgt hast.«
Charmian lächelte und nahm das Päckchen in die Hand. »Was mag das wohl sein?« Sie riss das Papier auf und brachte eine Viertelliterflasche Younger’s No. 3 Scotch Ale zum Vorschein.
»Bier?« Dr. Coopers Blick wurde misstrauisch.
»Meine Lieblingssorte«, sagte Charmian schnell. »Wie aufmerksam von dir.«
»Herr Dr. Cooper ruft uns immer wieder das Motto von Glencorse ins Gedächtnis: Nunquam onus.« James deutete eine leichte Verneigung vor dem Hausvorstand an. »Keine Mühe ist zu groß.«
James und Charmian lachten immer noch, als die Eisenbahn nach Euston um 12.34 Uhr in Edinburgh losfuhr. Tante Charmian hatte Erste-Klasse-Fahrscheine besorgt, und sie hatten ein ganzes Abteil mit dunkelrotgepolsterten Sitzen und Mahagoniwänden für sich alleine.
Charmian goss das Bier in zwei Teetassen und betrachtete James mit wehmütigem Blick. »Ich glaube, für diese Fahrt brauchen wir unbedingt etwas zu trinken.«
»Was ist denn los?« James war gespannt. »Du bist doch nicht die ganze lange Strecke gefahren, nur um mich zu begleiten, oder?«
»Das stimmt. Ich muss dir nämlich etwas zeigen.« Sie erhob sich, holte ihren zerschlissenen Koffer aus dem Gepäcknetz und klappte ihn auf. »Letzte Woche habe ich ein unerwartetes Päckchen erhalten, James … mit etwas, was in einer Gletscherspalte in den Aiguilles Rouges gefunden worden ist.«
Schlagartig krampfte sich James’ Magen zusammen. »Was?«
»Es hat drei Jahre lang im Eis gelegen.« Charmian holte einen khakifarbenen Rucksack aus Leinen und Leder aus ihrem Koffer. Er sah ziemlich zerknittert aus, und die Metallschnallen hatten zahlreiche Rostflecken auf dem Stoff hinterlassen. »Dieser Rucksack hat deinem Vater gehört, James. Er muss ihn bei seinem Absturz an jenem letzten Tag verloren haben. Und … es liegt etwas für dich darin.«
Während die Eisenbahn über die Gleise ratterte, beugten Charmian und James sich über den Inhalt des Rucksacks – sie waren zwei Überlebende, die viel zu früh viel zu viel verloren hatten. Charmian erklärte James, dass das sommerliche Tauwetter Andrew Bonds Rucksack freigelegt hatte. Ein paar zufällig vorbeikommende Kletterer hatten ihn entdeckt und der Polizei übergeben, die ihn an die alte Adresse der Bonds geschickt hatte. Die neuen Bewohner hatten das Paket dann an Tante Charmian weitergeleitet.
Als James die Hand in den Rucksack steckte, empfand er so etwas wie Ehrfurcht und stumme Verzweiflung zugleich. Es kam ihm fast so vor, als hätte er durch dieses Spiel aus seiner Kindheit dafür gesorgt, dass die Erinnerung an seinen Vater jetzt eine konkrete Gestalt annahm.
Er fuhr mit den Fingerspitzen über die Relikte im Inneren des Rucksacks: ein dicker Wollpullover, ein Paar lederne Handschuhe, wie sie Automobil-Chauffeure trugen, aber in Kindergröße – ihr Duft erweckte in James kostbare Erinnerungen an die Fahrten in dem 1926er AC 12 Royal Coupé Cabriolet seines Vaters zum Leben –, dicke Socken, eine kleine Feldflasche mit einem Rest guten Whiskys und dann noch etwas, was James die Tränen in die Augen trieb.
Andrew Bond war von Beruf Handelsvertreter der Waffenfirma Vickers Armaments gewesen. Unmittelbar vor der Urlaubsreise nach Chamonix hatte er eine Geschäftsreise nach Russland unternommen. Er war immer viel unterwegs gewesen, aber wenn er dann in ihr Haus vor den Toren der schweizerischen Stadt Basel zurückgekehrt war, hatte James fasziniert seinen Erzählungen gelauscht und dabei mit den neuesten Mitbringseln aus fernen Landen gespielt: einem bemalten Spielzeugsoldaten vielleicht, oder einem Buch. James wusste noch, dass sein Vater ihm von der Reise in die Sowjetunion Schokolade mitgebracht hatte, aber das war anscheinend nicht alles gewesen. Denn jetzt holte er aus einem dicken, braunen Umschlag, der mit James beschriftet war, ein kleines Modell der berühmten Basilius-Kathedrale auf dem Roten Platz in Moskau hervor. Mit ihren Zwiebeltürmen, die buntgestreift wie Christbaumkugeln auf den reichverzierten Backsteintürmen saßen, wirkte sie wie ein sehr sorgfältig und kunstvoll angefertigtes Märchenschloss. Auf dem beigelegten Zettel stand nur: Das musst du unbedingt deinem Onkel Max zeigen!
»Das hat leider nicht geklappt«, murmelte James. Das Mitbringsel war bis jetzt verschollen gewesen, und Max Bond war vor zwei Jahren gestorben. »Aber mein Vater war mindestens einen Tag lang bei uns, bevor er und meine Mutter mich in die Eisenbahn gesetzt haben und gemeinsam nach Chamonix abgereist sind. Warum hat er mir das Andenken nicht schon damals gegeben?«
»Ich weiß es nicht, James. Und ist es nicht seltsam, dass er das hier gar nicht abgeschickt hat. Immerhin klebt ja schon eine Briefmarke darauf.« Charmian hatte aus einer Seitentasche einen Briefumschlag mit Max’ Adresse hervorgeholt. »Vor allem, da ich mich daran erinnern kann, dass er Max eine Postkarte aus Chamonix geschickt hat. Das Datum darauf war der Tag ihrer Ankunft dort …«
»Und vierundzwanzig Stunden später war er tot.« James betrachtete den Brief und spürte einen schmerzhaften Stich. Absender und Empfänger waren bereits nicht mehr auf dieser Welt. So eine Ungerechtigkeit! »Können … Können wir uns den Brief vielleicht durchlesen?«
Charmian lächelte. »Aber natürlich. Ich wollte nur abwarten, bis du dabei bist.«
James war mit einem Mal sehr aufgeregt. Kaum zu glauben, was ihm jetzt unmittelbar bevorstand: Eine Begegnung mit seinem vor Jahren verlorenen Vater. Doch die hastig hingekritzelte Nachricht schien sich auf ein vorangegangenes Gespräch zu beziehen und klang höchst seltsam:
»Max, das, was du in Moskau vorfinden wirst, wird gewaltige Auswirkungen auf London haben«, las Charmian langsam vor. »Talpid Henson hat davon gesprochen, die Mühle wieder aufzubauen. Du musst ihn besuchen. Alles kann mit einem Knall zu Fall gebracht werden.«
»Was soll das denn heißen?«, unterbrach James seine Tante. »Und wer ist Talpid Henson?«
»Ich bin mir sicher, dass ich den Namen schon einmal gehört habe. Vielleicht war das ein gemeinsamer Bekannter.« Charmian schüttelte den Kopf, konnte sich offensichtlich nicht erinnern. »Aber ich glaube nicht, dass Talpid sein richtiger Vorname ist. Vielmehr bezeichnet der lateinische Begriff Talpidae in der Biologie die Familie der Maulwürfe.« Sie lächelte. »Ein Maulwurf ist ein kleines Tier mit dunklem Fell und einer länglichen Schnauze. Ich vermute, das war der Spitzname, den dein Vater diesem bedauernswerten Henson gegeben hat.«
»Kann ich mal sehen, was er noch alles geschrieben hat?« James nahm ihr den Brief aus der Hand. Er überflog ein paar belanglose Bemerkungen über einen legendären Angelausflug im Jahr ’97, auf dem die Männer der Familie Bond anscheinend jahrelang auf einen einzigen Biss gewartet hatten … Und dann lief ihm ein Schauer über den Rücken. In der letzten Zeile wurde sein Name erwähnt: Lies TVK, und spiel mit James, um zunächst das Beste aus den französischen Erinnerungen herauszuholen. Herzliche Grüße, Andrew. Damit war der Brief zu Ende. James war verwirrt. Das Beste aus den französischen Erinnerungen herausholen?
»Davon gibt es bestimmt jede Menge, wenn man bedenkt, wie oft wir alle nach Chamonix gefahren sind.« Charmian schüttelte den Kopf. »Aber das klingt doch alles sehr seltsam, findest du nicht?«
James nickte grüblerisch. »Lies TVK? Was ist denn dieses ›TVK‹?«
»Vielleicht ein Buch? Übers Angeln womöglich?«
Charmian betrachtete den Brief und lächelte. »Weil, nun ja, an diesen verflixten Angelausflug kann ich mich sehr gut erinnern. Wieso er den allerdings hier erwähnt, kann ich mir nicht erklären, zumal er ja im Jahr 1901 stattgefunden hat, und nicht etwa 1897. Das weiß ich deshalb noch so genau, weil die Krönung Edwards VII. damals unmittelbar bevorstand. Deine Großmutter hat Andrew und Max losgeschickt, um in den Seen von Auchindrain Bachforellen zu fangen. Die wollte sie zubereiten und an die feiernde Menge verkaufen. Aber als die beiden schließlich nach Hause gekommen sind, hatten sie nur ein paar Barsche dabei, und die Party war ohnehin schon längst vorbei!«
James nickte. Eine sehr schottische Erinnerung jedenfalls, die eigentlich nichts mit Frankreich zu tun hatte.
Der Tag zog sich genauso träge in die Länge wie die Eisenbahnfahrt. Die Landschaft vor dem Fenster schien sich endlos zu dehnen. Bis sie in London angekommen und umgestiegen waren, um schließlich nach Pett Bottom zu gelangen, war es Nacht geworden, und Charmian schlug vor, unverzüglich zu Bett zu gehen.
James gehorchte, aber er konnte nicht schlafen. Er musste die ganze Zeit an seinen Vater denken und daran, wie wenig er über ihn wusste. Er hatte immer davon geträumt, eines Tages zusammen mit Andrew Bond um den Erdball zu reisen, ein Teil seiner Welt zu werden. Aber jetzt war es dafür zu spät. Unentwegt schwirrten ihm der Inhalt des Rucksacks und der nicht abgeschickte Brief durch den Kopf. Talpid … siebenundneunzig … lies TVK … die Mühle …
Als die Dämmerung nicht mehr weit war, fiel ihm wieder ein, dass Charmian eine Postkarte erwähnt hatte, die Max aus Chamonix erhalten hatte.
Er wusste, dass Charmian die Briefe und Postkarten ihrer Brüder aufbewahrt hatte (»Es sind die Stimmen, die dir die Menschen nahebringen, James, nicht ihre Besitztümer«). Sie lagen fein säuberlich verpackt auf dem Dachboden, und darum machte James sich gegen fünf Uhr morgens auf den Weg nach oben. Leise tapste er zwischen verbeulten Koffern voller schwerer Bücher und Papiere herum und fand auch die Aktenordner mit den ordentlich abgehefteten, nach Empfänger sortierten Briefen. Er fing an, sie so leise wie möglich durchzublättern, doch es dauerte nicht lange, bis Charmian den Kopf durch die Dachluke steckte. Sie trug einen dunkelroten Morgenmantel, und ihre Haare waren ziemlich zerzaust.
»Du suchst vermutlich das hier.« Sie hielt ihm eine Postkarte entgegen. »Mir ist nämlich eingefallen, wie Max bei der Beerdigung gesagt hat, dass diese Postkarte wahrscheinlich das Letzte war, was dein Vater geschrieben hat, und dass sie sich wohl kaum als Grabinschrift eignen würde. Und ich wusste doch, dass mir ›Talpid Henson‹ schon einmal begegnet war. Wollen wir?«
Sie zogen sich in die Küche zurück und bereiteten im Schein einer Öllampe zwei Tassen Kakao zu. Es dauerte nicht lange, bis sie das Gekritzel auf der Postkarte entziffert hatten:
Max,
bin wieder von meiner Geschäftsreise zurück. Talpid Henson sagt, dass er die Bank für seinen nächsten Besuch wieder aufbauen will. Bergen die Fundamente Gefahr? Vergleiche auch die weitere Korrespondenz und polnisches Instrument auf James’ Gestell, um alles zu Fall zu bringen.
Ich hoffe, der abgebrochene Ton im Hauptschlüssel findet dich wohlauf vor, oder du ihn.
Andrew
»Ein polnisches Instrument?«, murmelte James. »Ich habe doch noch nie ein Instrument gespielt.«
»Verwirrend und sehr rätselhaft, nicht wahr?« Charmian lächelte schwach. »Ehrlich gesagt, für mich klingt das wie eine Art Geheimsprache, so wie sie Kinder sich ausdenken.«
»Und um die zu entschlüsseln, braucht man einen ›Hauptschlüssel‹«. James runzelte die Stirn. »Vergleiche auch die weitere Korrespondenz … Ob damit der Brief im Rucksack gemeint ist, den Onkel Max nie bekommen hat?«
»Vielleicht gehören die beiden Schriftstücke ja zusammen«, pflichtete Charmian ihm bei. »Unser Maulwurffreund hat offensichtlich eine Menge zu tun, nicht wahr? Im einen Brief baut er die Mühle wieder auf und im anderen die Bank.« Sie hielt inne. »Oder ist damit womöglich der Aufbau von Millbank gemeint?«
»Millbank? Du meinst das Viertel in London?«
»Ich weiß nicht. Aber dein Vater schreibt doch, dass seine Arbeit in Moskau Auswirkungen auf London hat.«
Jetzt fiel es James wieder ein. »Millbank ist doch nach der großen Themseflut von 1928 weitgehend abgerissen worden, nicht wahr? Also müssten die Aufbauarbeiten 1932 bereits in vollem Gang gewesen sein …« Er legte die Stirn in Falten, während ihm ein leiser Schauder über den Rücken rieselte. »Damals hat Onkel Max für den Secret Intelligence Service gearbeitet. Vielleicht hat diese verschlüsselte Nachricht ja etwas mit seiner Arbeit zu tun?«
»Dein Vater war Handelsvertreter für Vickers und kein Spion.«
»Er ist durch die ganze Welt gereist und hat Waffen verkauft«, erwiderte James. »Da muss er doch Kontakt mit genau den Leuten gehabt haben, die Onkel Max ausspionieren wollte.«
»Schon möglich. Aber ganz egal, mit was für einem Geheimnis wir es hier zu tun haben mögen, wir sind drei Jahre zu spät dran.« Charmian legte die Postkarte mit dem Bild nach oben auf den Küchentisch, so dass die schwarzweißen Berge im Schein der Öllampe schimmerten. Schließlich senkte sie den Docht ab und blies die Lampe aus. »Ich ordne hiermit die Fortsetzung der Nachtruhe an. Legen wir uns wieder in unsere Betten und retten wir, was vom Schlaf noch zu retten ist.«
Gehorsam trottete James zurück in sein Zimmer, aber sein Geist arbeitete auf Hochtouren, so dass an Schlaf nicht einmal ansatzweise zu denken war. Er empfand jedes Rätsel als Herausforderung, aber das hier … Ein unvollendetes Vorhaben seines Vaters und seines Onkels? Noch persönlicher konnte es gar nicht sein!
Und es war völlig undenkbar, sich jetzt zurückzuziehen und das Geheimnis Geheimnis sein zu lassen.
Wenn es eine Möglichkeit gibt, die Wahrheit ans Licht zu bringen, dann werde ich das tun, dachte James.
Eigentlich hatte James vorgehabt, in den Sommerferien eine Taucherausrüstung zu konstruieren und sie in der St. Margaret’s Bay auszuprobieren, aber jetzt schwebte ihm eine ganz neue Aufgabe vor: Er wollte herausfinden, was sein Vater seinem Bruder, dem Spion, hatte sagen wollen.
Wenn die Postkarte und der Brief tatsächlich zwei Teile eines geheimnisvollen Rätsels darstellten, was war dann die Lösung? Spiel mit James, hatte Andrew Bond an seinen Bruder geschrieben. Polnisches Instrument auf James’ Gestell. Aber James hatte doch nie ein Musikinstrument besessen. Er wusste wirklich nicht, was er damit anfangen sollte, zumindest noch nicht. Falls Tante Charmian recht hatte – und das, was der maulwurfsartige Henson im Zusammenhang mit einer Mühle und einer Bank zu erledigen hatte, irgendwie mit dem Wiederaufbau von Millbank zusammenhing –, vielleicht war dann der Angelausflug mit der falschen Jahreszahl auch nur ein Hinweis. Max hatte doch bestimmt das korrekte Datum gekannt. Und sein Vater hatte geschrieben, dass sie jahrelang auf einen Biss gewartet hatten und damit die Aufmerksamkeit auf die Zahl 97 gelenkt …
Und wenn damit eine Adresse gemeint war? Millbank Nummer 97?
Das klang zwar ziemlich weithergeholt, aber da James ansonsten keinerlei Idee hatte, musste er diese Möglichkeit zumindest überprüfen.
Charmian hatte beschlossen, die rätselhaften Nachrichten an einen Bekannten von Onkel Max beim Secret Intelligence Service weiterzuleiten, nur für den Fall, dass sie dort von Interesse sein könnten. Darum bot James sich als Kurier an. Das würde ihm Zeit und Gelegenheit geben, selbst ein paar Nachforschungen anzustellen.
Die SIS-Zentrale befand sich am Broadway, unweit der Haltestelle St. James’ Park. Es war ein unauffälliges Bürogebäude. Dort hatte der SIS den dritten und vierten Stock belegt – inoffiziell natürlich. Auf dem Schild an der Eingangstür stand der Name einer Feuerlöscherfirma. Die Öffentlichkeit sollte ja nicht wissen, wer sich wirklich hinter dieser Tür verbarg. James war ausdrücklich gesagt worden, dass er seinen Reisepass mitbringen sollte, um sich auszuweisen.
Er klingelte, und es dauerte nicht lange, bis ein junger Mann mit zurückgekämmten Haaren, einem grauen Anzug und ebenso grauer Hautfarbe ihm die Tür öffnete. James zeigte seinen Ausweis vor, und der Mann untersuchte ihn sehr gründlich, bevor er James in einen grauen, nüchternen Flur bat, der nicht einen Funken Glanz verströmte.
»Du hast etwas für uns«, sagte der Mann ohne jede Spur von Begeisterung.
Zögerlich übergab James ihm den Umschlag mit dem Brief und der Postkarte. Er hatte sich vorher noch alles fein säuberlich abgeschrieben, trotzdem fiel es ihm schwer, die Originale aus der Hand zu geben.
Schweigend nahm der junge Mann den Umschlag entgegen.
»Ist … Adam Elmhirst vielleicht gerade da?«, erkundigte sich James. Im letzten Jahr war er in Los Angeles in große Gefahr geraten, und Agent Elmhirst hatte ihm das Leben gerettet. James hatte gehofft, dass er ihn vielleicht um Hilfe bitten konnte. »Ich kenne ihn persönlich …«
»Da hast du heute kein Glück«, fiel ihm der junge Mann ins Wort. »Aber ich richte ihm aus, dass du hier warst. Auf Wiedersehen.«
Noch bevor James etwas dagegen einwenden konnte, wurde er unsanft nach draußen geschoben. Die Tür fiel ins Schloss, und dann stand er gedemütigt wieder in der Sonne.
Damit wäre mein Auftrag für den heutigen Tag erledigt, dachte er. Dann kann ich mich jetzt ja um meinen eigenen Kram kümmern.
Er warf einen Blick in Tante Charmians zerschlissenen A.B.C. Taschenatlas London und spazierte den Broadway entlang, dann weiter geradeaus durch den Strutton Ground und die Horseferry Road, bis er nach rechts auf die Regency Street gelangte. Das Haus Nummer siebenundneunzig in der Millbank war jetzt keine zwanzig Minuten mehr entfernt.
Die Millbank war ein Teil der Uferstraße am Nordufer der Themse, und die Nummer siebenundneunzig war ein Neubau. Er beherbergte eine internationale Schule: die Mechta-Akademie für Darstellende Künste.
Nachdem die Millbank von einer Flutkatastrophe verwüstet worden war, hatte man das gesamte Areal abgerissen und mit neueren, hochwassersicheren Häusern bebaut. Die Mechta-Akademie hob sich jedoch von den anderen Gebäuden ab: ein stufenförmiger Bau aus riesigen, weißen Betonblöcken, die rund um einen ovalen Turm angeordnet waren. Bergen die Fundamente Gefahr?, hatte sein Vater vor Jahren geschrieben. Nun, die Stützpfeiler am Fuß des Gebäudes sahen jedenfalls so aus, als könnten sie jeder Flut die Stirn bieten.
Das Grundstück wurde von einem schwarzen, gusseisernen Zaun umgeben. Auf dem parkähnlich angelegten Gelände sah James Kinder in rotgelben Uniformen unter Aufsicht der Lehrer Sportübungen machen.
Haben die keine Sommerferien?, fragte er sich. Was machen die denn noch hier?
Aber vielleicht galten an internationalen Schulen ja andere Regeln.
Als jemand, der oft gegen Regeln verstieß, nahm James sich vor, ein wenig mehr in Erfahrung zu bringen.
In der nächsten Woche fuhr James wieder nach London. Er hatte einen Termin beim Nationalarchiv in der Chancery Lane abgemacht, um sich dort über die Akademie zu informieren. Er musste seinen Ausweis vorzeigen und war froh, dass er ihn seit seinem letzten Besuch in der Hauptstadt nicht aus der Tasche genommen hatte.
Bergen die Fundamente Gefahr? … Ob damit die pädagogischen Grundlagen der Akademie gemeint waren?
Durchaus möglich, dachte James. Obwohl sein Vater das eigentlich gar nicht hatte wissen können. Der Neubau der Nummer 97 hatte 1931 begonnen und war bei Andrew Bonds Tod 1932 noch gar nicht fertig gewesen. Auf den Bauplänen wurde ein gewisser Ivan Kalaschnikow als Architekt genannt. Gut möglich, dass es sich um einen Russen handelte. James wusste, dass die diplomatischen Beziehungen zwischen Großbritannien und der Sowjetunion seit Jahren schon angespannt und schwierig waren. Jede Seite warf der anderen Spionage, Sabotage und noch Schlimmeres vor. Eine solch auffällige Arbeit eines russischen Architekten im Herzen von Westminster musste bei der einen oder anderen Regierungsstelle für Stirnrunzeln gesorgt haben.
Max, hatte Andrew Bond geschrieben, was du in Moskau vorfinden wirst, wird gewaltige Auswirkungen auf London haben …
Aus den Unterlagen ging hervor, dass Kalaschnikow noch drei weitere Gebäude am Ufer der Themse konstruiert hatte – alles Bürogebäude, die eine brutale, funktionelle Eleganz verströmten und in jedem Fall ungewöhnlich waren. James sah sich die Pläne ganz genau an und prägte sich die wichtigsten Merkmale ein. Aber von den Fundamenten war nirgendwo etwas zu erkennen.
Was hast du denn erwartet?, fragte er sich schließlich. Und trotzdem drängte ihn sein Instinkt, sein Gefühl, die Suche fortzusetzen, mehr zu erfahren. James hatte gelernt, dieser inneren Stimme zu vertrauen.
Wenn die Baupläne ihn nicht weiterbrachten, dann musste er sich eben aus erster Hand informieren. Die Akademie hatte ja eindeutig geöffnet, obwohl eigentlich Sommerferien waren. Mal sehen, ob sie mich reinlassen, dachte James.
Nachdem er mit dem Bus von der Chancery Lane an die Millbank gefahren war, überlegte James, wie er sich Zugang zur Akademie verschaffen konnte. Vermutlich war es am besten, wenn er den Leuten dort gehörig auf die Nerven ging. Also schlang er sich den alten, mit Rostflecken übersäten Rucksack seines Vaters über die Schulter, marschierte bis vor das Tor und drückte in regelmäßigen Abständen auf die Klingel.
Irgendwann trat ein großer, düster wirkender Mann mit hohen Wangenknochen aus dem Hauptgebäude ins Freie. Er war vielleicht Mitte zwanzig und näherte sich mit einschüchternden Schritten dem Tor. Trotz seines schmutziggrauen Anzugs sah er nicht aus wie ein Lehrer, sondern eher wie ein Soldat. Er sagte kein Wort, sondern starrte James lediglich fragend an.
»Ich habe mit Ihrem Direktor eine Führung vereinbart«, sagte James beherzt und beschloss, dass er für seine Geheimmission auch einen richtigen Decknamen brauchte. »Ich heißt Grande … Hugo Grande. Mein Vater findet, dass ich mich hier anmelden soll. Wenn es mir gefällt, was ich zu sehen bekomme, dann könnte ich vielleicht der neueste und bedeutendste Schüler dieser Akademie werden.«
Der Mann starrte James weiterhin an und bedeutete ihm mit dem Finger, dass er verschwinden sollte.
Kopf schüttelnd warf James einen Blick auf seine Armbanduhr. Es war kurz vor halb vier. »Die Führung soll um 15.30 Uhr losgehen. Ich würde Ihnen ja die schriftliche Zusage zeigen, aber die hat mein Vater behalten. Er will mich erst um sechs Uhr hier abholen. Vielleicht könnten Sie ja einmal nachfragen?«
Der Mann machte auf dem Absatz kehrt und stolzierte davon.
»Ich gehe hier nicht weg!«, rief James ihm hinterher. »Nicht, bevor ich mit jemandem gesprochen habe!« Wieso abwarten, bis der Ärger auf mich zukommt, dachte er, wenn ich ihn selber anlocken kann? Darum blieb er einfach stehen und drückte zehn Minuten lang immer wieder auf den Klingelknopf. Endlich kam der slawisch wirkende Soldat wieder, schloss das Tor auf und begleitete James nach drinnen, ohne auch nur für einen Augenblick sein stures Schweigen aufzugeben.
Ich bin drin! Ein wohlbekannter Schauer der Erregung rieselte James den Rücken hinunter. Und jetzt?
Er wurde in einen kühlen Empfangsraum geführt. Bodenbretter aus Eiche und blasse Tapeten schufen ein geschmackvolles und dezentes Ambiente. Hier wartete ein Mann auf ihn, der gleichzeitig finster dreinblicken und sprechen konnte. Großgewachsen und mit einem dicken Bauch stand er da, und seine Worte hörten sich so an, als sei er grundsätzlich gegenüber allem und jedem misstrauisch. »Du behauptest, dein Name sei Hugo Grande?«
»Hugo Grande, richtig.« James hatte sich den Namen von einem alten Schulfreund geborgt. Vermutlich wäre der kleinwüchsige Hugo sehr damit einverstanden gewesen, dadurch Teil einer solch großen Geschichte zu werden. »Und Sie sind …?«
»Ich bin Andrej Karachan.« Sein russischer Akzent klang genauso schwerfällig, wie er aussah. »Ich bin der Geschäftsführer.«
Aha, dann gab es also auch hier eine Verbindung in die Sowjetunion! James nahm diesen »Geschäftsführer« ein wenig genauer in den Blick: Ein wilder Schopf aus dichten, schwarzen Haaren umgab einen kahlen Fleck in seiner Schädelmitte. Dazu passte der dichte, graue Vollbart. In seinem mit Pockennarben übersäten Gesicht saßen zwei Augen, die ihr Gegenüber durchdringend und misstrauisch betrachteten.
»Es gibt keinerlei Eintragungen, die eine Schulführung für einen Schulbewerber namens Grande vermerken, weder heute noch an irgendeinem anderen Tag.« Karachan nickte James’ Begleiter zu und sah anschließend wieder James an. »Du bist irrtümlicherweise hierhergekommen, und jetzt verlässt du das Gelände wieder.«
»Warten Sie!« James machte einen Schritt auf Karachan zu und fing mit unbewegter Miene an zu bluffen. »Sie wollen mich tatsächlich rauswerfen? Mein Vater bekleidet eine sehr hohe Stellung im diplomatischen Dienst und ist mit dem Direktor persönlich befreundet.«
Der Begleiter machte einen Schritt auf James zu, doch Karachan blaffte ihn auf Russisch an und hob die Hand, so dass der andere James nicht hochkantig zur Tür hinauswarf.
»Ich könnte doch vielleicht ein bisschen in den Unterricht reinschnuppern … Oder haben die Schüler gerade frei?« James lächelte so freundlich, wie er nur konnte. »Haben Sie Sommerferien?«
»Nein. Sie üben … für die große Aufführung.« Missbilligend musterte Karachan den zerschlissenen Rucksack auf James’ Schultern. »Warte hier. Ich suche jemanden, der bereit ist, mit dir zu sprechen.« Er knurrte seinem Kollegen noch einmal ein paar Brocken auf Russisch zu. Dieser nickte, verschränkte die Arme vor der Brust und bedachte James mit einem giftigen Blick. Karachan ging durch eine Tür ins Innere des Gebäudes. In diesem Augenblick sah James hinter der Tür einen schlanken, dunkelhäutigen Jungen vorbeihuschen. Er trug einen weiten, khakifarbenen Anzug und hatte einen kahlgeschorenen Schädel. Neugierig und mit großen, braunen Augen blickte er James an. Immerhin ist das hier tatsächlich eine internationale Schule, dachte James. Der Junge war vermutlich einer der älteren Schüler. Karachan scheuchte ihn weg und ließ die Tür ins Schloss fallen. Jetzt war James mit seinem Aufpasser alleine im Empfangsbereich.
Die Minuten vergingen, und James fing an zu schwitzen. Was, wenn Karachan jetzt mit dem Direktor sprach und James’ Lügengebäude aufflog?
Dann schwang die Tür wieder auf, und er hob den Blick. Dieses Mal betrat eine Frau den Raum. Sie war schlank und machte einen sehr vornehmen Eindruck. Ihre Körperhaltung und ihre anmutigen Bewegungen ließen vermuten, dass sie einmal eine professionelle Tänzerin gewesen war. Und an ihrer Frisur – kurze, knapp bis über die Ohren reichende dunkle Haare, so wie die jungen Mädchen in den Zwanzigerjahren ausgesehen hatten, allerdings mit etlichen silbergrauen Strähnen versehen – war abzulesen, dass es ihr schwerfiel, diese Zeit hinter sich zu lassen.
»So, so, so, wen haben wir denn da?« Sie balancierte einen Zwicker auf der steil abfallenden Nase und fixierte James mit ihren grauen Augen. »Hugo Grande, nehme ich an?«
»Genau«, erwiderte James.
»Ein schöner, französischer Name. Ich bin Madame Gajana Radek, die stellvertretende Direktorin.« Ihr Englisch klang sehr sorgfältig einstudiert und durch den französischen Akzent ein wenig exzentrisch. »Ich bedauere wirklich zutiefst, dass wir Ihre Anmeldung nirgendwo finden können.«
James räusperte sich. »Könnten Sie nicht vielleicht jemanden entbehren, der mich ein bisschen herumführen kann? Mein Vater kann mich erst viel später hier abhol…«
»Ohne die schriftliche Einladung, die Sie ohne Zweifel erhalten haben, können wir Ihnen leider nicht helfen.« Madame Radek zuckte mit den Schultern. »Regeln und Vorschriften … Was wäre eine Schule ohne sie, nicht wahr? Besonders eine Schule mit so begabten Schülern … und so bedeutenden Eltern.«
»Bedeutend?«, wiederholte James.
»Wie Sie an Demirs Gegenwart …« Madam Radek zeigte auf James’ Begleiter. »… unschwer erkennen können, ist uns die Sicherheit unserer Schüler jederzeit ein großes Anliegen. Bitte richten Sie Ihrem Vater aus, dass er sich bei nächster Gelegenheit telefonisch mit uns in Verbindung setzen möchte, ja? Und jetzt verzeihen Sie bitte, junger Monsieur Grande, aber ich muss mit meinen begabtesten Schülern eine Galavorstellung einstudieren.« Während sie zur Tür schwebte, warf sie ihm ein stolzes Lächeln zu. »Im Königlichen Opernhaus, müssen Sie wissen!«
»Sehr beeindruckend«, erwiderte James höflich, doch da war sie schon wieder verschwunden, und die Tür fiel hinter ihr ins Schloss.
»Bewegung«, grollte Demir.
»Ja, natürlich. Einen Augenblick, bitte.« James ging in die Knie und tat so, als wollte er sich die Schnürsenkel binden. Ihm war klar, dass er eine schnelle Entscheidung treffen musste. Entweder ließ er sich gehorsam von dem wortkargen Demir vom Schulgelände führen, oder aber er packte die Gelegenheit beim Schopf und suchte weiter.
Die Entscheidung war klar.
James schlug einen Haken um Demir und rannte los. Mit wild klopfendem Herzen riss er die Tür auf und stürmte in einen gefliesten Flur, der nach knapp zwanzig Metern eine scharfe Biegung machte. Das hatte James auch schon auf den Grundrisszeichnungen gesehen. Er jagte um die Kurve, so dass Demir ihn aus den Augen verlor.
Aber er verfolgte ihn natürlich, und das ziemlich schnell. James blieb stehen und legte sich auf die Lauer. Als Demir um die Kurve schlingerte, stellte er ihm ein Bein. Demir stürzte zu Boden, aber es gelang ihm, noch im Fallen James am Ärmel zu packen und ihn mit sich zu reißen. Sie landeten auf den geputzten Fliesen des Schulkorridors, und Demir holte aus, um James einen kraftvollen Handkantenschlag auf die Halsschlagader zu verpassen.
Erschrocken drehte James sich zur Seite, so dass der Schlag nur seinen Hinterkopf traf. Der Schmerz durchzuckte ihn wie ein Peitschenhieb. Demir kam wieder auf die Füße und hechtete zu einem Feueralarm-Schalter an der Wand.
Auf keinen Fall, dachte James. Er sprang auf, lief dem breitschultrigen Kerl hinterher und rammte ihn mit dem Gesicht voraus gegen die Wand. Es knackte laut, als Demirs Nase auf die Mauer prallte und dabei aufplatzte wie eine reife Frucht. Eine dicke, dunkelrote Schleifspur blieb auf der Wand zurück, während er langsam in die Knie ging und schließlich bewusstlos nach hinten kippte.
Schwer atmend und mit einem seltsamen Gefühl in der Magengegend befühlte James seinen Kopf. Demir hatte mit dem unteren, dickeren Teil der Handkante zugeschlagen. Hätte er James’ Halsschlagader oder die Nervenstränge, die durch den Hals liefen, getroffen, hätte dieser Schlag ihn töten können. Der Kerl war vielleicht bei der Mechta-Akademie für Darstellende Künste als Beschützer von Prominenten-Kindern angestellt, aber er schlug zu wie ein ausgebildeter Kämpfer. James griff in die Innentasche von Demirs Jackett und holte seine Brieftasche heraus. Sie enthielt keinen Ausweis. Er steckte sie wieder zurück, durchsuchte auch noch die Hosentaschen und brachte einen Schlüsselbund zum Vorschein.
Dass so ein kampferprobter Leibwächter gleich Großalarm auslösen wollte, nur weil er es mit einem unartigen Schuljungen zu tun hatte, verwirrte James. Was war hier eigentlich los, abgesehen von den Proben für irgendeine große Gala?
Auf der gegenüberliegenden Seite des Korridors befand sich ein Lagerraum. James machte die Tür auf, schleppte Demir hinein und schob ein paar Kartons vor den Leblosen, damit er nicht sofort zu sehen war. »Schlaf weiter«, sagte er und probierte alle möglichen Schlüssel aus, bis er endlich den passenden gefunden hatte. Dann schloss er die Tür ab. Er konnte nur hoffen, dass Karachan nicht allzu früh anfing, nach dem Kerl zu suchen.
James lief weiter, doch langsam meldeten sich die ersten Selbstzweifel zu Wort. Ich habe gerade einen Mann bewusstlos geschlagen, der mich daran hindern wollte, ohne Erlaubnis eine Schule zu betreten. Seine Hände waren schweißnass. Wer bin ich eigentlich? Ein treuer, vom Schmerz gebeutelter Sohn, der zu Ende bringen will, was sein Vater begonnen hat, ganz egal, was es war? Was, verdammt nochmal, will ich hier eigentlich beweisen?
Aber er kannte die Antwort auf diese Frage bereits. Ich will mich dir beweisen, Vater.
James zwang sich zur Konzentration. Wenn sie ihn jetzt erwischten, würde er ernsthafte Schwierigkeiten bekommen, höchstwahrscheinlich mit der Polizei. Er beschloss, seine Erkundigungen möglichst schnell zu Ende zu bringen. Und wenn er nichts Auffälliges bemerkte, nun … in dem Fall würde er auch keine weiteren Nachforschungen anstellen. Dann verschwinde ich von hier und komme nie wieder zurück.
Aus Kalaschnikows Plänen wusste er, dass mehrere Türen in das Kellergeschoss führten. Er folgte dem Hauptflur und gelangte schließlich zu einer Tür mit der Aufschrift KELLER – ZUTRITT FÜR UNBEFUGTE VERBOTEN. Er drückte die Klinke. Abgeschlossen. Aber noch bevor er die vielen Schlüssel an seinem Schlüsselbund ausprobieren konnte, quietschte weiter hinten, dort, wo er hergekommen war, eine Tür.
Demir? James erstarrte und hörte leise Schritte näher kommen. Da entdeckte er auf der gegenüberliegenden Seite des Korridors eine offene Tür. Schnell schlüpfte er hinein und befand sich in einem dunklen, nach Putzmitteln riechenden Schrank. Die Schritte auf dem Linoleum näherten sich, und als sie unmittelbar vor dem Schrank angelangt waren, ging James in die Knie und warf einen Blick durch das Schlüsselloch.
Das war der schwarze Junge mit dem kahlrasierten Schädel, den er zuvor schon gesehen hatte. Wahrscheinlich eines von diesen Prominentenkindern.
Schlüssel klirrten, dann hatte der Junge die Kellertür geöffnet und war dahinter verschwunden. Langsam fiel die Tür wieder ins Schloss.
Zwei Seelen, ein Gedanke. James rannte los und schob seine Fußspitze in die Türöffnung, damit sie nicht zufallen konnte. Er wartete mit angehaltenem Atem und lauschte eine gefühlte Ewigkeit in die Tiefe. War da eine Bewegung zu hören? Ein Geräusch? Ein tiefes Knarren ertönte. Noch eine Tür? James schlüpfte durch die Öffnung und stand dann am oberen Ende einer Treppe, die von einer roten Glühbirne in einen fiebrigen Schimmer getaucht wurde. Auf Zehenspitzen huschte er die Betonstufen hinunter, spähte in den düsteren Raum jenseits des Geländers … und blieb ruckartig stehen, als er von unten scharrende Geräusche wahrnahm.
Keine gewöhnliche Tür, dachte James. Sondern eine Falltür.
Wie die Maulwürfe, die sich ihre unterirdischen Gänge gruben …
Der schwarze Junge kam eine Leiter emporgeklettert und tauchte wie ein Geist aus dem Untergrund wieder im Keller auf. Nachdem er die Falltür geschlossen und verriegelt hatte, ging er zu einem Telefonapparat, der an der hinteren Wand befestigt war. Mit dem Rücken zu James nahm er den Hörer ab und wählte.
»Demir ist nicht im Keller, Karachan.« Der Junge sprach langsam und mit einer hohen, fast weiblichen Stimme ohne erkennbaren Akzent. »Die Fracht wurde nicht angetastet.«
Fracht? Lautlos bewegte James sich durch die blutroten Schatten abwärts, drückte sich an die Wand und kauerte sich hinter eine staubige Kiste auf dem Kellerboden. Das war die Bestätigung: Es war richtig gewesen, hierherzukommen. Er führte die Nachforschungen seines Vaters weiter – aber was genau hatte Andrew Bond in Moskau eigentlich entdeckt? Was war ihm bei seinen Zusammentreffen mit Experten auf dem Feld der nationalen Sicherheit, mit Käufern und Verkäufern begegnet? Denn trotz aller Vorsicht hatte er schließlich doch seinen Bruder, den britischen Spion, und sogar seinen eigenen Sohn in die Sache verwickelt. Das hätte er nicht getan, wenn er nicht fest überzeugt gewesen wäre, einer gewichtigen Angelegenheit auf der Spur zu sein. Einer hinterlistigen sowjetischen Verschwörung vielleicht, die drei Jahre später immer noch nicht in die Tat umgesetzt worden war. Aber warum nicht? Worum ging es hier?
Bei seinem nächsten Besuch in dieser »Feuerlöscher-Firma« am Broadway, das schwor sich James, würde er dem SIS ordentlich Feuer unter dem Hintern machen. Und dann sollten sie zusehen, wie sie die Flammen wieder gelöscht bekamen!
Der schwarze Junge legte den Telefonhörer auf die Gabel und ging zurück zur Treppe. Er kam unmittelbar an James vorbei, und seine nackten Füße klatschten laut hörbar auf den Beton. Er stieg nach oben, knipste die rote Glühbirne aus und machte die Tür auf. Für einen Moment drang helles Licht aus dem Korridor herein, doch dann klappte die Tür schon wieder zu. Der Schlüssel drehte sich im Schloss, aber James machte sich keine Gedanken: Er hatte den kleinen Drehknopf gesehen, mit dem sich die Tür von innen entriegeln ließ.
Wenn sie den Keller gerade durchsucht haben, dann bin ich hier wahrscheinlich erst einmal in Sicherheit, dachte er, während er die Treppe hinaufging und das Licht einschaltete, um sich dann vor die Falltür zu hocken. Er schob den Riegel zur Seite und hob die hölzerne Klappe hoch. Aus der Dunkelheit drang ein kräftiger Duft nach Mandeln empor, vermischt mit etwas öligerem Teer- und Plastikgeruch.
Geschmeidig kletterte James in den geräumigen Kellerraum unter der Falltür hinab. Der Fußboden war aus Beton, und der Raum so hoch, dass er die Decke trotz seiner Körpergröße von einem Meter achtzig gerade eben mit den Fingerspitzen erreichen konnte. Er tastete an der Wand nach einem Lichtschalter, stieß gegen einen kleinen Metallhebel und erweckte eine trübe Deckenleuchte zum Leben.
Er sah sich um und stellte fest, dass er sich in einer Art Betonbunker befand, der die gleichen Abmessungen besaß wie der darüber liegende Kellerraum. In den Architektenplänen war der aber nicht verzeichnet, dachte er. Der süßlich-ölige Geruch war überwältigend – was, zum Teufel, wird denn hier unten gelagert? An der Wand türmten sich Holzkisten – zu seiner Rechten lauter volle, fein säuberlich gestapelt, und zu seiner Linken ein Durcheinander aus lauter leeren.
James las die dunkle Schrift auf der Seitenwand einer der vollen Kisten:
BLADE-RISE INDUSTRIES
ACHTUNG
HOCHEXPLOSIVER SPRENGSTOFF
HEXOGEN 50LBS1¼ × 8