Zaungast - Christiane Wünsche - E-Book

Zaungast E-Book

Christiane Wünsche

4,9

Beschreibung

Matthias Hellmann starb am Ufer des Kaarster Sees an einer Überdosis Rauschgift. Nun steht Nele Liebert am Grab ihrer Jugendliebe und belauscht ein rätselhaftes Gespräch. Zwei Fremde wollen sich vergewissern, dass Matthias tatsächlich tot ist: Jahrzehntelang wurden sie von ihm erpresst, doch die Forderungen gehen nach seinem Tod weiter ... Nele gerät unter Druck - und wird zu Ermittlerin wider Willen.

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Christiane Wünsche, 1966 in Lengerich in Westfalen geboren, lebt seit ihrem vierten Lebensjahr in Kaarst am Niederrhein und ist dort in der Kinder- und Jugendarbeit tätig. Bereits als Kind wollte sie Schriftstellerin werden. Heute schreibt sie sozialkritische Kriminalromane und verfasst Gedichte. Christiane Wünsche hat eine Tochter, zwei Hunde und einen Oldtimerwohnwagen, in dem sie gern quer durch Europa reist.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlung, Personen und manche Orte sind frei erfunden oder wurden für die Glaubhaftigkeit der Geschichte verändert.

© 2014 Emons Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: Heinz Wohner/LOOK-foto Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch Gestaltung Innenteil: César Satz & Grafik GmbH, Köln Lektorat: Dr. Hanna Stegbauer eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-86358-641-6 Niederrhein Krimi Originalausgabe

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Das Loch in der Mauer

Seh’n beide Seiten

Auf die Dauer.

Neugier wird sie dazu bewegen,

Ein Auge an das Loch zu legen.

So können sie sich erblicken,

Sei’s mit Erschrecken,

Sei’s mit Entzücken.

Prolog

Der Morgen war dunstig, das Licht diffus. Die Kiefern, die die Lichtung umsäumten, standen wie verschwiegene Wächter da. Ihn fröstelte. Von allen Seiten schienen die Brombeerranken auf ihn zuzukriechen, nicht etwa um ihn zu vertreiben, sondern um ihn zu begrüßen. Und der grüne Teppich unter seinen Füßen, gewebt aus Moos, Flechten und Gras, fühlte sich watteweich an.

Die Natur hatte die Fichtenlichtung zurückerobert. Offenbar war hier seit Ewigkeiten kein Mensch mehr gewesen. Und falls noch irgendwo Müll herumlag, hatte das Grün ihn überwuchert. Der stille kleine Ort wirkte genauso unberührt wie damals, als die Freunde ihn voll des kindlichen Staunens, von Forschergeist und Abenteuerlust angetrieben, entdeckt hatten.

Die Entweihung war rückgängig gemacht worden. Das Böse hatte die Fichtenlichtung verlassen. Und das Blut, das hier geflossen war, war lange fortgewaschen.

Der Besucher kehrte der Fichtenlichtung den Rücken, ging über den schmalen, dornenüberwucherten, fast unsichtbaren Pfad zurück auf den Waldweg und schaute sich nicht um. Damit dieser Ort seine wiedergewonnene Reinheit behalten konnte, musste er gehen.

Unwiederbringlich

Nele

Das Gefühl, etwas Verbotenes zu tun, ließ ihren Bauch rumoren. Mit zusammengekniffenen Augen starrte sie durch die beschlagene Windschutzscheibe in die Dunkelheit. Der Regen, der gegen die Scheibe klatschte, und die hin- und herschwingenden Scheibenwischer erschwerten die Sicht auf die Straße.

»Im Schutze der Dunkelheit, von wegen.« Sie schüttelte den Kopf über ihr idiotisches Vorhaben. Auf dem Büttger Friedhof würde es am frühen Abend dieses sechsten Novembers absolut finster sein. Dunkel, nass und kalt – der Besuch am Grab versprach eine Tortur zu werden, für sie selbst, für ihre Klamotten und vor allem für die Schuhe.

Aber immerhin konnte Nele ziemlich sicher sein, ungesehen die Blumen ablegen zu können. Bei dem Wetter würde wohl kaum irgendwer auf die Idee kommen, Grabpflege zu betreiben. Und genau deshalb war jetzt der richtige Zeitpunkt.

Sie schämte sich, aber vor allem vor sich selbst. Welches Recht hatte sie, herzukommen und jemanden zu betrauern, dem sie vor neunzehn Jahren nicht nur den Rücken gekehrt, sondern den sie auch noch aus dem Gedächtnis gestrichen hatte? Für viele Jahre.

Doch den eigenen Lebenslauf so zurechtzubiegen, dass Teile der Vergangenheit nicht mehr damit verzahnt waren, konnte nur auf begrenzte Zeit funktionieren. Irgendwann trudelten die unterdrückten Elemente unweigerlich an die Oberfläche, um klarzustellen: Du bist das, was du getan, gefühlt, gedacht und erlebt hast. Vielleicht mehr, aber auf keinen Fall weniger.

Für Nele war die Nachricht von seinem Tod im Oktober letzten Jahres der Auslöser gewesen. Kurz vor Weihnachten hatte sie per Zufall davon erfahren. Nach dem Schock erinnerte sie sich plötzlich wieder an alles. Wie im Zeitraffer zog eine Flut von Bildern an ihrem inneren Auge vorbei. Mit affenartiger Geschwindigkeit wurde die Verbindung zur Vergangenheit wiederhergestellt. Klick, eingerastet.

Und der Zwang, ihm nahe zu sein, ließ sich nicht mehr unterdrücken. Daher die heimlichen Besuche am Grab.

Sie parkte den Wagen auf dem Parkplatz vor dem Altenheim am Nebeneingang des Friedhofs. Nachdem sie nach den in Papier eingeschlagenen Blumen auf dem Beifahrersitz gegriffen hatte, holte sie tief Luft und sprang aus dem Auto.

Regen und Kälte schlugen ihr entgegen. Der Friedhof verschluckte sie in einem Meer aus schwarzen Schatten. Ihr Magen ballte sich nervös zusammen, während sie sich an den richtigen Weg durch die Grabreihen zu erinnern versuchte.

»Mistwetter«, schimpfte sie. Der Wind riss an ihrem Haar, aus dem bald das Wasser tropfte. So wie an einem anderen, weit zurückliegenden sechsten November, in einem anderen, unschuldigeren Leben.

Die Erinnerung stieg dermaßen machtvoll in ihr auf, dass ihr schwindelig wurde und sie auf dem schlammigen Boden fast ausgerutscht wäre.

6.11.1988 – Sie war durch den Regen mit Mamas Auto die kurze Strecke vom Elternhaus bis zu dem in Grau und Grün gestrichenen Mehrparteienhaus direkt gegenüber dem Kaarster Bahnhof gefahren. Das sperrige Geschenk hatte sie zunächst im Kofferraum gelassen. Fest in die gefütterte Winterjacke gewickelt und dennoch fröstelnd, hatte sie an der Haustür geklingelt, bis endlich von drinnen der elektrische Türöffner betätigt wurde. Hastig stieß sie die Haustür auf und lief die paar Treppenstufen hinunter ins Souterrain.

Er lehnte im Türrahmen und lächelte sein einzigartiges schiefes Lächeln, das bis in die grauen Augen strahlte. Kopflos überließ sie sich seiner festen Umarmung, schmiegte sich an ihn, nahm seine Wärme in sich auf, genoss das wohlige Ziehen im Unterbauch und streichelte die weiche Haut an seinen Armen und im Nacken. Sie versank in ihrer Verliebtheit, und sie war sich vollkommen sicher, dass ihre Gefühle mit der gleichen Heftigkeit erwidert wurden.

»Alles Liebe zum Geburtstag«, flüsterte sie in sein Ohr.

So lange her, dachte sie traurig, während sie weiter über den Weg zwischen den Gräbern und den zu Zylindern getrimmten Lebensbäumen hastete, und die Chance, ihm je wieder in die Augen zu sehen, sein Herz klopfen zu hören, Haut an Haut, war vertan. Für immer. Denn vor etwas mehr als einem Jahr war er gestorben, ganz plötzlich.

Damals, im Juni ’89, war es ihr lebensnotwendig erschienen, den Kontakt abzubrechen. In Sicherheit hatte sie sich bringen wollen. Heute hielt sie die Entscheidung für unverzeihlich. Unwiederbringlich hatte sie ihn verloren. Konnte man irgendetwas mehr bedauern als das? Und auch deshalb war sie hier: um den Fehler von damals wiedergutzumachen, obwohl sie doch wusste, dass es unmöglich war.

»Ich vermisse dich. Du fehlst mir.« Wie gern hätte sie ihre Worte an den energiegeladenen Mann, an den sie sich erinnerte, gerichtet anstatt an einen Grabstein über einem verrottenden Körper. Trotzdem würde sie es tun; es war ein hilfloser Versuch, Abbitte zu leisten.

Verwirrt hielt sie inne. War sie an der Grabreihe vorbeigelaufen? Nein, sie war richtig, direkt links ragte der kitschige weiße Marmorengel auf, an dem sie sich beim letzten Mal orientiert hatte. Sie brauchte nur noch auf den nächsten Pfad rechts abzubiegen.

In dem Moment hörte sie Stimmen, die durch Regen und Wind zu ihr herüberwehten, eine männliche und eine weibliche. Etwa aus der Richtung, die sie anstrebte.

Sofort fühlte sie sich ertappt. Jetzt seiner Mutter, seinem Bruder oder gar seiner Exfrau zu begegnen, wäre wirklich katastrophal! Unwillkürlich duckte sie sich hinter einen Rhododendronbusch, musste ein hysterisches Kichern unterdrücken und lauschte den Stimmen. Sie war sich sicher, nicht bemerkt worden zu sein. Noch nicht. Aber wegschleichen ging nicht. Also verharrte sie in ihrer gebückten Position und spähte hinter dem Busch hervor. Es war so dunkel, dass sie wirklich nur die Umrisse der Leute erkennen konnte. Jetzt blitzte ein schwaches Licht auf. Eine der Personen benutzte ein Handy als Taschenlampe.

»Hab ich es dir nicht gesagt? Das Arschloch ist tot«, hörte sie die weibliche Stimme sagen. »Erster Oktober, letztes Jahr.«

Hinter ihrem Rhododendronbusch stöhnte Nele auf. Der erste Oktober war Matthias Hellmanns Todestag. Die Leute da standen tatsächlich vor seinem Grab. Familienangehörige waren das aber bestimmt nicht, denn die brauchten sich nicht erst anhand einer Grabinschrift des Datums zu versichern.

»Tatsächlich. Du und der Dicke, ihr hattet recht!« Das war der Mann. Er klang verärgert. »Da war er längst tot und begraben. Aber von wem stammt dann der Brief, wenn Hellmann es nicht gewesen sein kann?«

»Woher soll ich das wissen?« Die Frau sprach mit deutlicherer Betonung und war daher viel besser zu verstehen als der Mann. »Vielleicht hat er nicht dichtgehalten, wie er behauptet hat. Wer weiß? Oder irgendwer hat die Beweise gefunden und verwendet sie jetzt. Keine Ahnung! Aber wenn wir nicht ewig weiterzahlen wollen, müssen wir das rausfinden und dem Ganzen einen Riegel vorschieben.«

Der Mann brummelte etwas Unverständliches, dann kam Bewegung in die Szene. Die Gestalten entfernten sich vom Grab, in Richtung Hinterausgang, zu Hallenbad und Radsporthalle hin. Weg von ihr, Gott sei Dank! Sie wartete, bis die beiden ganz von der Dunkelheit verschluckt worden waren, und richtete sich dann auf.

Erst als alle Anspannung von ihr gewichen war, merkte sie, dass sie am ganzen Leib zitterte. Jetzt wollte sie es nur noch hinter sich bringen. Sie tappte über den inzwischen sehr rutschigen Weg die paar Schritte hin zum Grab.

»Matthias Hellmann 06.11.1967 – 01.10.2007«. Sie konnte die eingemeißelten Zeichen in dem Naturstein nur erahnen. Noch nicht mal vierzig war er geworden. Gefunden hatte man ihn erst zwei Tage nach seinem Tod, am Tag der Deutschen Einheit, am Nordufer des Kaarster Sees, nur wenige Kilometer entfernt von hier. In der Presse hieß es, er sei an Herzversagen gestorben aufgrund der Überdosis irgendeiner harten Droge. Es war ihr ein kleiner Trost, dass das Letzte, was er in dieser Welt gesehen hatte, der See gewesen war. Er hatte ihn gemocht, vor allem in der kalten Jahreszeit. »Hier krieg ich immer einen klaren Kopf«, hatte er ihr bei einem Spaziergang verraten.

Sie wurde so traurig, dass es kaum auszuhalten war. Unwiederbringlich. Schnell bückte sie sich und legte die inzwischen ziemlich zerdrückten Blumen zu den anderen.

»Alles Liebe zum Geburtstag«, flüsterte sie, während der Schmerz ihr fast die Luft nahm. Sie straffte sich. Dann ging sie.

Kaum saß Nele im Auto, vertrieb ihr der Blick auf die Uhr im Armaturenbrett alle Muße zum Trauern. Halb acht schon! Zu Hause war sie längst überfällig. Die vierzehnjährige Greta und ihre zwei Jahre jüngere Schwester Anne wunderten sich garantiert, wo sie blieb. Die beiden Typen auf dem Friedhof hatten Neles Zeitmanagement durcheinandergebracht. Schon allein darum waren sie ihr von Grund auf unsympathisch. Und dann dieser sonderbare Auftritt an Matthias’ Grab!

Energisch schob sie den Gedanken beiseite und konzentrierte sich auf das Essen, das sie gleich zubereiten würde: Penne mit zweierlei Soße, geriebenem Parmesan und Salat. Das würde Marc schmecken.

Der Gedanke an Marc führte sie unwillkürlich zur Kleiderfrage. Was sollte sie anziehen? Würde sie es noch schaffen, zu duschen, die Haare zu waschen und zu föhnen und sich dann auch noch zu schminken? Marc hatte sich für halb neun angesagt. Das wurde knapp. Zackig fuhr sie vor ihrem Häuschen im Kaarster Ortsteil Vorst vor.

Chris

Es war halb acht an einem verregneten Donnerstagabend im November. Hier saß er … allein. Ohne Susanne, ohne die Kinder, ohne Perspektive. Im Aus seit fast einem Jahr. Chris öffnete sich das zweite Bier und warf sich wieder in den Sessel vor dem Fernseher. Bunte Bilder. Er hatte den Ton abgestellt, damit er den Anruf, wenn er denn kam, auch wirklich hören würde. Jetzt, kurz vor dem Zubettgehen, verspürten Jan und Lisa manchmal den Wunsch, ihn anzurufen, um Gute Nacht zu sagen. Und ab und zu erlaubte Susanne es sogar.

Erlauben, dachte er bitter, den eigenen Vater anrufen zu dürfen! Jeden normalen Umgang mit seinen Kindern, jedes Recht eines Vaters, jede Spur von Familienleben hatte sie aus seinem Leben getilgt. Eigentlich müsste er sie dafür hassen, konnte es aber nicht. Zu sehr vermisste und liebte er sie. Wie könnte er auch anders? Sie waren so lange zusammen gewesen, dass er sich an die Zeit davor kaum erinnern konnte. Hatte er sich damals als vollständig empfunden? Keine Ahnung. Nicht wie jetzt jedenfalls, zerrissen und haltlos, als ein unbrauchbarer und kaputter Teil eines ehemals funktionierenden Ganzen. Das Verrückte war, dass er genau wusste und doch nicht begreifen konnte, dass Susanne sich durchaus komplett fühlte. Sie blühte auf, während er abstarb wie der gekappte Ast eines Baumes.

Die Zeit verstrich. Schon nach acht. Jetzt lagen die Kinder längst im Bett. Kinder brauchen Regeln und Regelmäßigkeit, das war einer von Susannes Lieblingssprüchen. Die Gewissheit, dass er die Stimmen seiner Kinder heute nicht mehr hören würde, ließ ihn resignieren.

Er stellte den Ton am Fernseher wieder an, steckte sich eine Zigarette zwischen die Lippen und zündete sie mit dem Feuerzeug an, das er auch zum Bierflaschenöffnen benutzte. Fast zwanzig Jahre lang war er Nichtraucher gewesen. Unmittelbar nach der Trennung hatte er wieder angefangen. Warum auch nicht? Wen kümmerte schon seine Gesundheit? Ihn selbst am allerwenigsten. Die Kinder wuchsen weiterhin in reiner Luft auf. Und wenn sie mal hier in seiner kleinen Zwei-Zimmer-Wohnung übernachteten, was selten genug vorkam, dann lüftete er vorher durch und riss sich einigermaßen zusammen.

Plötzlich klingelte das Telefon doch noch und riss ihn aus seinen trüben Gedanken. Hektisch griff er nach dem Hörer und warf dabei die Bierflasche um. Shit.

»Schelsen.«

»Hi, Chris. Ich bin’s. Susanne. Störe ich?« Ihre Stimme klang kühl.

»Nee, schon in Ordnung. Hab nur das Klingeln erst nicht gehört.« Er bemühte sich um einen gelassenen Tonfall, konnte aber das Zittern in seiner Stimme nicht ganz unterdrücken.

»Okay, ich mach’s kurz. Die Kinder und ich fahren übers Wochenende zu Klaus nach Freiburg. Sie kommen nicht zu dir. Und überhaupt: Im Januar werden wir drei in den Schwarzwald ziehen. Klaus hat dort ein großes Haus gemietet. Du wusstest ja, dass es so nicht weitergeht. Die ständige Fahrerei ist einfach zu stressig für uns …«

Sie redete noch weiter, aber er hörte gar nicht mehr hin. Klaus. Als sie ihm das erste Mal von dem Typen erzählt hatte, hatte er das überhaupt nicht ernst genommen. Im Internet war sie dem alten Sack begegnet. Ein weiteres Symptom ihrer Midlife-Crisis. Praktisch, dass der Typ im Schwarzwald wohnte. Zu weit weg, um überhaupt eine Beziehung aufzubauen. Zu weit weg … Jetzt brannten bei ihm sämtliche Sicherungen durch. Wie von Sinnen schrie er los: »Das kannst du nicht machen, hörst du? Das. Kannst. Du. Nicht. Machen. Niemals! Vergiss es! Du und die Kinder, ihr bleibt hier! Hör endlich mit dieser Kacke auf und komm zurück, wo du hingehörst! Ansonsten kannst du was erleben! Hörst du …?«

Erst nach einer ganzen Weile begriff er, dass die Leitung tot war und er ins Leere brüllte.

Mit dem Telefon in der Hand sank er in den Sessel, nachdem er vorher noch in die Bierpfütze auf dem Veloursteppich getreten war. Ihm ging auf, dass er schon seit einem Jahr quasi ins Leere brüllte. Seine Verzweiflung interessierte sie nicht mehr und schon gar nicht ihre Ehe. Sie würde nicht zurückkommen, und es war ihr sogar recht, wenn sein Kontakt zu den Kindern abbrach. Die hatten ja in Klaus einen neuen Papa.

War sie schon immer so kaltherzig gewesen? Er begriff, dass Susanne davon ausging, dass er sich kampflos ergeben würde. So wie es in ihrer Ehe immer gelaufen war. Glaubte sie wirklich, er würde sich alles gefallen lassen? Ja, musste er sich die Frage leider selbst beantworten. Von Beginn an war sie es gewesen, die die Entscheidungen getroffen hatte.

»Hier, Chris, sieh mal, diese Stellenanzeige hier. Das wär doch ein Job für dich: Abteilungsleiter im Medienfachhandel. Wie für dich gemacht, und es gibt auch noch mehr Geld.«

Zu dem Zeitpunkt war Chris in einem kleinen Tonstudio als Mädchen für alles beschäftigt gewesen. Technische und elektronische Reparaturen, aber auch Musik- und Hörspielaufnahmen abzumischen und zurechtzuschneiden, hatte zu seinen Aufgaben gehört. Die Arbeitszeiten waren eher unregelmäßig und das Gehalt bescheiden gewesen. Und schon hatte Susanne die Bewerbung geschrieben und abgeschickt. Und er hatte die Stelle bekommen. Seitdem verdiente er wesentlich besser als vorher, fühlte sich aber in der Rolle des Vorgesetzten gar nicht wohl. Mitarbeiterführung war einfach nicht sein Ding; er war eher der Technikfreak und Tüftler.

Oder: »Nee, Chris. Ich möchte nicht riskieren, noch einmal schwanger zu werden. Zwei Kinder reichen völlig. Echt! So, wie es ist, ist es einfach perfekt. Und so eine Vasektomie ist doch heutzutage nur ein winziger Eingriff. Reine Routine.«

Und schon hatte er sich operieren lassen, obwohl er das Gefühl gehabt hatte, seine Männlichkeit einzubüßen, und obwohl er gern noch ein drittes Kind gehabt hätte.

Diese Chance, eventuell mit einer anderen Frau, hatte sie ihm auch noch genommen, wurde ihm jetzt klar. Nicht dass er sich vorstellen konnte, jemals neu anzufangen, aber ein bitterer Beigeschmack blieb. Ihre Entscheidungen bestimmten sein Leben, sogar jetzt noch.

Aber irgendwann musste mal Schluss sein. Er durfte sich nicht alles gefallen lassen. Susanne würde schon sehen. Noch waren sie nicht geschieden, und sie hatten immerhin das gemeinsame Sorgerecht. Die Zeit der Rücksichtnahme war vorbei! Ab jetzt würde er kämpfen, egal, mit welchen Mitteln. Mit durchnässten Socken tappte er in die Küche, holte sich ein neues Bier aus dem Kühlschrank und setzte sich mit dem Laptop an den Küchentisch. Er zündete sich eine weitere Zigarette an, während er nachdachte.

Als Erstes brauchte er einen richtig guten Anwalt. Nein, stimmte nicht. Als Erstes brauchte er Geld, um einen Spitzenanwalt überhaupt bezahlen zu können. Von seinem Gehalt blieb seit der Trennung nicht mehr viel übrig. Die Unterhaltszahlungen an sie und die Kinder und das Abrutschen in Steuerklasse eins, die Abtragungen für das gemeinsame Haus, die Miete für seine schäbige Zwei-Zimmer-Wohnung; all das hatte ihn in Nullkommanichts zu einem armen Mann gemacht.

Trotzdem: An Geld zu kommen, würde kein Problem sein. Er grinste zufrieden. Die Geldquelle, die er vor Kurzem aufgetan hatte, würde auch noch ein zweites Mal – und dann erst richtig – sprudeln.

Nele

Nele konnte lange nicht einschlafen. Sie drehte sich von dem tief schlummernden Marc weg.

Im Großen und Ganzen war der Abend harmonisch verlaufen. Anne, Greta, Marc und sie hatten sich beim Essen gut unterhalten. Anne gab Anekdoten von ihrer Klassenfahrt, die erst zwei Wochen zurücklag, zum Besten, und Marc konterte mit lustigen Begebenheiten aus seiner – und natürlich ihrer – Schulzeit. Greta hörte in ihrer typisch distanzierten Art amüsiert zu und streute ein paar treffende Kommentare ein. Dadurch wurde Marc nur noch mehr angefeuert. Er konnte wirklich spritzig erzählen.

Nur hatte Nele weniger komische Erinnerungen an die Schulzeit. Gemeinsamkeiten zwischen ihnen hatte es nicht gegeben. Zwar waren sie in dieselbe Stufe des Kaarster Wilhelm-Busch-Gymnasiums gegangen und hatten auch beide 1989 dort mit dem Abitur abgeschlossen, aber genauso gut hätten sie sich in unterschiedlichen Galaxien bewegen können.

Marc Warberg war damals einer von den angesagten Jungs gewesen, denen schulisches Wissen und die Herzen der Mädchen nur so zuflogen. In der Oberstufe hatte man ihn sogar zum Schulsprecher gewählt. Sein Selbstbewusstsein war grenzenlos gewesen. Seine Talente lagen im mathematisch-wissenschaftlichen Bereich. Ohne dass er sich anstrengen musste, glänzte er in Physik, Mathematik und Informatik, Fächer, für die sich sonst nur Langweiler und pickelige verklemmte Jüngelchen interessierten. Marc passte nicht in dieses Schema. Er war kein Streber, sondern ein gut aussehender, lässiger Heranwachsender, sportlich und wortgewandt. Mit seinem Charme wickelte er sogar die Lehrer um den kleinen Finger, obwohl er sich keineswegs angepasst verhielt.

Im Gegenteil, er rauchte, trank, kiffte und kokste, schwänzte die Schule, indem er sich selbst erfindungsreiche Entschuldigungen schrieb, und trat Außenseitern gegenüber arrogant auf. Seine an Orgien grenzenden Poolpartys im Bungalow seiner Eltern waren legendär. Wer dazu eingeladen wurde, gehörte zur »Crème de la Crème« der Schule. Allerdings gab es auch Gäste, die es vorzogen, kein zweites Mal hinzugehen. Das waren dann solche, die dort öffentlich bloßgestellt worden waren oder denen die Drogenexzesse missfallen hatten.

Trotz oder vielleicht auch wegen seiner zweifelhaften Seiten und Vorlieben war Marc eine charismatische Persönlichkeit gewesen, ein Genie, Tausendsassa und Rattenfänger in einem. Die damals eher schüchterne und angepasste Nele hatte ihn aus vorsichtiger Distanz misstrauisch beäugt und für unheimlich befunden. Allerdings war das erst in der Oberstufe gewesen, als die Klassen aufgelöst und Schülerinnen und Schüler in Kursen neu zusammengemischt worden waren. Vorher hatte sie ihn, der in eine der Parallelklassen ging, gar nicht wahrgenommen.

Die Geschichten, die Marc Neles Töchtern heute erzählt hatte, waren früher passiert. Trotzdem konnte sie in ihnen den Marc mit seiner ganzen schillernden und gefährlichen Art, so wie sie ihn in der Oberstufenzeit erlebt hatte, gut erkennen. Sie war froh, dass er sich später so verändert hatte. Von der alten Großspurigkeit war wenig übrig geblieben.

Persönliche Tiefschläge wie der frühe Tod der Eltern, eine gescheiterte Ehe und finanzielle Einbrüche durch fehlgeschlagene Aktienspekulationen in der IT-Branche um die Jahrtausendwende herum hatten das bewirkt. Aus dem Glückskind von einst, das rücksichtslos aus dem Vollen schöpfte, war ein verantwortungsbewusster Realist geworden. Nele war sich im Klaren, dass er ansonsten auch nicht hier neben ihr liegen würde. Keiner von beiden hätte das gewollt.

Aber dass sie nicht einschlafen konnte, lag nicht an alten Schulgeschichten und auch nicht am Verlauf des Abends. Der Sex mit Marc war befriedigend und entspannend gewesen. Nach eineinhalb Jahren Beziehung hatten sie gerade so viel Routine miteinander entwickelt, dass ihr Sexleben eingespielt, aber doch alles andere als langweilig war.

Sie liebte ihn auf besonnene Art und Weise. Ihre Gefühle waren lange nicht so bedingungslos und aufopfernd wie damals Matthias Hellmann gegenüber und nicht annähernd so leidenschaftlich und streitbar, wie sie es bei Frank, ihrem geschiedenen Mann, gewesen waren. Aber das war normal, oder? Keine Beziehung glich je der anderen. Anders gefühlt, anders gelebt, anders gelitten. Allerdings, wie hieß es in Cat Stevens’ Song? »The first cut is the deepest.«

Heute auf dem Friedhof hatte Nele einen kurzen Moment lang ein Hauch dieser unglaublich intensiven und fast körperlich schmerzhaften Empfindung aus ihrer Jugend gestreift. Und genau das war es, was sie am Einschlafen hinderte: das Echo einer Verbundenheit, die sie so nie wieder erleben würde und die sie unwiederbringlich verloren hatte.

Außerdem war noch etwas in Nele hochgekommen: der Drang, Matthias gegen alle Anfeindungen verteidigen zu wollen. Einem Toten gegenüber war das natürlich lächerlich. Und auch dem lebendigen Matthias damals hatte ihr Beschützerinstinkt wenig geholfen. Nele war bitter enttäuscht worden und hatte schlussendlich einen klaren Schnitt ziehen müssen. Daraufhin hatte sie sich dazu gezwungen, ihn in einem realistischen Licht zu sehen.

Seit ihrem Besuch auf dem Friedhof war ihre Fürsorglichkeit zurück. Die beiden Gestalten auf dem Friedhof hatten sich gefreut, dass er unter der Erde lag! Ihre Erleichterung war deutlich zu spüren gewesen. Sie hatten sein Grab besucht, um sich seines Todes zu vergewissern. Erledigt. Entledigt.

Nele wurde zornig. Matthias hatte auf eine schreckliche, unwürdige Weise sterben müssen, und diese Leute waren froh darüber. Er musste etwas getan haben, was ihre Kreise empfindlich gestört hatte. War nicht sogar von Erpressung die Rede gewesen? Ihr kamen die Tränen.

Wie hatte Matthias Hellmann in den letzten Jahren gelebt, um so enden zu müssen? Wer waren die Leute auf dem Friedhof gewesen und ›der Dicke‹, von dem sie gesprochen hatten? Womit hatten sie sich erpressbar gemacht? Nele war inzwischen so müde, dass ihr das Denken schwerfiel. Stattdessen wurde sie traurig und unruhig. Unwiederbringlich … Wer oder was hatte bewirkt, dass ihr die Chance genommen worden war, ihre erste große Liebe noch einmal wiederzutreffen? Hatten die beiden Fremden damit zu tun?

Nele wälzte sich neben Marc im Bett hin und her. Es dauerte lange, bis sie einschlafen konnte.

Marc

Marc Warberg träumte: Zu dritt betraten sie die Holzbrücke, die man als Fußgänger von der B7 kommend nahm, um über den Nordkanal in den Vorster Wald zu gelangen. Stoned, Major und er waren noch Kinder, vielleicht zwölf Jahre alt. Eigentlich gab es die Spitznamen für seine Freunde damals noch nicht, aber so war das eben mit Träumen.

Die Jungen trugen kurze Hosen, T-Shirts und Turnschuhe, und die Sonne, die durch das hellgrüne Blätterdach des Waldes blitzte, wärmte ihre nackten Arme und Gesichter. Seit ihre Familien in die neue Bungalowsiedlung im Kaarster Westen gezogen waren, waren die Jungen unzertrennlich. Der ruhige, große Major, der verträumte, pummelige Stoned und er selbst, Marc, klein, schmal und quirlig, überschäumend von Ideen. Dass sie gemeinsam das Kaarster Wilhelm-Busch-Gymnasium und sogar dieselbe Klasse besuchten, hatte ihre Freundschaft vertieft.

Sobald sie die Hausaufgaben hingeschmiert hatten, trafen sich die Jungen draußen. Dann zog es sie zum Klettern auf die ungesicherten Baustellen der halb fertigen Neubauten in der Nachbarschaft, ans Ufer des Kaarster Sees oder, wie jetzt, in den Vorster Wald, der sich jenseits der Bundesstraße Richtung Vorst und Holzbüttgen erstreckte.

Beides waren damals kleine Dörfer, die erst vor Kurzem mit Büttgen, Driesch und Kaarst zur kreisangehörigen Stadt Kaarst zusammengefügt worden waren. Es gab noch kein Stadtzentrum, und die fünf Ortsteile waren weit entfernt davon, zu einem Ganzen zu verschmelzen. Kappes-, Kartoffel- und Getreidefelder lagen dazwischen. Anfang der achtziger Jahre hatte man eher das Gefühl, sich auf dem Lande als in einer Kleinstadt zu befinden.

In Marcs Traum schlenderten die Freunde jetzt den Waldweg entlang, auf den sie links abgebogen waren. Stoned hatte seinem Vater eine Packung Zigaretten geklaut, und die drei suchten nach einem ungestörten Plätzchen.

»Hey, hier geht’s rein«, bestimmte Marc, als er rechts zwischen Farnkraut und hüfthohen Brennnesseln, von dichten Kiefern umsäumt, einen schmalen Pfad entdeckte.

»Och nö«, Stoned war nicht begeistert, »ich hasse Brennnesseln!«, bog aber gehorsam hinter den Freunden in das grüne Dickicht ab. »Wartet wenigstens auf mich!«

Major drehte sich grinsend zu ihm um. »Komm, Dickerchen, stell dich nicht so an. Warte, ich trample das Zeug platt.«

Marc lachte. »Dafür bist du mit Schuhgröße zweiundvierzig auch am besten geeignet. Dann geh mal vor!«

Und so stiefelten sie im Gänsemarsch hintereinander her, erst Major, dann Marc, dann Stoned. Die Vögel sangen, Zitronenfalter torkelten durch die warme Luft, Hummeln brummten vorbei. Marc fühlte sich wie ein Forscher auf einer Expedition durch den Dschungel.

»Ich hab gehört, hier im Wald gibt’s Wildschweine«, rief Stoned nach vorn.

»Ja, und eins läuft direkt hinter mir«, scherzte Marc. »Ich höre es schnaufen!« Marc und Major prusteten los.

»Spinner!« Stoned war viel zu gutmütig, um beleidigt zu sein. Und schon stapften sie schweigend weiter. »Moment mal!«, rief er da plötzlich ganz aufgeregt. »Ich hab was entdeckt!«

»Was denn? Ein paar borstige Kumpels von dir?« Marc wich einer hüfthohen Brennnessel aus, die am Wegrand wuchs.

»Nee, guckt doch mal. Hier geht’s rein in den Wald.«

»Mensch, wir sind doch schon mittendrin.« Major schaute aber trotzdem gnädig in die Richtung, in die Stoned mit ausgestrecktem Finger zeigte. Und tatsächlich: Linker Hand war zwischen stacheligem Brombeergebüsch die Andeutung eines Pfades zu erkennen, vielleicht von Rehen oder tatsächlich von Wildschweinen getreten.

Jetzt gab auf einmal Stoned den Ton an. »Kommt, wir gucken, wo der hinführt. Vielleicht an einen geheimen Ort, den dann außer uns keiner kennt.«

Marc und Major zwinkerten sich verschwörerisch zu. Schon oft hatten sie sich heimlich darüber lustig gemacht, dass Stoned zu viele Enid-Blyton-Jugendbücher und »Die drei ???« las. Ein geheimer Ort, den keiner kannte, typisch Stoned!

Dennoch folgten sie ihm auf dem fast unsichtbaren Pfad in die Düsternis des Kiefernwaldes hinein und zerkratzten sich die nackten Beine am Dornengestrüpp.

Hier, zwischen den Nadelbäumen, war es ganz still. Kein Vogel war zu hören, die Luft roch intensiv nach Tannennadeln und Baumharz.

Nach einer Minute fing Major an zu maulen: »Mann, das bringt doch nichts. Lasst uns umkehren«, als er Stoneds überraschten Ruf hörte:

»Hey, das ist ja klasse!«

Und dann sahen sie es alle drei. Staunend traten sie hinaus auf eine kleine, sonnenbeschienene Lichtung, die von allen Seiten von hohem Nadelgehölz umschlossen war. Gras und Moos bildeten zwischen Farnkräutern und dicken Steinbrocken einen dichten Teppich; Schlüsselblumen nickten vor sich hin, wilde Lupinen standen steif da, und über allem lag die Atmosphäre von etwas Geheimnis- und Verheißungsvollem.

Verblüfft sahen sich die Freunde um. Kein Spaziergänger auf einem der Waldwege konnte Einblick in die Lichtung haben oder Geräusche von hier hören. Dank des dichten Dornengestrüpps, das sie umwucherte, waren sie zusätzlich vor unerwünschten Besuchern geschützt.

Besser ging’s gar nicht.

Bald saßen die Jungen einträchtig im Gras, wärmten sich an den Sonnenstrahlen, die sich in die Mitte der Lichtung ergossen, und pafften eine Zigarette nach der anderen.

»Super Hauptquartier«, stellte Stoned zwischen zwei Zügen fest. Er war der Einzige unter ihnen, der schon richtige Lungenzüge machen konnte, ohne zu husten. »Findet ihr nicht?«

Marc nickte gönnerhaft. »Ja, ist toll hier! Gut gemacht. Aber ich würde nicht ›Hauptquartier‹ dazu sagen. Wir sind doch keine Kinder mehr, die Detektiv spielen. Ich würde sagen, das hier ist eine Art Treffpunkt, wo wir machen können, was wir wollen. Rauchen, Bier trinken und so. Was meinst du, Major?«

»Sehe ich auch so. Aber der Ort hier könnte einen Namen gebrauchen, den nur wir kennen.«

»Klar, gute Idee.«

»Vor allem darf kein anderer von diesem Platz wissen. Er muss geheim bleiben.« Darauf bestand Stoned unbedingt.

»Okay. Fehlt also nur noch der passende Name. Lasst mal eure Birnen qualmen.«

Stumm saßen die drei da, schauten sich um und dachten angestrengt nach, bis Marc endlich zögernd das Wort ergriff. Er war bekannt für seine guten Einfälle, also stand er unter Zugzwang. »Wie wär’s mit ›Fichtenlichtung‹?«

Die anderen beiden sahen ihn verständnislos an.

»Äh, sind das da nicht Kiefern?« Stoned deutete auf die Nadelbäume.

»Kann schon sein, aber hört sich nicht so gut an. Probiert das Wort doch mal aus: Fichtenlichtung. Klasse, oder?«

Stoned und Major taten wie ihnen geheißen und murmelten gemeinsam mit Marc mehrmals »Fichtenlichtung, Fichtenlichtung« vor sich hin. Und je öfter sie den Namen aussprachen, umso besser und passender klang er in ihren sechs Ohren. Schließlich grinsten sie sich zufrieden an. »Fichtenlichtung« war super!

Dabei blieb es.

Als Marc mitten in der Nacht aus dem Schlaf hochfuhr und verwirrt auf die Leuchtanzeige von Neles Wecker schaute, war ihm sein Traum noch sehr präsent. Klar und deutlich sah er die vertrauensvollen Kindergesichter von Major und Stoned vor sich. Derselbe Traum oder leichte Abwandlungen davon verfolgten ihn seit vielen Jahren. Und die Geschichte hatte sich tatsächlich Anfang der achtziger Jahre so zugetragen. Außerdem kannte Marc die Stimmung, in der er stets aus diesem Traum erwachte, zur Genüge: erst Geborgenheit, dann Erschrecken, Sehnsucht und am Ende Schuldgefühle. Immer war es das Gleiche. Die beiden Jungs waren mal seine besten Freunde gewesen. Sie hatten sich bedingungslos auf ihn verlassen.

Und was hatte er getan? Sie verraten und fallen gelassen! Nie mehr sollte ihm so etwas passieren, schwor er sich, während die Scham langsam abebbte. Er kuschelte sich an Neles nackten, warmen Rücken und versuchte, wieder in den Schlaf zu finden.

Nele

Der Freitagmorgen begann in gewohnter Hektik. Sie weckte Anne und Greta, während Marc unter der Dusche stand. Dann deckte sie eilig den Frühstückstisch. Beim gemeinsamen Frühstück musste noch Annes Deutscharbeit unterschrieben werden, und Greta maulte, dass ihre frisch gewaschenen Sportsachen nicht trocken seien und was sie denn nun beim Badminton tragen solle, etwa Jeans? Nele verdrehte genervt die Augen und suchte aus ihrem eigenen Kleiderschrank Jogginghose und ein T-Shirt heraus. Erwartungsgemäß zeigte sich Greta darüber kein bisschen dankbar, sondern verzog angewidert das Gesicht. Dunkelblau, eine modische Katastrophe.

Währenddessen schlürfte Marc amüsiert seinen Kaffee. Er hatte eine eigene Firma und konnte sich seine Arbeitszeit beliebig einteilen. Nele und er freuten sich auf eine knappe Stunde zu zweit, sobald die Mädchen sich auf den Schulweg gemacht hatten.

Marc

Nele schaute ihren Töchtern aus der offenen Haustür nach. Es nieselte. Dann ging sie lächelnd zu Marc, drückte ihm einen Kuss auf die Wange, schenkte sich noch einen Kaffee ein und setzte sich. »So, das wäre geschafft. Jetzt kommt der gemütlichere Teil des Frühstücks!« Sie lehnte sich entspannt zurück. Gerade schien sie ihn etwas fragen zu wollen, als Marc bemerkte, wie sie die Stirn runzelte und den Mund wieder zuklappte.

Was war es, das sie beschäftigte? Schon gestern Abend war sie in dieser grüblerischen Stimmung gewesen. Also hatte er versucht, sie durch lustige Anekdoten aus ihrer gemeinsamen Schulzeit aufzuheitern.

Marc wartete auf eine Erklärung, aber nichts kam. Im Gegenteil: Nele schien sich noch mehr zu verschließen. Sie stand auf und begann, Brot, Marmelade und Käse wegzupacken.

Marc berührte sie am Arm. »Na, gemütlich ist das gerade nicht. Lass uns das doch gleich zusammen aufräumen, okay? Was ist eigentlich los mit dir? Ich merke doch, dass dich was beschäftigt.«

Da hielt sie inne, seufzte und setzte sich wieder. Und sie lächelte. Marc atmete auf. Womit auch immer sie sich herumschlug, es hatte nichts mit ihm zu tun.

»Okay, ich bin gestern auf dem Büttger Friedhof gewesen, an Matthias’ Grab«, begann sie und errötete. »Gestern war doch sein Geburtstag …«

Eine Welle des Unmuts überkam ihn. »Wäre sein Geburtstag gewesen«, verbesserte er sie, bevor er seine Zunge im Zaum halten konnte. Zu spät, Neles Miene hatte sich schon verdüstert. Sie sah ihn trotzig an.

Nele

Sie ärgerte sich. »Ja, genau, wäre sein Geburtstag gewesen, sonst hätte ich ihn nicht auf dem Friedhof besuchen müssen! Und dieser Besuch nimmt mich eben noch mit! Es macht mich traurig, dass er so früh sterben musste.«

Marc hatte noch nie viel von Matthias Hellmann gehalten; sein Tod interessierte ihn nicht, glaubte sie. Sie erinnerte sich an ein rotweinseliges Gespräch vor einem halben Jahr, als sie zum ersten Mal über ihn gesprochen hatten. Sie waren beim Thema »erste große Liebe« angelangt, und bis dahin war die Stimmung locker und romantisch gewesen. Sobald sie seinen Namen genannt hatte, war die Stimmung gekippt. Marcs Gesichtsausdruck hatte von Verständnis zu Irritation bis zu kompletter Ablehnung gewechselt.

»Dieser Idiot! Du warst echt naiv damals«, hatte er unfreundlich gebrummt. Worauf Nele beleidigt den Mund zugeklappt hatte. An dem Abend waren sie dann nicht mehr in seinem Bett gelandet, sondern Nele hatte sich unter fadenscheinigen Vorwänden verabschiedet und war nach Hause gefahren. Mit eindeutig zu viel Promille im Blut.

»Entschuldigung«, versuchte Marc nun, die Stimmung zu retten. »Ich weiß, dass Hellmann dir … etwas bedeutet hat.«

»Schon gut. Mehr gibt’s nicht zu erzählen. Ich war an seinem Grab, hab meine Blumen abgelegt, bin traurig geworden und wieder gegangen. Das war’s. Und jetzt lass uns von was anderem reden, okay?«

Und so hielten sie es. Nele dachte an diesem Tag allerdings noch oft an Matthias und an das rätselhafte Gespräch, das sie auf dem Friedhof belauscht hatte. Mit Marc konnte sie offensichtlich nicht darüber sprechen, also würde sie sich ihre Fragen selbst beantworten müssen.

Chris

Der Morgen begann trostlos wie immer. Chris erwachte um sechs Uhr mit dröhnenden Kopfschmerzen. Um die Zeit hatten Susanne und er immer die Kinder geweckt, um mit einem gemeinsamen Frühstück in den Tag zu starten. Anschließend war er zur Arbeit gefahren, und sie hatte Lisa zur Grundschule und Jan in den Kindergarten gebracht.

Jetzt war Chris von diesem Morgenritual nur noch der blödsinnige Automatismus geblieben, um Punkt sechs die Augen aufzuschlagen. Normalerweise versuchte er, noch ein bisschen zu dösen, was selten gelang.

Heute zwang er sich direkt aus dem Bett und unter die Dusche. Beiläufig registrierte er, während er in Unterhose und klebrigen Socken aus dem kleinen Schlafzimmer durch das Wohnzimmer Richtung Bad tappte, die Zeichen der Verwahrlosung um sich herum: den seit Wochen nicht gesaugten fleckigen Teppichboden, die leeren Bierflaschen in den Ecken, die Wäschehaufen und den überquellenden Papierkorb unter der Fensterbank, auf der ein vertrocknetes Farnkraut stand. In Küche und Bad sah es noch schlimmer aus.

Aber für ihn war die beengte Zwei-Zimmer-Wohnung im Dachgeschoss eines Sechziger-Jahre-Baus auf der Neusser Straße mit ihren stromfressenden Nachtspeicherheizungen und den wenigen Fenstern auch nicht mehr als eine Übergangslösung.

Zumindest bis gestern Abend hatte er geglaubt, dass Susanne schon wieder zur Besinnung kommen würde. Es wäre ihm grundverkehrt erschienen, sich hier wohnlich einzurichten. Hätte es nicht bedeutet, dass er die Trennung akzeptierte?

Als sich jetzt beim Duschen der stockfleckige Vorhang penetrant an seine Beine schmiegte, wurde ihm zum ersten Mal klar, dass das hier nun sein Leben war, mit all dem Dreck und Chaos um ihn herum, und dass es kein Zurück in ihr Haus in Neuss-Reuschenberg geben würde. Diese Übergangslösung mochte überallhin führen, nur nicht heim in die alte, heile Welt mit Susanne und den Kindern.

Aber eins war auch sicher: Letzte Nacht hatte er die Weichen gestellt, die seinem Leben eine neue Richtung geben würden. Und der Witz schlechthin war, dass er den Schlüssel dazu ausgerechnet hier in der maroden Wohnung gefunden hatte. Kurz nach seinem Einzug, ganz zufällig. Aber wer weiß? Vielleicht war es weniger Zufall als Schicksal gewesen.

Wenig später fuhr er guter Dinge mit seinem klapprigen Kombi vor dem Häuschen in Reuschenberg am Ende des kurzen Stichweges vor. Es war noch stockdunkel, auch die zwei Straßenlaternen spendeten wenig Licht. Wie erwartet waren sämtliche Rollos vor den Fenstern noch unten. Trotzdem parkte er sicherheitshalber in der Einfahrt des Nachbarhauses. Die Müllers, ein Rentnerehepaar, weilten wie immer um diese Jahreszeit in ihrem Feriendomizil auf Mallorca.

Chris schlich sich zu seinem alten Heim. Die neue kleine Familie – bei der Formulierung musste Chris fast kotzen – würde gerade im Esszimmer am Frühstückstisch sitzen. Sie konnten ihn weder hören noch sehen. Hinter dem Kirschlorbeer huschte er Richtung Hauseinfahrt, und richtig: Dort parkten Susannes Golf und ein fetter Mercedes mit Freiburger Kennzeichen.

»Das wird wohl nichts mit eurem lauschigen Wochenende im Schwarzwald!«, wisperte Chris, während er das scharfe Steakmesser aus der Jackentasche zog, und er spürte, wie freudige Erregung durch seinen Körper schoss. Erst zerstach er fachmännisch alle vier Reifen des Golf, dann musste der Mercedes dran glauben.

Das triumphale Hochgefühl hielt die ganze Fahrt über bis zum Gewerbepark Neuss-Süd, wo er arbeitete, an. Auch bei seinem Zwischenstopp am Briefkasten, in den er mit behandschuhten Fingern die drei Briefe einwarf, befand Chris sich noch wie im Rausch. Zum ersten Mal seit der Trennung fühlte er sich weder gedemütigt noch ohnmächtig. Die Zeit, in der Susanne mit ihm machen konnte, was sie wollte, war vorbei. Jetzt war er am Zug!

Tina

Tinas Freitagmorgen war nur eine Verlängerung von Donnerstagnacht. Sie hatte kaum geschlafen; Sorgen und Ängste hatten sie wach gehalten. Als sie jetzt im Marmorbad ihrer Altbauvilla in Düsseldorf-Oberkassel stand und in den in die Wand eingelassenen Spiegel starrte, kam sie sich alt, verbraucht und grottenhässlich vor. Tja, mit vierzig war halt der Lack ab. Alkohol, Nikotin, Schlaf- und Aufputschmittel sowie zu häufige Sonnenbankbesuche hatten ihr Übriges getan, um ihre Haut frühzeitig altern zu lassen. Tina betrachtete missmutig die Krähenfüße um ihre wässrig blauen Augen und die tiefen Falten in den Mundwinkeln. Nur Botox konnte da noch Abhilfe schaffen. Außerdem mussten ihre blonden Haare am Ansatz nachgefärbt werden. Gut, sie würde nach dem Frühstück einen Termin bei Luigi vereinbaren, gleich nachdem sie bei ihrer Kosmetikerin angerufen hatte. Tina seufzte. Bis vor ein paar Wochen war die Sorge um ihre sich verflüchtigende Schönheit tatsächlich die einzige gewesen, mit der sie sich hatte herumschlagen müssen.

Na ja, und das Problem mit Roland, ihrem Ehemann. Aber das hatte sie immer irgendwie in den Griff bekommen. Nie war es ihr schwergefallen, den Schein zu wahren. Dass er sie noch liebte, machte vieles einfacher. Roland von Meersfeldt war schwach, weich und inzwischen leider auch körperlich schwammig. Das bisschen Respekt, den sie ihm zollte, bezog sich allein aufs Geschäftliche und seinen elitären Status.

Rolands Familie verfügte über etliche Immobilien in Düsseldorf, Neuss und Umgebung sowie über mehrere Hotels in ganz Deutschland. Roland selbst war Banker. Tina und Roland von Meersfeldt führten ein dementsprechend sorgloses Leben. Tina hatte entgegen Rolands albernen Träumen rechtzeitig für Kinderlosigkeit gesorgt, um dieses Luxusleben nicht zu gefährden. Alles war gut gewesen – und jetzt das! Ihr Status quo war ernsthaft in Gefahr.

Obwohl Matthias Hellmann, die lästige Zecke, seit einem Jahr die Radieschen von unten betrachtete, waren vor ein paar Wochen Erpresserbriefe bei ihnen dreien angekommen. Allein die unverschämte Höhe der Forderungen hätte sie stutzig machen müssen. Der Besuch auf dem Friedhof gestern zusammen mit Major hatte Klarheit gebracht. Hellmann war der Junkie gewesen, der im letzten Herbst am Ufer des Kaarster Sees verreckt war. Aber irgendjemandem waren seine Unterlagen in die Finger gefallen, jemandem, der genau wusste, worum es ging, und der sich nicht scheute, sie einzusetzen.

Während Tina ihr Gesicht mit der sündhaft teuren Anti-Aging-Creme bearbeitete, glitten ihre Gedanken zurück in die Vergangenheit. Als alles anfing.

Tina hatte es mit Ach und Krach und einmal Hängenbleiben in die Oberstufe des Wilhelm-Busch-Gymnasiums geschafft. Die neuen Mitschüler passten ihr viel besser als die aus der alten Stufe. Ihr eröffneten sich neue, ungeahnte Möglichkeiten. Endlich bekam sie die Chance, an Marc Warberg und seine Clique ranzukommen.

Marc war einfach cool, ein Gewinnertyp. Er hatte alles, was Tina imponierte: Grips, Geld, gutes Aussehen und Dreistigkeit. Natürlich verliebte sie sich in ihn und rechnete sich keine schlechten Chancen bei ihm aus. Sie sah gut aus, war blond und langbeinig, mit einer beachtlichen Oberweite gesegnet und ähnlich skrupellos wie er. Sie fand, sie beide passten hervorragend zusammen.

Kurz vor den Sommerferien 1987 gehörte Tina neben Major und Stoned zum harten Kern von Marcs Clique. Darüber hinaus waren auch oft Steve, Nicky, Anita und Shorty mit von der Partie. Im Zentrum aber stand Marc Warberg, strahlend und sie alle überragend. Und genau das war die Krux. Denn eigentlich war er unnahbar, und das bekam Tina empfindlich zu spüren, als sie in einer lauen Sommernacht ihren ersten Vorstoß wagte.

Die Clique hatte am Südufer des großen Kaarster Sees, der damals noch nicht dem Segelclub gehörte, ein Lagerfeuer angezündet. Dunkelheit hatte sich über See und Ufer gesenkt, und nur gedämpft wehten Gelächter und Musik von anderen Feuerstellen herüber. Es roch nach Sommer, Bier, verbranntem Holz und den Joints, die die Runde machten.

Tina und Marc saßen nebeneinander im Gras und unterhielten sich leise über ihre Ferienpläne. Auf der anderen Seite des Feuers knutschten Major und Anita, während Stoned, Shorty und Steve über die Vorzüge von Erdlöchern gegenüber Wasserpfeifen fachsimpelten. Auch die dunkelhaarige Nicky beteiligte sich sporadisch an dem Gespräch der drei, äugte allerdings immer wieder eifersüchtig zu Tina und Marc herüber. Sie rechnete sich ebenfalls Chancen bei Marc aus.

»Sieh es mal so«, sagte der gerade leise. »Wann werden wir je wieder so viel Zeit haben wie jetzt? Ich jedenfalls werde die ganzen Sommerferien nutzen, um ein paar Ecken von Europa zu sehen. Mit dem InterRail-Ticket, das mir meine Großeltern spendieren, bin ich unabhängig, und da wäre ich doch schön blöd, mir mit Stoned und Major einen Klotz ans Bein zu nageln.«

»Aber die zwei gehen davon aus, dass ihr zusammen fahrt.« Unauffällig rückte Tina näher an Marc heran, sodass sich ihre Knie nun berührten. Insgeheim hatte sie schon überlegt, wie sie sich in Marcs Urlaubspläne einklinken könnte. Schließlich war sie als Einzige schon achtzehn, im Besitz eines Führerscheins und eines eigenen Autos. So konnte man auf das primitive und unbequeme Bahnfahren glatt verzichten. Mit ihrem Corsa war sie heute auch zum See gefahren.

»Mir egal, wovon die zwei ausgehen. War jedenfalls nie die Rede von. Kannst du dir vorstellen, mit den beiden bekifften Typen auf den Eiffelturm zu steigen, durch den Louvre zu schlendern oder zu Fuß durch die Gassen der Alfama in Lissabon zu spazieren, ohne dass sie die ganze Zeit nach Alkohol quengeln? Die beiden sind meine besten Freunde, aber echte Kulturbanausen.« Er seufzte, leerte seine Bierflasche in einem Zug und warf sie hinter sich ins Gebüsch. »Und du kannst deine Pläne, die du in deinem hübschen Köpfchen ausheckst, auch getrost vergessen. Tut mir leid, aber ich steh einfach nicht auf dich. Nimm’s nicht persönlich.« Lässig begegnete er ihrem Blick und strich ihr leicht mit dem Handrücken über die Wange. »Du spielst einfach in einer anderen Liga als ich. Und mit einer einfachen Bettgeschichte wärst du wohl nicht zufrieden, denke ich.«

Tina starrte ihn sprachlos an. Sie spürte, wie sie vom Hals aufwärts errötete. »Was fällt dir ein? Nie hab ich gesagt …«

»Nein, nicht gesagt.« Er grinste. »Aber mehr als deutlich gezeigt. Schau mal, Nicky guckt schon ganz eifersüchtig. Dabei ist sie eindeutig mehr mein Typ als du. Ich mach mir nun mal nichts aus Blondinen.«

»Arschloch!« Sie wollte aufspringen, aber Marc hielt sie eisern am Handgelenk fest.

»Sei nicht beleidigt. Ich respektiere dich, echt. Ich habe nur einfach keinen Bock, dir was vorzumachen. Entweder du kapierst das, oder du hast in der Clique nichts mehr zu suchen. Was schade wäre … wo doch Stoned und Steve so auf dich stehen … und du die einzig halbwegs intelligente Frau hier bist.« Jetzt lächelte er gewinnend.

Also blieb Tina sitzen, verdattert und verletzt zwar, aber auch ein bisschen besänftigt. Ab diesem Zeitpunkt strengte sie sich noch mehr an, ihm zu gefallen. Ihr Stolz ließ es nicht zu, die Abfuhr hinzunehmen.

Jetzt, über zwanzig Jahre später, fragte sie sich, ob ihre Entscheidung von damals, sitzen zu bleiben, unausweichlich zur Katastrophe hätte führen müssen. Nicht, wenn du seine Entscheidung ernst genommen hättest, gestand sie sich ein. Die Nacht wäre zumindest anders verlaufen …

Sie blieben noch lange. Es war ja Wochenende. Später gingen Tina und Nicky mit Stoned und Shorty schwimmen, als unvermutet Bewegung in die Szene kam. Leute näherten sich dem heruntergebrannten Feuer, an dem sich Marc und Steve leise unterhielten. Anita und Major kriegten von dem unerwarteten Besuch zunächst nichts mit, sondern lagen händchenhaltend nebeneinander auf dem Rücken im hohen Gras und schauten in den klaren Sternenhimmel.

»Ich krieg noch Geld von dir! Und ich warte schon ziemlich lange darauf!«, hörten sie eine aggressive männliche Stimme. Schnell wickelten sich Tina und Nicky in ihre Handtücher und folgten Stoned und Shorty zum Feuer. Alle vier bauten sich hinter Marc und Steve auf, vor denen jetzt drei Typen standen.

»Keine Angst, du kriegst es schon noch, Hellmann.« Marc stand langsam auf, um seinem Gegenüber auf Augenhöhe zu begegnen. Matthias Hellmann war seit einiger Zeit sein Dealer, und Marc war mal wieder mit seinen Zahlungen im Verzug. Tina verabscheute Leute wie Matthias. Er war fast zwanzig, aber ohne Schulabschluss und wegen Einbrüchen, Gewalt- und Drogendelikten vorbestraft. In ihren Augen war er ein Sozialschmarotzer ohne Nutzen für die Gesellschaft. Armselig, ungebildet, verkommen. Normalerweise würden Marc und seine Clique mit solchen Subjekten niemals in Berührung kommen, es lagen Welten dazwischen … wenn es die Drogen nicht gäbe. Matthias hatte einfach gute Beziehungen und äußerst gute Preise.

Tina betrachtete den jungen Mann abschätzend. Auf eine primitive Weise war er nicht unattraktiv. Knapp über ein Meter achtzig groß, schlank, muskulös, dunkelblondes, leicht lockiges Haar, ein jungenhaftes und gleichzeitig männliches Gesicht. Er trug ein Muskelshirt, sodass selbst jetzt im blassen Mondlicht die Tätowierungen an seinen Ober- und Unterarmen nicht zu übersehen waren. Nur Knackis hatten solche Tätowierungen. Einer seiner Begleiter war größer als er, dunkelhaarig und ebenfalls tätowiert. Tina erkannte in ihm Jens Meyer, der durch Schlägereien und Kleinkriminalität genauso von sich reden machte wie Hellmann.

Über den Dritten im Bunde, der zunächst ein Stück hinter den beiden anderen gestanden hatte und deshalb im Dunkeln nicht zu erkennen gewesen war, war sie allerdings mehr als verblüfft.

»Johannes Blum!«, stieß sie aus. Johannes war ein pickeliger, hoch aufgeschossener, rotblonder Mitschüler. Nach der zehnten Klasse war er von der Realschule Büttgen in ihre Stufe gekommen. Er galt als ebenso begabt wie Marc, war aber weder beliebt noch  gut aussehend – ein Außenseiter und eine traurige Gestalt. Soweit Tina wusste, wohnte er nach dem frühen Tod seiner Eltern im Haus der Großeltern. Was hatte der mit Typen wie Hellmann oder Meyer zu tun?

Matthias beantwortete ihre unausgesprochene Frage im Handumdrehen. »Der Junge hier war so nett, uns bei der Suche nach dir zu helfen, Warberger. Wir wussten ja, dass er mit dir zur Schule geht. Und als wir ihn dahinten so ganz allein am Seeufer stehen sahen, war uns klar, dass du nicht weit sein kannst.« Er grinste anzüglich. »Die Schwuchtel folgt dir wie ein Schatten.«

Heimlich stieß Nicky Tina in die Rippen. Alle aus der Clique waren sich einig, dass Johannes nicht Marc, sondern Tina wie ein Schatten folgte. Seit sie ihn vor ein paar Wochen auf der Stufenparty spaßeshalber angeflirtet hatte, um Marc eifersüchtig zu machen, schien er einen Narren an ihr gefressen zu haben.

Jens versetzte Johannes einen lässigen Schubs und beförderte ihn so unsanft in Marcs Reihen. Obwohl es jetzt zahlenmäßig zwei gegen neun stand, ging von Jens und Matthias eindeutig die größere Bedrohung aus.

»Ich lass dir noch bis Sonntag Zeit, Streber«, drohte Matthias. »Dann will ich die achthundert Mäuse sehen. Bei mir im Briefkasten! Wenn nicht, werden andere Saiten aufgezogen. Das ist ein Versprechen! Und jetzt feiert noch schön!« Er stieß Jens in die Rippen, und beide wandten sich zum Gehen.

Sobald sie außer Sichtweite waren, kam Bewegung in die Clique. In stillem Einverständnis ließ man sich wieder rund um die glühende Asche nieder. Nur Johannes stand unschlüssig herum, bis irgendjemand ihn aufforderte, sich endlich zu setzen.

»Scheiße! Bis Sonntag komme ich auf keinen Fall an die Kohle. Könnt ihr mir vielleicht aushelfen oder zusammenlegen?« Marcs Stimme klang verzweifelt.

Noch nie hatte Tina ihn so erlebt. Nach vorn gebeugt hockte er im Schneidersitz da und raufte sich die Haare. Alle schwiegen ratlos. Keiner von ihnen hatte so viel Geld.

»Und du schleppst die Typen noch hierher!«, warf Tina Johannes vor, dessen zerknirschter Gesichtsausdruck sie nicht rührte, sondern einfach nur nervte.

»Jetzt mal mit der Ruhe!«, mischte sich Anita mit schwerer Zunge ein. »Das war wohl kaum seine Absicht!«

»Genau! Wenn du das Pickelface nicht auf der letzten Stufenparty angebaggert hättest, wäre der gar nicht in unserer Nähe.« Das kam von Shorty, der sie sowieso nicht leiden konnte.

Die anderen lachten kurz auf, um dann wieder betroffen zu schweigen. Jetzt wurde Tina richtig wütend. Sie sollte Schuld an dem ganzen Schlamassel haben?

»Okay, dann werde ich die Sache mal wieder in Ordnung bringen.« Kampflustig stand sie auf und ging Johannes erneut an: »Du hast doch Augen im Kopf, oder? Bestimmt weißt du, wie die beiden Proleten an den See gekommen sind, oder?«

Johannes blickte sie verwirrt an. »Mit dem Auto, so einem alten roten Opel Kadett.«

Tina grinste triumphierend. Der Moment war gekommen, in dem sie Marc zeigen würde, welches Format sie besaß und was sie bereit war, für ihn zu tun. Er würde ewig in ihrer Schuld stehen.

»Genau!«, rief sie, während sie eilig in T-Shirt, Rock und Schuhe schlüpfte. Ihr Handtuch warf sie Johannes an den Kopf. Dann griff sie nach ihrem Rucksack. »Von denen hat keiner einen Führerschein, geschweige denn ein Auto. Und nüchtern waren die auch nicht mehr. Tschö, wir sehen uns morgen!«

»Hey, Tina«, rief Stoned ihr hinterher. »Wo willst du denn hin?«

»Zum nächsten Telefon natürlich. Hiermit«, gab sie ungeduldig zurück, klimperte mit ihren Autoschlüsseln und verschwand in der Dunkelheit.

Und so geschah es, dass Matthias Hellmann und Jens Meyer noch in dieser Nacht aufgrund eines anonymen Anrufs wegen Autodiebstahls und Fahrens ohne Führerschein vor dem Wohnblock der Hellmanns von der Polizei einkassiert wurden. Nach der Festnahme, bei der Matthias einem Polizeibeamten die Nase brach, fand man in seinem Besitz Marihuana und Speed in erheblichen Mengen. Der Wagen, hinter dessen Steuer er gesessen hatte, war jedoch nicht gestohlen, sondern gehörte André, seinem älterem Bruder. Der saß seit einigen Monaten ein und brauchte ihn nicht.

Matthias wurde zu achtzehn Monaten Haft verurteilt, als unter Einundzwanzigjähriger noch nach dem Jugendstrafrecht, was sein Glück war. Jens Meyer kam mit einem blauen Auge davon, da er den Polizisten gegenüber weder handgreiflich geworden war noch verbotene Substanzen mitgeführt hatte.

Und Marc Warberg brauchte seine Schulden erst mal nicht zurückzuzahlen. Allerdings musste er sich einen anderen Dealer suchen.

Aber leider war ein weiteres Resultat dieser lauen Sommernacht von 1987, dass der pickelige, hochbegabte Johannes Blum ab sofort zur Clique gehörte. Er hatte einfach zu viel mitgekriegt, als dass man ihn hätte gehen lassen können. Und unter anderem damit steuerten Tina und die anderen geradewegs auf ihren Untergang zu.

Nachdem Tina sich geschminkt hatte, genehmigte sie sich den ersten Kaffee und die erste Zigarette des Tages. Sie kam zu dem Schluss, dass sie trotz allem, was später passiert war, damals am Kaarster See die richtige Entscheidung getroffen hatte. Sie hatte Matthias Hellmann, das asoziale Arschloch, aus dem Weg geräumt. Wenn auch nur für ein Jahr, zugegeben, denn dann wurde er auf Bewährung freigelassen. Trotzdem, mit relativ wenig Aufwand und etwas Köpfchen war es ihr gelungen. Und wer auch immer ihr heutzutage in die Quere kam, den würde sie genauso effizient aus dem Weg räumen. Bei diesem Gedanken fühlte sie sich gleich besser.

Nele

Freitags arbeitete Nele nur halbtags im Buchladen. Sie liebte die freundliche und entspannte Arbeitsatmosphäre hier. Alles lief Hand in Hand; das Team der Mitarbeiterinnen mit ihrer Chefin war nett und eingespielt. Gegen dreizehn Uhr verabschiedete sich Nele von den Kolleginnen. Der Vormittag hatte ihr die gute Laune zurückgebracht, und sie verließ fast beschwingt den Laden.

Was nun folgte, war ihr persönliches Freitagsritual: Kaffee trinken in den Rathausarkaden, bevor es zum Kochen heim nach Vorst ging. Erfreut stellte sie fest, dass »ihr« Tisch am Fenster mit Blick auf den Marktplatz frei war.

In der Gewissheit, dass der freundliche italienische Kellner, mit dem sie ein jahrelanges spielerisches nonverbales Flirten verband, ihr wie immer einen großen Milchkaffee und ein Wasser bringen würde, ließ sie den Blick nach draußen schweifen. Endlich war es mal trocken, allerdings stürmisch. Schwarze Wolkenknäuel mit gräulichen Fransen jagten über den Himmel, ab und zu blitzten klares Blau und Sonnenstrahlen durch. Die fast kahlen Platanen am Ufer des Stadtteiches bogen sich unter heftigen Windböen. Müll und Herbstlaub wirbelten über den Marktplatz und landeten im Wasser.

Jetzt an der holländischen Küste spazieren gehen, dachte Nele sehnsüchtig, und sich vom salzig-sandigen Wind tüchtig durchpusten lassen. Einen klaren Kopf bekommen. Halt, das war eine typische Formulierung von Matthias gewesen. Entspannung und gute Laune waren dahin.

Stattdessen ärgerte sie sich erneut über Marcs geschmacklose Bemerkung von heute Morgen. Und ihr kamen die beiden Fremden an Matthias’ Grab in den Sinn. Wer das bloß gewesen war? Warum und womit hatte er sie erpresst? Kurz entschlossen schnappte sie sich einen Bierdeckel vom Tisch, ließ sich vom Kellner einen Kugelschreiber geben und fing an, sich Notizen zu machen. Sie schrieb:

Mann:

mind. 1,90 m groß

tiefe nuschelnde Stimme

Glatze?

kein erkennb. Dialekt

Kleidung: Mantel?

Schuhe? Fußabdrücke?

Alter? Ca. 40 bis 50 J.?

Charakter: eher zurückhaltend?

Frau:

Größe ca.1,70–1,75 m

akzentuierte Sprechw.

laut u. deutl.

rheinischer Einschl.?

lange Haare? Blond?

Kleidung: Rock o. Kleid?, Mantel?

Alter? Ca. 45 J.?

Charakter: dominant?

dritte Person: der Dicke

???

Inzwischen bekritzelte sie schon den dritten Bierdeckel und war mit dem Ergebnis wenig zufrieden. Vor allem die vielen Fragezeichen nervten. Nele sah ein, dass sie so nicht weiterkam. Irritiert bemerkte sie, dass der nette italienische Kellner plötzlich neben ihr stand und ihr einen kleinen Notizblock reichte.

»Ist mehr Platz drauf«, erklärte er und lächelte breit.

»Äh … danke, nicht nötig.« Augenblicklich kam sie sich besonders dämlich vor. Jetzt kriegten schon Fremde mit, wie absonderlich sie sich benahm. Und es war ja auch völlig verrückt, begriff sie, während der Kellner achselzuckend weiterzog. Um zu wissen, wie Matthias in den letzten Jahren gelebt hatte und warum er auf diese schreckliche Art hatte sterben müssen, brauchte sie doch nur Kontakt mit seiner Familie und den Freunden von früher aufzunehmen. Aber genau davor graute ihr aus verschiedenen Gründen.

Sie hatte keine Ahnung, wie man ihr begegnen würde. Immerhin hatte sie damals die Beziehung beendet und sich ziemlich schäbig benommen. Würde man ihr heute deswegen noch Vorwürfe machen? Außerdem wollte ein Teil von ihr gar nicht wissen, wie dreckig es ihm ergangen war. Heuchlerin, schimpfte sie sich aus. Es war feige, auf den Friedhof zu gehen, um dort Blumen abzulegen, und andererseits mit dem Schicksal dieses Menschen, das ihn dahin geführt hatte, nichts zu tun haben zu wollen. Nicht wenn es um jemanden ging, den man mal geliebt hatte.

Aus der Liebe erwächst Verantwortung. War das nicht immer ihr Spruch gewesen? Wenn sie den ernst nahm, stand der nächste Schritt fest.

Apropos Verantwortung: Zu Hause wartete jede Menge davon auf sie. Nach der siebten Stunde kamen die Mädchen nach Hause, und sie musste noch kochen. Außerdem harrte ein Wäscheberg darauf, zusammengelegt zu werden. Anschließend stand die Fahrt nach Köln zu Frank, ihrem Exmann, an, denn heute begann ein sogenanntes Papa-Wochenende. Keine reine Freude. Greta würde unentwegt maulen, weil sie lieber mit ihren Freunden abhängen wollte, und Anne würde sie wie immer zu überreden versuchen, noch ein bisschen zu bleiben. Frank würde sich dann genötigt fühlen, sie hereinzubitten. Jacqueline, seine vierzehn Jahre jüngere und sehr eifersüchtige Frau, würde gute Miene zum bösen Spiel machen und sie zum Abendessen einladen.

Marc dagegen erwartete garantiert, dass sie den Abend und den Rest des Wochenendes bei ihm verbrachte. Na, in der Stimmung war sie nun wirklich nicht. Hastig klaubte Nele ihre drei Bierdeckel zusammen, zahlte und eilte Richtung Parkdeck. Im Auto sitzend schickte sie Marc die fällige SMS: »Hallo, Schatz, schaffe es heute nicht. Sehen wir uns evtl. morgen? Kuss und LG«.

Gut, ein Problem war schon mal gelöst.

Marc

Die Kurzmitteilung erreichte Marc in der Firma, während er den fünften Kaffee in sich hineinschüttete. Es war ein typischer Vormittag gewesen; er hatte versucht, einen Berg an E-Mails zu bewältigen und gleichzeitig Telefonate zu führen, und er war damit beschäftigt gewesen, diverse Aufgaben an seine Angestellten zu delegieren. Eine Mittagspause konnte er sich als Geschäftsführer der eigenen Softwarefirma sowieso nicht leisten. Aber genau so gefiel ihm der Job. Der Adrenalinkick bei Vertragsabschlüssen sowie die ständige Flexibilität in Denken und Handeln, die er sich selbst abforderte und die trotz Weltwirtschaftskrise zum finanziellen Erfolg der Firma geführt hatte, waren seine Drogen heute.

Marc war enttäuscht von Neles Absage, und doch sagte er sich, dass er diese Reaktion hätte voraussehen müssen. Auf eine Kränkung reagierte sie immer mit Rückzug. Trotzdem versetzte es ihm einen Stich. Ob sie sich morgen sehen würden? Wer weiß! Das konnte ja ein schönes Wochenende werden. Nun, er war selbst schuld. Warum hatte er sich heute Morgen nicht auf die Zunge gebissen und sie ausreden lassen? Sie war bedrückt gewesen, das hatte er doch deutlich gespürt. Aber wenn es um Matthias Hellmann ging, hakte einfach etwas bei ihm aus.

Der Name allein erinnerte ihn an eine Zeit, die er am liebsten aus dem Gedächtnis gelöscht hätte. Er war alles andere als stolz auf sich, wenn er an die Jahre von ’87 bis ’89 zurückdachte. Was war er doch für ein Unsympath gewesen! Und wenn er sich an Barbie erinnerte – so hatten er und die anderen Tina Hillebrandt heimlich tituliert –, wurde ihm kotzübel. Warum hatte er sie damals nicht daran gehindert, Matthias und diesen Meyer an die Bullen zu verpfeifen? Er hatte doch in dem Moment, als sie zum Auto lief, genau gewusst, was sie plante. Feige war er gewesen und hatte Schiss vor den Konsequenzen gehabt, die Hellmann angedroht hatte. Dabei war der gar nicht so übel gewesen, nur total kaputt, immer auf Speed oder Koks und vielleicht nicht gerade der Hellste. Den Erlös aus der Dealerei brauchte er für den eigenen Konsum. Marc wusste das, blieb trotzdem mit seinen Zahlungen im Verzug und reizte Hellmanns Langmut bis an die Grenze aus. Kein Wunder, dass es dem irgendwann gereicht hatte.

Na ja, dank Tina wurde Hellmann für ein knappes Jahr weggeschlossen. Trotzdem ging Marc der Arsch auf Grundeis. Er befürchtete, dass Hellmanns Freunde in seinem Auftrag die Schulden eintreiben würden. Und mit den Typen war nicht gut Kirschen essen.

Also verzichtete er auf seine Europareise per InterRail-Ticket, gab Nachhilfestunden, jobbte im Fitnesscenter und schnorrte sich Geld bei den Eltern und Großeltern. Nach kurzer Zeit hatte er die Summe, die er Matthias schuldete, zusammen.

Keiner aus der Clique ahnte etwas, ebenso wenig wie davon, dass er eines Abends im Juli zum Sozialbau der Hellmanns nach Holzbüttgen radelte, um das Geld in den Briefkasten zu werfen. Mein Gott, mindestens vierzig Parteien hausten in dem heruntergekommenen Wohnblock. Er suchte eine Weile, bis er die Klappe mit dem Aufdruck »Hellmann/Liborski« fand. Er hoffte, dass sich die Sache damit erledigt hatte.

Zwei Wochen später bekam er Post aus der JVA Heinsberg. Aus dem grauen Umschlag fiel eine Fotokarte in Schwarz-Weiß. Sie zeigte ein Überholschild, über das eine Schnecke kroch. »Hallo, Warberger!«, stand da in ordentlicher Handschrift. »Danke für die Aufmerksamkeit. Meine Mutter und meine Schwestern haben sich echt gefreut. Und ich erst. War mir aber klar, dass man sich auf dich verlassen kann. Man sieht sich nächstes Jahr, wenn alles gut geht. Matthias«.

Marc war zuerst verblüfft über die steifen Floskeln, bis er begriff, dass Briefe, die die Häftlinge schrieben, von den Gefängnisangestellten gelesen werden konnten. Danach empfand er sogar ein bisschen Respekt vor Hellmann. Nachtragend war der jedenfalls nicht! Nur gut, dass er nicht wusste, wer ihn denunziert hatte.