Zärtlich ist die Nacht - F. Scott Fitzgerald - E-Book

Zärtlich ist die Nacht E-Book

F.Scott Fitzgerald

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Beschreibung

Mit Übersetzung der fremdsprachigen Passagen Der amerikanische Psychiater Richard (Dick) Diver lernt bei einem Besuch in einem Schweizer Sanatorium Nicole Warren, die psychisch labile Tochter eines schwerreichen Industriellen, kennen und lieben. Früher noch ein enthusiastischer, junger Arzt, der die Welt verbessern wollte, erliegt er nun dem süßen Gift des Reichtums. Seine Ehefrau, scheinbar von ihren Psychose genesen, macht ihn zum Abhängigen in einem goldenen Käfig. Doch dann lernt er an der Riviera die junge Schauspielerin Rosemary kennen. Er sieht in Rosemary die Traumvorstellung, wie es auch hätte sein können, wie sein Leben ohne Reichtum verlaufen wäre. In der Beziehung zu ihr erhofft er sich, den verlorenen Lebenssinn wiederzufinden. Ein Roman wie ein Champagner-Cocktail. Wenn Fitzgeralds Helden leiden, dann immer mit Stil, mit Grandezza. Null Papier Verlag

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Seitenzahl: 578

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F. Scott Fitzgerald

Zärtlich ist die Nacht

F. Scott Fitzgerald

Zärtlich ist die Nacht

(Tender Is the Night)Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2024Klosterstr. 34 · D-40211 Düsseldorf · [email protected]Übersetzung: Jürgen Schulze, Grete Rambach EV: Blanvalet, Berlin, 1952 (423 S.) 2. Auflage, ISBN 978-3-962810-17-7

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Inhaltsverzeichnis

Edi­to­ri­sche An­mer­kun­gen

Ge­rald und Sara Mur­phy

Ers­tes Buch – Kran­ken­ge­schich­te (1917–1919)

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

IX

Zwei­tes Buch – Ro­se­ma­rys Sicht (1919–1925)

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

IX

X

XI

XII

XIII

Drit­tes Buch – Un­fäl­le (1925)

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

IX

X

XI

XII

XIII

XIV

XV

Vier­tes Buch – Flucht (1925–1929)

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

IX

X

XI

Fünf­tes Buch – Der Weg nach Hau­se (1929–1930)

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

IX

X

XI

XII

XIII

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Ihr Jür­gen Schul­ze

Klas­si­ker bei Null Pa­pier

Ali­ce im Wun­der­land

Anna Ka­re­ni­na

Der Graf von Mon­te Chri­sto

Die Schat­zin­sel

Ivan­hoe

Oli­ver Twist oder Der Weg ei­nes Für­sor­ge­zög­lings

Ro­bin­son Cru­soe

Das Got­tes­le­hen

Meis­ter­no­vel­len

Eine Weih­nachts­ge­schich­te

und wei­te­re …

Editorische Anmerkungen

Text

Im Eng­li­schen exis­tie­ren zwei Ver­sio­nen des Ro­mans. Die ers­te Ver­si­on, die 1934 ver­öf­fent­licht wur­de, ver­wen­det Rück­bli­cke; die zwei­te, über­ar­bei­te­te Ver­si­on, die von Fitz­ge­ralds Freund und be­rühm­ten Kri­ti­ker Mal­colm Cow­ley auf Grund­la­ge von No­ti­zen des Au­tors über­ar­bei­tet wur­de, ar­bei­tet hin­ge­gen chro­no­lo­gisch. Die zwei­te Fas­sung wur­de 1948 post­hum ver­öf­fent­licht und bil­det die Grund­la­ge die­ses Bu­ches.

Ne­ben der Über­set­zung der fran­zö­si­schen und ita­lie­ni­schen Pas­sa­gen habe ich es mir er­laubt, ei­ni­ge geo­gra­fi­sche An­ga­ben in Fuß­no­ten zu ma­chen. Des Wei­te­ren habe ich auch ver­schie­de­ne Un­zu­läng­lich­kei­ten in der ur­sprüng­li­chen Über­set­zung kor­ri­giert. Un­ter an­de­rem habe ich aus der rup­pi­gen Kin­der­wär­te­rin (als Über­set­zung für Nan­nie) ein net­tes Kin­der­mäd­chen ge­macht. Und »Cou­si­ne« liest sich heu­te ein­deu­tig bes­ser als »Ku­si­ne«.

Im Brief­wech­sel wur­de aus dem »Haupt­mann« wie­der der von Fitz­ge­rald fa­vo­ri­sier­te »Cap­tain«. Wenn Ame­ri­ka­ner »Bil­li­on« sa­gen, mei­nen sie ei­gent­lich un­se­re »Mil­li­ar­de«. Aus der »Mis­tin­guet«, der fran­zö­si­schen Na­tio­na­li­ko­ne, wur­de wie­der »Mis­tin­guett« und der be­rühm­te Cham­pa­gner heißt na­tür­lich »Veu­ve Clic­quot« und nicht »Veu­ve Cli­quot«.

Au­tor

Fitz­ge­rald, des­sen Le­ben min­des­tens so in­ter­essant war wie sei­ne Wer­ke, schuf mit die­sem mo­der­nen Ro­man ein Sit­ten­ge­mäl­de der »Roa­ring Twen­ties«. Ähn­lich wie in »Der große Gats­by« lei­den sei­ne meist rei­chen Pro­tago­nis­ten auf sehr ho­hem Ni­veau – nur dies­mal eben in Süd­frank­reich und Pa­ris. Wir tau­chen ein in ein bun­tes Por­trät ei­ner ver­snob­ten Ge­ne­ra­ti­on zwi­schen wirt­schaft­li­chen Un­si­cher­hei­ten, Pro­hi­bi­ti­on, Kri­mi­na­li­tät, Jazz, Mode und Eman­zi­pa­ti­on.

In den letz­ten Jah­ren vor dem Zwei­ten Welt­krieg war der Name F. Scott Fitz­ge­rald von fri­sche­ren ver­drängt wor­den. He­ming­way (ein gu­ter Freund und Sauf­kum­pan), Stein­beck und Faulk­ner bil­de­ten nun die Sperr­spit­ze des li­te­ra­ri­schen Rea­lis­mus. Erst nach sei­nem Tode mach­ten ame­ri­ka­ni­sche Kri­ti­ker wie­der auf sein Werk auf­merk­sam und brach­ten ihn – bis heu­te – wie­der zu­rück ins Ram­pen­licht.

Gerald und Sara Murphy

Die In­spi­ra­ti­on

Ge­rald Cle­ry Mur­phy (1888–1964) und Sara Sher­man Wi­borg (1883–1975) wa­ren rei­che, aus­län­di­sche US-Bür­ger, die im frü­hen 20. Jahr­hun­dert an die Côte d’A­zur zo­gen und mit ih­rer groß­zü­gi­gen Gast­freund­schaft und ih­rem Flair für Par­ties vor al­lem in den 1920er Jah­ren einen le­ben­di­gen Ge­sell­schafts­kreis um sich schu­fen. Sie wa­ren bes­tens be­freun­det mit vie­len Künst­lern und Schrift­stel­lern der »Lost Ge­ne­ra­ti­on«.

Gerald und Sara Murphy bei Cap d’Antibes, 1923

Ge­rald Mur­phy hat­te eine kur­ze, aber be­deu­ten­de Kar­rie­re als Ma­ler. Sei­ne Bil­der hän­gen u. a. auch im New Yor­ker Mu­se­um of Mo­dern Art. Cole Por­ter war ei­ner sei­ner bes­ten Freun­de; er starb zwei Tage vor ihm.

Sara Wi­borg wur­de auch von Pi­cas­so mehr­mals ge­malt (»Por­trait de Sa­rah Mur­phy«).

Das Ehe­paar diente als In­spi­ra­ti­on für die­sen Ro­man, schließ­lich gilt ih­nen auch die vor­an­ge­stell­te Wid­mung. Ob­wohl vie­le Zeit­ge­nos­sen mein­ten, dass Ni­co­le und Dick Di­ver (die Haupt­fi­gu­ren) auch sehr viel Ähn­lich­keit mit Zel­da und Scott Fitz­ge­rald selbst auf­wie­sen.

Für Ge­rald und Sara Vie­le Fes­te

Al­rea­dy with thee! ten­der is the night, But here the­re is no light, Save what from hea­ven is with the bree­zes blown Through ver­du­rous glooms and win­ding mos­sy ways.

Be­reit für dich! Zärt­lich ist die Nacht, Doch hier, da gibt es kein Licht Au­ßer, was Win­de von den Him­meln weh’n durch ver­füh­re­ri­sche Düs­ter­nis und win­den­de moo­si­ge Pfa­de

John Keats, »Ode to a Nigh­tin­ga­le«

Erstes Buch – Krankengeschichte (1917–1919)

I

Im Früh­ling 1917, als Dok­tor Richard Di­ver zum ers­ten Mal nach Zü­rich kam, war er sechs­und­zwan­zig Jah­re alt, ein schö­nes Al­ter für einen Mann, ja ei­gent­lich der Hö­he­punkt der Jung­ge­sel­len­jah­re. Selbst wäh­rend des Krie­ges war es ein schö­nes Al­ter für Dick, der be­reits zu wert­voll war und eine zu große Ka­pi­tals­an­la­ge dar­stell­te, um als Ka­no­nen­fut­ter zu die­nen. In spä­te­ren Jah­ren woll­te es ihm schei­nen, als sei er auch aus die­ser Frei­statt nicht leich­ten Kau­fes da­von­ge­kom­men, doch wur­de er sich über die­sen Punkt nie ganz schlüs­sig – 1917 lach­te er über die­sen Ge­dan­ken und sag­te zu sei­ner Ent­schul­di­gung, der Krieg be­rüh­re ihn über­haupt nicht. Die Ver­fü­gung sei­ner ört­li­chen Be­hör­de lau­te­te da­hin, dass er sein Stu­di­um in Zü­rich be­en­den und pro­mo­vie­ren sol­le, wie er es vor­hat­te.

Die Schweiz war eine In­sel, auf der einen Sei­te von den don­nern­den Wo­gen bei Goertz, auf der an­de­ren von der Bran­dung an der Som­me und der Ais­ne um­tobt. Vor­läu­fig schie­nen sich mehr in­ter­essan­te Frem­de als Kran­ke in den Kan­to­nen auf­zu­hal­ten, doch war das le­dig­lich eine Ver­mu­tung – die Män­ner, die in den klei­nen Cafés in Bern und Genf mit­ein­an­der flüs­ter­ten, konn­ten eben­so gut Dia­man­ten­händ­ler oder Ge­schäfts­rei­sen­de sein. Je­der in­des­sen hat­te die lan­gen Züge mit Blin­den, Ein­bei­ni­gen und Ster­ben­den ge­se­hen, die zwi­schen den glit­zern­den Seen von Kon­stanz und Neuchâtel an­ein­an­der vor­bei­fuh­ren. In Bier­hal­len und Schau­fens­tern hin­gen bun­te Pla­ka­te, auf de­nen ge­zeigt wur­de, wie die Schwei­zer 1914 ihre Gren­zen ver­tei­dig­ten; Kampf­geist at­men­de jun­ge und alte Män­ner starr­ten von den Ber­gen auf Fran­zo­sen und Deut­sche hin­ab, die nur in ih­rer Vor­stel­lung exis­tier­ten; der Zweck die­ser Pla­ka­te war, dem schwei­ze­ri­schen Her­zen die Ge­wiss­heit zu ge­ben, dass es an dem all­ge­mei­nen Kampfrausch je­ner Tage teil­hat­te. Als das Mor­den an­hielt, ver­bli­chen die Pla­ka­te, und kein Land war über­rasch­ter als die Schwes­ter­re­pu­blik, als die Ve­rei­nig­ten Staa­ten in den Krieg ein­tra­ten.

Dok­tor Di­ver hat­te bis da­hin den Krieg nur am Ran­de er­lebt. 1914 war er ein Ox­ford Rho­des-Stu­dent aus Connec­ti­cut. Er kehr­te nach Hau­se zu­rück, um das letz­te Jahr in John Hop­kins zu stu­die­ren, wo er pro­mo­vier­te. 1916 ging er nach Wien, aus dem Ge­fühl her­aus, der große Freud kön­ne, wenn er sich nicht be­ei­le, even­tu­ell ei­ner Flie­ger­bom­be zum Op­fer fal­len. Da­mals schon war Wien eine tote Stadt, aber es ge­lang ihm, ge­nü­gend Koh­le und Pe­tro­le­um auf­zu­trei­ben, um in sei­nem Zim­mer in der Da­men­stifts­gas­se zu sit­zen und an den Bro­schü­ren zu schrei­ben, die er spä­ter ver­nich­te­te, die je­doch, als er sie von neu­em schrieb, das Gerüst zu dem Buch bil­de­ten, das er 1920 in Zü­rich ver­öf­fent­lich­te.

Die meis­ten von uns ha­ben eine Zeit in ih­rem Le­ben, die ih­nen be­son­ders lieb ist und be­son­ders he­ro­isch er­scheint; für Dick Di­ver war es die­se Zeit. Schon dar­um, weil er kei­ne Ah­nung hat­te, dass er be­zau­bernd war, dass die Zu­nei­gung, die er gab und her­vor­rief, un­ter ge­sun­den Men­schen un­ge­wöhn­lich ist. In sei­nem letz­ten Jahr in New Ha­ven nann­te ihn je­mand ge­sprächs­wei­se »Dick im Glück« – der Name ging ihm nicht aus dem Kopf.

»Dick im Glück, du al­ter Dös­kopp«, flüs­ter­te er sich zu, wenn er vor dem letz­ten bren­nen­den Holz­scheit in sei­nem Zim­mer auf und nie­der ging. »Du hast das Glück beim Schopf ge­fasst. Nie­mand wuss­te et­was da­von, be­vor du kamst.«

Zu Be­ginn des Jah­res 1917, als es schwie­rig wur­de, Koh­len zu be­kom­men, be­nutz­te Dick als Heiz­ma­te­ri­al fast hun­dert Lehr­bü­cher, die sich bei ihm an­ge­sam­melt hat­ten, und bei je­dem ein­zel­nen, das er den Flam­men über­ant­wor­te­te, freu­te er sich in­ner­lich über die Fest­stel­lung, dass er selbst einen Aus­zug des­sen dar­stell­te, was die Bü­cher ent­hiel­ten, und dass er es fünf Jah­re spä­ter zu­sam­men­fas­send wür­de wie­der­ge­ben kön­nen, so­fern sich eine Wie­der­ga­be lohn­te. Dies setz­te er durch man­che Stun­de fort, wenn nö­tig mit ei­nem Tep­pich um die Schul­tern, durch­tränkt vom sanf­ten See­len­frie­den des Stu­die­ren­den, der von al­len Din­gen der Welt dem himm­li­schen Frie­den am nächs­ten kommt. Doch soll­te er, wie nun ge­zeigt wer­den wird, ein Ende ha­ben.

Dass er noch eine Zeit lang vor­hielt, ver­dank­te er sei­nem Kör­per, den er in New Ha­ven beim Rund­lauf und jetzt durch das Schwim­men in der win­ter­lich kal­ten Do­nau ge­stählt hat­te. Mit El­kins, dem zwei­ten Se­kre­tär der Ge­sandt­schaft, teil­te er sein Zim­mer, zwei hüb­sche Mäd­chen be­such­ten sie zu­wei­len – doch war we­der von ih­nen noch von der Ge­sandt­schaft zu­viel zu spü­ren. Die Berüh­rung mit Ed El­kins weck­te in ihm zum ers­ten Mal schwa­che Zwei­fel am Wert sei­nes ei­ge­nen Den­kens; er konn­te nicht se­hen, dass es sich grund­le­gend von El­kins’ Art zu den­ken un­ter­schied – El­kins, der alle New Ha­ve­ner Au­ßen- und Mit­tel­läu­fer der letz­ten drei­ßig Jah­re na­ment­lich auf­zäh­len konn­te.

»– Und, ›Dick im Glück‹ kann nicht ei­ner von die­sen schlau­en Bur­schen sein; er muss we­ni­ger in­takt sein, einen klei­nen Knacks ha­ben. Und wenn’s das Le­ben nicht für ihn tut, ist es auch kein Er­satz, sich eine Krank­heit, ein ge­bro­che­nes Herz oder einen Min­der­wer­tig­keits­kom­plex zu ho­len, ob­wohl es hübsch sein muss, an et­was Zer­bro­che­nem her­um­zu­dok­tern, bis es bes­ser ist als die ur­sprüng­li­che Form.«

Er mach­te sich über sei­ne Ge­dan­ken­gän­ge lus­tig, nann­te sie gleis­ne­risch und »ame­ri­ka­nisch« – sein Kri­te­ri­um für un­durch­dach­tes Wor­te­ma­chen war, dass er es als ame­ri­ka­nisch emp­fand. Und doch wuss­te er, dass er sei­ne In­takt­heit mit Un­voll­kom­men­heit wür­de be­zah­len müs­sen.

»Das Bes­te, was ich dir wün­schen kann, mein Kind«, so sagt die Fee Schwarz­dorn1 in Thacke­rays ›Die Rose und der Ring‹, »ist ein we­nig Un­glück.«

In ge­wis­sen Stim­mun­gen zer­pflück­te er sei­ne ei­ge­nen Ge­dan­ken­gän­ge: »Konn­te ich et­was da­für, dass Pete Li­ving­sto­ne am Wahl­tag im Um­klei­de­raum saß, als ihn alle wie eine Steck­na­del such­ten? Und ich wur­de ge­wählt, ob­wohl ich so we­nig Leu­te kann­te? Er war gut und rich­tig, und ich hät­te statt sei­ner im Um­klei­de­raum sit­zen müs­sen. Vi­el­leicht hät­te ich’s, wenn ich ge­glaubt hät­te, Chan­cen bei der Wahl zu ha­ben. Aber in all den Wo­chen kam Mer­cer dau­ernd in mein Zim­mer. Ich neh­me an, ich wuss­te ganz gut, dass ich Aus­sich­ten hat­te, ganz gut. Aber es wäre mir recht ge­sche­hen, wenn ich mei­ne Sup­pe hät­te aus­löf­feln müs­sen und einen Kon­flikt her­auf­be­schwo­ren hät­te.«

Nach den Vor­le­sun­gen an der Uni­ver­si­tät pfleg­te er die­sen Punkt mit ei­nem jun­gen in­tel­lek­tu­el­len Ru­mä­nen zu er­ör­tern, der ihm ver­si­cher­te: »Wir ha­ben kei­nen Be­weis da­für, dass Goe­the je­mals einen ›Kon­flik­t‹ im mo­der­nen Sin­ne ge­kannt hat oder ein Mann wie Jung, zum Bei­spiel. Du bist kein ro­man­ti­scher Phi­lo­soph – du bist Wis­sen­schaft­ler: Ge­dächt­nis, Kraft, Cha­rak­ter – be­son­ders Ver­nunft. Die Schwie­rig­keit für dich wird dar­in be­ste­hen, Selbst­kri­tik zu üben. Ich lern­te ein­mal einen Mann ken­nen, der zwei Jah­re am Ge­hirn ei­nes Gür­tel­tiers ar­bei­te­te, in der Mei­nung, er wer­de über kurz oder lang mehr über das Ge­hirn des Gür­tel­tiers wis­sen als je­der an­de­re. Ich ver­such­te, ihn da­von zu über­zeu­gen, dass er da­bei den mensch­li­chen Be­reich aus dem Auge ver­lor – das The­ma war zu fern­lie­gend. Und rich­tig, als er die Ar­beit an die me­di­zi­ni­sche Zeit­schrift ein­schick­te, wur­de sie ab­ge­lehnt – eine Ab­hand­lung von ei­nem an­de­ren über das­sel­be The­ma war ge­ra­de an­ge­nom­men wor­den.«

Dick ging nach Zü­rich, mit we­ni­ger Achil­les­fer­sen, als zur Aus­stat­tung ei­nes Tau­send­füß­lers be­nö­tigt wer­den, aber mit ei­ner Un­men­ge von Il­lu­sio­nen – Il­lu­sio­nen über ewig­wäh­ren­de Kraft und Ge­sund­heit und über das ein­ge­bo­re­ne Gute im Men­schen; Il­lu­sio­nen über eine Na­ti­on, über die Lü­gen von Ge­ne­ra­tio­nen von Grenz­land­müt­tern, die ih­ren Kin­dern vor­sin­gen muss­ten, dass kei­ne Wöl­fe vor der Hüt­te lau­er­ten. Nach­dem er pro­mo­viert hat­te, er­hielt er den Be­fehl, sich zu ei­ner Neu­ro­lo­gen­ein­heit zu ver­fü­gen, die in Bar-sur-Aube2 auf­ge­stellt wur­de. In Frank­reich war die Ar­beit zu sei­nem Är­ger mehr ver­wal­tungs­tech­nisch als prak­tisch. Als Aus­gleich fand er ge­nü­gend Zeit, sei­nen kur­z­en Leit­fa­den zu be­en­den und Ma­te­ri­al für sein nächs­tes Werk zu sam­meln. Im Früh­ling 1919 wur­de er ent­las­sen und ging nach Zü­rich zu­rück.

Das Vor­her­ge­hen­de klingt nach Bio­gra­fie, der die Be­frie­di­gung des si­che­ren Wis­sens fehlt, dass der Held – wie der in sei­nem Kram­la­den in Ga­le­na her­um­lun­gern­de Grant – zu ei­nem ver­wi­ckel­ten Schick­sal be­ru­fen ist. Zur Be­ru­hi­gung sei es ge­sagt: Dick Di­vers kri­ti­sches Sta­di­um hebt nun­mehr an.

im Ori­gi­nal: (Fai­ry) »Black­stick«  <<<

Ge­mein­de in Frank­reich  <<<

II

Es war ein feuch­ter April­tag mit schrä­gen Wol­ken über dem Al­bis­horn und trä­gem Was­ser tiefer un­ten. Zü­rich sieht ei­ner ame­ri­ka­ni­schen Stadt nicht un­ähn­lich. Dick hat­te die gan­ze Zeit seit sei­ner An­kunft vor zwei Ta­gen et­was ver­misst und merk­te jetzt, es war das Ge­fühl, das er in en­gen fran­zö­si­schen Gas­sen ge­habt hat­te, das Ge­fühl, dass es wei­ter nichts gebe. In Zü­rich gab es eine Men­ge au­ßer Zü­rich – die Dä­cher lei­te­ten die Bli­cke hin­auf zu Kuh­wei­den mit Glo­cken­ge­läut, die sich ih­rer­seits wei­ter oben in Berg­spit­zen ver­wan­del­ten – so war das Le­ben ein senk­rech­ter An­stieg zu ei­nem Post­kar­ten­him­mel. Die Al­pen­län­der, die Hei­mat des Spiel­zeugs, der Draht­seil­bah­nen, der Ka­rus­sells und des Kuh­rei­gens, wa­ren nichts zum Hei­misch­füh­len wie Frank­reich, wo ei­nem fran­zö­si­sche Wein­ran­ken auf der Erde über die Füße wach­sen.

In Salz­burg hat­te Dick einst den auf­ge­setz­ten Wert ei­nes ge­kauf­ten und ge­lie­he­nen Mu­sik Jahr­hun­derts emp­fun­den; ein­mal, als er sich im Uni­ver­si­täts­la­bo­ra­to­ri­um in Zü­rich vor­sich­tig zur Rin­de ei­nes Ge­hirns vor­ge­tas­tet hat­te, war er sich eher wie ein Spiel­zeug­ma­cher vor­ge­kom­men als wie der Wir­bel­sturm, der vor zwei Jah­ren durch die al­ten ro­ten Ge­bäu­de von Hop­kins ge­rast war, un­ge­hin­dert durch die Iro­nie der ge­wal­ti­gen Chris­tus­sta­tue in der Ein­gangs­hal­le.

Den­noch hat­te er sich ent­schlos­sen, noch zwei Jah­re in Zü­rich zu blei­ben, denn er un­ter­schätz­te kei­nes­wegs den Wert des Spiel­zeug­ma­chens, den Wert un­end­li­cher Ge­nau­ig­keit und un­end­li­cher Ge­duld.

Heu­te ging er aus, um Franz Gre­go­ro­vi­us in Dohm­lers Kli­nik am Zü­rich­see zu be­su­chen. Franz, der als Pa­tho­lo­ge in der Kli­nik wohn­te, von Ge­burt Waadt­län­der und ein paar Jah­re äl­ter war als Dick, er­war­te­te ihn an der Stra­ßen­bahn-Hal­te­stel­le. Er hat­te et­was von Cagliostros dunklem, präch­ti­gem Aus­se­hen, das im Ge­gen­satz zu sei­nen Au­gen stand, die de­nen ei­nes Hei­li­gen gli­chen. Er war der drit­te in der Rei­he der Gre­go­ro­vi­us­se – sein Groß­va­ter war Krae­pel­ins Leh­rer ge­we­sen, zu ei­ner Zeit, als die Psych­ia­trie ge­ra­de aus dem Dun­kel der Zei­ten her­vor­trat. Cha­rak­ter­lich war er stolz, lei­den­schaft­lich und gut­mü­tig – er hielt sich für einen Hyp­no­ti­seur. Wenn sich auch das ur­sprüng­li­che Ge­nie der Fa­mi­lie ein we­nig er­schöpft hat­te, wür­de Franz doch zwei­fel­los ein gu­ter Kli­ni­ker wer­den.

Auf dem Weg zur Kli­nik sag­te er: »Er­zähl mir von dei­nen Er­fah­run­gen im Krieg. Bist du auch so ver­än­dert wie die an­dern? Du hast das­sel­be al­ters­lo­se ame­ri­ka­ni­sche Ge­sicht wie frü­her.«

»Ich hab’ nichts vom Krieg ge­merkt«, sag­te Dick. »Du musst es aus mei­nen Brie­fen ge­se­hen ha­ben.«

»Das macht nichts – wir ha­ben ei­ni­ge Bom­ben­schocks hier, die nur von wei­tem einen Flie­ger­an­griff ge­hört ha­ben. Ein paar sind da, die nur da­von in der Zei­tung la­sen.«

»Das hört sich ziem­lich un­sin­nig an.«

»Vi­el­leicht, Dick. Aber wir sind eine Kli­nik für rei­che Leu­te – wir be­nut­zen das Wort Un­sinn nicht. Sei mal ganz of­fen, kommst du zu mir oder zu dem Mäd­chen?«

Sie blick­ten sich von der Sei­te an; Franz lä­chel­te hin­ter­grün­dig.

»Na­tür­lich habe ich die ers­ten Brie­fe ge­le­sen«, sag­te er in dienst­li­chem Bass. »Als die Ver­än­de­rung be­gann, hat mich mein Zart­ge­fühl da­von ab­ge­hal­ten, noch wei­te­re zu öff­nen. In Wirk­lich­keit war es ja dein Fall ge­wor­den.«

»Es geht ihr also gut?« frag­te Dick.

»Ta­del­los. Ich be­treue sie, wie ich über­haupt die Mehr­zahl der eng­li­schen und ame­ri­ka­ni­schen Pa­ti­en­ten be­treue. Sie nen­nen mich Dok­tor Gre­go­ry.«

»Ich wer­de dir er­klä­ren, wel­che Be­wandt­nis es mit dem Mäd­chen hat«, sag­te Dick. »Tat­sa­che ist, dass ich sie nur ein ein­zi­ges Mal ge­se­hen habe. Als ich her­aus­kam, um mich von dir zu ver­ab­schie­den, kurz be­vor ich nach Frank­reich ging. Es war das ers­te Mal, dass ich mei­ne Uni­form trug, und ich fühl­te mich in ihr sehr fehl am Plat­ze – grüß­te ge­mei­ne Sol­da­ten und lau­ter so Zeug.«

»Wa­rum hast du sie heu­te nicht an?«

»Ha! Ich bin doch vor drei Wo­chen ent­las­sen wor­den. Hier ist der Weg, auf dem ich das Mäd­chen zu­fäl­lig traf. Als ich dich ver­las­sen hat­te, ging ich zu dei­nem Haus am See, um mein Rad zu ho­len.«

»– zu den Ze­dern hin?«

»– ein wun­der­ba­rer Abend, weißt du – der Mond stand über dem Berg –«

»Dem Kreu­zegg.«1

»– Ich hol­te eine Pfle­ge­rin und ein jun­ges Mäd­chen ein. Ich hielt das Mäd­chen nicht für eine Pa­ti­en­tin; ich frag­te die Pfle­ge­rin nach den Ab­fahrts­zei­ten der Stra­ßen­bahn, und wir gin­gen ne­ben­ein­an­der her. Das Mäd­chen war mit das hüb­sche­s­te Ding, das ich je ge­se­hen hat­te.«

»Sie ist es noch.«

»Sie hat­te noch nie eine ame­ri­ka­ni­sche Uni­form ge­se­hen, und wir un­ter­hiel­ten uns und dach­ten uns nichts da­bei.« Er hielt inne, da er einen Aus­blick wie­der­er­kann­te, und fuhr dann fort: »Du musst be­den­ken, Franz, dass ich noch nicht so ab­ge­brüht bin wie du. Wenn ich eine so wun­der­schö­ne Scha­le sehe, kann ich nicht um­hin, über das, was dar­in steckt, be­trübt zu sein. Das war al­les – bis die Brie­fe ka­men.«

»Es war das bes­te, was ihr pas­sie­ren konn­te«, sag­te Franz dra­ma­tisch, »ein Zu­sam­men­tref­fen, vom Zu­fall be­schert. Da­rum habe ich dich ab­ge­holt, ob­wohl es ein sehr be­setz­ter Tag ist. Ich möch­te, dass du zu mir ins Büro kommst und lan­ge mit mir sprichst, be­vor du sie siehst. Ich habe sie näm­lich nach Zü­rich ge­schickt, um Ein­käu­fe zu ma­chen.« Sei­ne Stim­me klang ge­strafft vor Be­geis­te­rung. »Ich habe sie so­gar ohne Pfle­ge­rin ge­schickt, mit ei­ner we­ni­ger sta­bi­len Pa­ti­en­tin. Ich bin un­end­lich stolz auf die­sen Fall, den ich mit dei­ner zu­fäl­li­gen Hil­fe be­han­delt habe.«

Das Auto war am Ufer des Zü­rich­sees ent­lang­ge­fah­ren und dann in eine frucht­ba­re Land­schaft mit Vieh­wei­den und sanf­ten Hü­geln vol­ler Cha­lets ein­ge­bo­gen. Die Son­ne schwamm in ei­nem blau­en Him­mels­meer, und plötz­lich war es ein Schwei­zer Tal, wie man es sich schö­ner nicht den­ken konn­te, mit lieb­li­chen Klän­gen und Ge­mur­mel und dem gu­ten, fri­schen Duft nach Ge­sund­heit und Froh­sinn.

Pro­fes­sor Dohm­lers An­stalt be­stand aus drei al­ten und zwei neu­en Ge­bäu­den und lag zwi­schen ei­ner klei­nen An­hö­he und dem Ufer des Sees. Bei ih­rer Grün­dung, zehn Jah­re zu­vor, war sie die ers­te mo­der­ne Kli­nik für Geis­tes­krank­hei­ten ge­we­sen; auf den ers­ten Blick hät­te kein Laie eine Zuf­luchts­stät­te für die Ge­bro­che­nen, De­fek­ten, Ge­mein­ge­fähr­li­chen die­ser Welt in ihr ge­se­hen, wenn­gleich zwei Ge­bäu­de von ver­däch­tig ho­hen, wein­be­wach­se­nen Mau­ern um­ge­ben wa­ren. Ein paar Män­ner hark­ten in der Son­ne Stroh zu­sam­men. Als sie durch die Park­an­la­gen fuh­ren, ka­men sie hier und da an ei­ner Kran­ken­schwes­ter vor­bei, die mit wip­pen­der wei­ßer Flü­gel­hau­be ne­ben ei­nem Pa­ti­en­ten her­ging.

Nach­dem er Dick in sein Büro ge­führt hat­te, ent­schul­dig­te sich Franz auf eine hal­be Stun­de. Al­lein ge­blie­ben, durch­schritt Dick den Raum und ver­such­te, sich Fran­zens Per­sön­lich­keit aus der Un­ord­nung auf sei­nem Schreib­tisch, aus sei­nen Bü­chern und den Bü­chern, die sei­nem Va­ter und Groß­va­ter ge­hört und die sie ge­schrie­ben hat­ten, zu re­kon­stru­ie­ren; auch aus ei­ner rie­si­gen, röt­lich ko­lo­rier­ten Fo­to­gra­fie des ers­te­ren, die, schwei­ze­ri­scher Sit­te fol­gend, an der Wand hing. Es roch nach Rauch im Zim­mer; Dick stieß das fran­zö­si­sche Fens­ter auf und ließ einen Strei­fen Son­nen­licht her­ein. Un­ver­se­hens wand­ten sich sei­ne Ge­dan­ken der Pa­ti­en­tin, dem jun­gen Mäd­chen, zu.

Er hat­te un­ge­fähr fünf­zig Brie­fe von ihr be­kom­men, die sie wäh­rend ei­nes Zeit­rau­mes von acht Mo­na­ten an ihn ge­schrie­ben hat­te. Im ers­ten hat­te sie, sich ent­schul­di­gend, er­klärt, sie habe aus Ame­ri­ka ge­hört, dass Mäd­chen an un­be­kann­te Sol­da­ten schrie­ben. Sie habe Na­men und Adres­se von Dok­tor Gre­go­ry er­hal­ten und hof­fe, er wer­de nichts da­ge­gen ha­ben, wenn sie ihm zu­wei­len ein paar Zei­len mit gu­ten Wün­schen schi­cken wür­de, etc. etc.

Bis da­hin war es leicht, den Ton zu er­ken­nen – er stamm­te aus »Dad­dy Long-Legs« und »Mol­ly-Make-Be­lie­ve«, mun­ter-sen­ti­men­ta­len Brief­samm­lun­gen, die sich in den Staa­ten großer Be­liebt­heit er­freu­ten. Aber dann hör­te die Ähn­lich­keit auf.

Die Brie­fe zer­fie­len in zwei Ka­te­go­ri­en, von de­nen die ers­te, bis zur Zeit des Waf­fen­still­stan­des un­ge­fähr, einen aus­ge­spro­chen pa­tho­lo­gi­schen Cha­rak­ter trug, wo­ge­gen die zwei­te, die sich von je­nem Zeit­punkt bis zur Ge­gen­wart er­streck­te, durch­aus nor­mal war und einen schön her­an­ge­reif­ten Cha­rak­ter ver­riet. Auf die­se spä­te­ren Brie­fe hat­te Dick in den letz­ten lang­wei­li­gen Mo­na­ten in Bar-sur-Aube schließ­lich mit Un­ge­duld ge­war­tet, aber auch aus den frü­he­ren Brie­fen hat­te er sich mehr zu­sam­men­ge­reimt, als Franz wohl ver­mu­tet hät­te.2

Mon Ca­pi­taine:

Als ich Sie in Ih­rer Uni­form sah, fand ich Sie so schön. Dann dach­te ich: Je m’en fi­che!3 auf fran­zö­sisch und auch auf deutsch. Sie fan­den mich eben­falls hübsch, aber das ken­ne ich von frü­her und habe es lan­ge er­tra­gen. Wenn Sie wie­der mit sol­chem nie­der­träch­ti­gen und ver­bre­che­ri­schen Be­neh­men her­kom­men, das so gar nicht dem ent­spricht, was man mir bei­ge­bracht hat, als gent­le­m­an­li­ke an­zu­se­hen, möge Ih­nen der Him­mel gnä­dig sein. Im­mer­hin, Sie schei­nen ru­hi­ger zu sein als die an­de­ren, ganz sanft, wie eine große Kat­ze. Ich habe im­mer nur Jun­gen gern ge­habt, die ziem­li­che Schwäch­lin­ge wa­ren. Sind Sie ein Schwäch­ling? Ir­gend­wo gab es wel­che.

Ent­schul­di­gen Sie dies al­les, das ist der drit­te Brief, den ich Ih­nen schrei­be, und ich wer­de ihn so­fort ab­schi­cken, sonst wer­de ich ihn nie ab­schi­cken. Ich habe auch sehr viel über den Mond­schein nach­ge­dacht, und ich könn­te eine Men­ge Zeu­gen bei­brin­gen, wenn ich bloß hier her­aus könn­te.

Es ist mir ge­sagt wor­den, Sie sei­en Arzt, aber so­lan­ge Sie eine Kat­ze sind, ist es et­was an­de­res. Mein Kopf tut so weh, dar­um ent­schul­di­gen Sie; die­ser Spa­zier­gang ei­ner ge­wöhn­li­chen mit ei­ner wei­ßen Kat­ze ist, glau­be ich, eine Er­klä­rung da­für. Ich spre­che drei Spra­chen, mit Eng­lisch vier, und ich glau­be be­stimmt, ich könn­te mich als Dol­met­sche­rin nütz­lich ma­chen; wenn Sie nur in Frank­reich so et­was ver­mit­teln wür­den, glau­be ich be­stimmt, ich könn­te al­les zwin­gen, wenn je­der mit Rie­men ge­fes­selt wür­de, wie es am Mitt­woch ge­sch­ah. Jetzt ist es Sonn­abend, und Sie sind weit weg, viel­leicht tot.

Kom­men Sie ei­nes Ta­ges zu mir zu­rück; denn ich wer­de im­mer hier sein auf die­sem grü­nen Hü­gel. Wenn mir nicht er­laubt wird, an mei­nen Va­ter zu schrei­ben, den ich von Her­zen ge­liebt habe.

Ent­schul­di­gen Sie dies. Ich bin heu­te gar nicht ich selbst. Ich wer­de schrei­ben, wenn ich mich bes­ser füh­le.

Chee­rio Ni­co­le War­ren.

Ent­schul­di­gen Sie dies al­les.

Cap­tain Di­ver:

Ich weiß, dass Selbst­be­trach­tung bei ei­nem so hoch­gra­dig ner­vö­sen Sta­di­um wie dem mei­ni­gen nicht gut ist, aber ich möch­te, dass Sie wis­sen, wie es mit mir steht. Vo­ri­ges Jahr, oder wann das in Chi­ca­go war, als ich so wur­de, konn­te ich nicht mit Dienst­bo­ten spre­chen oder auf die Stra­ße ge­hen; ich war­te­te stän­dig auf je­mand, der mir Aus­kunft ge­ben soll­te. Es war die Pf­licht des­sen, der Be­scheid wuss­te. Ein Blin­der muss ge­führt wer­den. Nur woll­te mir nie­mand al­les sa­gen – sie sag­ten mir nur die Hälf­te, und ich war schon zu ver­wirrt, um zwei und zwei zu­sam­men­zu­zäh­len. Ein Mann war nett – ein fran­zö­si­scher Of­fi­zier, und er wuss­te Be­scheid. Er gab mir eine Blu­me und sag­te, sie sei »plus pe­ti­te et moins en­ten­due«.4 Wir wa­ren Freun­de. Dann nahm er sie mir weg. Ich wur­de krän­ker, und nie­mand war da, der es mir er­klä­ren konn­te. Sie hat­ten ein Lied über Jean­ne d’Arc, das pfleg­ten sie mir vor­zu­sin­gen, aber das war pure Nie­der­tracht – es hat mich bloß zum Wei­nen ge­bracht, denn da­mals war mein Kopf noch in Ord­nung. Sie mach­ten auch An­spie­lun­gen auf Sport, aber da­mals mach­te ich mir nichts dar­aus. Also an dem Tag ging ich zu Fuß den Mi­chi­gan Bou­le­vard ent­lang, wei­ter und wei­ter, ki­lo­me­ter­weit, und schließ­lich folg­ten sie mir im Auto, aber ich woll­te nicht ein­stei­gen. Schließ­lich zo­gen sie mich hin­ein, und da wa­ren Kran­ken­schwes­tern. In der Fol­ge­zeit wur­de mir al­les klar, weil ich füh­len konn­te, was in an­de­ren vor­ging. Nun wis­sen Sie, wie es um mich steht. Und kann es denn gut für mich sein, dass ich hier­blei­be, wo die Ärz­te be­stän­dig Din­ge zur Spra­che brin­gen, über die ich doch ge­ra­de hier hin­weg­kom­men soll­te? Da­rum habe ich heu­te mei­nem Va­ter ge­schrie­ben und ihn ge­be­ten, her­zu­kom­men und mich weg­zu­ho­len. Es freut mich, dass es Sie in­ter­es­siert, die Leu­te zu un­ter­su­chen und weg­zu­schi­cken. Das muss viel Spaß ma­chen.

Und aus ei­nem an­de­ren Brief:

Sie könn­ten ei­gent­lich Ihre nächs­te Un­ter­su­chung schwim­men las­sen und mir einen Brief schrei­ben. Man hat mir so­eben ei­ni­ge Schall­plat­ten ge­schickt, da­mit ich mei­ne Lek­tio­nen nicht ver­ges­se; ich habe sie alle zer­bro­chen, dar­um will die Schwes­ter nicht mit mir spre­chen. Sie wa­ren eng­lisch, so dass die Schwes­tern sie nicht ver­stan­den hät­ten. Ein Arzt in Chi­ca­go sag­te, ich si­mu­lie­re, aber in Wahr­heit mein­te er, ich sei eins von Sechs­lin­gen, und er hat­te noch nie eins ge­se­hen. Aber da­mals war ich stark da­mit be­schäf­tigt, ver­rückt zu sein, dar­um war es mir gleich­gül­tig, was er sag­te; wenn ich stark da­mit be­schäf­tigt bin, ver­rückt zu sein, ist es mir ge­wöhn­lich gleich­gül­tig, was man sagt, und wenn ich eine Mil­li­on Mäd­chen wäre.

Da­mals am Abend sag­ten Sie mir, Sie wür­den mir bei­brin­gen, wie man spielt. Also, ich glau­be, Lie­be ist das ein­zi­ge, was von Be­deu­tung ist oder von Be­deu­tung sein soll­te. Auf alle Fäl­le freue ich mich, dass Ihr In­ter­es­se an den Un­ter­su­chun­gen Sie aus­füllt.

Tout à vous5 Ni­co­le War­ren.

An­de­re Brie­fe wa­ren dar­un­ter, de­ren hilflo­se Zä­su­ren dunk­le­re Rhyth­men ver­bar­gen.

Sehr ge­ehr­ter Cap­tain Di­ver:

Ich schrei­be Ih­nen, weil sonst kei­ner da ist, an den ich mich wen­den kann, und mir scheint, wenn die­se ab­sur­de Si­tua­ti­on je­mand ein­leuch­tet, der so krank ist wie ich, so soll­te sie erst recht Ih­nen ein­leuch­ten. Die Geis­tes­krank­heit ist be­ho­ben, aber ab­ge­se­hen da­von bin ich völ­lig nie­der­ge­bro­chen und ge­de­mü­tigt, und viel­leicht woll­te man das. Mei­ne Fa­mi­lie hat mich schänd­lich ver­nach­läs­sigt, es hat kei­nen Zweck, sie um Hil­fe oder Mit­leid zu bit­ten. Ich habe ge­nug da­von, und ich rich­te nur mei­ne Ge­sund­heit zu­grun­de und ver­geu­de mei­ne Zeit, wenn ich mir ein­bil­de, dass das, was in mei­nem Kopf los ist, heil­bar ist.

Ich bin hier an­schei­nend in ei­ner Art Ir­ren­haus, ein­fach, weil nie­mand es für rich­tig hielt, mir über al­les die Wahr­heit zu sa­gen. Wenn ich nur ge­wusst hät­te, was vor­ging, so wie ich es jetzt weiß, ich glau­be, ich hät­te es er­tra­gen, denn ich bin ganz hübsch stark; aber die es hät­ten tun sol­len, hiel­ten es nicht für rich­tig, mich auf­zu­klä­ren.

Und jetzt, wo ich Be­scheid weiß und einen sol­chen Preis für mein Wis­sen be­zahlt habe, sit­zen sie da mit ih­ren Hun­deau­gen und sa­gen, ich sol­le das glau­ben, was ich frü­her ge­glaubt habe. Be­son­ders ei­ner tut das, aber jetzt weiß ich Be­scheid.

Ich bin im­mer­zu ein­sam, weit weg von Freun­den und Ver­wand­ten jen­seits des Ozeans, und ich wan­de­re halb be­täubt durch die Ge­gend. Wenn Sie mir eine Stel­lung als Dol­met­sche­rin ver­schaf­fen könn­ten (ich spre­che Fran­zö­sisch und Deutsch wie mei­ne Mut­ter­spra­che, ganz gut Ita­lie­nisch und et­was Spa­nisch) oder im Ro­ten-Kreuz-La­za­rett oder als La­za­rett­zug-Schwes­ter, ob­gleich ich da­für aus­ge­bil­det wer­den müss­te, wür­den Sie mir eine große Wohl­tat er­wei­sen.

Und dann wie­der:

Da Sie mei­ne Er­klä­rung des­sen, was los ist, nicht an­neh­men wol­len, könn­ten Sie mir zum min­des­ten er­klä­ren, was Sie den­ken; denn Sie ha­ben das gü­ti­ge Ge­sicht ei­ner wei­ßen Kat­ze und nicht den ko­mi­schen Blick, der hier Mode zu sein scheint. Dr. Gre­go­ry gab mir ein Foto von Ih­nen, nicht so schön, wie Sie in Ih­rer Uni­form sind, aber Sie se­hen jün­ger dar­auf aus.

Mon Ca­pi­taine:

Es war schön, Ihre Post­kar­te zu er­hal­ten. Ich freue mich sehr, dass Sie so­viel In­ter­es­se dar­an ha­ben, Kran­ken­schwes­tern zu dis­qua­li­fi­zie­ren – oh, ich habe Ihre Zei­len sehr gut ver­stan­den. Ich dach­te nur vom ers­ten Mo­ment un­se­rer Be­kannt­schaft an, dass Sie an­ders wä­ren.

Lie­ber Ca­pi­taine:

Heu­te den­ke ich so und mor­gen so über die Sa­che. Das ist es, wor­an ich in Wirk­lich­keit lei­de, au­ßer an ei­nem ra­sen­den Trotz und ei­nem Man­gel an Gleich­maß. Ich wür­de je­den Psych­ia­ter will­kom­men hei­ßen, den Sie vor­schla­gen. Hier lie­gen sie in ih­ren Ba­de­wan­nen und sin­gen: »Spiel in dei­nem eig­nen Hin­ter­hof«, als ob ich einen Hin­ter­hof zum drin spie­len hät­te oder als wenn für mich ir­gend­ei­ne Hoff­nung dar­in lie­gen könn­te, rück­wärts oder vor­wärts zu schau­en. Sie ha­ben es wie­der in dem Bon­bon­la­den ver­sucht, und ich habe mit dem Ge­wicht nach dem Mann ge­wor­fen und ihn bei­na­he ge­trof­fen, aber sie hiel­ten mich fest.

Ich wer­de ih­nen nicht mehr schrei­ben. Mei­ne Stim­mung ist zu wech­selnd.

Dann ein Mo­nat ohne Brie­fe. Und dann plötz­lich die Ver­än­de­rung.

– Ich kom­me lang­sam ins Le­ben zu­rück …

– Heu­te die Blu­men und die Wol­ken …

– Der Krieg ist zu Ende, und ich wuss­te kaum, dass Krieg war …

– Wie gut Sie ge­we­sen sind! Sie müs­sen sehr wei­se sein hin­ter Ihrem Ge­sicht ei­ner wei­ßen Kat­ze; al­ler­dings se­hen Sie auf dem Bild, das mir Dok­tor Gre­go­ry gab, nicht so aus …

– Heu­te bin ich nach Zü­rich ge­fah­ren, ein merk­wür­di­ges Ge­fühl, wie­der mal eine Stadt zu se­hen.

– Heu­te wa­ren wir in Bern, es war so hübsch mit den Uhren.

– Heu­te sind wir so hoch hin­auf­ge­kra­xelt, dass wir As­pho­dill und Edel­weiß ge­fun­den ha­ben …

Da­nach ka­men die Brie­fe sel­te­ner, aber er be­ant­wor­te­te sie alle. In ei­nem hieß es:

Ich wünsch­te, je­mand wür­de sich in mich ver­lie­ben, wie es die Jun­gen vor Jah­ren ta­ten, be­vor ich krank war. Doch ich glau­be, es wer­den noch Jah­re ver­ge­hen, ehe ich an so et­was den­ken kann.

Aber als Dicks Ant­wort sich aus ir­gend­ei­nem Grun­de ver­zö­ger­te, kam ein hef­ti­ger Aus­bruch von Be­sorg­nis – Be­sorg­nis ei­ner Lie­ben­den: »Vi­el­leicht habe ich Sie ge­lang­weilt« und »Ich fürch­te, ich bin zu weit ge­gan­gen« und »Nachts habe ich im­mer­zu ge­dacht, Sie wä­ren krank.«

Tat­säch­lich war Dick an In­flu­enza er­krankt. Als er ge­ne­sen war, fiel al­les au­ßer der rein for­ma­len Sei­te sei­ner Kor­re­spon­denz der dar­auf­fol­gen­den Mat­tig­keit zum Op­fer, und kurz da­nach wur­de die Erin­ne­rung an die Brief­schrei­be­rin in den Hin­ter­grund ge­drängt durch die le­ben­di­ge Ge­gen­wart ei­ner Te­le­fo­nis­tin aus Wis­con­sin im Haupt­quar­tier von Bar-sur-Aube. Sie hat­te rote Lip­pen wie ein Ge­sicht auf ei­nem Pla­kat und war in den Of­fi­ziers­mes­sen ob­szö­ner­wei­se un­ter dem Na­men »das Schalt­brett« be­kannt.

Franz kam, durch­drun­gen von sei­ner ei­ge­nen Wich­tig­keit, ins Büro zu­rück. Dick dach­te, er wür­de wahr­schein­lich ein gu­ter Kli­ni­ker wer­den, denn der klang­vol­le oder ab­ge­ris­se­ne Ton­fall, mit dem er Pfle­ge­per­so­nal wie auch Pa­ti­en­ten in Zucht hielt, ent­sprang nicht sei­nem Ner­ven­sys­tem, son­dern ei­ner un­ge­heu­ren, aber harm­lo­sen Ei­tel­keit. Sei­ne wirk­li­chen Ge­füh­le wa­ren ge­ord­ne­ter, und er be­hielt sie für sich.

»Nun zu dem Mäd­chen, Dick«, sag­te er. »Na­tür­lich will ich et­was über dich hö­ren und dir von mir er­zäh­len, aber zu­erst zu dem Mäd­chen, weil ich schon so lan­ge dar­auf ge­war­tet habe, dir von ihr zu be­rich­ten.«

Er such­te und fand in ei­ner Kar­to­thek ein Bün­del Pa­pie­re, aber nach­dem er sie schnell durch­ge­se­hen hat­te, fand er, dass sie ihm im Wege wa­ren, und leg­te sie auf sei­nen Schreib­tisch. Statt des­sen er­zähl­te er Dick die Ge­schich­te.

Berg in den All­gäu­er Al­pen bei Oberst­dorf  <<<

Im Ori­gi­nal und in der Er­st­über­set­zung wur­den die hier ge­zeig­ten Brie­fe in kur­ze, num­me­rier­te Un­ter­sei­ten auf­ge­teilt. Aus Grün­den der bes­se­ren Les­bar­keit habe ich das hier un­ter­las­sen und die Brie­fe wie­der zu­sam­men­ge­führt. Der In­halt wur­de nicht ge­än­dert. Wa­rum Fitz­ge­rald sich ur­sprüng­lich hier­für ent­schie­den hat­te, ist nicht nach­voll­zieh­bar, bringt es doch kei­ner­lei Er­kennt­nis­ge­winn. – Der Ver­le­ger  <<<

(franz.) Das ist mir egal  <<<

(franz.) sehr klein und recht un­schul­dig  <<<

(franz.) Ganz die Ihre  <<<

III

Vor an­dert­halb Jah­ren etwa führ­te Dok­tor Dohm­ler einen et­was ver­wor­re­nen Brief­wech­sel mit ei­nem ame­ri­ka­ni­schen Herrn, der in Lau­san­ne leb­te, ei­nem Herrn De­ver­eux War­ren von der Fa­mi­lie War­ren aus Chi­ca­go. Eine Zu­sam­men­kunft wur­de ver­ein­bart, und ei­nes Ta­ges traf Herr War­ren mit sei­ner Toch­ter Ni­co­le, ei­nem Mäd­chen von sech­zehn Jah­ren, in der Kli­nik ein. Das Mäd­chen war of­fen­sicht­lich krank, und die Kran­ken­schwes­ter, die mit­ge­kom­men war, mach­te mit ihr einen Spa­zier­gang durch den Park, wäh­rend Herr War­ren den Arzt kon­sul­tier­te.

War­ren war ein auf­fal­lend hüb­scher Mann, dem man sei­ne vier­zig Jah­re nicht an­sah. Er war in je­der Hin­sicht ein gu­ter ame­ri­ka­ni­scher Typ: groß, statt­lich, gut ge­wach­sen – »un hom­me très chic«,1 wie Dok­tor Dohm­ler ihn Franz be­schrieb. Das Wei­ße sei­ner grau­en Au­gen war von ro­ten Äder­chen durch­zo­gen, vom Ru­dern auf dem Gen­fer See, und man sah sei­nem gan­zen Ge­ha­ben an, dass er die Genüs­se die­ser Welt zu schät­zen wuss­te. Die Un­ter­hal­tung wur­de auf deutsch ge­führt, denn es stell­te sich her­aus, dass er in Göt­tin­gen zur Schu­le ge­gan­gen war. Er war ner­vös, und au­gen­schein­lich ging ihm sei­ne Mis­si­on sehr nahe.

»Dok­tor Dohm­ler, mei­ne Toch­ter ist ge­müts­krank. Ich habe un­zäh­li­ge Spe­zia­lis­ten be­fragt und Kran­ken­schwes­tern für sie ge­hal­ten, und sie hat zwei Lie­ge­ku­ren ge­macht, aber die Sa­che ist mir über den Kopf ge­wach­sen, und man hat mir drin­gend emp­foh­len, mich an Sie zu wen­den.«

»Sehr schön«, sag­te Dok­tor Dohm­ler. »Wie wäre es, wenn Sie mir al­les von An­fang an er­zäh­len wür­den.«

»Ei­nen An­fang gibt es gar nicht, zu­min­dest hat es, so­viel ich weiß, in der Fa­mi­lie auf bei­den Sei­ten kei­ne Geis­tes­krank­heit ge­ge­ben. Ni­co­les Mut­ter starb, als das Kind elf Jah­re alt war, und ich bin so­zu­sa­gen Va­ter und Mut­ter in ei­ner Per­son für sie ge­we­sen, mit Hil­fe von Er­zie­he­rin­nen – Va­ter und Mut­ter in ei­ner Per­son.«

Er war sehr be­wegt, als er das sag­te. Dok­tor Dohm­ler sah, dass er Trä­nen in den Au­gen hat­te, und be­merk­te zum ers­ten Mal, dass sein Atem nach Whis­ky roch.

»Als Kind war sie ein ent­zücken­des klei­nes Ding – je­der war hin­ge­ris­sen von ihr, je­der, der mit ihr in Berüh­rung kam. Sie war schlank wie eine Ger­te und vom Mor­gen bis zum Abend glück­lich. Mit Vor­lie­be las sie oder zeich­ne­te oder tanz­te oder spiel­te Kla­vier – sie konn­te al­les mög­li­che. Oft hör­te ich mei­ne Frau sa­gen, sie sei das ein­zi­ge von un­se­ren Kin­dern, das nie­mals in der Nacht ge­schri­en habe. Ich habe noch eine äl­te­re Toch­ter, und da war noch ein Jun­ge, der ge­stor­ben ist, aber Ni­co­le war – Ni­co­le war – Ni­co­le –«

Er hielt inne, und Dok­tor Dohm­ler half ihm.

»Sie war ein ganz und gar nor­ma­les, strah­len­des, glück­li­ches Kind.«

»Ganz und gar.«

Dok­tor Dohm­ler war­te­te. Herr War­ren schüt­tel­te den Kopf, stieß einen tie­fen Seuf­zer aus, streif­te Dok­tor Dohm­ler mit ei­nem schnel­len Blick und sah dann wie­der zu Bo­den.

»Un­ge­fähr vor acht Mo­na­ten, viel­leicht wa­ren es auch sechs oder viel­leicht zehn – ich ver­su­che, es mir zu ver­ge­gen­wär­ti­gen, aber ich kann mich nicht ge­nau ent­sin­nen, wo wir wa­ren, als sie be­gann, ko­mi­sche Din­ge zu tun – ver­rück­te Din­ge. Ihre Schwes­ter war der ers­te Mensch, der mir et­was dar­über sag­te – denn Ni­co­le war mir ge­gen­über im­mer die glei­che«, füg­te er ziem­lich has­tig hin­zu, so als hät­te je­mand be­haup­tet, er trü­ge die Schuld, »– das­sel­be an­schmieg­sa­me klei­ne Mäd­chen. Die ers­te Sa­che be­traf einen Kam­mer­die­ner.«

»Ganz recht«, sag­te Dok­tor Dohm­ler und nick­te mit sei­nem ehr­wür­di­gen Haupt, als wenn er, wie Sher­lock Hol­mes, er­war­tet hät­te, dass ein Kam­mer­die­ner, und zwar aus­ge­rech­net ein Kam­mer­die­ner, in die­sem Mo­ment in Er­schei­nung tre­ten wür­de.

»Ich hat­te einen Kam­mer­die­ner, der seit Jah­ren bei mir war – üb­ri­gens ein Schwei­zer.« Er blick­te Dok­tor Dohm­ler in Er­war­tung sei­nes pa­trio­ti­schen Bei­falls an. »Sie bil­de­te sich in be­zug auf ihn et­was Ver­rück­tes ein. Sie mein­te, er stel­le ihr nach – na­tür­lich glaub­te ich es ihr da­mals und entließ ihn, aber jetzt weiß ich, dass al­les Un­sinn war.«

»Was be­haup­te­te sie, dass er ge­tan ha­ben soll­te?«

»Da­mit fing es schon an – die Ärz­te konn­ten nichts Be­stimm­tes aus ihr her­aus­krie­gen. Sie blick­te sie an, als müss­ten sie es ei­gent­lich wis­sen, was er ge­tan hat­te. Si­cher war nur, dass sie mein­te, er habe ihr ir­gend­wel­che un­schick­li­chen An­trä­ge ge­macht – dar­über ließ sie uns nicht im Zwei­fel.«

»Ich ver­ste­he.«

»Na­tür­lich habe ich über Frau­en ge­le­sen, die sich ein­sam füh­len und sich ein­bil­den, es sei ein Mann un­ter ih­rem Bett und der­glei­chen, aber wie soll­te Ni­co­le auf so et­was kom­men? Sie konn­te so vie­le jun­ge Män­ner ha­ben, wie sie woll­te. Wir wa­ren in Lake Fo­rest, ei­ner Som­mer­fri­sche bei Chi­ca­go, wo wir ein Grund­stück ha­ben – und sie war den gan­zen Tag drau­ßen und spiel­te mit den Jun­gen Golf oder Ten­nis. Und ei­ni­ge von ih­nen wa­ren ziem­lich hin­ter ihr her.«

Die gan­ze Zeit über, wäh­rend War­ren auf den al­ten, ver­trock­ne­ten Kna­ben, den Dok­tor Dohm­ler, ein­re­de­te, war ein Teil von des­sen Hirn in In­ter­val­len mit Chi­ca­go be­schäf­tigt. Einst­mals, in sei­ner Ju­gend, hät­te er als As­sis­tent und Do­zent an die Uni­ver­si­tät Chi­ca­go ge­hen kön­nen; viel­leicht wäre er dort reich ge­wor­den und hät­te ein ei­ge­nes Sa­na­to­ri­um be­ses­sen, statt nur klei­ner Teil­ha­ber an ei­ner Kli­nik zu sein. Als er sich das, was er sein ei­ge­nes man­gel­haf­tes Wis­sen nann­te, über das gan­ze Ge­biet, über all die Wei­zen­fel­der und die end­lo­sen Prä­ri­en ver­teilt dach­te, hat­te er sich da­ge­gen ent­schie­den. Aber er hat­te in je­nen Ta­gen viel über Chi­ca­go ge­le­sen, über die großen feu­da­len Fa­mi­li­en, die Ar­mours, Pal­mers, Fields, Cra­nes, War­rens, Swifts, McCor­micks und vie­le an­de­re, und seit­her wa­ren nicht we­ni­ge Pa­ti­en­ten, die die­ser Ge­sell­schafts­schicht an­ge­hör­ten, aus Chi­ca­go und New York zu ihm ge­kom­men.

»Es wur­de schlim­mer mit ihr«, fuhr War­ren fort. »Sie hat­te so was wie einen An­fall – das, was sie sag­te, wur­de im­mer ver­rück­ter. Ihre Schwes­ter schrieb ei­ni­ges da­von auf.« Er reich­te dem Dok­tor ein mehr­fach ge­fal­te­tes Stück Pa­pier. »Fast im­mer über Män­ner, die sie an­fal­len woll­ten, Män­ner, die sie kann­te oder Män­ner auf der Stra­ße – alle –«

Er er­zähl­te von sei­ner Sor­ge und Not, von dem Schre­cken, in den Fa­mi­li­en durch sol­che Be­ge­ben­hei­ten ver­setzt wer­den, von ih­ren er­folg­lo­sen Be­mü­hun­gen in Ame­ri­ka und schließ­lich da­von, dass sie sich viel von ei­nem Orts­wech­sel ver­spro­chen hat­ten, und wie er dar­um die Un­ter­see­boot­blo­cka­de durch­bro­chen und sei­ne Toch­ter in die Schweiz ge­bracht hat­te.

»– auf ei­nem Kreu­zer der Ve­rei­nig­ten Staa­ten«, er­klär­te er mit ei­nem An­flug von Stolz. »Das zu­we­ge zu brin­gen, war mir durch einen Glücks­fall mög­lich. Und ich möch­te hin­zu­fü­gen«, er lä­chel­te wie um Ent­schul­di­gung bit­tend, »dass, wie man sagt, Geld kei­ne Rol­le spielt.«

»Na­tür­lich nicht«, stimm­te Dohm­ler tro­cken bei.

Er hät­te gar zu gern ge­wusst, wes­halb und in wel­chem Punk­te der Mann ihn an­log. Oder, wenn er sich dar­in ir­ren soll­te, wo­her die At­mo­sphä­re von Unauf­rich­tig­keit kam, die den gan­zen Raum und den statt­li­chen Men­schen in ge­mus­ter­ter Wol­le durch­drang, der sich mit dem Be­ha­gen ei­nes Sports­man­nes in sei­nem Stuhl re­kel­te. Drau­ßen in der Fe­bruar­luft, das war eine Tra­gö­die: der jun­ge Vo­gel mit ir­gend­wie ge­knick­ten Flü­geln, und hier drin war al­les zu durch­sich­tig, durch­sich­tig und falsch.

»Ich wür­de jetzt gern ein paar Mi­nu­ten mit ihr spre­chen«, sag­te Dok­tor Dohm­ler, ins Eng­li­sche hin­über­wech­selnd, als wenn ihn das War­ren nä­her­brin­gen könn­te.

Spä­ter, als War­ren sei­ne Töch­ter da­ge­las­sen hat­te und nach Lau­san­ne zu­rück­ge­kehrt war, und als meh­re­re Tage ver­gan­gen wa­ren, mach­ten der Dok­tor und Franz fol­gen­de Ein­tra­gung auf Ni­co­les Kar­tei­blatt:

»Dia­gno­se: Schi­zo­phre­nie. Aku­te Pha­se im Ab­neh­men be­grif­fen. Die Angst vor Män­nern ist ein Sym­ptom der Krank­heit und kei­nes­wegs an­ge­bo­ren … Die Pro­gno­se muss zu­rück­ge­stellt wer­den.«

Und dann war­te­ten sie, wäh­rend die Tage ver­gin­gen, mit zu­neh­men­der Span­nung auf Herrn War­rens ver­spro­che­nen zwei­ten Be­such.

Er ließ auf sich war­ten. Nach zwei Wo­chen schrieb Dok­tor Dohm­ler. Als wei­ter­hin Schwei­gen herrsch­te, be­ging er, was man in je­nen Ta­gen »une fo­lie«2 nann­te und te­le­fo­nier­te das Grand Ho­tel in Ve­vey an, Er er­fuhr von Herrn War­rens Kam­mer­die­ner, dass sein Herr beim Pa­cken sei, um sich nach Ame­ri­ka ein­zu­schif­fen. Als dem Mann zu ver­ste­hen ge­ge­ben wur­de, dass die vier­zig Schwei­zer Fran­ken für den An­ruf in den Kli­nik­bü­chern er­schei­nen wür­den, reg­te sich in ihm das Blut der Schwei­zer Gar­de der Tui­le­ri­en, so dass er Herrn War­ren an den Ap­pa­rat rief.

»Es ist – un­be­dingt not­wen­dig –, dass Sie kom­men. Die Ge­sund­heit Ih­rer Toch­ter – al­les hängt da­von ab. Ich kann kei­ne Verant­wor­tung über­neh­men.«

»Aber ich bit­te Sie, Dok­tor, da­für sind Sie doch ge­ra­de da. Ich bin drin­gend nach Hau­se ab­ge­ru­fen wor­den!«

Dok­tor Dohm­ler hat­te noch nie mit je­mand ge­spro­chen, der so weit ent­fernt war, aber er brach­te sein Ul­ti­ma­tum te­le­fo­nisch mit so viel Fes­tig­keit vor, dass der Ame­ri­ka­ner am an­de­ren Ende in sei­ner To­des­angst nach­gab. Eine hal­be Stun­de nach sei­nem zwei­ten Ein­tref­fen am Zü­rich­see war War­ren zu­sam­men­ge­bro­chen, sei­ne schö­nen Schul­tern zuck­ten in dem gut sit­zen­den An­zug vor ver­zwei­fel­tem Schluch­zen, und sei­ne Au­gen wa­ren rö­ter als die Son­ne über dem Gen­fer See. Und sie hör­ten die ent­setz­li­che Ge­schich­te.

»Es ge­sch­ah eben«, sag­te er mit rau­er Stim­me. »Ich weiß nicht, wie.«

»Als ihre Mut­ter ge­stor­ben war, pfleg­te die Klei­ne je­den Mor­gen zu mir ins Bett zu kom­men, manch­mal schlief sie bei mir im Bett. Das klei­ne Ding tat mir leid. Oh, und da­nach, wenn wir im Auto oder in der Ei­sen­bahn ir­gend­wo­hin fuh­ren, pfleg­ten wir uns an der Hand zu hal­ten. Sie sang für mich. Oft sag­ten wir: ›Nun wol­len wir bis heu­te nach­mit­tag kei­nen an­de­ren Men­schen an­se­hen – wir wol­len nur für­ein­an­der da sein – heu­te vor­mit­tag ge­hörst du mir.‹« Sprö­der Sar­kas­mus kam in sei­nen Ton­fall: »Die Leu­te sag­ten im­mer, wie groß­ar­tig wir als Va­ter und Toch­ter wä­ren – und wisch­ten sich ge­rührt die Au­gen. Wir wa­ren wie ein Lie­bes­paar – und dann, un­ver­se­hens, wa­ren wir ein Lie­bes­paar – und zehn Mi­nu­ten, nach­dem es ge­sche­hen war, hät­te ich mich am liebs­ten er­schos­sen – das heißt, ich glau­be, ich bin so ein ver­dammt de­ge­ne­rier­ter Kerl, dass ich nicht den Schneid ge­habt hät­te, es zu tun.«

»Und dann?« frag­te Dok­tor Dohm­ler und dach­te wie­der an Chi­ca­go und an einen sanf­ten, blas­sen Herrn mit ei­nem Klem­mer, der ihn vor drei­ßig Jah­ren in Zü­rich ge­prüft hat­te. »Wie­der­hol­te sich das?«

»O nein! Sie ist bei­na­he – sie schi­en au­gen­blick­lich zu er­star­ren. Sie sag­te nur: ›Mach dir nichts draus, mach dir nichts draus, Dad­dy. Es tut nichts. Mach dir nichts draus.‹«

»Es hat­te kei­ne Fol­gen?«

»Nein.« Er wur­de von ei­nem kur­z­en, krampf­haf­ten Schluch­zen ge­schüt­telt und schnaub­te sich meh­re­re Male. »Das heißt, jetzt ha­ben wir Fol­gen im Über­fluss.«

Als War­ren mit sei­ner Ge­schich­te fer­tig war, lehn­te sich Dohm­ler in sei­nem Arm­ses­sel zu­rück und sag­te em­pört zu sich selbst: »Bau­er!« Es war eins der we­ni­gen hand­fes­ten Ur­tei­le, die er sich im Ver­lauf von zwan­zig Jah­ren an­ge­maßt hat­te. Dann sag­te er:

»Ich möch­te gern, dass Sie in ei­nem Ho­tel in Zü­rich über­nach­ten und mich mor­gen früh be­su­chen.«

»Und was dann?«

Dok­tor Dohm­ler spreiz­te sei­ne Hän­de so breit aus­ein­an­der, dass er ein jun­ges Schwein hät­te tra­gen kön­nen.

»Chi­ca­go«, schlug er vor.

(franz.) ein sehr ele­gan­ter Mann  <<<

(franz.) eine Dumm­heit  <<<

IV

»Nun wuss­ten wir, wo wir stan­den«, sag­te Franz. »Dohm­ler gab War­ren zu ver­ste­hen, dass wir den Fall über­neh­men wür­den, wenn er sich da­mit ein­ver­stan­den er­klär­te, sich auf un­be­grenz­te Zeit, min­des­tens je­doch auf fünf Jah­re, von sei­ner Toch­ter fern­zu­hal­ten. Nach War­rens an­fäng­li­chem Zu­sam­men­bruch schi­en er sich haupt­säch­lich da­für zu in­ter­es­sie­ren, ob je­mals et­was über die Ge­schich­te nach Ame­ri­ka durch­si­ckern wür­de.

Wir stell­ten einen Be­hand­lungs­plan für sie auf und war­te­ten. Die Pro­gno­se war schlecht – wie du weißt, ist der Pro­zent­satz der Hei­lun­gen, so­gar der­je­ni­gen, die nur dem Na­men nach Hei­lun­gen sind, in die­sem Al­ter sehr nied­rig.«

»Die ers­ten Brie­fe sa­hen schlimm aus«, stimm­te Dick zu.

»Sehr schlimm – sehr ty­pisch. Ich habe ge­zö­gert, ob ich den ers­ten aus der An­stalt her­aus­las­sen soll­te, dann dach­te ich, es wird Dick gut tun, zu wis­sen, dass wir hier wei­ter­ma­chen. Es war nett von dir, dass du auf sie geant­wor­tet hast.«

Dick seufz­te. »Sie war so ein lie­bes Ding. Sie füg­te eine Men­ge Fo­tos von sich bei. Und einen Mo­nat lang hat­te ich dort nichts zu tun. Al­les, was ich ihr schrieb, war: ›Sei­en Sie brav und tun Sie, was die Ärz­te sa­gen.‹«

»Das ge­nüg­te schon – so hat­te sie drau­ßen je­mand, an den sie den­ken konn­te. Eine Zeit lang hat­te sie kei­nen Men­schen – nur eine Schwes­ter, an der sie nicht sehr zu hän­gen scheint. Üb­ri­gens hat uns die Lek­tü­re ih­rer Brie­fe hier wei­ter­ge­hol­fen – sie wa­ren uns ein Maß­stab für ih­ren Zu­stand.«

»Das freut mich.«

»Du weißt also, wie die Din­ge la­gen. Sie fühl­te sich mit­schul­dig – an sich wäre das be­lang­los, wenn wir nicht ihre äu­ßers­te Stand­haf­tig­keit und Cha­rak­ter­fes­tig­keit wie­der­her­stel­len woll­ten. Zu­erst kam die­ser Schock, dann wur­de sie in eine Pen­si­on ge­steckt und hör­te die Mäd­chen un­ter­ein­an­der re­den – und aus pu­rem Selbst­schutz nähr­te sie in sich die Vor­stel­lung, dass sie nicht mit­schul­dig ge­we­sen sei – und von da war es leicht, in eine Fan­ta­sie­welt zu glei­ten, in der alle Män­ner um so schlech­ter sind, je mehr man sie liebt und ih­nen ver­traut.«

»Hat sie je­mals das – Schreck­li­che di­rekt er­wähnt?«

»Nein, und of­fen ge­sagt, als sie im Ok­to­ber etwa be­gann, einen nor­ma­len Ein­druck zu ma­chen, be­fan­den wir uns in ei­ner hei­klen Lage. Wäre sie drei­ßig Jah­re alt ge­we­sen, hät­ten wir ihr er­laubt, sich selbst zu­recht­zu­fin­den; aber sie war so jung, dass wir fürch­te­ten, sie kön­ne sich ver­här­ten, ver­krampft, wie al­les in ihr war. Da­rum sag­te Dok­tor Dohm­ler ganz of­fen zu ihr: ›Sie ha­ben jetzt Pf­lich­ten ge­gen sich selbst. Glau­ben Sie nicht, dass für Sie al­les zu Ende ist – Ihr Le­ben be­fin­det sich erst am An­fang‹, und so wei­ter und so wei­ter. Sie hat einen sehr gut ent­wi­ckel­ten Ver­stand, dar­um ließ er sie et­was Freud le­sen, nicht zu viel, und es in­ter­es­sier­te sie sehr. Tat­säch­lich wird sie von uns al­len hier ver­hät­schelt. Aber sie ist zu­rück­hal­tend«, füg­te er hin­zu; er zö­ger­te: »Wir hät­ten gern ge­wusst, ob sie in ih­ren letz­ten Brie­fen an dich, die sie selbst in Zü­rich auf­gab, ir­gend et­was ge­schrie­ben hat, was Auf­schluss über ih­ren Ge­müts­zu­stand und über ihre Zu­kunfts­plä­ne ge­ben könn­te.«

Dick über­leg­te.

»Ja und nein – ich kann die Brie­fe her­brin­gen, wenn du es willst. Sie scheint vol­ler Hoff­nung und in nor­ma­ler Wei­se le­bens­hung­rig zu sein – ja bei­na­he ro­man­tisch. Manch­mal spricht sie von der ›Ver­gan­gen­heit‹, wie Leu­te es tun, die im Ge­fäng­nis wa­ren. Man weiß nie, ob sie auf das Ver­bre­chen oder die Ge­fan­gen­schaft oder die Er­fah­rung als sol­che an­spie­len. Ei­gent­lich bin ich in ih­rem Le­ben nichts an­de­res als eine aus­ge­stopf­te Fi­gur.«

»Na­tür­lich, ich ver­ste­he dei­ne Lage ge­nau, und ich drücke dir von neu­em un­se­re Dank­bar­keit aus. Da­rum woll­te ich dich spre­chen, be­vor du sie siehst.«

Dick lach­te.

»Glaubst du, sie wird mit ei­nem Hecht­sprung auf mich los­ge­hen?«

»Nein, das nicht. Aber ich woll­te dich bit­ten, sehr be­hut­sam zu sein. Du be­sitzt An­zie­hungs­kraft auf Frau­en, Dick.«

»Dann hel­fe mir Gott! Also, ich wer­de be­hut­sam und ab­sto­ßend sein – ich wer­de je­des Mal Knob­lauch es­sen, be­vor ich zu ihr gehe, und mir Bart­stop­peln ste­hen las­sen. Ich wer­de sie zwin­gen, De­ckung zu neh­men.«

»Nein, nicht Knob­lauch!« sag­te Franz ernst­haft. »Du wirst doch dei­ner Kar­rie­re nicht scha­den wol­len? Aber viel­leicht scherzt du nur.«

»– und ich kann ein biss­chen hin­ken. Und je­den­falls gibt es da, wo ich woh­ne, kei­ne rich­ti­ge Ba­de­wan­ne.«

»Du scherzt wirk­lich.« Franz ent­spann­te sich oder nahm we­nigs­tens die Hal­tung ei­nes Men­schen an, der sich ent­spannt. »Nun er­zäh­le mir von dir und dei­nen Ab­sich­ten.«

»Ich habe nur eine Ab­sicht, Franz, und zwar die, ein gu­ter Psy­cho­lo­ge zu wer­den, ja viel­leicht der be­deu­tends­te, der je ge­lebt hat.«

Franz lach­te ver­gnügt, aber er sah, dass Dick dies­mal nicht spass­te.

»Das ist sehr gut – und sehr ame­ri­ka­nisch«, sag­te er. »Für uns ist es schwe­rer.« Er stand auf und trat an das fran­zö­si­sche Fens­ter. »Ich ste­he hier und bli­cke auf Zü­rich – dort ist der Turm des Groß­müns­ters. In sei­ner Gruft liegt mein Groß­va­ter. Jen­seits der Brücke ruht mein Vor­fahr La­va­ter, der in kei­ner Kir­che be­gra­ben sein woll­te. Nicht weit da­von be­fin­det sich das Stand­bild ei­nes an­de­ren Vor­fah­ren, Hein­rich Pe­sta­loz­zis, und das von Al­fred Escher. Und über al­lem ist im­mer Zwing­li – ich sehe mich stän­dig ei­ner Ehren­hal­le vol­ler Hel­den ge­gen­über.«

»Ja, ich ver­ste­he.« Dick er­hob sich. »Ich habe nur das Maul voll­ge­nom­men. Man fängt doch im­mer von neu­em an. Die meis­ten Ame­ri­ka­ner in Frank­reich sind ganz wild dar­auf, nach Hau­se zu fah­ren; ich nicht – ich be­zie­he noch bis Schluss des Jah­res Mi­li­tär­löh­nung, wenn ich nur an der Uni­ver­si­tät Vor­le­sun­gen höre. Eine groß­ar­ti­ge Re­gie­rung, die ihre künf­ti­gen großen Män­ner kennt! Dann fah­re ich auf einen Mo­nat nach Hau­se und be­su­che mei­nen Va­ter, und dann kom­me ich zu­rück – mir ist eine Stel­lung an­ge­bo­ten wor­den.«

»Wo?«

»Bei eu­rer Kon­kur­renz – Gis­lers Kli­nik in In­ter­la­ken.«

»Lass die Fin­ger da­von«, riet ihm Franz. »Ein Dut­zend jun­ger Leu­te war im Ver­lauf ei­nes Jah­res dort. Gis­ler selbst lei­det an ma­ni­schen De­pres­sio­nen, sei­ne Frau und ihr Lieb­ha­ber lei­ten die Kli­nik – aber du ver­stehst, das ist na­tür­lich ver­trau­lich.«

»Wie steht’s mit dei­nem Plan für Ame­ri­ka?« frag­te Dick leicht­hin. »Wir woll­ten nach New York ge­hen und eine mit al­len Schi­ka­nen aus­ge­rüs­te­te An­stalt für Mil­li­ar­däre grün­den.«

»Das war Stu­den­ten­ge­schwätz.«

Dick speis­te mit Franz, sei­ner jun­gen Frau und ei­nem klei­nen Hund, der nach ver­brann­tem Gum­mi roch, in ih­rem Häu­schen am Ran­de des Parks. Er fühl­te sich ir­gend­wie nie­der­ge­drückt, nicht durch die At­mo­sphä­re maß­vol­ler Ein­schrän­kung, auch nicht durch Frau Gre­go­ro­vi­us – mit ihr hat­te er im vor­aus ge­rech­net –, son­dern durch die plötz­li­che Ei­nen­gung des Ho­ri­zonts, mit der sich Franz an­schei­nend ab­ge­fun­den hat­te. Für ihn zeich­ne­ten sich die Gren­zen der As­ke­se an­ders ab – er konn­te sie als Mit­tel zum Zweck an­se­hen, ja als ruhm­vollen Zweck in sich, aber es fiel ihm schwer, sich vor­zu­stel­len, dass man sein Da­sein ab­sicht­lich auf den Zuschnitt ei­nes er­erb­ten An­zu­ges einen­gen konn­te. Den häus­li­chen Ges­ten Fran­zens und sei­ner Frau fehl­te es an An­mut und Tem­pe­ra­ment, wenn sie sich in be­eng­tem Raum be­weg­ten. Die Nach­kriegs­mo­na­te in Frank­reich und die Ab­wick­lun­gen, bei de­nen man mit ame­ri­ka­ni­scher Groß­zü­gig­keit mit Geld um sich warf, hat­ten Dicks Le­bens­auf­fas­sung be­ein­flusst. Auch hat­ten Män­ner und Frau­en viel von ihm her­ge­macht, und viel­leicht war, was ihn zum Mit­tel­punkt der großen Schwei­zer Uhr zu­rück­ge­bracht hat­te, die in­tui­ti­ve Er­kennt­nis, dass dies ei­nem ernst­haf­ten Mann nicht eben gut be­kam.

Er er­reich­te, dass Kä­the Gre­go­ro­vi­us sich be­zau­bernd vor­kam, wäh­rend ihn der al­les durch­drin­gen­de Blu­men­kohl­ge­ruch zu­neh­mend be­un­ru­hig­te. Gleich­zei­tig ver­ab­scheu­te er sich we­gen die­ses ers­ten Sta­di­ums ei­ner ihm bis da­hin un­be­kann­ten Ober­fläch­lich­keit.

»Mein Gott, bin ich letz­ten En­des doch wie die an­de­ren?« frag­te er sich in Ge­dan­ken, als er des Nachts nicht schla­fen konn­te. »Bin ich wie die an­de­ren?«

Da war un­zu­rei­chen­des Ma­te­ri­al für einen So­zia­lis­ten, aber gu­tes Ma­te­ri­al für einen von der Sor­te, die auf der Welt die un­ge­wöhn­lichs­ten Auf­ga­ben zu er­fül­len hat. In Wahr­heit durch­leb­te er seit ei­ni­gen Mo­na­ten die Tren­nung vom Land der Ju­gend, in der es sich ent­schei­det, ob es sich für et­was zu ster­ben lohnt, wor­an man nicht mehr glaubt. In den to­ten, fah­len Stun­den in Zü­rich, wenn er über eine auf­flam­men­de Stra­ßen­la­ter­ne hin­weg in eine frem­de Vor­rats­kam­mer starr­te, pfleg­te er den Vor­satz zu fas­sen, gut zu sein, gü­tig zu sein, tap­fer und wei­se zu sein, aber es war al­les sehr schwie­rig. Er woll­te auch ge­liebt wer­den, wenn er dazu Zeit fin­den wür­de.

V

Die Ve­ran­da des Mit­tel­ge­bäu­des er­hielt ihr Licht aus den of­fe­nen fran­zö­si­schen Fens­tern, aus­ge­nom­men dort, wo die schwar­zen Schat­ten kah­ler Wän­de und die fan­tas­ti­schen Schat­ten von Ei­sen­stüh­len un­merk­lich in ein Gla­dio­len­beet hin­ab­glit­ten. Un­ter den Ge­stal­ten, die zwi­schen den Zim­mern hin und her husch­ten, war Fräu­lein War­ren zu­nächst nur hin und wie­der sicht­bar, um dann, als sie Dick be­merk­te, völ­lig in Er­schei­nung zu tre­ten. Als sie die Schwel­le der Glas­tür über­schritt, fing ihr Ge­sicht den letz­ten Licht­schein aus dem Zim­mer auf und trug ihn mit sich nach drau­ßen. Sie be­weg­te sich nach ei­nem Rhyth­mus – die­se gan­ze Wo­che klang ihr ein Sin­gen im Ohr, Som­mer­ge­sän­ge von feu­ri­gen Him­meln und wil­den Schat­ten, und seit Dicks Ein­tref­fen war das Sin­gen so laut ge­wor­den, dass sie am liebs­ten ein­ge­stimmt hät­te.

»Gu­ten Tag, Cap­tain«, sag­te sie, ihre Au­gen mit Mühe von sei­nen lö­send, so als wä­ren sie fest mit­ein­an­der ver­haf­tet ge­we­sen. »Sol­len wir uns hier drau­ßen hin­set­zen?« Sie blieb ste­hen und ließ ihre Bli­cke eine Wei­le um­her­schwei­fen. »Der rei­ne Som­mer.«

Eine Frau war ihr ge­folgt, eine un­ter­setz­te Frau mit ei­nem Um­schla­ge­tuch, und Ni­co­le stell­te Dick vor: »Seño­ra –«

Franz ent­schul­dig­te sich, und Dick rück­te drei Stüh­le zu­sam­men.

»Was für eine wun­der­ba­re Nacht«, sag­te die Seño­ra.

»Muy bel­la«,1 stimm­te Ni­co­le zu, dann zu Dick: »Blei­ben Sie lan­ge hier?«

»In Zü­rich blei­be ich lan­ge, wenn Sie das mei­nen.«

»Dies ist wirk­lich die ers­te rich­ti­ge Früh­lings­nacht«, ließ sich die Seño­ra ver­neh­men.

»Für im­mer?«

»Min­des­tens bis Juli.«

»Ich gehe im Juni von hier fort.«

»Der Juni ist hier ein schö­ner Mo­nat«, be­merk­te die Seño­ra. »Sie soll­ten den Juni über hier­blei­ben und erst im Juli fah­ren, wenn es zu heiß wird.«

»Wo­hin ge­hen Sie?« frag­te Dick Ni­co­le.

»Ir­gend­wo­hin, mit mei­ner Schwes­ter – ich hof­fe, ir­gend­wo­hin, wo et­was los ist, denn ich habe ja so viel Zeit ver­lo­ren. Aber viel­leicht ist man der Mei­nung, ich soll­te zu­nächst an einen ru­hi­gen Ort – viel­leicht Como. Wa­rum kom­men Sie nicht auch nach Como?«

»Ach, Como –«, setz­te die Seño­ra an.

Im Hau­se be­gann ein Trio, »Leich­te Ka­val­le­rie« von Suppé zu spie­len. Das be­nutz­te Ni­co­le, um auf­zu­ste­hen, und der Ein­druck, den ihre Ju­gend und Schön­heit auf Dick mach­ten, wur­de im­mer stär­ker, bis ihn eine hef­ti­ge Ge­fühls­wel­le durch­ström­te. Sie lä­chel­te, ein rüh­rend kind­li­ches Lä­cheln, in dem die gan­ze ver­lo­re­ne Ju­gend der Welt lag.

»Die Mu­sik ist zu laut, um sich da­bei zu un­ter­hal­ten. Ob wir nicht et­was her­um­ge­hen? Buen­as no­ches, Seño­ra.«2

»Gutt Nacht – gutt Nacht.«

Sie gin­gen zwei Stu­fen hin­ab auf den Weg – der im Schat­ten lag. Sie nahm Dicks Arm.

»Ich habe ein paar Gram­mo­phon­plat­ten, die mir mei­ne Schwes­ter aus Ame­ri­ka ge­schickt hat«, sag­te sie. »Wenn Sie das nächs­te Mal her­kom­men, wer­de ich sie Ih­nen vor­spie­len – ich weiß eine Stel­le, wo man das Gram­mo­phon hin­stel­len kann, und wo es nie­mand hört.«

»Fein.«

»Ken­nen Sie ›Hin­do­stan‹?« frag­te sie ernst. »Ich hat­te es noch nie ge­hört, aber es ge­fällt mir. Dann habe ich noch ›Why do they call them ba­bies?‹ und ›I’m glad I can make you cry‹. Wahr­schein­lich ha­ben Sie in Pa­ris nach all die­sen Me­lo­di­en ge­tanzt.«

»Ich war gar nicht in Pa­ris.«

Ihr krem­far­be­nes Kleid, das beim Ge­hen manch­mal blau und manch­mal grau schim­mer­te, und ihr sehr blon­des Haar ver­wirr­ten Dick – je­des Mal, wenn er sich ihr zu­wand­te, lä­chel­te sie ein we­nig, und ihr Ge­sicht leuch­te­te auf wie ein En­gel­sant­litz, wenn sie in den Be­reich ei­ner Bo­gen­lam­pe ka­men. Sie be­dank­te sich für al­les bei ihm, fast, als habe er sie auf eine Ge­sell­schaft mit­ge­nom­men, und wäh­rend Dick all­mäh­lich die Über­sicht über sei­ne Be­zie­hung zu ihr ver­lor, wuchs ihre Zu­ver­sicht – sie be­fand sich in ei­nem Zu­stand der Er­re­gung, der die Er­re­gung der gan­zen Welt wi­der­zu­spie­geln schi­en.

»Man lässt mir hier jeg­li­che Frei­heit«, sag­te sie. »Ich wer­de Ih­nen zwei hüb­sche Lie­der vor­spie­len: ›Wait till the cows come ho­me‹ und ›Good-bye, Alex­an­der‹.«

Das nächs­te Mal, eine Wo­che dar­auf, ver­spä­te­te er sich, und Ni­co­le er­war­te­te ihn an ei­ner Stel­le des We­ges, an der er, wenn er von Fran­zens Hau­se kam, vor­bei­kom­men muss­te. Ihr Haar, über den Ohren zu­rück­ge­stri­chen, fiel so auf ihre Schul­tern hin­ab, dass es aus­sah, als sei ihr Ge­sicht ge­ra­de aus ihm zum Vor­schein ge­kom­men, als sei dies ge­nau der Au­gen­blick, in dem sie aus ei­nem Wald in kla­ren Mon­den­schein her­austrat. Das Un­be­kann­te hat­te sie her­vor­ge­bracht: Dick wünsch­te, sie hät­te kei­ne Bin­dun­gen, sie wäre wei­ter nichts als ein ver­lo­re­nes Kind mit kei­ner an­de­ren Heim­stät­te als der Nacht, aus der sie ge­kom­men war. Sie gin­gen zu dem Ver­steck, wo sie das Gram­mo­phon ge­las­sen hat­te, bo­gen bei der Werk­statt um die Ecke, klet­ter­ten auf einen Fels­block und setz­ten sich hin­ter eine nied­ri­ge Mau­er – vor sich end­los wo­gen­de Nacht.

Sie wa­ren jetzt in Ame­ri­ka; selbst Franz, der Dick für einen un­wi­der­steh­li­chen Schür­zen­jä­ger hielt, wäre nie dar­auf ge­kom­men, dass sie so weit weg wa­ren. Es tat ih­nen so leid, Lieb­ling; sie gin­gen hin­un­ter, um sich in ei­nem Taxi zu tref­fen, Ho­ney; sie hat­ten eine Vor­lie­be für Lä­cheln und hat­ten sich in Hin­dos­tan ken­nen­ge­lernt, und bald da­nach muss­ten sie sich ge­zankt ha­ben, denn nie­mand wuss­te Nä­he­res, und nie­mand schi­en sich et­was dar­aus zu ma­chen – schließ­lich aber hat­te ei­ner von ih­nen den an­de­ren wei­nend zu­rück­ge­las­sen, nur um selbst schwer­mü­tig und trau­rig zu sein.

Die dün­nen Klän­ge, die ent­schwun­de­ne Zei­ten und künf­ti­ge Hoff­nun­gen mit­ein­an­der ver­ban­den, rank­ten sich an der wa­li­si­schen Nacht em­por. Wenn das Gram­mo­phon schwieg, ließ sich das ein­tö­ni­ge Zir­pen ei­ner Gril­le ver­neh­men. Nach und nach hör­te Ni­co­le auf, den Ap­pa­rat spie­len zu las­sen, und sang für Dick.

»Leg einen Sil­ber­dol­lar auf den Grund, sieh, wie er rollt, denn er ist rund –«

Ihren leicht ge­öff­ne­ten Lip­pen ent­schweb­te kein Atem mehr. Dick stand un­ver­mit­telt auf.

»Was ist? Ge­fällt es Ih­nen nicht?«

»Na­tür­lich ge­fällt es mir.«

»Die­ses hab’ ich von un­se­rer Kö­chin zu Hau­se ge­lernt:

›Ei­ne Frau hat erst dann einen wirk­lich gu­ten Mann, wenn sie ihn aus­schilt dann und wann …‹

Ge­fällt es Ih­nen?«

Sie lä­chel­te ihn an und be­müh­te sich, in ihr Lä­cheln al­les zu le­gen, was in ihr war, und es auf ihn zu über­tra­gen und brach­te sich ihm da­mit zum Ge­schenk dar und woll­te selbst so we­nig da­für, nur einen klei­nen Wi­der­hall, nur die Ge­wiss­heit, dass auch er in­ner­lich er­beb­te. Lang­sam und sacht ström­te die Süße der Wei­den­bäu­me, die Süße der dunklen Welt in sie ein.

Sie er­hob sich eben­falls, stol­per­te über das Gram­mo­phon und wur­de von Dick auf­ge­fan­gen, wo­bei sie sich einen Au­gen­blick lang in sei­ne run­de Schulter­höh­lung schmieg­te.

»Ich habe noch eine Plat­te«, sag­te sie. »Ha­ben sie ›So long, Let­ty‹ ge­hört? Si­cher doch.«

»Nein, wirk­lich, glau­ben Sie mir. Ich habe über­haupt nichts ge­hört.«

Noch ge­wusst, noch ge­ro­chen, noch ge­spürt, hät­te er hin­zu­fü­gen kön­nen; nur Mäd­chen mit hei­ßen Wan­gen in hei­ßen, ver­schwie­ge­nen Zim­mern. Die Mäd­chen, die er 1914 in New Ha­ven ge­kannt hat­te, küss­ten einen Mann, in­dem sie »So!« sag­ten und die Hän­de ge­gen sei­ne Brust stemm­ten, um ihn weg­zu­sto­ßen. Und hier nun war die­ses kaum erst dem Ver­der­ben ent­ris­se­ne hei­mat­lo­se Kind und ver­kör­per­te ihm den In­be­griff ei­ner Welt …

(span.) Sehr schön  <<<

(span.) Gute Nacht, gnä­di­ge Frau  <<<

VI

Als er sie das nächs­te Mal sah, war es Mai. Der Lunch in Zü­rich war eine Vor­sichts­maß­nah­me; of­fen­sicht­lich streb­te die fol­ge­rich­ti­ge Ent­wick­lung sei­nes Le­bens von dem Mäd­chen fort; doch als ein Frem­der vom Ne­ben­tisch sie mit Au­gen an­starr­te, die wie ein un­er­laub­tes Licht be­un­ru­hi­gend glüh­ten, wand­te er sich dem Mann in welt­män­nisch ein­schüch­tern­der Wei­se zu und durch­kreuz­te sei­nen Blick.

»Er war nur neu­gie­rig«, er­klär­te er mun­ter. »Er hat sich nur Ihre Klei­der an­ge­se­hen. Wa­rum ha­ben Sie so vie­le ver­schie­de­ne Klei­der?«

»Mei­ne Schwes­ter sagt, wir wä­ren sehr reich«, ver­setz­te sie be­schei­den, »seit Groß­mut­ter tot ist.«

»Ich ver­zei­he Ih­nen.«

Er war um so viel äl­ter als Ni­co­le, dass ihm ihre ju­gend­li­chen Ei­tel­kei­ten und Ver­gnü­gun­gen Spaß mach­ten, die Art zum Bei­spiel, wie sie beim Ver­las­sen des Lo­kals ganz bei­läu­fig vor dem Spie­gel in der Hal­le ste­hen­blieb, so dass sie sich in dem un­be­stech­li­chen Queck­sil­ber wie­der­fin­den konn­te. Er war ent­zückt, wenn sie mit ih­ren Hän­den neue Ok­ta­ven zu grei­fen such­te, jetzt, da sie wuss­te, dass sie schön und reich war. Er gab sich red­li­che Mühe, in ihr nicht die fixe Idee auf­kom­men zu las­sen, er habe sie wie­der zu­sam­men­ge­flickt, und er war froh zu se­hen, wie sie Glück und Zu­ver­sicht un­ab­hän­gig von ihm wie­der­er­lang­te. Die Schwie­rig­keit lag dar­in, dass Ni­co­le mög­li­cher­wei­se mit al­len Din­gen zu ihm kom­men und sie ihm als köst­li­che Op­fer­ga­ben, als Zei­chen ih­rer An­be­tung zu Fü­ßen le­gen könn­te.

In der ers­ten Som­mer­wo­che hat­te sich Dick wie­der in Zü­rich ein­ge­rich­tet. Er hat­te sei­ne Bro­schü­ren und was er wäh­rend sei­ner Dienst­zeit ge­schrie­ben hat­te, so zu­sam­men­ge­stellt, dass es ihm bei sei­ner Durch­sicht von »Eine Psy­cho­lo­gie für Psych­ia­ter« als Vor­la­ge die­nen konn­te. Er hat­te be­reits einen Ver­le­ger da­für und stand in Be­zie­hung zu ei­nem ar­men Stu­den­ten, der sei­ne deut­schen Sprach­feh­ler aus­mer­zen woll­te. Franz hielt die Sa­che für über­eilt, aber Dick wies auf die ent­waff­nen­de An­spruchs­lo­sig­keit des The­mas hin.

»Das ist ein Stoff, den ich nie wie­der so gut be­herr­schen wer­de«, be­harr­te er. »Ich habe so eine Ah­nung, als sei dies ein The­ma, das nur dar­um nicht grund­le­gend ist, weil ihm nie­mals we­sent­li­che Aner­ken­nung zu­teil wur­de. Die Schwä­che die­ses Be­rufs liegt in sei­ner An­zie­hungs­kraft für den et­was brest­haf­ten und schwäch­li­chen Men­schen. In­ner­halb der Gren­zen des Be­rufs fin­det er eine Ent­schä­di­gung dar­in, dass er sich dem Kli­ni­schen, dem Prak­ti­schen zu­wen­det – er hat sei­ne Schlacht kampf­los ge­won­nen. Du hin­ge­gen bist ein tüch­ti­ger Mann, Franz, weil das Schick­sal dich, be­vor du ge­bo­ren wur­dest, für dei­nen Be­ruf be­stimmt hat. Du kannst Gott dan­ken, dass du kei­ne ›An­fech­tung‹ ge­habt hast. Ich bin Psych­ia­ter ge­wor­den, weil in St. Hil­da in Ox­ford ein Mäd­chen war, das die­sel­ben Vor­le­sun­gen hör­te wie ich. Vi­el­leicht klingt es ba­nal, aber ich will nicht, dass mir mei­ne ge­gen­wär­ti­gen Ge­dan­ken von ein paar Dut­zend Glas Bier weg­ge­schwemmt wer­den.«

»Schon rich­tig«, ver­setz­te Franz. »Du bist Ame­ri­ka­ner. Du kannst so et­was ohne be­ruf­li­che Schä­di­gung tun. Ich mag die­se Ver­all­ge­mei­ne­run­gen nicht. Bald wirst du klei­ne Bü­cher schrei­ben, be­ti­telt ›Tie­fe Ge­dan­ken für den Lai­en‹, die al­les so ver­ein­fa­chen, dass sie ga­ran­tiert kei­ner­lei Nach­den­ken ver­ur­sa­chen. Wenn mein Va­ter noch am Le­ben wäre, Dick, wür­de er dich an­se­hen und brum­men. Er wür­de sei­ne Ser­vi­et­te so zu­sam­men­fal­ten und sei­nen Ser­vi­et­ten­ring hoch­hal­ten, die­sen hier«, – er hielt ihn hoch, ein Wild­schwein­kopf war in das brau­ne Holz ge­schnitzt, – »und er wür­de sa­gen: ›Al­so, mei­ner An­sicht nach‹ – dann wür­de er dich an­se­hen und den­ken: ›Was hat es für einen Zweck?‹, wür­de ab­bre­chen und wie­der brum­men, und dann wä­ren wir beim Ende des Es­sens an­ge­langt.«