Zärtlich ist die Nacht - F. Scott Fitzgerald - E-Book

Zärtlich ist die Nacht E-Book

F.Scott Fitzgerald

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Beschreibung

»F. Scott Fitzgerald war der Größte unter uns allen.« Ernest Hemingway An der französischen Riviera pflegen der angesehene Psychiater Dick Diver und seine Frau Nicole einen glamourösen Lebensstil. Als die junge Rosemary Hoyt, eine berühmte Schauspielerin, zu dem illustren Kreis um das Ehepaar stößt, beginnen stürmische Zeiten. Der autobiografisch gefärbte Roman erzählt vom Ringen eines Mannes, der zwischen Liebe und Leidenschaft, zwischen Verantwortung und Glück wählen muss. Die stilistisch facettenreiche Dreiecksgeschichte wurde – wie bereits ›Der große Gatsby‹ - von Lutz-W. Wolff neu übersetzt. 

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Seitenzahl: 645

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F.Scott Fitzgerald

Zärtlich ist die Nacht

Eine Romanze

Neu übersetzt, mit einem Nachwortund Anmerkungen vonLutz-W.Wolff

Deutscher Taschenbuch Verlag

Neuübersetzung 2011

© 2011 der deutschsprachigen Ausgabe:

Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.Rechtlicher Hinweis §44 UrhG: Wir behalten uns eine Nutzung der von uns veröffentlichten Werke für Text und Data Mining im Sinne von §44 UrhG ausdrücklich vor.

Konvertierung Koch, Neff & Volckmar GmbH,

KN digital– die digitale Verlagsauslieferung, Stuttgart

eBook ISBN 978-3-423-40986-5 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-14057-7

Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website

www.dtv.de/​ebooks

Buch I

|5|Für Gerald und Sara1*Viele Feste!

Already with thee! tender is the night,

… But here there is no light,

Save what from heaven is with the breezes blown

Through verdurous glooms and winding mossy ways.

»Ode to a Nightingale« John Keats (1795–1821)

Bei dir zu sein! Zärtlich ist die Nacht,

… Hier aber ist kein Licht,

Nur, was der Wind vom Himmel bringt

Durch dunkles Grün auf moosig schmalen Wegen.

»Ode an eine Nachtigall« John Keats (1795–1821)

|9|Buch I

|11|1

Am freundlichen Ufer der französischen Riviera, ungefähr auf halbem Weg zwischen Marseille und der italienischen Grenze, steht ein großes, stolzes, rosenfarbenes Hotel1*. Höfliche Palmen kühlen die errötende Fassade, vor der ein kurzer, leuchtender Strand liegt. Vor zehn Jahren blieb es meist völlig verlassen zurück, wenn im April die englische Kundschaft wieder nach Norden zog; erst neuerdings ist es zur Sommerfrische der Schickeria geworden. Zahllose Sommerhäuser umgeben es heute, aber zu dem Zeitpunkt, an dem diese Geschichte beginnt, dösten zwischen dem ›Hôtel des Étrangers‹ von M.Gausse und dem fünf Meilen entfernten Cannes nur ein Dutzend alte Villen im Pinienmeer, deren halb verfallene Kuppeln wie Seerosen zwischen den Bäumen herausragten.

Das Hotel und sein sonnengebräunter, heller Gebetsteppichstrand bildeten immer schon eine Einheit. Am frühen Morgen strahlte die weit entfernte Ansicht von Cannes mit ihren alten, gelb-rosa Festungsanlagen und den violetten Bergen im Hintergrund über die Bucht und spiegelte sich zitternd in den kleinen Wellen und Blasen, welche die Wasserpflanzen an seichten Stellen heraufschickten. Noch vor acht kam ein Mann in einem blauen Bademantel herunter und paddelte– nach ausgiebiger Befeuchtung seiner Person mit dem etwas zu kalten Wasser– unter reichlichem Grunzen und Keuchen etwa eine Minute lang in den Fluten. Als er wieder weg war, hatten Bucht und Strand eine Stunde lang Ruhe. Frachtschiffe krochen zum westlichen Horizont, Hotelbedienstete schrien über den Hof, und der Tau verdunstete |12|in den Pinien. Eine Stunde später tönten die ersten Autohupen von der gewundenen Straße auf der Hügelkette herunter, welche die Küste von der eigentlichen Provence trennt.

Eine Meile vom Meer entfernt, wo staubige Pappeln an die Stelle der Pinien treten, gibt es eine abgelegene Bahnstation, von der an einem Junimorgen des Jahres 1925 eine leichte Kutsche eine Frau mit ihrer Tochter zum »Hotel Gausse« brachte. Das Gesicht der Mutter war von einer verblassenden Hübschheit, die bald von geplatzten Äderchen gerötet sein würde; ihre Züge waren ebenso angenehm ruhig wie wachsam. Aber man sah ohnehin rasch zu ihrer Tochter hinüber, die magische Kräfte in ihren rosigen Händen hielt und deren Wangen zu einer schönen Flamme erblühten wie die Haut der Kinder nach kalten Bädern am Abend. Ihre Stirn wölbte sich wie ein Wappenschild sanft bis zum Haar, das ihr Gesicht in goldenen und aschblonden Locken und Wellen umspielte. Ihre hellen, großen Augen waren leuchtend und klar, und die Farbe ihrer von der starken, jungen Pumpe ihres Herzens durchbluteten Wangen war echt. Ihr Körper schwebte sachte über der letzten Klippe der Kindheit– sie war beinahe achtzehn, fast schon vollkommen, aber der Tau noch so frisch.

Als Meer und Himmel als dünner, heißer Horizont unter ihnen erschienen, sagte die Mutter: »Irgendetwas sagt mir, dass es uns hier nicht gefallen wird.«

»Ich will ja sowieso nach Hause«, sagte das Mädchen.

Die Äußerungen der beiden klangen vergnügt, aber sie waren offenbar richtungslos und eben davon gelangweilt– denn irgendeine beliebige Richtung hätte ihnen gar nicht genügt. Sie wollten echte Aufregungen, nicht weil ihre übersättigten Nerven gereizt werden mussten, sondern weil |13|sie so lebensgierig wie Schulkinder waren, die sich ihre Ferien mit guten Noten verdient hatten.

»Wir bleiben drei Tage, und dann geht’s nach Hause. Ich werde die Passage gleich telegrafisch buchen.«

Die Reservierung im Hotel absolvierte das Mädchen in flüssigem, etwas plattem Französisch, so als müsste sie sich daran erinnern. Als sie ihre Erdgeschosszimmer bezogen hatten, trat sie ins helle Licht der Verandatüren und dann ein paar Schritte auf die Terrasse hinaus, die das Hotel umgab. Ihre Haltung war die einer Tänzerin, ihr Körper lastete nicht auf den Hüften, sondern schien aus der Taille nach oben gezogen zu werden. Im heißen Licht da draußen warf sie nur einen kurzen Schatten, und so zog sie sich wieder zurück– es war zu hell, um etwas zu sehen. Kaum fünfzig Meter entfernt gab das Mittelmeer dem brutalen Sonnenglanz Augenblick für Augenblick seine Farbkörper hin; unter der Balustrade kochte ein ausgebleichter Buick in der Einfahrt.

In der gesamten Umgebung herrschte nur am Strand etwas Leben. Drei englische Kindermädchen strickten bedächtig die seit den Vierziger-, Sechziger- und Achtzigerjahren unveränderten Muster des viktorianischen England in Pullis und Socken und leierten dazu wie Klageweiber ihren alten Klatsch herunter, während es sich unter den gestreiften Sonnenschirmen weiter unten am Wasser ein Dutzend Leute bequem gemacht hatten, deren Kinder weitestgehend unbeeindruckte Fische im seichten Wasser jagten oder nackt und glänzend vor Kokosöl in der Sonne herumlagen.

Als Rosemary an den Strand kam, rannte ein etwa zwölfjähriger Junge an ihr vorbei und stürzte sich mit begeisterten Schreien ins Wasser. Im Bewusstsein der prüfenden Blicke aus fremden Gesichtern streifte sie ihren Bademantel ab und folgte dem Beispiel des Jungen. Ein paar Meter ließ |14|sie sich mit dem Gesicht nach unten im Wasser treiben, und als sie merkte, wie flach es war, stellte sie sich auf die Füße und watete vorwärts, wobei sie ihre schlanken Beine wie Hanteln gegen den Widerstand stemmte. Als das Wasser ihr bis zur Brust stand, warf sie einen Blick zum Ufer zurück: Ein kahlköpfiger Mann mit Monokel und langem Badeanzug, der seine behaarte Brust kräftig aufgeblasen und seinen dreisten Nabel eingezogen hatte, sah ihr aufmerksam zu. Als sie seinen Blick erwiderte, ließ er sein Monokel in seine markanten, gekräuselten Brusthaare fallen und goss sich ein Glas aus der Flasche ein2*, die er in der Hand hielt.

Rosemary legte das Gesicht aufs Wasser und kraulte in einem unregelmäßigen Viertakt zum Floß hinaus. Das Wasser griff nach ihr, zog sie zart aus der Hitze herunter, drang in ihre Haare und alle Winkel des Körpers. Sie umarmte es, drehte und rollte sich darin herum. Als sie das Floß erreichte, war Rosemary außer Atem, aber als dann eine gebräunte Frau mit sehr weißen Zähnen zu ihr hinunterschaute, wurde sie sich ihres eigenen grell weißen Körpers bewusst, drehte sich auf den Rücken und ließ sich zum Ufer zurücktreiben. Der haarige Mann mit der Flasche sprach sie an, als sie aus dem Wasser kam.

»Hören Sie– hinter dem Floß da draußen gibt’s Haifische.« Er war von unbestimmter Nationalität, aber sein Englisch wies einen schleppenden Oxford-Akzent auf. »Gestern haben sie zwei britische Matrosen von der Flotte in Golfe Juan aufgefressen.«

»Du meine Güte!«, rief Rosemary.

»Sie kommen wegen des Abfalls der Schiffe.«

Um anzudeuten, dass er sie lediglich hatte warnen wollen, ließ er einen dünnen Schleier über seine Augen sinken, trat zwei Schritte zurück und goss sich einen weiteren Drink ein. |15|Während des kurzen Gesprächs hatte es eine leichte Verlagerung der Aufmerksamkeit in ihre Richtung gegeben, und mit einer durchaus zufriedenen Schüchternheit suchte Rosemary nach einem Platz, um sich hinzusetzen. Offensichtlich gehörte jeder Familie der Streifen Sand vor ihrem Sonnenschirm; außerdem gab es Besuche und rege Gespräche– es herrschte die Atmosphäre einer Gemeinschaft, in die man sich nur mit erheblicher Dreistigkeit hätte hineindrängen können. Weiter oben dagegen, wo der Strand mit Steinen und trockenem Seetang bedeckt war, saß eine Gruppe von Leuten, deren Fleisch noch so weiß wie ihr eigenes war. Sie lagen unter kleinen Handsonnenschirmen anstelle der großen Strandschirme und waren ganz offenbar weniger einheimisch. Rosemary suchte sich einen Platz zwischen den Hell- und den Dunkelhäutigen und breitete ihren Bademantel im Sand aus.

Während sie so dalag, hörte sie zunächst nur die Stimmen und spürte, wie Füße an ihrem Körper vorbeigingen. Gelegentlich trat jemand zwischen sie und die Sonne, und einmal blies ein neugieriger Hund ihr seinen heißen, nervösen Atem ins Genick. Sie spürte, wie ihre Haut sich in der Hitze ein wenig zu kräuseln begann, und hörte das leise, erschöpfte Plätschern der Wellen. Allmählich unterschied ihr Ohr auch die einzelnen Stimmen und sie erfuhr, dass jemand, der mit einer gewissen Verachtung »dieser North« genannt wurde, gestern Abend einen Kellner aus einem Café in Cannes entführt hatte, um ihn in zwei Teile zu sägen. Vorgetragen wurde diese Geschichte von einer weißhaarigen Frau in einem Abendkleid, das offensichtlich auch von letzter Nacht stammte, denn an ihrem Kopf hing noch ein Diadem und an ihrer Schulter verwelkte eine mutlose Orchidee. Rosemary entwickelte eine unbestimmte |16|Abneigung gegen sie und ihre Gefährten und wandte sich ab.

Auf der anderen Seite war eine junge Frau ihr am nächsten. Sie hockte unter einem Dach von Sonnenschirmen und machte anhand eines aufgeschlagenen Buches, das vor ihr im Sand lag, eine Liste verschiedener Dinge. Sie hatte sich den Badeanzug von den Schultern gezogen und ihr Rücken, dessen kräftiges, rötliches Braun von einer hellen Perlenkette3* akzentuiert wurde, schimmerte in der Sonne. Ihr Gesicht war anmutig, mitleiderregend und hart. Ihre Augen trafen auf Rosemarys Blick, schienen sie aber nicht wahrzunehmen. Hinter ihr saß ein gut aussehender Mann mit einer Jockeymütze und rot gestreiftem Badeanzug. Dann kam die Frau, die Rosemary auf dem Floß gesehen hatte und die jetzt auch wieder zurückschaute; dann ein Mann mit einem langen Gesicht und einer goldenen Löwenmähne, der einen blauen Badeanzug, aber keine Mütze trug und sehr ernsthaft auf einen südländischen jungen Mann in einem schwarzen Badeanzug einredete, wobei sie beide am vertrockneten Seetang herumzupften, der aus dem Sand ragte. Sie hielt die meisten für Amerikaner, aber irgendetwas machte sie anders als die Amerikaner, die sie in letzter Zeit kennengelernt hatte.

Nach einer Weile merkte sie, dass der Mann in der Jockeymütze eine kleine Vorstellung für seine Gruppe gab. Er ging feierlich mit einem Rechen herum, als ob er die Steine wegharken wollte, machte aber eine geheimnisvolle Pantomime daraus, die von seinem feierlichen Gesichtsausdruck noch gesteigert wurde. Jede kleinste Einzelheit war so albern, dass alles, was er sagte, gewaltige Lachsalven auslöste. Selbst diejenigen, die– wie sie selbst– außer Hörweite waren, richteten ihre Antennen in seine Richtung, bis |17|am Ende die Frau mit der Perlenkette die Einzige am ganzen Strand war, die keinen Anteil zu nehmen schien. Vielleicht war es ja die Bescheidenheit der Besitzenden, was sie veranlasste, sich bei jedem Ausbruch von Heiterkeit nur noch tiefer über ihre Liste zu beugen.

Plötzlich ertönte eine Stimme aus dem heiteren Himmel über Rosemary. »Sie sind eine fetzige Schwimmerin«, sprach der Monokel-Mann mit der Flasche.

Sie wehrte bescheiden ab.

»Große Klasse. Mein Name ist Campion. Da drüben sitzt eine Dame, die sagt, sie hätte Sie letzte Woche in Sorrent gesehen. Sie weiß, wer Sie sind, und würde Sie gern kennenlernen.«

Rosemary drehte sich mit unterdrückter Verärgerung um und sah, dass die Weißhäutigen auf sie warteten. Widerwillig stand sie auf und ging zu ihnen hinüber.

»Mrs Abrams– Mrs McKisco– Mr McKisco– Mr Dumphry–«

»Und wer Sie sind, wissen wir ja«, sagte die Dame im Abendkleid. »Sie sind Rosemary Hoyt4*, und ich habe Sie schon in Sorrent erkannt und gleich den Portier gefragt. Wir finden Sie alle phänomenal, und jetzt wollen wir wissen, warum Sie nicht in Amerika sind und ihren nächsten phänomenalen Film drehen.«

Sie machten überflüssige Gesten, als müssten sie Platz für sie schaffen. Die Frau, die sie erkannt hatte, war keine Jüdin, trotz ihres Namens. Sie war einer jener unverwüstlichen »guten Kumpel«, die sich durch die Verweigerung jeder negativen Erfahrung und eine gute Verdauung in die nächste Generation zu retten verstanden.

»Wir wollten Sie warnen, damit Sie sich nicht gleich am ersten Tag einen Sonnenbrand holen«, fuhr sie frohgemut |18|fort. »Denn Ihre Haut ist ja wichtig. Aber die Etikette an diesem Strand ist so verflixt streng, dass wir nicht wussten, ob Ihnen das recht ist.«

2

»Wir dachten, womöglich kämen Sie in der Handlung vor«, sagte Mrs McKisco. Sie war eine hübsche junge Frau mit neidischen Augen und einer etwas enervierenden Bemühtheit. »Wir wissen nämlich nicht, wer darin vorkommt und wer nicht. Ein Mann, zu dem mein Gemahl besonders nett war, erwies sich später als eine Hauptfigur– beinahe der stellvertretende Held.«

»Die Handlung?«, fragte Rosemary etwas verständnislos. »Es gibt eine Handlung?«

»Das wissen wir nicht, meine Liebe«, sagte Mrs Abrams mit dem krampfhaften Kichern einer übergewichtigen Frau. »Wir gehören ja nicht dazu. Wir sind nur die Galerie.«

Mr Dumphry, ein flachsblonder, affektiert weibischer junger Mann, sagte: »Mama Abrams ist eine ganz eigene Geschichte«, und Campion drohte ihm mit dem Monokel. »Bitte, Royal, benimm dich nicht so unsagbar abscheulich!«

Rosemary betrachtete sie unbehaglich und wünschte sich, ihre Mutter wäre mit ihr heruntergekommen. Sie mochte diese Leute nicht, besonders nicht im Vergleich zu der anderen Gruppe, die sie am Strand gesehen hatte. Das bescheidene, aber äußerst kompakte gesellschaftliche Talent ihrer Mutter befreite sie meist rasch und entschieden aus solchen unwillkommenen Situationen. Aber Rosemary war jetzt erst seit sechs Monaten eine Berühmtheit und die französischen Manieren ihrer frühen Jugend und das später |19|darüber gestülpte demokratische Denken Amerikas erzeugten gelegentlich eine gewisse Verwirrung, die dazu führte, dass sie sich darauf einließ.

Mr McKisco, ein dürrer, sommersprossiger Typ um die dreißig, fand das Thema der »Handlung« nicht lustig. Er hatte aufs Meer gestarrt und wandte sich jetzt– nach einem kurzen Blick auf seine Frau– abrupt zu Rosemary um und fragte streitlustig: »Sind Sie schon lange da?«

»Erst einen Tag.«

»Oh.«

Offenbar im Gefühl, das Thema genügend gewechselt zu haben, wandte er sich wieder den anderen zu.

»Bleiben Sie den ganzen Sommer?«, fragte Mrs McKisco unschuldig. »Dann können sie die Entwicklung der Handlung verfolgen.«

»Herrgott, Violet, kannst du nicht damit aufhören?«, explodierte ihr Ehemann. »Such dir endlich mal einen neuen Witz!«

Mrs McKisco neigte sich zu Mrs Abrams hin und hauchte sehr hörbar: »Jetzt ist er nervös.«

»Ich bin nicht nervös«, widersprach McKisco. »Zufällig bin ich überhaupt nicht nervös.«

Er war sichtlich erhitzt– eine graue Röte hatte sich auf seinem Gesicht breitgemacht und seine Züge mit einer großen Hilflosigkeit überzogen. Plötzlich wurde sein Zustand ihm offenbar vage bewusst, denn er stand auf und begab sich ins Wasser, wohin ihm seine Frau folgte. Rosemary ergriff die Gelegenheit und schloss sich an.

Mr McKisco holte tief Luft, warf sich in die Wellen und begann das Mittelmeer mit steifen Armen zu prügeln, was wohl eine Art Kraulen sein sollte. Als ihm die Luft wegblieb, |20|hob er den Kopf und sah sich um, offenbar sehr überrascht, dass er das Ufer noch sehen konnte.

»Ich hab die Atemtechnik noch nicht richtig raus. Ich weiß nicht, wie Sie das machen.« Er sah Rosemary fragend an.

»Ich glaube, man muss unter Wasser ausatmen«, erklärte sie. »Und bei jedem vierten Zug rollt man sich herum und holt Luft.«

»Das Atmen ist für mich das Schwerste. Wollen wir zum Floß schwimmen?«

Der Mann mit der Löwenmähne lag ausgestreckt auf dem Badefloß, das im leichten Wellengang auf und ab schaukelte. Als Mrs McKisco danach griff, schlug es ihr mit einem plötzlichen Schwenk auf den Arm, woraufhin der Mann aufstand und sie an Bord zog.

»Ich hatte schon Angst, Sie wären am Kopf getroffen worden.« Seine Stimme war langsam und schüchtern; er hatte eins der traurigsten Gesichter, die Rosemary je gesehen hatte: hohe, fast indianische Wangenknochen1*, eine lange Oberlippe und riesige, dunkel goldene Augen, die tief in den Höhlen lagen. Er sprach aus dem Mundwinkel, als ob er hoffte, seine Worte würden Mrs McKisco auf einem unauffälligen Umweg erreichen. Eine Minute später sprang er ins Wasser und sein lang gestreckter Körper schoss in Richtung des Ufers.

Rosemary und Mrs McKisco sahen ihm zu. Als er seinen Schwung eingebüßt hatte, klappte er zusammen, seine mageren Schenkel hoben sich aus dem Wasser, dann tauchte er ab und hinterließ kaum ein paar Blasen.

»Er ist ein guter Schwimmer«, stellte Rosemary fest.

Mrs McKiscos Antwort erfolgte mit unerwarteter Heftigkeit. »Aber ein miserabler Musiker.« Sie wandte sich ihrem Mann zu, der es nach zwei vergeblichen Versuchen gerade |21|geschafft hatte, das Floß zu erklimmen, und– nachdem er sein Gleichgewicht wiedergewonnen hatte– zum Ausgleich eine spektakuläre Geste versuchte, die aber nur zu weiterem Stolpern und Schwanken führte. »Ich habe gerade gesagt, dass Abe North vielleicht ein guter Schwimmer sein mag, aber ein miserabler Musiker.«

»Ja«, stimmte McKisco missmutig zu. Offensichtlich hatte er die Welt seiner Frau erschaffen und erlaubte ihr darin nur wenige Freiheiten.

»George Antheil, das ist einer, der mir gefällt.« Herausfordernd drehte sich Mrs McKisco zu Rosemary um. »Antheil und Joyce. Ich nehme an, in Hollywood hören Sie von solchen Leuten nicht viel, aber mein Mann hat die erste Kritik des ›Ulysses‹2* geschrieben, die in Amerika je veröffentlicht wurde.«

»Ich wünschte, ich hätte eine Zigarette«, sagte McKisco sachlich. »Das ist mir im Moment fast noch wichtiger.«

»Er hat so viel Seele– findest du nicht auch, Albert?«

Ihre Stimme verstummte abrupt. Die Frau mit den Perlen war jetzt mit ihren beiden Kindern im Wasser und Abe North tauchte unter einem von ihnen auf wie eine Vulkaninsel, sodass der Junge plötzlich auf seinen Schultern saß. Er kreischte vor Angst und Entzücken, und die Frau sah ohne zu lächeln mit anmutiger Ruhe zu.

»Ist das seine Frau?«, fragte Rosemary.

»Nein, das ist Mrs Diver. Die sind nicht im Hotel.« Mrs McKiscos Kamerablick war unbeweglich auf das Gesicht der Frau gerichtet. Nach einem Moment drehte sie sich heftig zu Rosemary um. »Waren Sie früher schon mal im Ausland?«

»Ja– ich war in Paris im Lyzeum.«

»Ach! Na, dann wissen Sie ja wahrscheinlich, dass man |22|sich hier nur dann richtig wohlfühlt, wenn man ein paar echte Franzosen kennt. Was haben diese Leute da schon davon?« Sie zeigte mit der linken Schulter in Richtung des Ufers. »Sie kleben die ganze Zeit bloß in ihren kleinen Cliquen zusammen. Aber wir hatten natürlich auch Empfehlungsschreiben und haben in Paris alle wichtigen Künstler und Schriftsteller kennengelernt. Das hat die Dinge erleichtert.«

»Das glaube ich gern.«

»Mein Mann schreibt gerade seinen ersten Roman, wissen Sie.«

Rosemary sagte: »Ach, wirklich?« Sie dachte an nichts Besonderes, sondern fragte sich allenfalls, ob ihre Mutter bei dieser Hitze wohl hatte schlafen können.

»Er beruht auf derselben Idee wie ›Ulysses‹ «, fuhr Mrs McKisco fort. »Nur, dass mein Mann hundert Jahre anstelle von vierundzwanzig Stunden genommen hat. Also, er nimmt diesen heruntergekommenen französischen Aristokraten und kontrastiert ihn mit dem technischen Zeitalter–«

»Herrgott, Violet, erzähl nicht allen Leuten meine Idee«, protestierte McKisco. »Ich will doch nicht, das sie schon überall ’rum ist, ehe das Buch erscheint.«

Rosemary schwamm ans Ufer zurück, warf sich den Bademantel über ihre schon brennenden Schultern und legte sich dann erneut in die Sonne. Der Mann mit der Jockeymütze ging jetzt mit einer Flasche und kleinen Gläsern in der Hand von einem der Sonnenschirme zum anderen. Seine Freunde wurden immer vergnügter und rückten zusammen, bis sie sich unter einem großen Sonnenschirmdach versammelt hatten– Rosemary vermutete, dass jemand abreisen wollte und dies ein letzter gemeinsamer |23|Drink am Strand war. Selbst die Kinder schienen die allgemeine Erregung zu spüren und liefen herbei. Rosemary hatte auch diesmal den Eindruck, dass alles von dem Mann mit der Mütze ausging.

Die Mittagssonne beherrschte jetzt Himmel und Meer– sogar die fünf Meilen entfernten weißen Häuserzeilen von Cannes waren zu einer Fata Morgana von Kühle und Frische verblasst, während ein rotbrüstiges Segelboot eine Strähne dunkleres Wasser vom offenen Meer hereinzog. Außer im gedämpften Licht unter den Sonnenschirmen, wo sich im Gewirr der Farben und Stimmen noch etwas regte, schien es an der ganzen, weit hingelagerten Küste kein Leben zu geben.

Campion kam erneut anmarschiert und blieb kaum zwei Meter entfernt von ihr stehen. Rosemary schloss die Augen und tat so, als ob sie schliefe. Dann spähte sie unter den Wimpern hervor und sah zwei verschwommene Beinsäulen. Der Mann versuchte, sich in eine sandfarbene Wolke zu schieben, aber die Wolke segelte in den endlosen, heißen Himmel davon. Rosemary schlief wirklich ein.

Als sie erwachte, war sie in Schweiß gebadet und fand den Strand völlig verlassen, mit Ausnahme des Mannes mit der Jockeymütze, der gerade einen letzten Sonnenschirm zuklappte und einrollte. Während Rosemary noch blinzelnd dalag, kam er näher und sagte: »Ehe ich weggegangen wäre, hätte ich Sie noch geweckt. Es ist nicht gut, gleich am Anfang zu sehr zu verbrennen.«

»Danke.« Rosemary betrachtete ihre hochroten Beine.

»Du lieber Himmel!«

Sie lachte gutmütig und versuchte ihn damit zu einem Gespräch einzuladen, aber Dick Diver war schon dabei, ein Zelt und einen Sonnenschirm zu einem wartenden Auto zu |24|tragen, und so ging sie ins Wasser, um dort den Schweiß abzuwaschen. Er kam zurück, sammelte eine Schaufel, ein Sieb und den Rechen auf und verstaute sie in einer Felsspalte. Dann schaute er auf dem Strand hin und her, um zu sehen, ob er etwas vergessen hatte.

»Wissen Sie, wie spät es ist?«, fragte Rosemary.

»Halb zwei ungefähr.«

Einen Augenblick sahen sie zusammen aufs Meer hinaus.

»Das ist keine schlechte Zeit«, sagte Dick Diver. »Keine von den ganz üblen Tageszeiten.«

Er sah sie an, und für einen Moment lebte sie in der hellen blauen Welt seiner Augen, begierig und voller Vertrauen. Dann schulterte er den letzten Kram und ging zu seinem Auto hinauf, und Rosemary kam aus dem Wasser, schüttelte ihren Bademantel aus und ging zum Hotel hoch.

3

Als sie in den Speisesaal kamen, war es schon beinahe zwei. Über die verlassenen Tische huschte ein schweres Muster von Sonnenstrahlen und Schatten im Rhythmus der schwankenden Pinienzweige im Park. Zwei Teller stapelnde, laut italienisch sprechende Kellner verstummten, als sie hereinkamen und servierten ihnen das inzwischen nicht mehr ganz frische Mittagsmenü.

»Ich hab mich am Strand verliebt«, sagte Rosemary.

»In wen?«

»Erst in einen ganzen Haufen Leute, die alle nett aussahen. Dann in einen einzelnen Mann.«

»Hast du mit ihm geredet?«

»Nur ein bisschen. Sieht sehr gut aus. Mit rötlichem |25|Haar.« Sie aß voller Heißhunger. »Er ist allerdings verheiratet– so ist es ja immer.«

Ihre Mutter war ihre beste Freundin und hatte alle ihre Kraft in die Förderung ihrer Tochter gesteckt, was in der Schauspielbranche nicht selten vorkommt, aber insofern doch etwas Besonderes war, als Mrs Elsie Speers keine eigene Niederlage damit zu kompensieren versuchte. Sie war weder vom Leben verbittert noch hatte sie Ressentiments zu verkraften– sie war zweimal erfolgreich verheiratet gewesen und zweimal zur Witwe geworden, und ihr fröhlicher Gleichmut war jedes Mal größer geworden. Der eine Ehemann war Kavallerieoffizier gewesen und der andere Militärarzt, und beide hatten ihr etwas hinterlassen, das sie Rosemary unversehrt weiterzugeben versuchte. Sie hatte Rosemary nicht geschont und sie damit hart gemacht. Auch mit ihrer eigenen Mühe und Hingabe hatte sie nicht gegeizt und damit in Rosemary einen idealistischen Glauben erzeugt, der sich zur Zeit noch ganz auf ihre Mutter richtete und die Welt mit ihren Augen sah. Rosemary war zwar ein »einfaches« Kind, wurde aber von einem doppelten Panzer geschützt: dem ihrer Mutter und ihrem eigenen. Sie hegte ein gesundes, erwachsenes Misstrauen gegen das Triviale, das Oberflächliche und das Vulgäre. Nach Rosemarys plötzlichem Erfolg beim Film allerdings hatte Mrs Speers das Gefühl, dass es Zeit wurde, sie seelisch abzunabeln. Es würde sie keineswegs verletzen, sondern eher befriedigen, wenn der lebhafte, atemlose, anstrengende Idealismus ihrer Tochter sich auf etwas anderes als sie selbst richten würde.

»Dann gefällt es dir also hier?«, fragte sie.

»Es könnte lustig sein, wenn wir diese Leute kennen würden. Es waren noch andere da, aber die waren nicht |26|nett. Sie haben mich erkannt. Ganz egal, wo wir hingehen, jeder hat ›Daddy’s Girl‹1* gesehen.«

Mrs Speers wartete, bis sich diese Aufwallung von Selbstgefälligkeit wieder gelegt hatte, dann fragte sie sachlich: »Ehe ich’s vergesse, wann wirst du Earl Brady2* besuchen?«

»Ich dachte, wir könnten heute Nachmittag hinfahren– wenn du ausgeruht genug bist.«

»Fahr allein– ich komme nicht mit.«

»Dann warten wir eben bis morgen.«

»Ich will, dass du alleine hinfährst. Es ist nicht weit– und das Französische ist dir ja geläufig genug.«

»Mutter– gibt es eigentlich auch Sachen, die ich nicht tun muss?«

»Na schön, dann fahr eben später– aber ehe wir abreisen.«

»In Ordnung, Mutter.«

Nach dem Essen befiel sie beide die plötzliche Langeweile, die amerikanische Touristen oft heimsucht, wenn sie sich im Ausland an ruhigen Orten befinden. Keinerlei gewohnte Reize wirkten auf sie ein, keine Stimmen riefen nach ihnen, keine eigenen Gedanken erfreuten sie aus den Mündern von anderen– das fehlende Getöse ihres Imperiums vermittelte ihnen den Eindruck, das Leben stünde vollkommen still.

»Lass uns lieber nur drei Tage bleiben, Mutter«, sagte Rosemary, als sie wieder in ihren Zimmern waren. Draußen schob eine leichte Brise die Hitze herum, siebte sie durch die Bäume und schickte sie in kleinen Stößen durch die Jalousie.

»Und was ist mit dem Mann, in den du dich am Strand verliebt hast?«

»Ich liebe niemanden außer dir, liebste Mutter.«

Rosemary ging in die Halle und fragte Gausse père nach den Zügen, während der Portier, der in hellem Kaki hinter der Theke stand, sie hemmungslos anstarrte, bis ihm plötzlich |27|die Manieren seines Berufsstandes einfielen. Zum Bahnhof nahm sie den Bus, den sie mit zwei verlegenen Kellnern teilte, die in ihrer Gegenwart nicht zu reden wagten, was ihr sehr peinlich war. »Macht schon«, wollte sie sagen. »Unterhaltet euch, amüsiert euch! Das stört mich überhaupt nicht.«

Im Erster-Klasse-Abteil war es erstickend heiß; die bunten Anzeigen der Eisenbahngesellschaft, die den Pont du Gard, das Amphitheater in Orange und Wintersportszenen aus Chamonix zeigten, sahen frischer aus, als das endlose, träge Meer draußen. Im Gegensatz zu amerikanischen Zügen, die in ihrem eigenen Schicksal befangen sind und verächtlich an denen vorbeirauschen, die zu einer anderen, weniger atemlosen Welt als sie selbst gehören, war dieser Zug ganz mit der Landschaft verhaftet, durch die er fuhr. Sein Atem blies den Staub von den Palmwedeln und die Schlacke mischte sich mit dem trockenen Dung in den Gärten. Rosemary glaubte, sich aus dem Fenster lehnen und Blumen abreißen zu können.

Vor dem Bahnhof in Cannes schliefen ein Dutzend Droschkenkutscher in ihren Gefährten. Die schicken Geschäfte und großen Hotels auf der Promenade, wo das Casino war, zeigten dem sommerlichen Meer nur die schnöden Masken von eisernen Rollläden. Es war kaum vorstellbar, dass es hier jemals eine »Saison« gegeben haben könnte, und Rosemary, die gern mit der Mode ging, schämte sich ein bisschen, weil sie das Gefühl hatte, dass sie ein ungesundes Interesse für etwas sehr Deprimierendes zeigte. So, als könnten die Leute sich wundern, warum sie hier in der Windstille zwischen zwei Wintern herumstolperte, während irgendwo im Norden das wahre Leben tobte.

|28|Als sie mit einer Flasche Kokosöl aus der Drogerie kam, kreuzte eine Frau ihren Weg, die mehrere Sofakissen im Arm hatte und zu einem weiter unten auf der Straße geparkten Wagen ging. Sie erkannte Mrs Diver. Ein kurzbeiniger schwarzer Hund bellte sie an, und der dösende Chauffeur erwachte mit einem Ruck. Sie setzte sich in den Wagen, ihr anmutiges Gesicht unbeweglich und kontrolliert, ihre Augen tapfer und wachsam. So starrte sie direkt ins Nichts. Ihre braunen Beine unter dem leuchtend roten Kleid waren nackt. Sie hatte dichtes, dunkel-goldenes Haar wie ein Chow-Chow.

Da sie bis zur Abfahrt ihres Zuges noch eine halbe Stunde warten musste, setzte Rosemary sich ins »Café des Alliés« an der Croisette, wo die Bäume ein grünes Dämmerlicht über die Tische warfen und ein Orchester ein imaginäres, kosmopolitisches Publikum mit letztjährigen amerikanischen Melodien und dem Karnevalsschlager von Nizza traktierte. Sie hatte für ihre Mutter ›Le Temps‹ und die ›Saturday Evening Post‹ gekauft, und während sie ihre Limonade trank, schlug sie die ›Post‹ auf und las die Memoiren einer russischen Prinzessin. Sie fand die obskuren Konventionen der Neunzigerjahre realer und näher als die Schlagzeilen in der französischen Zeitung. Es war dasselbe Gefühl, das sie schon im Hotel gequält hatte. Daran gewöhnt, dass in der Presse die krassesten Nichtigkeiten eines ganzen Kontinents zur Komödie oder Tragödie hochstilisiert wurden, hatte sie nie gelernt, das Wichtige selbst zu erkennen, und war deshalb überzeugt, das Leben in Frankreich sei öde und schal. Dieses Gefühl wurde noch durch die tristen Orchesterklänge verstärkt, die sie an die melancholischen Melodien erinnerten, die im Varieté für die Akrobaten gespielt werden. Sie war froh, als sie wieder im »Hotel Gausse« war.

|29|Ihre Schultern waren zu verbrannt, um am nächsten Tag schwimmen zu gehen, deshalb mietete sie– nach langem Feilschen, denn sie hatte ihre Preisvorstellungen in Frankreich entwickelt– mit ihrer Mutter einen Wagen und fuhr an der Riviera entlang, einer Küste mit vielen Flussmündungen. Der Chauffeur, ein russischer Zar aus der Zeit Iwans des Schrecklichen, war ein selbst ernannter Fremdenführer, und die berühmten Namen– Cannes, Nizza, Monte Carlo– begannen unter ihrer lethargischen Tarnung zu glänzen und erzählten von alten Königen, die hierherkamen, um zu dinieren oder zu sterben, von Radschahs, die englischen Tänzerinnen die Augen Buddhas3* zuwarfen, von russischen Fürsten, die in den vergangenen Kaviartagen die Nächte durchgefeiert hatten. Die Russen hatten die deutlichsten Spuren hier hinterlassen– ihre mittlerweile geschlossenen Lebensmittelgeschäfte und Buchläden. Als im April vor zehn Jahren die Saison endete, waren die Türen der Orthodoxen Kirche geschlossen und der süße Sekt, den sie bevorzugten, weggeräumt und aufbewahrt worden für ihre Rückkehr. »Nächstes Jahr sind wir wieder da«, sagten sie, aber das war voreilig, denn sie kamen nie wieder.

Es war angenehm, am späten Nachmittag zum Hotel zurückzufahren, hoch über dem Meer, das so geheimnisvoll schimmerte wie die Achate und Karneole der Kindheit, grün wie grüne Milch, blau wie Waschwasser, dunkel wie Wein. Es war angenehm, an Leuten vorbeizufahren, die vor ihren Haustüren saßen und aßen, und dem heftigen Klimpern der elektrischen Klaviere zu lauschen, das aus den rankenbedeckten kleinen Cafés herausdrang. Als sie von der Corniche d’Or abbogen und durch die dunklen, in verschiedenen Grüns gestaffelten Bäume zum »Hotel Gausse« hinabfuhren, hing der Mond schon über den Ruinen der Aquädukte…

|30|Irgendwo in den Hügeln hinter dem Hotel wurde getanzt; Rosemary lag unter ihrem Moskitonetz, das im Mondlicht geisterhaft schimmerte, hörte der Musik zu und spürte, dass es auch hier Vergnügungen gab. Sofort dachte sie an die netten Leute vom Strand. Vielleicht würden sie morgen wieder da sein, aber sie bildeten eine so selbstgenügsame Gruppe, dass man gar nicht an sie herankam. Wenn ihre Sonnenschirme, Bambusmatten, Hunde und Kinder erst einmal installiert waren, schien dieser Teil des Strandes wie abgezäunt. Aber eines war sicher: Mit den Weißhäutigen würde sie ihre letzten zwei Tage hier nicht verbringen.

4

Das Problem wurde von anderen für sie gelöst. Die McKiscos waren noch nicht da, als sie herunterkam, und sie hatte kaum ihren Bademantel im Sand ausgebreitet, als zwei der Männer– der mit der Jockeymütze und der große Blonde, der dazu neigte, Kellner entzweizusägen– die Gruppe verließen und zu ihr herüberkamen.

»Guten Morgen«, sagte Dick Diver. Er beugte sich zu ihr herunter. »Hören Sie– Sonnenbrand oder nicht– warum waren Sie gestern nicht da? Wir haben uns Sorgen um Sie gemacht.«

Sie setzte sich auf, und ihr glückliches kleines Lachen hieß den Vorstoß der Männer willkommen.

»Wir haben uns gefragt«, sagte er, »ob Sie heute vielleicht zu uns kommen wollen. Wir gehen zusammen schwimmen, wir haben Getränke und Futter, die Einladung hat also durchaus Substanz.«

Er schien liebenswürdig und freundlich zu sein– seine |31|Stimme versprach, dass er sich um sie kümmern und später vielleicht noch ganz andere Welten und unendliche, großartige Möglichkeiten für sie eröffnen würde. Die Vorstellerei arrangierte er so, dass ihr Name gar nicht erwähnt wurde und ließ sie auf diese Weise mit leichter Hand spüren, dass jeder wusste, wer sie war, und ihr Privatleben jederzeit respektiert werden würde– eine Höflichkeit, der Rosemary seit ihrem Durchbruch nur noch bei den Profis der Branche begegnet war.

Nicole Diver, deren gebräunter Rücken wieder an ihrer Perlenkette zu hängen schien, suchte in einem Kochbuch nach Chicken Maryland. Sie war ungefähr vierundzwanzig, schätzte Rosemary. Ihr Gesicht hätte man einfach schön nennen können, aber die Wirkung war anders: Es schien, als wäre es zunächst im heroischen Maßstab entworfen worden, mit einer energischen Stirn, starken Zügen und kräftigen Farben, der Entschlossenheit eines Rodin und allem, was wir mit Temperament und Charakter verbinden, dann aber zu lieblicher Hübschheit verändert worden– bis zu einem Punkt, wo ein einziges Abrutschen des Meißels seine Qualität für immer verdorben hätte. Beim Mund war der Künstler das größte Risiko eingegangen– er zeigte den sinnlichen Schwung von Cupidos Bogen wie beim Covergirl einer Modezeitschrift, und war doch genauso edel wie alles andere.

»Werden Sie lange hier sein?«, fragte Nicole. Ihre Stimme war tief, ja, beinahe heiser.

Zum ersten Mal erlaubte sich Rosemary den Gedanken, dass sie noch eine weitere Woche hier bleiben könnte.

»Nein, nicht so lange«, sagte sie vage. »Wir sind im März in Sizilien gelandet und haben uns langsam nach Norden hochgearbeitet. Im Januar habe ich mir bei Dreharbeiten |32|eine Lungenentzündung geholt und musste erst einmal wieder gesund werden.«

»Ach, herrje! Wie ist das denn passiert?«

»Na ja, das kam vom Schwimmen«, Rosemary war sich nicht sicher, ob sie mit solchen persönlichen Enthüllungen anfangen sollte. »Ich hatte die Grippe, wusste es aber nicht. Es wurde eine Szene gedreht, bei der ich in einen venezianischen Kanal springen musste. Es war eine sehr aufwendige Szene, deshalb musste ich den ganzen Vormittag immer wieder und wieder da reinspringen. Mutter hatte einen Arzt mitgebracht, aber das hat nichts genutzt– ich hab eine Lungenentzündung gekriegt.« Ehe die anderen reagieren konnten, wechselte sie entschlossen das Thema. »Gefällt es Ihnen hier– dieser Ort?«

»Es bleibt ihnen gar nichts anderes übrig«, sagte Abe North langsam. »Sie haben ihn nämlich erfunden.« Er drehte bedächtig den edlen Kopf und ließ seine Augen mit Zuneigung und Zärtlichkeit auf den Divers ruhen.

»Ach, wirklich?«

»Das ist erst die zweite Saison1*, in der das Hotel auch im Sommer geöffnet ist«, erklärte Nicole. »Wir haben Gausse überredet, einen Koch, einen Kellner und einen Pagen dazubehalten, und das hat sich gelohnt. Dieses Jahr sogar noch mehr.«

»Aber Sie sind nicht im Hotel.«

»Wir haben ein Haus gebaut, oben in Tarmes.«

»Die Theorie ist«, sagte Dick und verstellte einen Sonnenschirm so, dass ein Sonnenfleck auf Rosemarys Schulter bedeckt wurde, »dass die nördlichen Badeorte, wie zum Beispiel Deauville, für die Russen und Engländer völlig okay sind, weil ihnen die Kälte nichts ausmacht, dass die Hälfte von uns Amerikanern aber aus heißen |33|Gegenden stammt– und wir deshalb lieber hierherkommen.«

Der junge Mann mit dem südländischen Aussehen hatte im ›New York Herald‹2* geblättert. »Na, welcher Nationalität sind diese Leute denn?«, fragte er plötzlich und las mit leicht französischem Akzent: »Im ›Palace Hotel‹ in Vevey sind eingetroffen– ich übertreibe nicht– Mr Pandely Vlasco, Mme Boneasse, Corinna Medonca, Mme Pasche, Seraphim Tullio, Maria Amalia Roto Mais, Moises Teubel, Mme Paragoris, Apostle Alexandre, Yolanda Yosfuglu und Geneva de Momus! Die reizt mich am meisten– Geneva de Momus. Ich hätte größte Lust, nach Vevey zu fahren und mir Geneva de Momus anzusehen.«

Er stand plötzlich unruhig auf und streckte sich mit einer scharfen Bewegung. Er war sehr groß und ein paar Jahre jünger als Diver und North. Sein Körper war hart und fast überschlank, wenn man von der geballten Kraft seiner Oberarme und Schultern absah. Auf den ersten Blick wirkte er einfach konventionell gut aussehend– aber in seinem Gesicht lag ein ständiger, leichter Abscheu, der den vollen, leidenschaftlichen Glanz seiner Augen verdarb. Dennoch erinnerte man sich später an diese Augen, wenn man den Mund, der keine Langeweile ertragen konnte, und die missmutige junge Stirn voller überflüssiger, bitterer Falten längst wieder vergessen hatte.

»In den Nachrichten über die Amerikaner haben wir letzte Woche auch ein paar echte Perlen gefunden«, erklärte Nicole. »Mrs Evelyn Oyster und– wie hießen die anderen?«

»Es gab da einen Mr S.Flesh«, sagte Diver und stand ebenfalls auf. Er nahm seinen Rechen und arbeitete ernsthaft daran, die kleinen Steine aus dem Sand zu entfernen.

|34|»Ja, genau– S.Flesh– lässt das einen nicht schaudern?«

Mit Nicole allein war es sehr still– Rosemary fand es noch stiller als mit ihrer Mutter. Abe North und Barban, der Franzose, unterhielten sich über Marokko, und Nicole, die ihr Rezept inzwischen abgeschrieben hatte, holte etwas zu nähen heraus. Rosemary musterte ihre Ausstattung: vier große Sonnenschirme, die ein großes Schattendach bildeten, eine tragbare Umkleidekabine, ein aufblasbares Gummipferd, neue Dinge, wie sie Rosemary noch nie gesehen hatte, Dinge, die aus der ersten Luxusproduktion nach dem Krieg stammten und sich bei den Divers wahrscheinlich noch in den Händen der ersten Käufer befanden. Rosemary war inzwischen zu dem Ergebnis gelangt, dass sie zu den schicken Müßiggängern gehörten, aber obwohl ihre Mutter ihr beigebracht hatte, dass man sich vor solchen Drohnen und Faulenzern hüten musste, hatte sie dieses Empfinden hier nicht. Trotz ihrer Reglosigkeit, die so absolut wie der Morgen war, spürte sie bei diesen Leuten doch eine Zielstrebigkeit und eine Richtung, den Willen, an etwas zu arbeiten und etwas zu schaffen, der anders als alles war, was sie kannte. Ihre unreife Seele spekulierte nicht weiter über die Art der Beziehungen zwischen ihren neuen Bekannten, denn sie war ganz mit der Frage beschäftigt, welche Haltung sie ihr gegenüber einnahmen– aber sie nahm doch ein angenehmes Grundgeflecht wahr, das sich für sie auf den Gedanken beschränkte, dass sie wohl eine gute Zeit hatten.

Sie schaute die drei Männer abwechselnd an und überlegte, wie es wäre, sie zu besitzen. Alle drei waren auf verschiedene Weise sympathisch, und alle zeigten eine besondere Sanftheit, die offenbar zu ihrem Wesen gehörte, in der Vergangenheit wie in der Zukunft, und nicht von äußeren |35|Umständen abhing; ganz im Gegensatz zu den professionellen Umgangsformen der Schauspieler. Sie entdeckte ein Zartgefühl, das sich von der robusten Kumpanei der Regisseure, die in ihrem Leben die Intellektuellen waren, stark unterschied. Schauspieler und Regisseure waren die einzigen Männer, die sie bisher kennengelernt hatte, wenn man von der sehr gemischten, ununterscheidbaren Masse von Studenten beim Abschlussball in Yale einmal absah, die sich nur für die Liebe auf den ersten Blick interessiert hatten.

Diese drei waren anders. Barban war weniger zivilisiert, skeptischer und spöttisch, seine Manieren waren nur oberflächlich, fast beiläufig. Abe North versteckte unter seiner Schüchternheit einen verzweifelten Witz, der sie amüsierte, aber auch unsicher machte. Sie wusste nicht, ob sie mit ihrem ernsten Wesen Eindruck bei ihm machen könnte.

Dick Diver dagegen war einfach vollkommen. Sie bewunderte ihn stumm. Seine Haut war rötlich und sonnenverbrannt, genau wie sein kurzes Haar, das als leichter Flaum auch auf Arme und Hände hinabwuchs. Seine Augen waren von einem hellen, harten Blau. Seine Nase war etwas spitz, es gab nie einen Zweifel daran, wen er gerade ansah oder mit wem er sprach. Das war sehr schmeichelhaft, denn wer sieht uns schon wirklich an? Meist treffen uns ja nur neugierige oder desinteressierte Blicke, mehr nicht. Seine Stimme, in der noch eine schwache irische Melodie schwang, warb um die ganze Welt; dennoch spürte Rosemary einen Unterton von Festigkeit, Selbstkontrolle und Disziplin darin, ihren eigenen Tugenden. Oh ja, sie wählte ihn– und Nicole sah es, als sie den Kopf hob, und hörte auch den kleinen Seufzer darüber, dass er schon ihr gehörte.

|36|Gegen Mittag kamen die McKiscos, Mrs Abrams, Royal Dumphry und Signor Campion zum Strand. Sie hatten einen neuen Sonnenschirm mitgebracht, den sie mit Seitenblicken auf die Divers aufstellten, ehe sie mit zufriedenen Gesichtern darunter Platz nahmen– mit Ausnahme von Mr McKisco, der verächtlich im Freien verblieb. Bei seiner Arbeit mit dem Rechen war Dick in ihrer Nähe vorbeigekommen und kehrte jetzt zu den Sonnenschirmen zurück.

»Die beiden jungen Männer lesen einen Etikette-Ratgeber«, sagte er leise.

»Wollen sich wohl in den besseren Kreisen einschleichen«, sagte Abe North.

Seine Frau Mary, die sonnengebräunte junge Person, die Rosemary am ersten Tag auf dem Floß gesehen hatte, kam vom Schwimmen zurück und sagte mit spöttisch funkelndem Lächeln: »Mr und Mrs Unverzagt sind also auch eingetroffen.«

»Immerhin sind sie die Freunde von deinem Mann«, erinnerte sie Nicole und zeigte auf Abe. »Warum geht er nicht hin und redet mit ihnen? Findest du sie nicht attraktiv?«

»Ich finde, sie sind sehr attraktiv«, bestätigte Abe. »Ich finde sie bloß nicht anziehend, das ist alles.«

»Nun ja, ich habe diesen Sommer tatsächlich das Gefühl, dass manchmal zu viele Leute am Strand sind«, gab Nicole zu. »An unserem Strand, den Dick aus einem Haufen Steinen gemacht hat.« Sie überlegte einen Moment, dann senkte sie ihre Stimme, um nicht von den drei Kindermädchen gehört zu werden, die unter einem anderen Sonnenschirm saßen. »Immerhin sind sie besser als diese Engländer, die im letzten Sommer hier waren und dauernd schrien: Ist das Meer nicht blau? Ist der Himmel nicht weiß? Ist Little Nellies Nase nicht rot?«

|37|Rosemary dachte, dass sie Nicole nicht gern als Feindin hätte.

»Aber ihr habt ja nicht mal den Streit gesehen«, fuhr Nicole fort. »Am Tag, bevor ihr gekommen seid, hat der verheiratete Mann, der, dessen Name wie gepanschtes Benzin und Ersatzbutter klingt–«

»McKisco?«

»Ja, genau– sie haben gestritten, und dann hat sie ihm Sand ins Gesicht geschmissen. Daraufhin hat er sich prompt auf sie draufgesetzt und ihr Gesicht in den Sand gedrückt. Wir waren geradezu– elektrisiert. Ich wollte, dass Dick eingreift.«

»Ich glaube«, sagte Dick Diver und starrte entrückt auf die Strohmatte, »ich werde mal rübergehen und sie zum Abendessen einladen.«

»Das machst du nicht«, sagte Nicole rasch.

»Ich glaube, das wäre eine sehr gute Sache. Sie sind nun mal da– wir sollten uns anpassen.«

»Wir sind sehr gut angepasst«, sagte sie lachend. »Ich lasse mir nicht die Nase im Sand reiben. Ich bin eine harte, gemeine Frau«, erklärte sie Rosemary. Dann hob sie die Stimme: »Kinder, zieht eure Badeanzüge an!«

Rosemary hatte das Gefühl, dass dies jetzt das entscheidende Bad ihres Lebens sein würde, dass es ihr jedes Mal wieder einfallen würde, wenn vom Schwimmen die Rede war. Die ganze Gesellschaft bewegte sich gleichzeitig und nach der langen, erzwungenen Untätigkeit geradezu übereifrig in Richtung des Wassers und genoss den Übergang von der Hitze zur Kälte wie ein Kenner das kühle Glas Weißwein nach einem brennenden Curry. Die Tage der Divers waren so eingeteilt wie der Tageslauf alter Kulturen, in denen man aus allen Gegebenheiten das Beste machte |38|und auf die Übergänge den größten Wert legte; Rosemary wusste noch nicht, dass nach der absoluten Konzentration auf das Schwimmen ein geschwätziges provenzalisches Mittagsmahl folgen würde. Aber wieder hatte sie das Gefühl, dass sich Dick um sie kümmern würde, und ging voller Entzücken auf die Entwicklung ein, als ob es ihr jemand befohlen hätte.

Aber zunächst gab Nicole ihrem Mann ein eigenartiges Kleidungsstück, an dem sie gearbeitet hatte. Er ging in das Umkleidezelt und löste einen Augenblick später erhebliche Aufregung aus, als er in durchsichtigen schwarzen Spitzenhöschen wieder erschien. Eine nähere Betrachtung zeigte dann allerdings, dass sie mit fleischfarbenem Stoff unterlegt waren.

»Also, wenn dass kein schwuler Trick ist!«, rief Mr McKisco verächtlich– dann wandte er sich hastig zu Mr Dumphry und Mr Campion um und sagte: »Oh pardon, entschuldigen Sie!«

Rosemary jauchzte vor Freude über die Badehose. In ihrer Naivität reagierte sie aus vollem Herzen auf das kostspielige »einfache Leben« der Divers, seine Kompliziertheit und fehlende Unschuld bemerkte sie nicht. Sie spürte, dass hier aus dem Basar des Lebens Klasse statt Masse gewählt worden war, aber dass die kindliche Friedfertigkeit, das einfache, schlichte Verhalten, der gute Wille und die Betonung der einfachen Tugenden Teil eines verzweifelten Tauschgeschäfts mit den Göttern und in für sie unvorstellbaren Kämpfen erlangt worden war, ahnte sie nicht. In diesem Augenblick stellten die Divers die äußerste Entwicklungsstufe einer bestimmten Klasse dar, sodass die meisten Leute linkisch und ungehobelt neben ihnen erschienen |39|– allerdings hatte schon eine Veränderung eingesetzt, die für Rosemary aber nicht wahrnehmbar war.

Sie stand mit ihnen zusammen, als sie Sherry tranken und Cracker aßen. Dick Diver sah sie mit kalten, blauen Augen an, und sein freundlicher, starker Mund sagte bedächtig und wohlüberlegt: »Sie sind für mich seit Langem das erste Mädchen, das tatsächlich so aussieht, als würde es blühen.«

Später lag sie im Schoß ihrer Mutter und weinte und weinte.

»Ich liebe ihn, Mutter. Ich bin so verzweifelt– ich hätte nie gedacht, dass ich jemand so lieben könnte. Dabei ist er verheiratet, und sie mag ich auch– es ist alles so aussichtslos. Ach, ich liebe ihn so!«

»Es würde mich interessieren, ihn kennenzulernen.«

»Sie hat uns am Freitag zum Abendessen eingeladen.«

»Wenn du verliebt bist, sollte dich das glücklich machen. Eigentlich solltest du lachen.«

Rosemary schaute auf, ließ ihr zauberhaftes Gesicht erzittern und lachte. Ihre Mutter hatte schon immer einen großen Einfluss auf sie gehabt.

5

Nach Monte Carlo fuhr Rosemary so missmutig, wie es ihr irgend möglich war. Sie ließ sich den steilen Abhang nach La Turbie hinaufbringen, wo sich ein altes Gaumont-Gelände befand, das gerade neu aufgebaut wurde, und als sie vor dem vergitterten Tor stand und darauf wartete, dass die Nachricht auf ihrer Visitenkarte beantwortet wurde, hatte sie das Gefühl, sie wäre in Hollywood. Die bizarren Überreste |40|eines kürzlich abgedrehten Films– eine Straßenszene in Indien, ein großer Pappmaschee-Wal und ein riesiger Baum mit Kirschen in der Größe von Basketbällen– wucherten da mit der gleichen exotischen Selbstverständlichkeit wie Tausendschön, Korkeiche, Mimosen und Zwergkiefern. Es gab eine Imbissbude, zwei scheunenartige Studios und überall auf dem Gelände Gruppen von hoffnungsvoll wartenden, angemalten Gesichtern.

Nach zehn Minuten kam ein Mann mit kanariengelben Haaren zur Pforte heruntergeeilt. »Kommen Sie herein, Miss Hoyt. Mr Brady ist auf dem Set, aber er möchte Sie unbedingt sehen. Es tut mir leid, dass Sie warten mussten, aber einige dieser französischen Demoiselles sind so wild darauf, hier hereinzukommen–«

Der Aufnahmeleiter machte eine kleine Tür in der kahlen Wand des Studios auf und mit einem plötzlichen, beglückenden Gefühl der Vertrautheit folgte sie ihm in das Halbdunkel. Hier und da erschienen Gestalten im Zwielicht und wandten ihr aschenbleiche Gesichter zu wie Seelen im Fegefeuer, die einen Lebenden an sich vorbeigehen sehen. Flüstern, leise Stimmen und im Hintergrund das sanfte Tremolo einer kleinen Orgel waren zu hören. Hinter den Kulissen bogen sie ab und stießen auf das grellweiße Licht einer Bühne, wo ein französischer Schauspieler– dessen Hemd, Manschetten und Kragen leuchtend Rosa1* waren– und eine amerikanische Schauspielerin sich mit verbissenem Blick reglos anstarrten, als ob sie schon seit Stunden so dastünden. Auch jetzt rührte sich lange Zeit gar nichts. Mit einem wütenden Zischen erlosch eine Scheinwerferbatterie und ging gleich wieder an; irgendwo bat ein Hammer jämmerlich klopfend um Einlass; ein blaues Gesicht erschien zwischen den blendenden Lichtern und schrie etwas |41|Unverständliches in die schwarze Dunkelheit über den Scheinwerfern. Dann wurde das Schweigen von einer Stimme vor ihr gebrochen. »Baby, du sollst die Strümpfe nicht ausziehen. Mehr als zehn Paare darfst du nicht zerreißen. Und das Kleid kostet auch fünfzehn Pfund.«

Der Sprecher machte zwei Schritte rückwärts und stieß mit ihr zusammen, woraufhin der Aufnahmeleiter sie vorstellte: »Hey, Earl, das ist Miss Hoyt.«

Es war ihre erste Begegnung. Brady war hektisch und anstrengend. Als er ihre Hand ergriff, sah sie, wie er sie von Kopf bis Fuß musterte, eine wohlvertraute Geste, die ihr das Gefühl gab, zu Hause zu sein. Zugleich verschaffte sie ihr auch ein gewisses Überlegenheitsgefühl gegenüber demjenigen, der sie machte. Wenn ihre Person eine Ware war, dann konnte sie auch jeden Vorteil nutzen, der sich aus ihrem Besitz ergab.

»Ich dachte mir, dass Sie dieser Tage vorbeischauen«, erklärte Brady mit einer Stimme, die ein klein wenig zu energisch für das Privatleben war und einen leicht trotzigen Cockney-Akzent hinter sich herzog. »Gute Reise gehabt?«

»Ja, aber wir sind froh, wenn wir wieder nach Hause kommen.«

»Nei-i-i-n!«, protestierte er. »Bleiben Sie eine Weile– ich will mit Ihnen reden. Ich muss Ihnen sagen, das war wirklich ein toller Film– ›Daddy’s Girl‹. Ich habe ihn in Paris gesehen und gleich nach Kalifornien telegrafiert, um zu sehen, ob Sie schon ausgebucht waren.«

»Ich hatte gerade unterschrieben– tut mir leid.«

»Mein Gott, was für ein Film!«

Da sie nicht in alberner Zustimmung lächeln wollte, runzelte sie die Stirn. »Niemand will den Leuten bloß mit einem einzigen Film in Erinnerung bleiben«, sagte sie.

|42|»Sicher– das stimmt. Was sind Ihre Pläne?«

»Mutter findet, dass ich etwas Ruhe brauche. Wenn ich wieder zurück bin, werden wir wahrscheinlich bei der First National unterschreiben oder bei Famous bleiben.«

»Wer ist wir?«

»Meine Mutter. Sie kümmert sich um die Geschäfte. Ich wüsste gar nicht, was ich ohne sie tun sollte.«

Wieder musterte er sie komplett, und als er das tat, löste es ein warmes Gefühl bei ihr aus. Nicht, dass sie ihn gemocht hätte, es war nicht die spontane Begeisterung, die sie für den Mann am Strand heute Morgen empfunden hatte. Es war nur ein Einrasten. Er begehrte sie, und soweit es ihre jungfräulichen Gefühle erlaubten, erwog sie eine Übergabe mit Gleichmut. Andererseits wusste sie, dass sie ihn eine halbe Stunde nach ihrem Weggang genauso vergessen würde wie einen Schauspieler nach einer Kuss-Szene.

»Wo sind Sie abgestiegen?«, fragte er. »Ach ja, richtig, bei Gausse. Nun ja, meine Planungen für dieses Jahr sind auch abgeschlossen, aber der Brief, den ich Ihnen geschrieben habe, ist nach wie vor gültig. Ich würde lieber mit Ihnen einen Film drehen als mit jedem anderen Mädchen seit Connie Talmadge2*.«

»Das geht mir genauso. Warum kommen Sie nicht nach Hollywood zurück?«

»Weil ich das Scheißkaff nicht ausstehen kann. Hier geht’s mir gut. Warten Sie, bis wir mit der Einstellung fertig sind, dann führe ich Sie herum.«

Er betrat die Bühne und redete mit leiser und ruhiger Stimme auf den französischen Schauspieler ein.

Fünf Minuten vergingen, aber Brady redete immer weiter, während der Franzose ab und zu mit den Füßen scharrte und nickte. Dann brach Brady abrupt ab und rief den |43|Scheinwerfern etwas zu, was diese zu summendem Aufflammen brachte. Los Angeles schrie jetzt gewaltig nach Rosemary. Unerschrocken bewegte sie sich durch die Stadt der Kulissen und dünnen Trennwände. Sie wollte wieder zurück! Auf die Stimmung, in der Brady nach dem Abdrehen der Szene sein würde, hatte sie gar keine Lust.

Sie stand immer noch unter diesem Bann, als sie das Gelände verließ. Die mediterrane Welt erschien ihr jetzt nicht mehr so stumm, seit sie wusste, dass es das Studio gab. Die Leute auf den Straßen gefielen ihr, und auf dem Weg zum Bahnhof kaufte sie sich ein Paar Espadrilles.

Ihre Mutter war zufrieden, dass Rosemary ihren Auftrag erfüllt hatte. Trotzdem wollte sie ihre Tochter nach wie vor unter die Leute bringen. Mrs Speers wirkte äußerlich frisch, aber innerlich war sie müde. Totenbetten machen einen sehr müde, und sie hatte an zu vielen davon gewacht.

6

Der Rosé beim Mittagessen hatte ihr gutgetan, und Nicole Diver kreuzte die Arme so hoch vor der Brust, dass die künstliche Kamelie an ihrer Schulter die Wange berührte, dann ging sie in ihren herrlichen Garten hinaus. Dieser Garten, in dem es keinen Rasen gab, war links und rechts vom alten Dorf begrenzt und fiel vom Haus bis zu den Klippen ab, die sich an seinem unteren Ende in zahlreichen Felsvorsprüngen ins Meer stürzten.

Entlang der Mauer an der einen Dorfseite war alles staubig: die gewundenen Ranken, die Zitronen- und Eukalyptusbäume, die vergessene Schubkarre, die erst vor wenigen |44|Augenblicken dort abgestellt worden war, aber schon kraftlos und müde in sich zusammensank. Nicole wunderte sich jedes Mal, dass sie auf der anderen Seite an einem Beet mit Peonien vorbei in einen Bereich kam, der so kühl und grün war, dass sich die Blüten und Blätter in zarter Feuchtigkeit kringelten.

Sie hatte sich ein lila Tuch um den Hals geschlungen, das selbst in der grellen Sonne noch einen farbigen Widerschein auf ihr Gesicht und einen lila Schatten auf ihre bewegten Füße warf. Ihr Gesicht war fest, ja, beinahe hart, wenn man von dem weichen Strahl mitleidigen Zweifels absah, der ihren grünen Augen entsprang. Ihr ehemals blondes Haar war dunkel geworden, aber jetzt, mit vierundzwanzig, war sie schöner als früher mit achtzehn, als ihr Haar heller gewesen war als sie selbst.

Einem Weg folgend, der von einem zarten Blütenschleier entlang der weißen Begrenzungssteine bezeichnet war, gelangte sie zu einem Platz, der weit aufs Meer hinaussah. Hier waren Feigenbäume, in denen Lampions schliefen, ein großer Tisch mit Korbstühlen und ein Sonnenschirm vom Markt in Siena um eine riesige Pinie versammelt, den größten Baum, den es im Garten gab. Dort verharrte sie einen Moment und blickte, während sie einem von lauten Beschuldigungen und Klagen begleiteten Streit im Kinderzimmer zuhörte, geistesabwesend auf die Kapuzinerkresse und Schwertlilien, die sich so wirr am Fuße des Baumes drängten, als ob sie versehentlich ausgesät worden wären. Als der Streit in der Sommerluft schließlich verhallt war, ging sie weiter– durch ein Kaleidoskop von rosa Pfingstrosenwolken, schwarzen und braunen Tulpen und zerbrechlichen Rosen an blauen Zweigen, die so durchscheinend wie die Zuckerblumen im Schaufenster einer Konditorei |45|waren. Dann, als das Scherzo der Farben auf seinem Höhepunkt schien, brach es mittendrin ab.

Feuchte Stufen führten zu einem etwa anderthalb Meter tiefer liegenden Brunnen hinab, dessen Einfassung selbst an den hellsten Tagen noch glitschig und nass war. Sie ging auf der anderen Seite wieder hinauf und betrat den Gemüsegarten; sie bewegte sich rasch, denn sie war gern aktiv, auch wenn sie oft den Eindruck von statischer und zugleich sinnlicher Ruhe erweckte. Das lag daran, dass sie nur wenige Worte kannte und keinem vertraute. In der Welt blieb sie meist ziemlich stumm und ließ ihren kultivierten Humor nur so gezielt spielen, dass ihr Beitrag zum Gespräch beinahe dürftig erschien. Aber sobald es Fremden bei dieser Sparsamkeit unbehaglich zu werden drohte, ergriff sie das Thema und stürmte damit davon, fieberhaft überrascht von der eigenen Courage– nur um es alsbald wieder zurückzubringen und fallen zu lassen wie ein gehorsamer Jagdhund, der mehr geleistet hat, als er gemusst hätte.

Als sie im verschwommenen grünen Licht des Gemüsegartens stand, kreuzte Dick ihren Weg, der zu seinem Arbeitszimmer im Gartenhaus ging. Nicole wartete, bis er vorbei war, dann ging sie an einer Reihe künftiger Salatköpfe zu einer kleinen Menagerie, wo Tauben, Kaninchen und ein Papagei sie mit frechem Getöse begrüßten. Schließlich ging sie noch ein paar Stufen weiter hinunter, bis sie zu einer niedrigen, geschwungenen Mauer kam und weit hinaus auf das zweihundert Meter tiefer liegende Mittelmeer schaute.

Sie stand in dem alten Hügeldorf Tarmes1*. Die Villa und ihre Außenanlagen waren an die Stelle einiger Bauernhöfe getreten, die unmittelbar an das Steilufer grenzten– fünf |46|alte Häuser waren zur Villa verbunden worden, vier weitere hatten sie abreißen lassen, um auf ihrem Gelände den Garten zu schaffen. Die Außenmauern der Häuser waren beim Bau der Villa nicht angerührt worden, sodass sie sich aus der Entfernung von der grauvioletten Masse der alten Gassen nicht unterschieden.

Einen Moment lang sah Nicole aufs Meer hinunter, aber damit konnten ihre rastlosen Hände nichts anfangen. Kurz darauf kehrte Dick mit einem Fernglas aus seinem Gartenhäuschen zurück und spähte nach Osten in Richtung Cannes. Dabei geriet Nicole in sein Blickfeld, woraufhin er in seinem Haus verschwand und mit einem Megafon wieder heraustrat. Er besaß eine ganze Reihe solcher nützlichen kleinen Geräte.

»Nicole«, rief er. »Ich habe vergessen, dir zu sagen, dass ich in einer abschließenden apostolischen Geste auch Mrs Abrams eingeladen habe, die Frau mit den weißen Haaren.«

»Das habe ich schon geahnt. Es ist ein Skandal.«

Die Problemlosigkeit, mit der ihn ihre Antwort erreichte, ließ sein Megafon etwas albern erscheinen, deshalb hob sie die Stimme und fragte: »Kannst du mich hören?«

»Ja.« Er senkte das Megafon und hob es dann störrisch gleich wieder. »Ich werde auch noch ein paar mehr Leute einladen. Ich werde diese beiden jungen Männer einladen.«

»In Ordnung«, stimmte sie friedfertig zu.

»Ich möchte eine richtig böse Party geben. Das meine ich ernst. Ich möchte eine Party mit einer Schlägerei und Verführungen geben, die Leute sollen beleidigt nach Hause gehen und die Frauen sollen auf der Toilette ohnmächtig werden. Du wirst schon sehen.«

Er ging wieder zurück in sein Haus, und Nicole wurde bewusst, dass er wieder mal in einer für ihn sehr typischen |47|Stimmung war, getragen von einer Erregung, die erst alle mitriss und dann in einer Melancholie bei ihm endete, die sie zu durchschauen glaubte, die er aber nie zeigte. Seine Begeisterungsfähigkeit erreichte oft eine völlig übertriebene Intensität, verschaffte ihm aber eine große Virtuosität im Umgang mit Menschen. Abgesehen von den ganz besonders Zähen und ewig Misstrauischen, gelang es ihm praktisch immer, eine unkritische und bewundernde Liebe zu wecken. Der emotionale Rückschlag kam dann, wenn er merkte, wie viel Verschwendung und Opfer damit verbunden waren. Manchmal blickte er mit Schrecken auf den Karneval der Gefühle zurück, den er ausgelöst hatte, so wie ein General auf die grausamen Schlachten zurückblickt, die er aus unpersönlicher Blutgier befohlen hat.

Aber eine Zeit lang in Richard Divers Welt aufgenommen zu werden, war ein bemerkenswertes Erlebnis: Die Leute glaubten, dass er ihnen besondere Freiräume gab, dass er die Einzigartigkeit ihres Schicksals erkannte, das unter den Kompromissen so vieler Jahre verborgen lag. Die exquisite Rücksichtnahme und Höflichkeit, mit denen er Menschen für sich gewann, waren so beweglich und intuitiv, dass man sie nur an der Wirkung erkannte. Und dann öffnete er die Tore zu seiner vergnüglichen Welt– ohne jede Vorsicht, damit kein Reif auf die Blüte der neuen Beziehung fiel. So lange die Leute mitmachten, galt ihrem Glück seine ganze Bemühung, aber beim kleinsten Hinweis auf Zweifel an seiner allumfassenden Fürsorge, verdunstete er vor ihren Augen und ließ kaum kommunizierbare Erinnerungen daran zurück, was genau er gesagt und getan hatte.

Die ersten Gäste an diesem Abend begrüßte er um halb neun, wobei er seine Jacke feierlich und vielversprechend über dem Arm trug wie die Capa eines Toreros. Es war sehr |48|charakteristisch, dass er Rosemary und ihrer Mutter das erste Wort überließ, nachdem er sie begrüßt hatte, so als wollte er ihnen den tröstlichen Klang ihrer eigenen Stimmen in der neuen Umgebung gewähren.

Um zu Rosemarys Perspektive zurückzukehren, sollte man vielleicht sagen, dass sie und ihre Mutter sich unter dem Eindruck des Aufstiegs nach Tarmes und der frischeren Luft, voller Interesse und Dankbarkeit umschauten. So wie ungewöhnliche Menschen ihre besondere Persönlichkeit gerade in einem unverhofften Wechsel des Gesichtsausdrucks zeigen können, wurde die ausgeklügelte Perfektion der Villa Diana durch kleine Missgeschicke wie das plötzliche Erscheinen eines Hausmädchens im Hintergrund oder die Widerspenstigkeit eines Korkens erkennbar. Während die ersten Gäste die erwartungsvolle Erregung des Abends mitbrachten, verschwand die häusliche Stimmung des Tages nur langsam; ein Symbol dafür waren die Kinder der Divers, die noch mit ihrer Gouvernante beim Abendessen auf der Terrasse saßen.

»Was für ein schöner Garten!«, rief Mrs Speers aus.

»Das ist Nicoles Garten«, sagte Dick Diver. »Er lässt ihr keine Ruhe– sie beschäftigt sich ständig damit und sorgt sich um all seine Krankheiten. Jeden Tag erwarte ich, dass Braunfäule, Mehltau oder Apfelruß bei ihr zum Ausbruch kommen.« Er stieß mit dem Zeigefinger in Richtung Rosemary und sagte mit einer Leichtigkeit, hinter der sich scheinbar väterliches Interesse verbarg: »Ich werde Ihren Verstand retten und Ihnen einen Hut schenken, den Sie am Strand tragen können.«

Er steuerte sie vom Garten auf die Terrasse, wo er einen Cocktail ausschenkte. Earl Brady traf ein, der überrascht war, Rosemary hier zu entdecken. Sein Benehmen war |49|etwas milder als im Studio, so als habe er sich am Eingang verwandelt, aber Rosemary hatte ihn nur kurz mit Dick Diver verglichen und sich dann sofort für den Hausherrn entschieden. Im direkten Vergleich wirkte Brady schlecht erzogen und irgendwie krass; trotzdem spürte sie auch diesmal eine starke elektrische Reaktion auf seine Person.