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Ein Kassensturz der mörderischen Art Im beschaulichen Bilk ist ein harmloser Rentner bei einem Einbruch in seiner Wohnung zu Tode gekommen. Sehr unschön, aber übersichtlich, findet Kriminalhauptkommissar Pit »Struller« Struhlmann auf den ersten Blick. Aber sein feines Ermittlernäschen fängt schon bald an zu kribbeln. Irgendwas stimmt da nicht … War der simple Einbruch doch eher das Werk ausgebuffter Profis? Welche Rolle spielt Gini Girelli, die zweimal in der Woche die Wohnung geputzt hat? Warum heißt der Tote Günter Netzer und konnte nicht Fußball spielen? Die turbulenten Ermittlungen führen Struller und seinen Kollegen Jensen in die exklusiven Dessous-Shops der Düsseldorfer Altstadt, in angesagte Sushi-Läden auf der Immermannstraße, in die gediegene Piano-Bar eines Flusskreuzfahrtschiffs und ins niederrheinische Herongen zu Oma Jensen. Sie treffen auf rabiate Angehörige, listige Lehrerinnen und Junkies, die gar keine sind. Mehr und mehr wird klar: Es ist Zahltag. Und da wird abgerechnet!
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Seitenzahl: 337
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Die Krimi-Cops
Vom Autoren-Team bisher bei KBV erschienen:
Stückwerk
Teufelshaken
Umgelegt
Bluthunde
Knock Out
Goldrausch
Böse Falle
Zahltag
Die Krimi-Cops sind:
Ingo »Inge« Hoffmann, Jahrgang 1978, aus Neuss, Carsten »Rösbert« Rösler, Jahrgang 1977, aus Düsseldorf, Martin Niedergesähs, Jahrgang 1977, aus Herongen an der niederländischen Grenze und Klaus »Stickel« Stickelbroeck, Jahrgang 1963, aus Kerken am Niederrhein.
In ihren Büchern verarbeiten die Polizisten nach Feierabend mal komische, mal härtere Einsätze der zurückliegenden Schichten. Mit Zahltag haben sie nun bereits den neunten witzig-spannenden Kriminalroman um den Düsseldorfer Kriminalhauptkommissar Pit »Struller« Struhlmann und seinen ehemaligen Praktikanten Jensen verfasst. www.krimi-cops.de
Die Krimi-Cops
Originalausgabe
© 2024 KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheim
www.kbv-verlag.de
E-Mail: [email protected]
Telefon: 0 65 93 - 998 96-0
Umschlaggestaltung: Ralf Kramp
unter Verwendung von © jitti - stock.adobe.com
Lektorat: Volker Maria Neumann, Köln
Druck: CPI books, Ebner & Spiegel GmbH, Ulm
Printed in Germany
Print-ISBN 978-3-95441-679-0
E-Book-ISBN 978-3-95441-690-5
Für Günter Netzer
»Gute Messer bleiben lange scharf!«
Prolog
1. Tag
2. Tag
3. Tag
4. Tag
5. Tag
Schlussakt
Danksagung
»Asche zu Asche! Staub zu Staub!«
Der mit Weihrauchduft geschwängerte Wind wehte die salbungsvollen Worte des Pfarrers über die Anwesenden hinweg zu ihm herüber. Wie so oft, wenn Menschen hohen Alters gingen, hatten nur wenige Trauernde den Weg zum Friedhof gefunden, die versammelte Gemeinde war überschaubar.
Am offenen Grab nahm eine junge Frau, Mitte zwanzig, schluchzend Abschied. Ein junger Mann stützte sie. Die Frau musste die Enkelin des Verstorbenen sein. Seine einzige, soweit er wusste. Sie hatten sich nie kennengelernt. Das hatte sich nicht ergeben, sich nicht ergeben können. So wie die Sache stand, würde sich das auch nicht ändern.
Vorerst.
Seine Hüfte schmerzte, die Bandscheibe zwickte. Der edle, hölzerne Gehstock mit dem chromglänzenden Rundknauf brachte wenig Erleichterung. Er wechselte das Standbein.
Seine Gedanken wanderten in eine ganz andere Richtung, viele Jahre zurück. Was so lange gut gegangen und anscheinend raffiniert und perfekt geplant war, ging jetzt aber so was von schief.
Der kräftig gebaute Mann vom Bestattungsunternehmen im schwarzen Anzug schob sich an den Sargträgern vorbei. Die sechs Ehrenmänner streiften ihre weißen Handschuhe von den Händen und ließen sie mit einem Nicken ins Grab fallen. Der Bestatter betätigte einen Mechanismus. Lautlos senkte sich der mit weißen Blumen und einem Kreuz aus Holz dekorierte Sarg knirschend in seine neue, dunkle Heimstatt.
Da ging er, sein alter Freund, der Arno. Sein Kamerad, mit dem er die gesamte Schulzeit verbracht hatte. Da ging er und nahm alles mit, was sie die letzten Jahre verbunden hatte.
Der warme Wind blies ihm durchs schüttere Haar.
Sein Blick fiel auf den jüngeren Mann, der ihm genau gegenüberstand. Starrte der ihn an? Jetzt schaute er weg. Alarmiert fuhr er mit den Fingern seiner rechten Hand über die Narbe auf seiner linken Wange – die Narbe, die ihm ein unachtsamer Moment bei der Arbeit ins Gesicht geschlitzt hatte und die sich immer dann glühend bemerkbar machte, wenn etwas nicht stimmte.
Unauffällig fixierte er den Mann, der allerdings jedes Interesse an seiner Person verloren zu haben und andächtig der Zeremonie zu folgen schien. Das warnende Kribbeln in seinem Gesicht ließ nach und verschwand gänzlich.
Er war der Einzige von ihnen, der heute anwesend war. So hatten sie es ausgemacht, aber es fühlte sich falsch an, unangebracht. Das würde er bei nächster Gelegenheit zur Sprache bringen.
Bei nächster Gelegenheit? Genau das war das Problem. Wann war die nächste Gelegenheit? Jetzt, da Arno die Sachen nicht mehr regeln würde, nicht mehr regeln konnte.
Es kam Bewegung in die Gemeinde. Freunde und Begleiter traten an die Angehörigen heran und kondolierten. Er machte holprig einen Schritt zurück. Gleich würde er seitlich nach hinten wegtreten, unauffällig. Unsichtbar, wie immer. Wie vor vielen Jahren abgesprochen.
Ein letztes Mal musterte er die weiblichen Trauergäste. War sie dabei? Er war sicher, er würde sie erkennen, wenn er sie sah. Er hatte sie kaum kennengelernt, sie in den vielen Jahren vielleicht ein oder zwei Mal kurz gesehen. Hatte nie ein Wort mit ihr gewechselt, aber viel von ihr gehört. Gerd hatte häufig von seiner Gattin gesprochen.
Auch Gerd hatte sich schon auf den letzten Weg gemacht. Zehn Jahre war das schon her. Im Grunde hatte damals der verdammte Schlamassel angefangen. Das hatte nur keiner von ihnen erkennen wollen.
Die Frau mit dem dunkelgrünen, aufgespannten Regenschirm, an dem der Wind zankend zupfte? Oder die Dame dort? Nein, zu jung, sie musste inzwischen auch um die achtzig Jahre alt sein.
»Zeig dich«, murmelte er.
Offensichtlich ein wenig lauter als gedacht, denn die Menschen um ihn herum merkten auf. Reiß dich zusammen, mahnte er sich. Bloß nicht auffallen.
Er drückte den Knauf seines Stocks. Fest, kräftig. Er würde sich kümmern, kümmern müssen. Die Knöchel an seiner Hand glänzten weiß. Am liebsten hätte er geschrien, laut geschrien. Lieselotte, wo bist du? Lieselotte Jensen, gib dich zu erkennen!
Du Miststück!
Struller schloss seufzend das Computerprogramm. Er hatte in seinem Postfach nichts Brauchbares gefunden. Nur Info-Mails vom Projektbüro zum Umbau und Umzug des Polizeipräsidiums sowie mehrere Korrekturaufforderungen vom Administrator des neuen Datenerfassungsprogramms. Beide Themenbereiche ignorierte er konsequent.
Ächzend erhob er sich, kramte eine zerdötschte Schachtel Ernte 23 aus seinem Hemd und trat ans Fenster. Das Fenster zum Innenhof, der mit alten, groben Wackersteinen ausgelegt war, ließ sich problem- und geräuschlos öffnen. Nicht mal Lack rieselte vom Rahmen.
Da konnte er sich nicht dran gewöhnen.
Sie hatten im Zuge des Umbaus des Präsidiums in seinem Büro neue Kunststofffenster eingebaut. Modern, in Weiß. Fliegengitter sollten auch noch hinzukommen, aber das werde noch dauern, hatten sie gesagt. Bis Herbst. Welches Jahr genau, das hatten sie nicht festlegen wollen.
Seitdem regnete es nicht mehr rein, es zog nicht, und es streuselten keine Lacksplitter den Fenstersims ein. Er meckerte ja gerne über alles und war nicht sicher, ob er das jetzt gut finden sollte.
Darüber hinaus waren die Fensterscheiben so sauber und klar, dass er nicht nur problemlos hindurchgucken konnte, nein, er konnte sich sogar drin spiegeln. Seine dunklen, vollen Haare waren eine Spur zu lang und hatten auf der linken Seite ein Schlafnest geformt. Sein knapp fünfzigjähriger Blick war freundlich und offen. Es gab gerade auch nur Freundliches und Offenes zu sehen, nämlich ihn selbst. Sein kurzärmeliges Sommerhemd war von einer ockerbraunbeigesandfarbenen Couleur, wie sie seit mehreren Jahrzehnten bei C&A nicht mehr abgemischt wurde. Er war gründlich rasiert, was auch nicht jeden Tag vorkam. Das sonnige Wochenende hatte ihm eine dezent-gesunde Färbung ins Gesicht gepinselt. Eigentlich war der Tag wie geschaffen, um brauchbare Passfotos zu machen, auf denen er nicht aussah wie ein leichenfahler Vampir.
Gleichwohl steckte er etwas lustlos die Zigarette in Brand, gab den Lungen etwas zu tun und jagte gelangweilt einen Nikotinkringel nach draußen an die frische Luft.
Am Ausblick hatte sich nichts geändert. Beruhigend und erbaulich war, dass er nach wie vor den Eingang zum Gewahrsamsbereich im Blick hatte. Erst recht an trüben Tagen war es immer wieder erhebend, wenn ertappte Gauner einfuhren.
Gerade zogen zwei Uniformierte einen Spitzbuben, der sich mit seinem Schicksal hinter schwedischen Gardinen offenbar noch nicht abfinden wollte, aus einem Polizeibus. Der untersetzte Strolch hatte keine Haare auf dem Kopf, trug ein grünblaues, quer gestreiftes T-Shirt und kam Struller bekannt vor. Mit dem hatte er auch schon mal zu tun gehabt.
Er erkannte zwei Kollegen aus der Polizeiwache Stadtmitte. Der Blonde sah aus wie aus Skandinavien. Er hieß mit Vornamen Chris, alle nannten ihn Jupp, und es hatte ihn aus Duisburg den Rhein hinauf in die Landeshauptstadt verschlagen. Der lange Große war tätowiert wie ein Seefahrer. Den kannte er ebenfalls. Beides brauchbare Burschen. Zeit für ein paar freundliche Worte.
»Na, Jascha, sperrst du wieder unschuldige Menschen ein?«
Der Lange blinzelte hoch. »Hast du nichts zu tun, oder was?«
»Ich treffe mich gleich mit deiner Mutter!«
»Ich glaube nicht. Sie steht nicht auf deutlich Ältere.«
»Ich bin unschuldig!«, schrie der Gefangene.
»Ja, genau«, murmelte Jaschas Kollege und geleitete ihn mit festem Griff am Arm Richtung Gewahrsamstür.
Dort hielt ihnen ein untersetzter Beamter des polizeilichen Übernachtungsetablissements bereits höflich die schwere, grüne Eingangstür auf. Struller erkannte Lutz Busch, den alle nur Nichtsnutz-Lutz nannten.
Struller beugte sich weit aus dem Fenster. »Eh, Gefangener, du darfst jederzeit einen Anwalt anrufen! Das ist dein Recht! Frag nach dem Menschenrechtsbeauftragten! Und lass dir unbedingt die Dienstnummern geben!«
Struller lächelte. Wohl wissend, dass die Kollegen des Wachdienstes alle einen Namen, aber keiner eine Dienstnummer hatte.
»Ich komm gleich hoch«, nölte Jascha.
Das wollte Struller dann doch nicht und schloss das Fenster. Sein Blick streifte den Schreibtisch an der gegenüberliegenden Seite des Raumes.
Es war aber auch zum Mäusemelken. Flatschleer war er. Außer ein paar Akten, um die er sich wirklich nicht mehr kümmern musste. Die Sachen standen alle kurz vor der Verjährung. Nein, totale Ebbe, nichts kaputt. Tote Hose! Kein Tötungsdelikt, kein Mord, noch nicht mal was aus Versehen. Diese Friedlichkeit kotzte ihn an.
Statistisch übrigens unterlegt. Aus lauter Langeweile hatte Struller so eine Tabelle gelesen. Minus 24 Prozent bei Mord und Totschlag. Wie sollte man da als kompetenter, jederzeit einsatzklarer Mordermittler arbeiten? Geht doch gar nicht. Waren die Düsseldorfer alle friedlich geworden? Und wenn ja, warum?
Und wer könnte das wieder ändern?
Also, das würde er niemals laut aussprechen, aber … da konnte man schon neidisch auf Köln blicken. Da hatten sich letztes Wochenende auf der Domplatte zwei volltrunkene Touristen aus Neuseeland gegenseitig zu Tode geprügelt.
Das war doch mal was Handfestes!
Und in Bickendorf hatte der berufstätige Bürofachangestellte seine Gattin mit einem Schornsteinfeger im Bett erwischt und seine Neun-Millimeter aus Opas Wehrmachtsbeständen in die beiden entleert. Tja, das war Glück. Glück, dass die alte Pistole überhaupt funktioniert hatte. Aber man sagte ja auch: Schornsteinfeger bringen Glück.
Düsseldorf dagegen hatte nichts Vergleichbares anzubieten. Es war eine ungerechte Welt. Letzte Woche hatte er sogar seinen jährlichen Sporttest abgelegt. Ende August. Und ohne angemahnt worden zu sein. Unfassbar.
Aber … das sollte sich in diesem Moment ändern, denn es öffnete sich die Bürotür. Ein rundes, wohlgenährtes Gesicht wurde im Türspalt sichtbar. »Hallo, dürfen wir kurz reinkommen?«
Zum Gesicht gehörte ein tropfenförmiger Körper, der in einem Blaumann steckte.
»Nein«, erboste sich Struller. »Ich stecke bis zum Hals in Arbeit.«
»Dauert nicht lang«, flötete der Kerl und stupste die Tür auf. »Wir bringen nur den neuen Schreibtisch.«
Struller runzelte irritiert die Stirn.
Zusammen mit seinem Kollegen trug der Tropfen nun einen Schreibtisch ins Büro.
Der Kollege am anderen Ende des Tischs war lang und blass, er erinnerte ein wenig an Spargel. Sein Gesicht bleichte sich noch eine Nuance fahler. »Wir sind gleich wieder weg«, flüsterte er. Er sah aus, als hätte er Angst.
»Wo soll er hin?«, fragte der Tropfen.
»Nirgendswo hin. Ich habe einen Schreibtisch. Der wackelt nicht, an die Brandflecken habe ich mich gewöhnt.«
»Ähm, Kollege, der …«
»Von den vier Schubladen lassen sich zwei öffnen, da bin ich total zufrieden mit.«
»Wir sind gleich wieder weg«, flüsterte der Spargel.
Struller schniefte. Energischer. »Nehmt ihn wieder mit!«
»Ähm, das ist hier doch Zimmer 3.110.4, oder?«, fragte der Tropfen. Er friemelte ein riesiges, weißes Taschentuch aus seinem Anzug und wischte sich die hochrote Rübe schweißfrei.
»Keine Ahnung. Die überbezahlten Verwaltungsschlaumeier ändern dauernd die Zimmernummern. Ich wohne hier schon seit hundert Jahren. Gegenüber ist die Toilette, kurze Wege. Ich fühle mich hier sehr, sehr wohl und brauche keinen neuen Schreibtisch.«
»Kollege, der Schreibtisch ist nicht für dich, sondern für den neuen Kollegen«, stöhnte der Tropfen.
»Welcher neue Kollege?«, fragte Struller, ihm schwante Übles.
»Der Neue, der zu dir ins Büro kommt. Das ist ein Zwei-Personen-Büro.«
»Das ist mein Büro. Ich arbeite allein. Hat sich bewährt. Ich, in meinem Büro, allein.«
»Wir sind gleich wieder weg«, flüsterte der bleiche Spargel.
Der Tropfen zog einen Plan aus seinem Kittel und knisterte ihn mit wichtiger Miene auseinander. »Der Belegungsplan von ZA spricht hier eindeutig von einem Büro, das von zwei Personen zu belegen ist.«
»Rede ich chinesisch, oder was? Ich teil mir das Büro doch nicht mit irgendeinem Bürodödel! Kommt gar nicht infrage«, kodderte Struller.
»Wir sind gleich wieder weg.«
Struller trat hinter seinen Schreibtisch. In welcher der beiden Schubladen lag noch mal seine Dienstwaffe …
»Du müsstest eine Info-Mail vom Projektbüro für den Umbau des Präsidiums bekommen haben, wo das alles drinsteht.«
»Hat mich nicht erreicht«, brummte Struller.
»Na ja, wir stellen den Schreibtisch mal hier vors Fenster, da steht er schön.«
»Nein! Nehmt den gefälligst wieder mit!«, keifte Struller und öffnete die oberste Schublade.
»Das ist ein ganz toller Schreibtisch. Elektrisch, höhenverstellbar, mit Motor, lässt sich super hochfahren.«
Struller spürte, dass er selbst gerade super hochfuhr. Die waren doch alle bekloppt. »Der bescheuerte Tisch bleibt sicher nicht hier.«
»Wir sind gleich wieder weg«, flüsterte der Spargel.
Aber sein Kollege hatte Standfleisch. »Ich schleppe das Monstrum sicher nicht noch einmal quer durchs Präsidium. Ich bin doch nicht der Himbeer-Toni. Ich bin doch nicht der Einzige, der hier arbeitet. Der Tisch bleibt hier.«
Strullers Stirnader pochte. Das sah bestimmt nicht schön aus, aber: machste nix dran. Die nächste Schublade klemmte. »Wer hat das veranlasst?«
Der Tropfen griff ein weiteres Mal energisch in die unendlichen Tiefen seines Blaumanns, zerrte ein mehrfach gestempeltes Schriftstück ins Bürolicht und wedelte damit. »Hier. Steht alles drauf. Zuletzt hat auch dein Boss, der Hengstmann, abgezeichnet.«
»Hengstmann?«
»Ja sicher. Apropos, du müsstest hier auch noch kurz das Übergabeschreiben abhaken.«
Struller schnaubte unartikuliert. Wenn er jetzt seine Knarre fand, würde er der Nervensäge als Unterschrift zwei Löcher ins Formular ballern. Zwei Löcher: Vor- und Zuname.
»Geht aber auch ohne«, deutete der Tropfen die dunkelblaue, pochende Stirnader an Strullers Schädel richtig. »Ich leg das Formular auf den neuen Schreibtisch.«
Sein blass-bleicher Kollege hatte die Klinke der Bürotür schon in der zittrigen Hand.
Struller ruckelte die dritte Schublade auf. Aha. Eine braune Häkelkrawatte, ein Pepitahütchen, ein Rinderknochen, Helga vom Ordnungsamt ihr blauer BH von der Karnevalsparty … Ah, da lag ja sein Baby.
Struller riss die Pistole aus der Schublade und drehte sich zu den Kollegen. »So, und jetzt nehmt ihr den verdammten Schreibtisch gefälligst wieder …«
Aber da hatten die beiden sein Büro schon verlassen. Na warte! Hengstmann, der Pferdeheini, hatte das Vorhaben abgehakt? Ein Zweimannzimmer?
Struller reckte seine Knarre gen Decke. »So nicht!«
Da würden er und seine Knarre jetzt aber mal sofort ein ernstes Mitarbeitergespräch führen.
* * *
Im beschaulichen Herongen am schönen Niederrhein leckte sich Oma Jensen aufgeregt über die Lippen. Der PC fuhr knarzend hoch. »Da bin ich mal gespannt, wer um diese frühe Zeit schon alles am Start ist.«
Klick. Klick. Chat geöffnet.
»Aha.«
Eine in Rot und Schwarz gehaltene Seite öffnete sich. Da war er ja, ihr Chat.
»Abendglühen«, murmelte Oma Jensen beschwingt. Der Chat für jung gebliebene Seniorinnen und Senioren. »Fit, fröhlich und frivol.«
Oma Jensen plinkerte mit den Augen. Die Schrift war heute aber auch wieder extrem klein. Aha, die üblichen Verdächtigen. Der Lustige Ludger, Oldie08, Six Feet Drunter-Gunter, Michels Oma und die Trümmer-Trina.
»Ach guck!« Auch der fesche, amerikanische Soldat aus Kalifornien war schon wach und online. Hm, aber den mochte sie nicht so. Das war ein Schwaatlapp. Außerdem war der ständig in finanziellen Schwierigkeiten und pumpte sie um Kohle an. Mal ehrlich, ihr Amerikanisch war deutlich besser als seines. Sergeant James Donovan Fairplay sah gut aus, proper in seiner schmucken Uniform mit den vielen Orden, aber er schien doch ein wenig dumm zu sein. Aussehen war viel, aber nicht alles!
Sie checkte die Anwesendenleiste am rechten Bildschirmrand. »Nix.«
Sie vermisste den Piratenkönig. Noch immer, musste sie feststellen. Das befahl ihr eine unschöne Sorgenfalte auf die Stirn. Der verwegene Piratenkönig hatte sich in den vergangenen zwei, drei Wochen eindeutig als ihr Favorit erwiesen. So ein witziger, schlagfertiger Kerl. Manchmal ein bisschen wirr, aber ein echter Spaßvogel. Eigentlich war sie seit gestern fest mit ihm verabredet. Und er war sonst immer so zuverlässig.
Bling! Hallo Mäuschen. Schon wach?
Oma Jensen verdrehte die Augen. War ja klar, dass der sich auch wieder meldete. Sie hatte schon mehrmals versucht, Frivoler Knacker zu blockieren. Das hatte aber nicht funktioniert. Sie hatte sich anscheinend mit den Tasten und Spalten vertan. Und seitdem keinen Kontakt mehr zu ihrer Freundin Ortrud aus Walbeck. Die Schrift war aber auch klein. Oma Jensen schob die Zungenspitze zwischen die Lippen, kniff die Augen zusammen und ließ entschlossen die Fingergelenke laut knacksen. Im Vorgarten scheuchte es die Spatzen in den Septemberhimmel.
Nein. Ich schlafe noch, tippte sie, das sollte für den Knacker-Kacker erst mal reichen.
In den nächsten Minuten grüßten noch der eine und die andere. Oma Jensen grüßte zurück. Oder auch nicht. Natürlich war auch die dusselige Roswitha aus Straelen wieder online. Die knackige Nuss. Knackig? Das Einzige, was bei der ollen Schachtel knackte, waren die Knie beim Treppensteigen. Roswitha hatte man vor zehn Jahren schon aus Altersgründen nicht mehr ins Tanzcafé Panorama reingelassen, die bräsige Schreckschraube. Die Nuss war nicht knackig, sondern doof. Eine doofe Nuss. Peinlich. Und jetzt stellte sich heraus, dass sie beide den gleichen Männergeschmack hatten. Unangenehm.
Das morgendliche Hüngerchen meldete sich. Ein letztes Mal suchte sie ihren Piratenkönig, aber Fehlanzeige.
»Hm.«
Sie verspürte ein unangenehmes Ziehen im Bauch. Und das war nicht die Lust auf ein leckeres Graubrot mit grober Leberwurst. Nein, schuld war der Piratenkönig. Und die Tatsache, dass der Seeräuber-Chef abgetaucht war.
»Du machst mir Sorgen, Seemann.«
Sie fasste einen Entschluss. Der Piratenkönig wohnte in Düsseldorf. Er hatte ihr neulich sogar seine exakte Adresse mitgeteilt, obwohl man das im Internet ja nie machen sollte. Sagte einem jeder, kam neulich sogar im Fernsehen! Gerade als rüstige Rentnerin musste man immer aufpassen. Das Böse lauerte schließlich überall! Andererseits hatte sie dem Piratenkönig neulich versehentlich verraten, dass sie eine gemeinsame …
»Anderes Thema.«
Dass sich der Piratenkönig trotz Verabredung nicht meldete, ließ ihr keine Ruhe. Der Mann war ja auch schon knappe achtzig, da konnte schnell mal was passieren. Und in der Stadt lag man dann vierzehn Tage lang hinter der verschlossenen Tür, bevor man gefunden wurde. Nee, das schlug ihr auf den Magen. Und das war ja dann auch schade wegen der guten, groben Leberwurst. Da musste sie was tun.
»Düsseldorf … Natürlich.«
Sie griff energisch zum Mobiltelefon, das rechts neben dem Computer auf dem Schreibtisch lag. Sie hatte da jemanden im Sinn, der sich endlich mal wieder nützlich machen könnte.
* * *
Struller erreichte den Flur, in dem die Führungskräfte seiner Dienststelle … äh, ja was genau taten die hier eigentlich? Sie waren halt zugegen, sie waren da. Aber sonst …?
Es war immer so still. Nichts tun, das konnten die Führungskräfte auf jeden Fall sehr, sehr leise. Kein Wunder, hier lag ja auch überall dunkelblaugrauer Teppich. Deshalb hieß das auch die Teppichetage.
Ihm kam mit wichtig federndem Schritt ein Kollege entgegen. Struller hob überrascht die Augenbrauen. Hatte man den nicht vor ein paar Jahren gnädig in die Pension entlassen? Er war sich nicht sicher, er kam nur sehr selten in diesen Bürotrakt. Kerl, im Halbdunkel sah der hagere Typ aus wie Bernd Höcke. Gruselig.
»Muskatnuss«, flüsterte Struller.
Fast am Ende des Gangs erreichte er schließlich Hengstmanns Büro. Mit der Linken klopfte er an, gleichzeitig stieß er mit der Rechten die Bürotür weit auf.
Kriminaldirektor Hengstmann stand neben seinem Schreibtisch an einem Regal. In der einen Hand hielt er einen Putzlappen, in der anderen eine Bronzestatue. Das war ein Pferd. Das war Dieter. Jeder kannte Dieter. Allen im Polizeipräsidium hatte Hengstmann inzwischen mehrmals erzählt, dass der gute Dieter sein bestes Pferd im Stall sei. Dieter hatte den großen Preis von Irgendwas gewonnen. Ganz sensationell. Und er, Ferdinand Hengstmann persönlich, hatte im Sattel gesessen.
Jetzt zuckte Hengstmann zusammen, Dieter drohte ihm aus den Händen zu rutschen.
»Hallo!«, rief Struller.
»Guten Morgen«, grüßte Hengstmann und jonglierte das Pferd zurück ins Regal. »Meine Güte, müssen Sie mich so erschrecken?«
»Ich habe angeklopft«, sagte Struller und zuckte mit den Schultern.
»Ja, nun. Ich hab mich erschreckt. Sie sind ja ein eher seltener Gast hier im Flur.«
Struller nickte hinter sich und erklärte: »Im Gang riecht es immer ein wenig muffig.«
»Wie auch immer«, murmelte Hengstmann und klemmte sich hinter den Schreibtisch. »Was kann ich für Sie tun?«
»Ich hatte immer ein Einzelbüro. Das hat sich bewährt. Sie haben mir jetzt jemanden ins Büro gesetzt.«
Hengstmann verlor an Gesichtsfarbe. Man sah, dass er dieses Gespräch befürchtet hatte. »Setzen Sie sich doch.«
»Ich sitze genug. Sitzen ist das neue Rauchen. Ich bevorzuge das alte Rauchen. So mit Kippe, Nikotin und Inhalieren.«
Hengstmann blinzelte. Er hatte nicht ganz verstanden. Er sammelte sich. »Die Arbeitsgruppe Bürobelegung hat festgestellt, dass Ihr Büro ein Zwei-Mann-Büro ist.«
»Das ist falsch. Es ist mein Büro. Und ich bin nur einer. Auch wenn ich für zwei arbeite, ist und bleibt es ein Ein-Mann-Büro.«
Hengstmann wollte etwas entgegnen, verkniff es sich aber und fuhr fort. »Es muss noch jemand zusätzlich zu Ihnen ins Büro.«
»Muss gar nicht!«
»Doch, weil …«
»Ich arbeite am besten im Büro allein«, behauptete Struller – frei nach Schillers Wilhelm Tell. Unbewusst natürlich, er kannte sich mit Pfeil, Bogen und Äpfeln nicht aus.
»Wir halten da alle Kolleginnen und Kollegen gleich.«
»Aber ich im Einzelbüro, das hat sich über Jahre bewährt.«
Hengstmann hatte angefangen, seine Hände durchzukneten. »Ich bin darüber hinaus der Meinung, dass Ihnen ein wenig unterstützende Begleitung guttun wird.«
»Das ist Unsinn.«
»Ein Kollege bei Ihnen im Büro könnte Ihnen den Tellerrand öffnen.«
Struller spürte, wie ihm langsam der Kamm schwoll. »Mein Tellerrand ist ein Rand. Der muss nicht geöffnet werden.«
»Dann ändern sich auch die Perspektiven.«
»Wenn ich Perspektiven ändern möchte, guck ich aus dem Fenster.«
»Herr Struhlmann, bitte.«
»Da guck ich in den Innenhof zum Gewahrsam. Da sehe ich täglich Perspektiven, die sich ändern, weil Festgenommene in den Knast wandern.«
Händeknet, Händeknet. »Ein Kollege würde sich auf Ihre Arbeit befruchtend auswirken.«
»Ich bin keine Frau, ich bin ein Mann. Ich muss nicht befruchtet werden.«
»Herr Struhlmann, das war sexistisch!«
»Aber auch ein bisschen ein Fakt.«
»Trotzdem unterlassen Sie das! Das ist selbst unter Ihrem Niveau!«
Struller schluckte eine Bemerkung runter. Wenn der wüsste! Bei seinem Niveau war noch reichlich Platz nach unten. »Herr Hengstmann, ich habe mir im Laufe der Zeit ein paar Eigenheiten angewöhnt …«
»Ich weiß«, stöhnte Hengstmann.
»Die man einem … normalen … Kollegen nicht zumuten kann.«
Händeknet, Händeknet. »Herr Struhlmann, Sie haben seinerzeit das Optimale aus dem Kollegen Spurtmann rausgeholt. Das war eine Meisterleistung.«
Struller stöhnte innerlich, er hatte immer befürchtet, dass ihm das noch mal auf die Füße fallen würde. »Er arbeitet inzwischen unten am Eingang als Pförtner.«
»Das macht er sehr, sehr gut.«
Struller wurde plötzlich blass. Um Himmels willen, die würden ihm doch nicht etwa Bertie Spurtmann als festen Partner ins Büro setzen? Bertie war ein grundsympathischer, loyaler Mensch, aber … aber … aber als Polizist nicht zu gebrauchen. »Mein neuer Zimmerpartner, das soll doch nicht etwa noch mal Bertie Spurtmann werden?«
»Nein, nein«, antwortete Hengstmann hastig. »Nicht der Bertie. Der ist in seiner jetzigen Funktion gar nicht zu ersetzen. So einen kriegen wir da nie wieder.«
Struller atmete erleichtert aus. Aber nur für einen kurzen Moment. Zwar waren die meisten seiner Kolleginnen und Kollegen fähig und schwer in Ordnung, aber es blieben in den anderen Kommissariaten noch eine ganze Menge dusseliger Blitzbirnen übrig. Unheilvoll hämmerte der sich nach Ausrasten sehnende Blutdruck durch seinen Schädel.
Hengstmann fuhr fort. »Zuerst habe ich nach Freiwilligen gesucht, aber da hat sich niemand gefunden.«
Gott sei Dank, dachte Struller.
»Und dann habe ich überlegt, Ihnen …«
In diesem Moment klingelte Strullers Handy. Hui, das musste etwas Dringendes sein, denn er hatte neulich alle Nummern außer die der Leitstelle blockiert. Struller kontrollierte seinen Pulsschlag, das dumpfe Pochen des Blutdrucks hatte ein Tempo wie kurz vor Kragenplatzen. Vielleicht war es günstiger, das Gespräch ein anderes Mal abgekühlt weiterzuführen. Gut, dass er seinen Ballermann entgegen ersten Erwägungen doch im Schreibtisch hatte liegen lassen. Und sicher war es besser, jetzt keinen konkreten Namen zu erfahren. Manche Typen, die man ihm nichtsnutzig ins Büro pflanzen täte, würden ihn definitiv zum Durchdrehen bringen. »Da muss ich rangehen, ist dringend«, würgte Struller sein Gegenüber ab.
Eine derartige Behandlung nicht gewöhnt, brach Hengstmann tatsächlich seinen Satz sofort ab.
»Hallo?«, bellte Struller in den Hörer.
»Bist du das, Struller?«, meldete sich eine Kollegin der Leitstelle.
»Wer denn sonst? Wen hast du denn angerufen?«
»Äh, ja, dich. Also. Es gibt eine Leiche …«
»Das kommt vor. Das Leben ist endlich.«
»Ja. Es ist ein Mann. Älter.«
»Selbstmord wahrscheinlich«, knurrte Struller.
»Ähm, die Kollegen vor Ort sagen augenscheinlich nicht.«
»Ein besonders raffinierter Selbstmord.«
»Die Adresse lautet Kronprinzenstraße 8a«, ließ die Kollegin sich nicht aus der Ruhe bringen, sie kannte ganz offensichtlich ihren Pappenheimer. »Das ist gleich um die Ecke. Die Kollegen warten auf dich.«
»Na gut. Ausnahmsweise, war auch lange genug nichts los«, knurrte Struller und drückte den Ausknopf.
Hengstmann räusperte sich. »Also, wo waren wir stehen geblieben?«
»Ich weiß es nicht. Ich habe nicht zugehört. Ich muss auch weg, eine Leiche. Endlich mal wieder eine. Wir reden später weiter.«
Struller winkte zum Abschied, machte auf dem Absatz kehrt, riss die Tür auf und stürmte hinaus. Er hatte den Eindruck, dass Hengstmann das Rätsel um seinen neuen Büropartner noch lösen wollte, aber Struller hatte sich entschieden. Wer es war, den er mit Betreten des Büros hemmungslos rausmobben würde, das erfuhr er sicher früh genug.
»Erst die Leiche!«
* * *
Seit einigen Jahren wohnte Christian Jensen in einem kleinen Loft auf der Stresemannstraße. Das Viertel nördlich des Hauptbahnhofs war nicht die allerbeste Wohngegend, aber die Mieten waren so erschwinglich, dass für einen Polizisten, der gerade ein Jahr mit seiner Ausbildung fertig war, nach der Abbuchung noch ein bisschen Restkohle zum Leben übrig blieb.
Nun, er nannte seine Bleibe Loft. Im Mietvertrag stand: zwei Kammern mit Bad, was es besser traf. Jensen wollte freilich nicht meckern, die Bude hielt den Regen ab.
Vorm Haus hatte er für seinen selbst restaurierten Ford Mustang einen gebührenfreien Parkplatz gefunden, um den ihn halb Düsseldorf beneidete. Der Parkplatz war so genial, da würde er nie wieder wegfahren. Gestern hatte er allerdings eine Politesse neben seinem Wagen entdeckt, die sich offensichtlich fragte, was da bei der Stadt schiefgelaufen sei. Ein gebührenfreier Parkplatz? Wo kam man denn da hin? Vermutlich würde die Stadt dort demnächst eine Abstellzone für E-Bikes ausweisen.
Deshalb lief Jensen jetzt das Stück bis zum Polizeipräsidium zu Fuß. Er hatte einen wichtigen Termin und war schon ein bisschen aufgeregt. Sein Pflichtjahr im Objektschutzdienst war rum. In gut drei Stunden würde er im Polizeipräsidium erfahren, in welches Kriminalkommissariat es ihn dienstlich verschlagen würde. Er hatte ein wenig rumtelefoniert, aber niemand hatte verbindlich Auskunft geben können. Die zuständigen Sachbearbeiter schon mal gar nicht. Immerhin hatten sie nach langem Belabern zumindest bestätigen können, dass er auf der Umsetzungsliste zur Kriminalpolizei stand. Auch, wenn man seinen Nachnamen falsch geschrieben hatte.
Jensen wechselte die Straßenseite. Erfolgreich wich er einem Taxi aus, das ihn fast erwischt hätte. Hupen, Drohen mit der Faust, Hurensohn, erneutes Hupen.
Durch den Ständehausgarten, auf die Kavalleriestraße, und schon lag das Polizeipräsidium vor ihm. Links der trutzige Altbau, rechts der neu angebaute Gebäudetrakt, der wahrscheinlich nie richtig fertig werden würde. Das hätte der Bau dann mit dem Kölner Dom gemein.
Jensen sprang die steinernen Stufen zum immer noch provisorischen Empfangsbereich hoch. Im Glaskasten vor der Eingangsschleuse entdeckte er den Kollegen Bertie Spurtmann, der sich seit einigen Jahren als Herr des Einlasses verdingte.
Im Moment eröffnete Bertie das Gespräch mit einer älteren Dame, die er durch eine Aussparung im Glas ansprach. »Guten Morgen, was kann ich für Sie tun?«
Die ältere Dame trug ein etwas aus der Mode geratenes Kopftuch und führte einen grün-rot-schwarz karierten Trolley mit sich. »Guten Morgen, Herr Wachtmeister, ich möchte meinen IKEA-Katalog abholen.«
Jensen lächelte. Bei der Polizei traf man die tollsten Personen mit den merkwürdigsten Anliegen.
»Sehr gerne. Für wen denn bitte?«, fragte Bertie Spurtmann, Jensen merkte auf.
»Braunias. Susanne Maria Braunias. Möchten Sie meinen Ausweis sehen?«
Bertie schüttelte jovial den Kopf. »Das ist nicht nötig.«
»Sehr schön«, flötete Susanne Maria.
Bertie rutschte vom Hocker und trat nach hinten an eine große, hölzerne Kiste.
Jensen blieb stehen. IKEA-Katalog bei der Polizei abholen? Was ging denn hier ab?
Bertie blätterte durch und murmelte. »Braunias, Braunias, Braunias, ah, hier.«
Bertie kehrte zurück an den Informationstresen und händigte der Dame durch die Öffnung in der Scheibe den gewünschten Katalog aus. Die Frau bedankte sich mit einem freundlichen Nicken, versenkte den Katalog dynamisch im Trolley und entfernte sich zufrieden die Steinstufen runter Richtung Kavalleriestraße.
Jensen trat an den Tresen. »Ich wusste gar nicht, dass man hier auch IKEA-Kataloge bekommen kann.«
»Hallo Christian«, grüßte Bertie aufgeräumt und schüttelte ernst sein Haupt. »Kann man hier auch nicht.«
Jensen deutete der Dame hinterher. »Aber …«
»Das ist die Frau Braunias. Frau Braunias ist herzenslieb, aber nicht ganz bei sich. Sie kommt mehrmals die Woche hier vorbei, um ihren Katalog abzuholen. Den gibt es hier natürlich nicht. Eigentlich. Aber weil sie immer so enttäuscht war und gleichwohl immer wiederkam, fahre ich regelmäßig nach Kaarst, zu Ikea, und schleppe die Kataloge kistenweise hier an. Und deshalb kriegt sie immer einen, und da freut sie sich jedes Mal sehr.«
Jensen lächelte. Bertie Spurtmann war ganz sicher nicht die hellste Kerze auf der Torte, aber er trug sein ganz, ganz großes Herz am rechten Fleck. Das wollte Jensen ihm auch gerade sagen, da wurde er von der Seite angestoßen, denn in diesem Moment stolperte Struller an ihnen beiden vorbei.
»Was machst du denn hier?«, grüßte der seinen ehemaligen Praktikanten.
»Ich habe einen Termin bei …«
»Komm mit! Ich habe eine Leiche!«, befahl Struller.
»Äh«, zögerte Jensen. »Der Termin ist dringend!«
Struller machte eine abwehrende Geste. »Leiche ist dringender. Komm mit!«
Jetzt lärmte Jensens Telefon. »Moment.«
»Telefonieren kannst du später!«, maulte Struller.
»Vielleicht ist es dringend«, meinte Bertie Spurtmann, fing sich einen warnenden Blick von Struller und murmelte entschuldigend: »Ich meine ja nur.«
Jensen blickte aufs Display. Oha. Das war die Telefonnummer seiner Oma aus Herongen. Hui, da sollte er eigentlich schnell drangehen. Außerdem. »Pit, echt, ich hab keine Zeit, ich habe um eins einen Termin.«
Struller lachte. »Um ein Uhr? Um eins sind wir lange durch. Die Leiche liegt auf der Kronprinzenstraße gleich um die Ecke. Ein Uhr? Ich bin ein Profi. Um eins ist der Fall geklärt. Um eins hab ich dem Täter eine neue Perspektive geboten!«
Strullers letzte Bemerkung hatte Jensen nicht verstanden, aber von seinem Ex-Tutor erfolgreich überfahren, steckte er sein Handy zurück in die Jeans. Da war nix zu machen. Es war gerade zehn Uhr durch. Er war sehr früh dran, ein bisschen Zeit hatte er tatsächlich noch. Seine Oma musste kurz warten. Und das mit seinem Termin sollte auch noch klappen.
* * *
Oma Jensen war nervös. Trotz der beiden leckeren Leberwurstbrote. Auch der kleine Klare hatte sie nicht nachhaltig beruhigen können. Dabei war ihrer Kegelschwester Christel in vielen Stunden Heimarbeit wieder ein ganz besonderer Tropfen gelungen. Starker Stoff! Mit dem bissigen Schnäpschen würde sie später den gemeinen Rotweinflecken auf dem Deckchen im Wohnzimmer zu Leibe rücken. Das könnte funktionieren.
Sie wippte von einem Bein auf das andere, um dann schließlich doch auf ihre Couch zu sinken. Christian war nicht rangegangen und hatte auch noch nicht zurückgerufen. Dabei musste ihrem Enkel doch klar sein, dass es – wenn sie schon anrief – etwas wirklich Wichtiges sein musste. Sie rief ja nicht dauernd wegen Pillepalle an.
Aber nun gut, Arbeit ging vor. Wahrscheinlich musste er die Welt retten, wahrscheinlich lief in Düsseldorf ohne ihren Enkel gar nichts. Möglicherweise musste sie handeln. Hm, sie hatte die Adresse des Piratenkönigs. Eine kleine, spontane Zugfahrt nach Düsseldorf könnte auch etwas Schönes sein. Bei der Gelegenheit könnte sie Christian wieder im Präsidium besuchen. Dort soll ja einiges umgebaut und drangebastelt worden sein. Das klang spannend. Sie meinte sich erinnern zu können, dass ihr letzter Besuch – bei diesem Fall mit der Mönchskutte – Christians Kollegen sehr viel Freude bereitet hatte. Tee und Kekse hatte sie auch noch genügend im Haus.
Aber zunächst knatterte sie noch einmal ihren Rechner hoch. Möglich, dass der Piratenkönig sich in der Zwischenzeit bei ihr gemeldet hatte oder schon im Chatroom auf sie wartete.
»Oh, erst den doofen Kleinkram löschen«, fluchte Oma Jensen.
Sie checkte und löschte E-Mails. Werbung von Reiseanbietern für Kreuzfahrten, Treppenlifte, die Benachrichtigung zum Punktestand bei Payback, Post der hiesigen Essenslieferdienste und Reklame vom örtlichen Bestatter. Hier liegen Sie richtig! Wer brauchte so unnützes Zeug?
Schließlich öffnete sie mit ihren immer noch flinken Fingern den Chatroom. Ihre Augen überflogen die Leiste mit den Anwesenden.
Außer dem amerikanischen Soldaten kannte sie diesmal niemanden. Musste Sergeant James Donovan Fairplay eigentlich nicht arbeiten? Die USA waren doch immer irgendwo im Krieg. Seufzend schloss sie den Chatroom.
Sie klickte die Seite der Deutschen Bahn an. Bus nach Aldekerk, dann Niers-Express über Krefeld bis Düsseldorf. Ja, sicher, Erste Klasse, man gönnte sich ja sonst nichts.
Es war Zeit, die Sache selbst in die Hand zu nehmen.
* * *
Bei der Kronprinzenstraße 8a handelte es sich um ein schmales Mehrfamilienhaus, das Struller und Jensen nach wenigen Gehminuten erreicht hatten. Tatsächlich wurden sie vor dem Haus von einem Kollegen erwartet, der an einen Streifenwagen gelehnt dabei war, rauchend das Display seines Mobiltelefons zu checken.
»Struhlmann, KK 11. Wo ist die Leiche?«
»In der 8a«, antwortete der Kollege gelangweilt, ohne vom Handy aufzublicken. »Die Etage weiß ich nicht genau. Dritte, vierte oder fünfte. Es erwartet euch einer im Flur.«
»Okay, lass dich nicht stören.«
»Kein Thema, Mann, ich bin ja im Dienst.«
»Auch wenn es nicht so aussieht«, murmelte Struller giftig und betrat das Gebäude, Jensen folgte ihm.
Marmorstufen, es roch nach Bohnerwachs. Die Briefkästen im Erdgeschoss waren erfreulich unbeschädigt. Dass sich im Haus allerdings kein Aufzug befand, zerstörte den ersten positiven Eindruck. In der dritten Etage stand ein etwa siebzig Jahre alter Mann im Türrahmen zu einer Wohnung. Struller kannte den Senior nicht. Sah nicht aus wie ein Kollege.
»Kommen Sie rein!«, winkte der Mann sie in die Wohnung.
»Wo sind meine Kollegen?«, fragte Struller, nachdem sie eingetreten waren.
Jensen hob sine Augenbrauen, denn der Mann schloss hinter ihnen die Tür und … drehte einen Schlüssel.
»Äh …«
Der Mann trug eine braune Cordhose, ein hellblaues, kurzärmeliges Hemd und dunkle Lederschlappen an den Füßen. In seinem grauen Haar steckte eine Lesebrille.
»Wo ist die Leiche?«, fragte Struller.
»Kommen Sie mit durch!«
Der Mann führte sie in ein Wohnzimmer. Das Wohnzimmer war leer. Keine Leiche. Auch wenn es ein bisschen so roch. Aber auch sonst nichts Lebendiges. Insbesondere kein Faserspuren-Harald und keine Kollegen seiner Spurensicherung.
»Hallo?«, rief Struller fragend in die Wohnung hinein.
»Ich guck mal in die anderen Zimmer«, schlug Jensen vor und wechselte in einen der zwei anderen Räume.
»Wo sind meine Kollegen?«, fragte Struller, dem der Trottel jetzt auf den Sack ging.
Der trat ans Fenster zur Straße hin und winkte ihn zu sich. »Kommen Sie her! Schauen Sie!«
Jensen hatte die beiden Zimmer in Augenschein genommen und kehrte schulterzuckend zurück. »Hier ist außer uns keiner. Wir sind hier falsch.«
»Sie sind hier genau richtig«, ereiferte sich der Mann. »Dort unten, da auf der Ecke, da hat der Wagen gestanden. Stundenlang. Mehrere Nächte hintereinander. Ich habe andauernd die 110 angerufen, aber da geht ja immer jemand anderes ran.«
Struller schnappte nach Luft. »Sind Sie bekloppt? Sie kommen uns hier mit einem Falschparker? Hier im Haus gibt es einen Toten! Hier wurde jemand ermordet!«
Der Mann deutete hektisch durch die Scheibe. »Und da unten hat der Mörder auf sein Opfer gewartet!«
»Haben Sie den Fahrer gesehen?«, fragte Jensen, der das Gespräch hastig übernahm, weil Struller kurz davorstand, handgreiflich zu werden.
»Nein.«
»Haben Sie gesehen, dass der Insasse ausgestiegen und hier ins Haus gegangen ist?«
»Nein.«
»Hier ist die Hausnummer 8a. Das Auto hat dort auf der Ecke gestanden? Ecke Reichsstraße? Da liegen noch mehrere Häuser dazwischen. Woher wollen Sie wissen, dass das Auto hier zum Haus gehört hat?«
Der Mann blickte Jensen mit seinen wasserblauen Augen fest an. »Ich spüre das.«
Struller drehte auf dem Absatz um. »Raus hier, Jensen. Erstens sind wir in der falschen Wohnung, und zweitens ist der nicht ganz dicht.«
Da wollte Jensen ausnahmsweise nicht widersprechen.
»Das war ein VW. Ein Golf. Oder ein Passat. Oder ein Polo. Blau. Ein mattes Blau. Wobei im Schein der Straßenlaternen … Kennzeichen mit Städtekennung Mettmann. Definitiv! Oder Neuss. Wollen Sie nicht wenigstens das …?«
Nein, wollte er nicht, sagte Struller, indem er die Haustür wieder aufschloss und dann hinter sich und Jensen krachend in den Rahmen warf. »Gibt es so was?«
Schweigend erreichten sie die vierte Etage, wo eine junge Frau auf sie wartete. Sie trug eine Polizeiuniform, was Struller als ein gutes Zeichen wertete.
»KK 11, Struhlmann. Hier gibt es einen Toten.«
»Mindestens« flötete die Kollegin, die Jensen vom Latzenbier beim Schumacher auf der Oststraße kannte. »Die Spurensicherung wartet schon auf euch.«
»Danke«, sagte Jensen.
Faserspuren-Harald, der altgediente Chef der Düsseldorfer Spurensicherer, erwartete sie im Flur. Ein paar Schlappen ragten aus einem Nebenraum in den Flur hinein. Vermutlich war der Träger der hellbraunen Echtlederlatschen mit Felleinsatz ihr Opfer. Also, das Opfer. Der Tote gehörte ja keinem.
»Hallo Struller, das hat ja gedauert. Hast du dich verlaufen?«
»Wir wurden aufgehalten. Was ist passiert?«
»Nichts. Wieso fragst du?«
Struller lächelte. Er schätzte den durch und durch kompetenten, wohltuend unaufgeregten Spurenchef über die Maßen und liebte seinen lässigen, trockenen Humor. Trotzdem. »Wir haben es eilig, Kollege Jensen hat um 13 Uhr einen Termin im Präsidium. Wird nichts Wichtiges sein können, er möchte trotzdem pünktlich sein. Er ist jung, er muss noch viel lernen. Bis dahin muss der Fall gelöst sein. Also, Harald, bleib gradlinig!«
Faserspuren-Harald seufzte. »Schade. Bevor ihr euch den Toten anschaut, kurz die Spurenlage. Sie ist nicht ganz üblich.«
»Gradlinig, Harald, gradlinig!«
»Die Wohnungstür wurde fachmännisch aufgebrochen. Klarer Hebelansatz, den Punkt genau getroffen, der Täter wusste, was er tut. Es kann gut sein, dass der Täter das geräuschlos bewerkstelligt hat. Dann hat er angefangen, die Wohnung systematisch zu durchsuchen. Im Zimmer äußerst links hat er angefangen.«
Faserspuren-Harald führte sie hinter sich durch die Wohnung. Wie bei einer Wohnungsbesichtigung, dachte Jensen. Innen liegendes Bad. Nicht gut.
»Alle Schubladen wurden geöffnet, durchsucht, gesichtet und anschließend wieder geschlossen. Genauso im zweiten Zimmer. Der Täter geht zurück in den Flur. Und trifft nun auf den Wohnungseigentümer.«
»Wo kam der denn jetzt auf einmal her?«, fragte Struller.
»Keine Ahnung. Das gehört zum Teil, für den du zuständig bist.«
»Ach was?«, fragte Struller.
»Hier kommt es zu einem Handgemenge.« Eine umgeworfene Vase, ein schief hängendes Bild und ein verschlagener Teppich passten zu Haralds Deutung eines gewaltvollen Geschehens. »Im Zuge des Handgemenges wird das Opfer rücklings in einen Nebenraum hineingestoßen, in die angrenzende Küche. Das Opfer schlägt mit dem Kopf auf die Arbeitsplatte, ganz unglücklich, mit dem Schädel auf die Kante. Das ist eine Arbeitsplatte aus echtem, hartem Naturschiefer.«
»So eine Arbeitsplatte ist teuer«, kommentierte Jensen.
»Richtig«, bestätigte Faserspuren-Harald. »Zumal diese hier ziemlich groß ist. Sie reicht bis zur anderen Seite des Raumes und führt dann über Eck noch einen Meter weiter.«
»Ein paar tausend Euro, allein die Platte.«
»Meine Frau will so ein Stück haben«, seufzte Faserspuren-Harald.
»Für das Geld kriegst du einen flatschneuen Kleinwagen. Wer will das denn bezahlen?«
»Genau das habe ich meiner Frau auch gesagt«, stimmte Faserspuren-Harald ihm energisch zu. »Elke, hab ich zu ihr gesagt, das kann wirklich kein …«
Struller griff ein. »Seid ihr behämmert? Ich glaub, es hakt! Zurück zum Thema!«
Faserspuren-Harald und Jensen wechselten einen Blick.
Der Spurenchef fuhr fort. »Da gibt es nicht viel ›zurück zum Thema‹. Entweder bricht das Opfer sich das Genick, oder da geht im Schädel was kaputt, das kann ich nicht sagen. Ich bin ja kein Arzt.«
»Vielleicht ist er ja einfach nur ausgerutscht«, schlug Struller vor.
»Kann sein. Und zuvor hat er sich mehrmals selbst ins Gesicht geboxt«, knurrte Faserspuren-Harald. »Auf frische, aktuelle und stumpfe Gewalteinwirkung deuten nämlich die Wunden und Frakturen in seinem Gesicht hin.«
»Ach. Und er ist tot? Du erwähntest es, du bist kein Arzt. Bist du sicher?«
»Todsicher.«
»Keine voreiligen Schlüsse.«
»Er ist tot im Sinne von: Da ist kein Puls mehr, kein Herz schlägt, es ist kein Leben im Körper.«
Struller holte tief Luft.
»Der Notarzt hat bereits seinen Tod bescheinigt und auf ungeklärte Todesursache durch Fremdverschulden erkannt«, bellte Harald.
Der Tote zuckte ob der Lautstärke zusammen.
Nein, tat er nicht.
»Na dann. Steht die Identität des Opfers fest?«
»Das zu erledigen, ist zwar eigentlich dein Job, aber bei dem Toten handelt es sich um den Eigentümer der Wohnung, Herrn Günter Netzer.«
»Günter Netzer?«, fragte Jensen entsetzt. »Unser Günter Netzer?«
Faserspuren-Harald winkte ab. »Nicht verwandt oder verschwägert.«
Jensen. Erleichtert. »Puh.«
»Dieser Günter Netzer hier ist 78 Jahre alt geworden.«
Struller hatte die Küche nicht betreten können, denn mehrere schwarzgelbe Schildchen mahnten, dass sich dort Spuren befanden. Zusammen mit Jensen ging er auf die Zehenspitzen und lugte in die Küche hinein.