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Auf dem Campingplatz von Jule und Michael wird bei Bauarbeiten eine Kinderleiche gefunden - ausgerechnet vorm Pfingstwochenende. Die Gäste sind verunsichert, der Campingplatz in der Eifel zudem in einem miserablen Zustand, weil Benny, der Sohn eines Kumpels von Michael, lieber die Zeit mit der 13-jährigen Annalena verbringt als mit der Instandhaltung des Areals. Jule beobachtet das Treiben der beiden mit großem Unwohlsein und sieht sich bestätigt, als Annalena eines Tages verschwindet. Die Spur führt nach Kaarst und Neuss …
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Seitenzahl: 317
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Christiane Wünsche
Kinderleicht
Kriminalroman
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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© 2014 – Gmeiner-Verlag GmbH
Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
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Alle Rechte vorbehalten
Herstellung / E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © montecarlo / photocase.de
und © GoldPix – Fotolia.com
ISBN 978-3-8392-4526-2
Camping ist wie ein Entkommen
Von jenem Berg an schweren Dingen
Die mich in die Knie zwingen.
Sorgen, Probleme, Ängste, Pflichten
Schatten, die sich selten lichten.
Mühen, Ballast, Putzen, Räumen …
Möchte von was anderem träumen,
Hab mir darum frei genommen.
Flugs den Hausrat mitgenommen,
Klamotten gestapelt, Essenseinkauf,
Klappstuhl und Tisch pack ich oben drauf.
Wohnwagen schwitzend angehängt,
Losgefahren, hoppla, sehr beengt!
Mein Haus auf Rädern ruckelt sacht.
Nichts vergessen? Alles bedacht?
Camping ist wie ein Entkommen?
Auf dem Stellplatz angekommen,
Flugs Wohnwagen aufgebockt,
und ans Stromnetz angedockt.
Die Vorzeltstangen wehren sich,
Wollen nicht so recht wie ich.
Mühen, Ballast, Putzen, Räumen …
Vom Nichtstun kann man da nur träumen,
Denk ich nunmehr ganz benommen.
Der nächste Morgen naht verschwommen;
Ich lieg in meiner kleinen Welt.
Ein Sonnenstrahl durchs Fenster fällt.
Vögel zwitschern, Blätter rauschen,
Auch fremden Stimmen kann ich lauschen.
Ich wanke müd zum Sanitär
Durch Wind und Wetter, bitte sehr.
Nun bin ich endlich angekommen.
Brötchen hab ich noch bekommen
Im Laden an der Rezeption
Frühstück im Grünen ist mein Lohn.
Sitze still im Klappstuhl da,
Bin ganz selten mir so nah.
Bekannte Sorgen flüstern leise,
Einzeln, zart und häppchenweise.
Und Passendes wird angenommen,
Denn Camping ist Entgegenkommen.
Wenn ihr nicht umkehrt
und werdet wie die Kinder,
so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen.
Matthäus 18,3
Es war dunkel, die Zähne des Kindes schlugen klappernd aufeinander. Ob es vor Kälte oder vor Furcht zitterte, konnte es nicht unterscheiden – das Gefühl der Verlassenheit überlagerte alles andere.
Daher wusste es nur eins mit absoluter Sicherheit: Es wollte und konnte nicht länger allein sein. Und es ahnte, dass etwas Schlimmes passieren würde. Ein Grauen war in der Stille zu spüren, die das Kind von allen Seiten umgab, ihm ein Summen in den Ohren verursachte und als Druck auf dem Bauch lastete.
Warum kam niemand, um nach ihm zu sehen? So lange schon nicht?
Nur mit Mühe erinnerte es sich, dass alles auch anders sein konnte. Licht, Wärme, Mama und Papa, zärtliche Blicke, freundliche Sätze. Geborgenheit. Liebe.
Das war vorbei.
Aber warum?
In seinem tiefsten Inneren vermutete das Kind, dass es selbst die Schuld an seiner schlimmen Lage trug. Aber das half nicht, sich besser zu fühlen, im Gegenteil.
Es verstärkte nur die Ahnung, verloren zu sein. Für immer.
Das Kind konnte nicht einmal mehr weinen. Sein Mund wurde trocken; es lehnte den Kopf an die Wand und schloss die Augen.
Das Dröhnen des Dieselmotors zerriss die Stille; dann erstarb es wieder. Michael Faßbinder war genervt. Seit Stunden hatten sie geackert, und inzwischen versengte ihm die Mittagssonne Nacken und Arme. Aber es ging nicht voran. Mit dem Bagger hatten sie es bisher nicht vermocht, ein Loch in den harten Boden zu reißen, nicht die Spur von einem Loch! Und das würde sich so bald wohl auch nicht ändern. Eddie mit dieser rostigen Schrottkarre, bei der dauernd der Motor ausging. Eddie mit seinen leeren Versprechungen, dem Sammelsurium im Werkzeugkoffer und einer Fahne von hier bis Holland. Es war zum Kotzen!
Michael setzte sich im Schatten eines Haselstrauchs auf einen Baumstumpf, trank einen Schluck Bier aus der Flasche und nahm sich vor, ganz ruhig zu bleiben. Das war nicht leicht, weil er dabei Eddie, Miro und Heinz vor Augen hatte, wie sie langatmig darüber beratschlagten, warum der Bagger zum zigsten Mal innerhalb der letzten halben Stunde verreckt war. Als hätten sie alle Zeit der Welt!
Hatten sie aber nicht, denn heute war Freitag und damit die letzte Chance, die Grube für den neuen Pool am Rande des Campingplatzes Eifelwind auszuheben. Morgen begann das Pfingstwochenende – Hochsaison. In Scharen würden die Gäste anreisen – einige schon heute Nachmittag, mit Wohnwagen, Wohnmobil oder Zelt und Kind und Kegel. Sie alle würden allerhöchstens zartes Vogelgezwitscher oder das Rauschen des Steinbachs in den Ohren haben wollen, aber garantiert keinen Baulärm. Michael verzog unwillig das Gesicht.
Das hier lief nicht so, wie er es sich vorgestellt hatte.
Eine dicke Hummel brummte behäbig an ihm vorbei und ließ sich auf einer Distelblüte nieder. Nach einer Weile flog sie weiter zur nächsten Blume, taumelnd und träge. Micha wünschte sich, sich an ihrer Gelassenheit ein Beispiel nehmen zu können. Stattdessen machte ihn das Gerede der Männer einfach nur kirre.
»Der kriegt nicht genug Saft«, vermutete gerade Miro, gebürtiger Kroate, seit letztem Winter Angestellter auf dem Campingplatz, und kratzte sich den kahl geschorenen Schädel. »Ist zu schlapp, deshalb säuft der immer ab. Vielleicht ist die Einspritzpumpe kaputt.«
»Blödsinn, das liegt am harten Untergrund. Die Maschine ist fit«, verteidigte Eddie seine uralte Rostlaube und tätschelte zärtlich das verbeulte Blech. Er hatte, bevor er in der Eifelwind-Kneipe kellnerte, als Kfz-Meister in einer Autowerkstatt gearbeitet und liebte es, gebrauchte Fahrzeuge aller Art anzukaufen und zu reparieren. »Außerdem habe ich den Motor doch gerade durchgecheckt.«
»Mit dem Boden könntest du recht haben. Das klappt so nicht«, pflichtete ihm Heinz Metzen bei, ein Landwirt Ende 50. Sein Land grenzte unmittelbar an das Grundstück des Campingplatzes an. Bedächtig fuhr er sich mit seiner Riesenpranke über die grauen Bartstoppeln im Gesicht und am Hals, hoch und runter, sodass es rhythmisch schabte, bis er – nach einer Ewigkeit – nickte wie ein Wackeldackel. »Am besten hol’ ich meinen Traktor mit dem Grubber hinten dran. Der soll den Boden ordentlich durchpflügen. Den Rest kann dann dein mickriger Raupenbagger erledigen, Eddie. Was sagst du dazu, Micha?«
Michael guckte skeptisch. Bis Heinz seinen Traktor herbeigeschafft hatte, verging garantiert eine halbe Stunde; viel Zeit blieb ihnen dann nicht mehr. Aber welche Alternative hatten sie?
»Okay, dann mal los.« Er grinste müde und wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. »Aber beeil dich, ja?«
»Klar.«
Worauf Metzen in aller Gemütsruhe auf sein Fahrrad stieg und ein lustiges Liedchen pfeifend im Zeitlupentempo losradelte, um in Schlangenlinien über den Schotterweg am Spielplatz vorbei Richtung Angelsee und Rezeption zu eiern. Micha stöhnte auf; er fühlte sich an die Hummel von eben erinnert.
Miro ging derweil zum Pinkeln rüber aufs Männerklo, und Eddie ließ sich neben Micha auf einen Holzklotz plumpsen. Die Äderchen auf seiner Nase und den hängenden Wangen leuchteten blaulila, seine Augen blinzelten gelblich trüb. Eddie war ein Säufer vor dem Herrn, dennoch war er immer zur Stelle, wenn man ihn brauchte. Micha schätzte das sehr an ihm.
»Knüppelhart, die Erde, wundere mich, dass du es überhaupt geschafft hast, hier zu roden. Aber, warte mal: Ungefähr an dieser Stelle müssen die Grundmauern von Hannis Hütte gestanden haben.«
Michael runzelte die Stirn. »Ich hab’ mich schon gefragt, warum in den Büschen so viele Bruchsteine lagen. Da stand mal ein Haus?«
»Haus ist zu viel gesagt. War vor Urzeiten. Ich weiß, dass der Hermann – Gott hab’ ihn selig! – damals, als er den Campingplatz aufgebaut hat, ist mindestens 40 Jahre her, Steine und alte Balken davon für das erste Sanitärgebäude verwendet hat. Die brauchte ja keiner mehr. Und das Gelände hier am Steinbach war damals schon ganz zugewuchert.« Eddie nickte gewichtig Richtung Waldrand und Hang.
Micha folgte seinem Blick und blieb mit den Augen in den Wipfeln der Tannen und Laubbäume hängen, die zusammen mit dem Bachlauf die natürliche Grenze des Campingplatzes bildeten. Dann drehte er den Kopf und schaute hinüber zu den saftigen Wiesen voller Gänseblümchen, auf denen bislang nur vereinzelte Wohnwagen aufgebockt waren, und schließlich zum Rezeptionsgebäude.
Was Jule wohl gerade machte? Hatten sie und Gerti, seine Großtante, viel zu tun? Meldeten sich heute noch viele Campinggäste an? Sagten welche ab? Hoffentlich nicht! Sie brauchten die Einnahmen dringend. Der Winter war lang gewesen und der Frühling außergewöhnlich kalt, schlecht fürs Geschäft. Aber jetzt, kurz vor Pfingsten, war es endlich wärmer geworden. Fast schon zu warm.
Scheiße, Jule würde sauer sein, wenn die Baugrube heute nicht ausgehoben werden würde. Sehr sauer! Die Wanne für den Pool war seit Monaten bestellt und sollte in einer Woche angeliefert werden. Und eigentlich hatte er ihr schon im März versprochen, die Sache mit Eddie und Miro durchzuziehen und mit Eddies tollem Bagger … Oh Mann, er hatte doch nicht ahnen können, dass die Karre dermaßen marode war. Er atmete tief durch und stand auf. Michael wollte Jule nicht schon wieder enttäuschen. »Ich hol mir noch ein Bier. Willst du auch eins, Eddie?«
»Immer.«
Er ging die paar Schritte zum Steinbach und fischte zwei volle Flaschen aus dem Kasten, den er dort im kühlen Wasser deponiert hatte. Ein Schwarm winziger Fischlein stob auseinander. Das Sonnenlicht flirrte zwischen den Schatten der Blätter über die Wasseroberfläche.
Er seufzte. Manchmal, besonders in den letzten Monaten, stieg ihm die Verantwortung für den Eifelwind über den Kopf. Dann wünschte er sich zurück in eine Zeit, als er nicht Mitbesitzer des Platzes gewesen war, sondern nur einfacher Arbeiter, so wie Miro, der gerade, eine Zigarette lässig im Mundwinkel, über die Wiese zu ihnen zurückschlenderte.
Jule Maiwald ärgerte sich. Die vierköpfige Familie mit Hund aus Duisburg, die eben mit einem verbeulten und bemoosten Knaus angereist war, weigerte sich, den ihr zugewiesenen Stellplatz einzunehmen.
»Das Gras steht kniehoch«, beschwerte sich der bierbäuchige Vater mit Halbglatze und seiner griesgrämig dreinblickenden Ehefrau im Schlepptau, während die beiden Kinder im Hintergrund miteinander stritten und ihr Zwergpudel enervierend grell kläffte. »Und die Hecke nimmt uns die ganze Sonne und den Platz für den Wohnwagen. Die hätte längst beschnitten werden müssen. Das ist eine Zumutung.«
Jule kniff verärgert die Augen zusammen, bevor sie bemüht freundlich antwortete: »Ich werde es mir gleich anschauen. Aber wie wär’s, wenn Sie einfach einen der freien Premiumplätze mit Seeblick nähmen, zum gleichen Preis wie der von Ihnen gebuchten Standardplatz am Wald?«
Der Dicke und seine Frau nickten gnädig. Jule lächelte angestrengt und zeichnete mit dem Kugelschreiber Kringel um die entsprechenden Plätze auf dem Plan, der vor ihnen auf dem Tresen lag.
»Gut, dann suchen Sie sich bitte einen von diesen aus … Sie fahren dazu links an der Rezeption und an der Eifelwind-Gaststätte vorbei …« Geduldig beschrieb sie den Leuten den Weg, während sie innerlich vor Wut kochte. Benny Zierowski, dich nehme ich mir vor!
Wenige Minuten später hatte Gerti Weyers sie an der Rezeption abgelöst, und Jule schlappte eilig in Flipflops über den Platz. Beiläufig fragte sie sich, wie Micha und seine drei Freunde vorankamen. Den Dieselmotor des Baggers hörte sie jedenfalls nicht. Gut so, denn gleich, um 13 Uhr, begann die Mittagsruhe im Eifelwind. Dann sollten die lautesten Arbeiten erledigt sein.
Wo steckte Benny bloß?, fragte sie sich und strebte dem Waschhaus zu. Aber weder vor noch hinter dem Gebäude erspähte sie den hoch gewachsenen jungen Mann in der grünen Arbeitslatzhose. Auch von dem Traktorrasenmäher, mit dem er unterwegs war, sah und hörte sie nichts. Jule runzelte die Stirn. Ihr Blick wanderte hin zum Angelsee und zur Zeltwiese.
Auch dort stand das Gras viel zu hoch. Benny hätte es längst mähen sollen. Schließlich hatte sich für heute Nachmittag eine Gruppe Jugendlicher mit sechs Zelten angemeldet. Jule schimpfte unflätig vor sich hin. Es war nicht das erste Mal, dass sie sich über Bennys Unzuverlässigkeit aufregte. Wie oft hatte sie Micha schon gebeten, mit dem neuen Saisonarbeiter ein ernstes Wörtchen zu sprechen.
»Es geht nicht an, dass er sich hier alle Freiheiten rausnimmt, nur weil du mit seinem Vater befreundet bist«, war sie in ihn gedrungen.
»Okay, ich rede mit ihm«, hatte Micha versucht, sie zu besänftigen, »aber du weißt, der Junge hat es nicht leicht. Es bringt nichts, ihm zu viel Druck zu machen. Warte mal ab, der fängt sich schon.«
Na, von wegen! Statt besser war es in den letzten Wochen immer schlimmer mit Benny geworden. Selbst jetzt, kurz vor dem Pfingstwochenende, was hier im Eifelwind nichts anderes als Hochsaison bedeutete, kapierte der Junge nicht, worauf es ankam. Und das mit immerhin fast 20 Jahren!
In dem Moment sah sie den Rasenmäher gelb hinter einer Buchenhecke hervorblitzen. Sie lief näher, wobei sie sich den nackten Zeh an einem spitzen Stein auf dem Schotterweg stieß. Fluchend bog sie um die Kurve, wo sie Benny und ein junges Mädchen entdeckte, die einträchtig im Gras beisammen hockten, die Gesichter dem See zugewandt. Über ihnen kräuselte sich ein dünner Rauchfaden im Sonnenlicht. Sie hörte das sonore Brummen von Bennys Stimme, kurz darauf das helle Lachen des Mädchens. Annalena! Nicht schon wieder Annalena, dachte Jule. Ständig hing Benny mit der 13-Jährigen herum. Das gehörte sich nicht, und zwar nicht nur, weil Annalena Dyckerhof fast noch ein Kind war, nein, vor allem zählte sie zu den Campinggästen. Mit schmerzendem Zeh humpelte sie näher.
Da roch sie es. Sie fokussierte die beiden Gestalten genauer und beobachtete, wie Benny gerade etwas Schmales, Weißes an Annalena weitergab.
Sie glaubte, sich verguckt zu haben, aber schon war sie bei den beiden angelangt, und das Ding in Annalenas Hand war genau das, was sie vermutet hatte.
»Ich glaube, ich spinne!«, polterte sie los. Benny und Annalena zuckten zusammen, während Jule ungläubig auf den Joint in der Hand des Mädchens starrte.
»Annalena, gib mir das, und dann läufst du mal ganz schnell zu eurem Wohnwagen«, sagte sie mit mühsam unterdrücktem Ärger. »Ich werde mit deiner Mutter sprechen müssen. Und du, Benny, packst sofort deine Sachen. Ich will dich hier im Eifelwind nicht mehr sehen! Mach, dass du verschwindest. Du bist fristlos gekündigt, verstanden?« Mit spitzen Fingern nahm sie den Joint entgegen, warf ihn auf den Boden und trat ihn gründlich mit der Sohle ihres Flipflops aus.
»Aber … Frau Maiwald …« Das kam von Annalena, deren grünbraune Augen sie mit einer Mischung aus Erschrecken und Rebellion ansahen. Bennys sowieso schon blasses Gesicht mit den Aknenarben war kalkweiß geworden, doch er sagte nichts. Stattdessen stand er ungelenk auf, klopfte sich die Grashalme von der Arbeitshose und schlurfte mit gesenktem Kopf in Richtung Eifelwind-Kneipe davon.
»Ich werde dich anzeigen!«, rief Jule ihm noch hinterher, aber es verschaffte ihr keine Erleichterung. Stattdessen baute sich die Wut turmhoch in ihr auf. Du kleines Arschloch, dachte sie. Man gibt dir hier die letzte Chance, die du kriegen kannst, nimmt dich freundlich auf und verschafft dir einen guten Job, und du trittst das mit Füßen und kiffst mit minderjährigen Gästen!
Annalena hatte sich ebenfalls erhoben. Jule bemerkte nicht zum ersten Mal, wie erwachsen sie ihr vorkam. Obwohl ihre Figur altersgemäß schmal wie kurvenlos war und nur ein winziger Brustansatz ihr T-Shirt ausbeulte, wirkte ihre Miene unter den dünnen braunen Haaren reif und abgeklärt. Auch sah sie überhaupt nicht zerknirscht aus. Im Gegenteil! Verblüfft erkannte Jule, was es war, das in den Augen des Mädchens aufblitzte, bevor es sich abwandte und über die Wiese davonging: der reinste Triumph.
Jule nahm das Knattern des Traktors am Waldrand lediglich am Rande wahr; zu sehr war sie mit dem beschäftigt, was sie gerade erlebt hatte. Schnaubend vor Entrüstung rannte sie zur Rezeption, wo Gerti, Michas alte Großtante, gerade telefonierte.
»Joh, dat jing noch«, schnarrte ihre rauchige Altstimme im gemächlichen Nordeifeler Dialekt durch den Raum. In einen magentafarbenen Strickpulli mit Dreiviertelärmeln gezwängt, der ihre ausladenden Formen und den enormen Busen noch betonte, thronte sie hinter der Theke, die goldenen Armreifen an den Handgelenken klimperten bei jeder Bewegung. Ihr gutmütiges, zerknittertes Gesicht verzog sich zu einem breiten Lächeln, als sie Jule gewahr wurde. »Do hann mir noch zwei Plätz nevvenenanner freij. Soll ich reserviere? Op Lohfelder? Jut, ess jebonkt.«
»… Also hab’ ich ihn rausgeschmissen!«, schloss Jule ihren Bericht wenige Minuten später.
»Sollste net besser met Micha dorövver schwätze?« Gerti Weyers guckte besorgt. »Ich mejne, secher wor et de richtije Entschluss. Äwwer dä Micha muss doch och dem Willi Bescheijd soohn, äwwer net?«
Willi Zierowski war Bennys Vater und ein alter Freund Michas, der in Kaarst-Holzbüttgen einen Gebrauchtwagenhandel betrieb. Jule und Micha hatte er für die Sommermonate seinen schwierigen Sohn anvertraut, der nach mehreren Ehrenrunden die Schule geschmissen und ohne Beschäftigung in den Tag hinein gelebt hatte. Benny sollte auf dem Familiencampingplatz in der Nordeifel lernen, regelmäßig zu arbeiten, sein Leben ordnen und nebenbei ein bisschen Geld verdienen.
»Ich erzähl es ihm später.« Jule schenkte sich Kaffee aus der Thermoskanne ein, die hinter ihr auf dem schmalen Sideboard stand. »Jetzt soll er erst mal die Grube für den Pool ausheben. Ich bin so froh, wenn das endlich erledigt ist. Außerdem will ich nicht, dass er womöglich die Kündigung zurücknimmt. Er hat einfach ein zu weiches Herz.«
»Do häss de wohl reäch«, nickte Gerti. »Ävver mit disser Geschiech hät Benny dä Bohje endjültich övvertrocke. Das wi-et dä Micha jenau esu sehn.«
»Hoffentlich.« Jule seufzte und nahm einen Schluck Kaffee. »Jetzt muss erst mal dafür gesorgt werden, dass jemand den Rasen auf der Zeltwiese mäht.«
»Ich kann doch bei Maria en dr Pangsion in Eischwieler aahnroofe«, schlug Gerti vor. »Ihren Ählste, dä Kevin, dä hät letzte Woche ahjefroch, ob mir eine Job für hänn hann. Dä hät bestemmp Zick.«
»Gute Idee! Dann gehe ich rüber zu Annalenas Mutter. Das wird unangenehm, aber ich komme wohl nicht darum herum …«
Heinz war tatsächlich mit seinem Traktor angeknattert gekommen. Nur 20 Minuten hatte er gebraucht. Grinsend hockte er oben auf dem Bock, eine Pfeife zwischen die Zähne geklemmt, versenkte den Grubber nach unten – Micha hatte keine Ahnung, warum das Ding »Grubber« hieß und was der Unterschied zu einem stinknormalen Pflug sein sollte – und riss damit tiefe Furchen in den Boden. Dann setzte er zurück und fuhr wieder an. Dreck und Steine spritzten zur Seite; Micha sah einen großen Gesteinsbrocken wegkippen. Gleichzeitig sackte ein Rad des Traktors ab. Heinz, jetzt in Schräglage, gab Gas und befreite das Fahrzeug souverän aus der Vertiefung. Erneut legte er den Rückwärtsgang ein, bevor er mehrmals mit dem Grubber das Areal umgrub. Bald war die Luft angefüllt mit Staub und Dieselgestank und der Boden ein zerwühlter Acker.
»Genug! Das dürfte für meinen Bagger ausreichen!«, schrie Eddie gegen den Lärm an.
Heinz brüllte ein »Jou!« zurück und parkte den Traktor auf der Wiese am Spielplatz. Micha hustete sich den Staub aus den Lungen und leerte sein Bier, während jetzt endlich Eddie zum Zug kam. Ein ums andere Mal grub sich die Schaufel seines Raupenbaggers in die gelockerte Erde. Bald bildete sich ein Berg aus Erdreich und Gesteinsbrocken am Waldrand, den Micha, Heinz und Miro mit ihren Spaten zu einem ordentlichen Wall auftürmten. Micha freute sich. Endlich ging es voran. So, wie es aussah, schafften sie es heute doch noch fertigzuwerden.
In dem Moment passierte das Unfassbare. Eddie feixte gerade noch triumphierend, stolz wie Oskar auf die Power seines Baggers, als urplötzlich der Boden unter ihm nachgab und die Maschine mit der Schaufel nach vorn kippte. Das Raupenband hing rotierend in der Luft. Mit einem Schrei stürzte Eddie aus der offenen Fahrerkabine kopfüber in das Loch, das sich wie aus dem Nichts mitten in der Baustelle aufgetan hatte. Es polterte ohrenbetäubend, Staub wirbelte auf, der Bagger gab ein röchelndes Geräusch von sich und verstummte. Dann war alles still.
Heinz Metzen reagierte als Erstes. Er warf seinen Spaten weg, rannte zu der Öffnung im Boden und starrte hinein. Miro folgte. Dann kraxelte er, wilde kroatische Flüche ausstoßend, hinunter zu Eddie. Nur Micha war wie erstarrt. Erst nach ein paar Sekunden konnte er sich regen. Er traute seinen Augen kaum. Unten in dem Loch, etwas tiefer als der abgestürzte Bagger, hockte ein verwirrter Eddie zwischen alten Brettern. Erde, zerbrochene Backsteine und Holzstücke bedeckten seine Beine, seitlich und halb über ihm sah man eine Art gekrümmtes Mauerwerk. Auf einem Berg aus Dreck und Gestein aber stand Miro und zeigte mit zitternden Fingern auf etwas, das direkt neben Eddies Kopf lag: ein gelblicher Totenschädel.
Wenige Minuten später hatten sie Eddie von Brettern und Geröll befreit. Gott sei Dank war er bis auf ein paar Schürfwunden an Schienbein und Rücken unverletzt. Micha verständigte per Handy die Polizei. Was blieb ihm auch anderes übrig?
Anschließend hockten sich die vier Männer, jeder mit einem kalten Bier ausgestattet, an den Rand der Baugrube und stierten fassungslos auf die menschlichen Überreste, die Eddies Bagger zutage gefördert hatte.
»Das da drüben ist, glaube ich, ein Hüftknochen«, mutmaßte Heinz und deutete auf ein tellerförmiges, schmutzig weißes Ding, an dem Fetzen von dunklem Stoff hingen.
»Ja, und dort liegt was, das wie ein Stück von ’ner Wirbelsäule aussieht.« Miro schüttelte sich.
»Am schlimmsten finde ich das da«, murmelte Micha. In der Ansammlung von Skelettteilen hatte er rostige Eisenteile entdeckt, Ketten, die mit einem Ende in der Gewölbewand verankert waren und am anderen Ringe aufwiesen. In einem von diesen steckte ein langer, dünner Knochen. Unangenehme Erinnerungen wurden in ihm wach.
Er schluckte. »Ich glaub, der, den man hier verbuddelt hat, ist angekettet worden.«
»Was heißt hier verbuddelt?« Eddie feixte müde und rieb sich das Knie. »Mein Bagger ist in den Keller von Hannis Hütte gestürzt, schätz’ ich. Ich wusste gar nicht, dass das Haus einen hatte. Das Skelett – ich meine, der Mensch, zu dem es mal gehörte – war garantiert da unten eingesperrt. Und die Holzlatten hier vorn, mit dem Riegel dran, auf denen ich vorhin gelandet bin, gehörten vielleicht zu ’ner Tür.«
»Ach du Scheiße«, stöhnte Micha.
»Allerdings.« Heinz nickte gewichtig. »Sieht mächtig nach einem Gewaltverbrechen aus. Ich meine, offensichtlich hat sich jemand viel Mühe gegeben, sein Opfer zu verbergen. Dass hier ein Keller war, konnte doch keiner ahnen. Überall Gras und Büsche drüber. Micha, deinen Pool kannst du erst mal vergessen.«
Der zuckte schicksalsergeben mit den Schultern. »Das schätze ich auch.«
Ellen Dyckerhof wirkte wie immer leicht zerzaust, als Jule ihren Stellplatz und den zweiachsigen, luxuriösen LMC erreichte. Die Dyckerhofs hatten den riesigen Wohnwagen und das Vorzelt mit Erker auf einem der großen sonnigen Komfortplätze direkt am unteren Teil des Sees aufbauen lassen, nicht allzu weit von Rezeption undEifelwind-Gaststätte entfernt. Ellen fläzte sich in einem Campingliegestuhl mit dicker Auflage, hatte die nackten Füße auf das Fußteil gelegt und kuschelte mit Lars-Friedrich, ihrem sechsjährigen Sohn. Ihre blonden Haare sahen von hinten aus wie ein Vogelnest, und wieder einmal wunderte Jule sich, wie eine so attraktive und wohlhabende Frau es schaffte, dauernd irgendwie ungepflegt zu wirken. Dabei trug sie ausschließlich Markenklamotten und hatte sauber manikürte und lackierte Finger- und Fußnägel. Als sie jetzt aufschaute, bemerkte Jule, dass ihre Wimperntusche unter den Augen verlaufen war. Außerdem hingen Krümel in ihrem Ausschnitt.
»Oh, hallo, Frau Maiwald.« Ellen lächelte wie von weit her und verwuschelte dabei das weizenblonde Haar ihres Jüngsten.
»Hallo, ist Annalena hier irgendwo?«
»Nö, die haben wir seit Stunden nicht mehr gesehen, nicht wahr, Larsemaus?«
»Frau Dyckerhof, könnte ich wohl bitte kurz allein mit Ihnen sprechen?« Jule räusperte sich. Dieses Gespräch zu führen fiel ihr nicht leicht. Ellen war ihr sehr sympathisch; außerdem hatte sie das Gefühl, dass die Frau Ruhe und Entspannung dringend nötig hatte. Mit beidem würde es wohl gleich vorbei sein.
Ellen richtete sich verwirrt auf, drückte »Larsemaus« ein Küsschen auf die Wange und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Der Junge sprang sofort auf.
»Au ja! Wo ist denn das Geld? Soll ich Annalena und dir ein Eis mitbringen?«
»Im Vorzelt auf dem Schrank, Schatz. Nein, kauf nur eins für dich. Annalena holt sich nachher selbst eins.«
Kurz darauf lief Lars-Friedrich in fröhlichem Hüpfeschritt über den Rasen.
»So, jetzt sind wir allein.« Ellen Dyckerhof lächelte erneut, zog einen zweiten Campingstuhl heran, beförderte mit schwungvollem Griff eine halb volle Proseccoflasche unter den Beinen ihres Sitzmöbels zutage und schwenkte sie einladend. »Was gibt es denn Wichtiges? Ist es ernst? Trinken Sie trotzdem ein Gläschen mit?«
»Nein, danke.« Jule setzte sich. »Wenn ich jetzt Alkohol zu mir nehme, bringe ich später bloß die Reservierungen durcheinander. Gleich, nach der Mittagspause, herrscht hier Hochbetrieb. Viele Feiertagsgäste reisen schon heute an.«
»Wie schön, dass Annalena, Lars-Friedrich und ich nicht in so einem Stress angekommen sind. Vor zwei Wochen war es hier noch ruhig und beschaulich.« Ellen schenkte sich Prosecco nach und nippte an ihrem Glas. Dann betrachtete sie Jule prüfend. »Sie sehen aus, als wollten Sie mir etwas beichten. Hat Annalena etwas ausgefressen?«
»Nun ja«, Jule wand sich, »ich würde nicht sagen, dass hauptsächlich Annalena …« Sie holte tief Luft und gab wieder, was sie hinter der Buchenhecke beobachtet hatte.
»Oh, Sie meinen, meine Tochter hat … Marihuana … geraucht mit diesem, diesem Hilfsarbeiter?« Ellen richtete sich auf und nestelte an der weißen Dolce-&-Gabbana-Sonnenbrille herum, die an einer Goldkette um ihren Hals hing.
»Ja, das war eindeutig. Leider. Ich habe den jungen Mann natürlich sofort rausgeschmissen, aber – sehen Sie – Ihre Tochter hat freiwillig mitgemacht. Es sah jedenfalls sehr … einvernehmlich aus. Ich denke, Sie sollten ein ernstes Wörtchen mit ihr sprechen. Sie können auch überlegen, ob Sie Benny anzeigen wollen. Schließlich ist er erwachsen und strafmündig, Ihre Tochter dagegen nicht …«
»Nein, das wäre keine gute Idee.« Ellen schüttelte heftig den Kopf. »Ich möchte nicht, dass Detlef etwas von dieser Geschichte erfährt, wenn er morgen kommt. Er würde sich nur unnötig aufregen, und Schuld hätte mal wieder ich. Und Marihuana, nun ja, das haben wir doch alle schon mal probiert, oder nicht?«
Jule guckte verblüfft. »Aber doch nicht mit 13!«
»Ach, die Kinder werden heute viel schneller erwachsen als früher. Aber selbstverständlich werde ich mit meiner Tochter schimpfen.« Sie nickte und setzte sich die Sonnenbrille auf die Nase. Jetzt sah sie aus wie eine zerrupfte Schneeeule. »Ich geh’ sie mal suchen. Weit kann sie ja nicht sein.« Sie stand auf, schlüpfte in ein Paar hochhackige goldene Sandalen und schaute lächelnd auf Jule hinunter. Wie groß die Frau war, fast eins achtzig, schätzte Jule, und dabei gertenschlank wie ein Model. »Aber danke, dass Sie es mir gesagt haben. Und gut, dass Sie diesem jungen Mann gekündigt haben. Er war sowieso kein Umgang für meine Tochter. Und der fleißigste scheint er ja auch nicht zu sein.«
Und dann stöckelte sie davon, etwas wackelig auf den Beinen. Ob das an ihren Absätzen lag oder am Prosecco, wusste Jule nicht.
Als sie zurück zur Rezeption kam, begegnete ihr Lars-Friedrich, wie er genüsslich an einem Wassereis schleckte. Von seinen Fingern tropfte orangene Flüssigkeit auf das T-Shirt. Ein hübscher Junge, fand sie, allerdings ziemlich verträumt. In beidem kam er ganz nach der Mutter.
In dem Moment bogen ein silberner PKW und ein Van mit hoher Geschwindigkeit und quietschenden Reifen auf das Campingplatzgelände ein, die Schranke öffnete sich automatisch, und die Fahrzeuge rasten, Schottersteinchen zu den Seiten verspritzend, an ihr und dem Kind vorbei.
Mit offenem Mund starrte Jule ihnen nach. Was war denn jetzt los? Und hatte sie nicht gerade auf dem Beifahrersitz des ersten Fahrzeugs ein bekanntes, sehr feistes Gesicht gesehen? Verdattert und ziemlich beunruhigt lief sie hinterher.
»Wo ist die Leiche?«
Kriminalhauptkommissar Wesseling hatte erstaunlich behände seine mindestens 180 Kilo vom Beifahrersitz des vorderen Wagens gewuchtet und war wie ein Pinguin zur Baugrube gewatschelt.
Bei seinem Anblick stöhnte Micha unwillkürlich auf. Was wollte der denn hier? Gab es bei der Nordeifeler Kripo eigentlich keine anderen Kommissare?
Der fette Polizist war ihm in äußerst unliebsamer Erinnerung geblieben. Vor zwei Jahren hatte er ihn zu Unrecht des Mordes verdächtigt. Dass Michael Faßbinder wegen Einbruchs, Diebstahls und Körperverletzung vorbestraft war, hatte die Vorurteile Wesselings zusätzlich geschürt. Und Micha war sich sicher, dass der Mann ihn weiterhin verachtete und allenfalls einen Loser in ihm sah. Und das würde sich vermutlich nie ändern.
Widerwillig stand er auf, ging zu Kriminalhauptkommissar Wesseling hinüber und wies mit dem Finger in das Loch mit dem umgestürzten Bagger darin. »Dort liegt der Schädel, sehen Sie? Die anderen Überreste sind überall verteilt.«
»Ach, Herr Faßbinder«, sagte der Kommissar gedehnt und lächelte süffisant. »Was für ein zweifelhaftes Vergnügen, Sie wiederzusehen – und wieder im Rahmen einer Mordermittlung.«
»Wir wissen doch noch gar nicht, ob es sich um ein Verbrechen handelt«, gab Wesselings kleine, spindeldürre Kollegin mit den rot gefärbten Wuschelhaaren zurück, die Fahrerin des Wagens. Sie gesellte sich nun zu ihrem Vorgesetzten.
»Nun, ich glaube kaum, dass jemand hier auf dem Campingplatz eines natürlichen Todes gestorben ist, um sich anschließend eigenhändig zu vergraben. Nein, meine Liebe. Es kann sich nur um Mord handeln. Und dass Faßbinder seine Finger im Spiel hat, ist wohl mehr als offensichtlich. Wir kennen ihn ja, und es ist immerhin sein Grund und Boden, auf dem wir stehen, stimmt’s?«
Micha wurde blass. »Das ist doch Schwachsinn!«, gab er schließlich nur lahm zurück. »Warum sollte ich dann ausgerechnet an dieser Stelle das Loch für unseren Pool ausheben wollen?«
»Das werde ich schon noch herausfinden, aber der Hellste warst du ja noch nie.« Wesseling grinste provozierend.
Micha wusste, dass es dem Mann Spaß machte, ihn zu demütigen, und die beste Strategie, damit umzugehen, wäre sicher die, seine Unverschämtheiten zu ignorieren. »Seit wann duzen wir uns?«, rutschte ihm dennoch heraus.
»Kleinganoven wie du verdienen nicht allzu viel Höflichkeit.«
Micha ballte die Fäuste, als er Heinz’ Pranke auf dem Unterarm spürte. »Ruhig, Brauner, der kann dir gar nix«, beschwichtigte er.
In dem Augenblick passierten mehrere Dinge gleichzeitig. Micha wusste kaum, wo er hingucken sollte. Vier Personen rückten mit diversen Gerätschaften aus dem Van an, darunter ein grauhaariger Hüne mit Sonnenbrille und einem Aluköfferchen. Mit geschmeidigem Sprung landete er in der Grube direkt neben dem Schädel.
Außerdem kam Jule mit hochrotem Gesicht angerannt, ihr Blick aus den blauen Augen war eisig. »Was ist hier los?«, wollte sie in schneidendem Tonfall wissen, wobei sie abwechselnd Wesseling und Micha ins Visier nahm. »Und warum rasen Sie derart über den Platz? Unter den Campinggästen sind viele kleine Kinder!«
»Frau Maiwald, wie es aussieht, stecken wir mitten in einer Mordermittlung«, gab der Kommissar kühl und ungerührt zurück. »Dies ist ein Tatort oder zumindest ein Leichenfundort. Sie können froh sein, wenn wir den Campingplatz nicht sofort dichtmachen. Hajo, kannst du schon eine erste Einschätzung abgeben?«
Den letzten Satz hatte er dem silberhaarigen Hünen zugeworfen. Dieser betrachtete gerade, Latexhandschuhe an den Fingern, von allen Seiten den Schädel. Jule machte große Augen und tappte unsicher in ihren Schlappen über das Geröll hin zu Micha, der ihre Hand nahm und ihr leise erklärte, was passiert war.
»Beim Ausheben des Loches haben wir Menschenknochen gefunden, Stücke einer Holztür und … Eisenketten. Stell dir vor, unter dem Gras befand sich der Keller eines alten Hauses. Jemand hat dort eine Leiche …«
»Also, meiner Meinung nach handelt es sich um keinen ausgewachsenen Menschen«, rief der Mann in der Grube mit tiefer Stimme nach oben, »ein Kind von höchstens zehn Jahren, würde ich vorsichtig schätzen. Ob Junge oder Mädchen, werden mir Hüftknochen und DNA-Spuren verraten, später im Labor. Dieter, jetzt brauchen wir eine Sicherung des Fundorts. Und diese Zeugen hier sind bei der Arbeit auch nicht gerade förderlich. Schick sie fort.« Ungnädig wedelte er mit einer Hand, als verscheuchte er lästige Fliegen.
»Moment mal!« Jule wollte sich das nicht gefallen lassen. »Wer sind Sie überhaupt?«
Micha musste grinsen. Seine Lebensgefährtin reagierte bockig auf den Kommandoton. Typisch Jule.
»Professor Doktor Hans Joachim Erckenried, Leiter des zuständigen Gerichtsmedizinischen Instituts«, leierte der Mann gleichmütig herunter. Jule klappte den Mund zu.
»Kannst du schon sagen, wie lange die Leiche hier ungefähr gelegen hat?«, wollte Wesseling jetzt wissen.
»Nein, Dieter.« Der Riese schüttelte den Kopf und hielt sich dann den Schädel dicht vor die Brille. »Völlige Skelettierung. Können zwei Jahre sein oder 20 oder mehr. Der Zersetzungsgrad der Knochen und die Korrosion an den Eisenketten werden uns Hinweise geben; oder der Lederschuh oder die Textilreste hier. Aber ich mag mich noch nicht festlegen. Nein, das ist zu früh. Auch für eine Koryphäe wie mich.«
»Okay.« Wesseling nickte seiner Kollegin Angela Schneider zu. »Dann mal ran an die Arbeit. Notieren Sie die Personalien, während die Spurensicherung ihren Job macht. Ich fahre ins Büro. Bevor wir nicht ein ungefähres Zeitfenster für den Mord haben, kann ich nicht viel tun, höchstens die Vermisstendatei durchgehen. Ein Kind, na ja. Das ist sehr vage. Faßbinder und die anderen Zeugen sollen sich bis auf Weiteres zur Verfügung halten. Bis später.«
Sprach’s, stapfte zum Wagen und brauste davon. Wieder mit überhöhter Geschwindigkeit.
Eine halbe Stunde später beratschlagten sich Jule, Micha und Gerti im Nebenraum der Rezeption. Die Kripo hatte den Campingplatz nicht räumen lassen. Lediglich das Gelände um die Baugrube war von Erckenrieds Mitarbeitern mit rot-weißem Flatterband abgesperrt worden, bevor sie sorgfältig alles einsammelten, was in dem alten Keller verdächtig erschien.
Außerdem hatte Angela Schneider sämtliche Zeugen um Verschwiegenheit nach außen gebeten. »Natürlich dürfen Sie Frau Weyers als Mitbesitzerin des Campingplatzes informieren, aber ansonsten bitte ich Sie, das Ganze nicht an die große Glocke zu hängen. Was auch in Ihrem Sinne ist, denke ich. Die Entdeckung der Leiche wird im Übrigen früh genug für Wirbel sorgen. Dieser Vorgang muss nicht noch beschleunigt werden. Aber natürlich halten Sie sich jederzeit zu unserer Verfügung, okay?«
»Darf ich meinen Traktor wieder mitnehmen?«, fragte Heinz. Er nahm den ganzen Trubel äußerst gelassen, fand Jule. »Ich brauche ihn dringend auf dem Hof.«
Erckenried hatte keine Einwände, also fuhr Heinz auf seinem Traktor davon, Miro und Eddie gingen erst mal duschen und Jule und Micha informierten Gerti.
»Dat doh ene Keller ess, hann ich net jewoss«, staunte die alte Frau. »Als dä Hermann die Ruin affjdrohn hät, wohr dovon reiin garnüß ze sehn. Un spähder wuhesen do doch jehde Meng Haselnossstrüch. Wie häv do eijner unbemerk an dä Keller rahnkomme un eijner drenn verstecke könne? Verstohn ich net.«
»Ich auch nicht.« Micha seufzte. »Aber Wesseling ist schon wieder drauf und dran, mir die Sache anzuhängen.«
»Das soll er mal versuchen!« Jule merkte, wie erneut die Wut in ihr hochkochte. »Das ist doch völlig abwegig.«
»Isch hoff nur, dat diss Saach, su gräulich sie och ess, net ohs Geschäff kapott määch. De Einnahme ze Pengste bruche mer huh nüedich.« Gerti legte die Stirn in tiefe Falten. Ihre verblichenen, mit schwarzem Kajal umrandeten Augen, guckten besorgt.
»Allerdings, sonst wird es bald knapp mit unseren Finanzen«, seufzte Jule. »Hoffentlich packt die Spurensicherung schnell ihre Sachen und transportiert die Knochen ab. Dann sieht es dort am Waldrand einfach nur nach Baustelle aus. Vielleicht wächst schnell Gras über die Sache.«
Sie schluckte, als ihr der doppelte Sinn der Formulierung bewusst wurde.
Auch über den Keller von Hannis Hütte war Gras gewachsen, und einem Mörder hatte das gut in den Kram gepasst. Sie dachte an die rostigen Ketten mit den Eisenspangen an den Enden, und ihr wurde mulmig zumute. Dieser Täter war nicht nur ein Mörder, sondern vielleicht auch ein sadistischer Kindesentführer. Hatte sie bereits mit Micha hier im Eifelwind gelebt, als das Kind in den verborgenen Keller gesperrt wurde und dort qualvoll starb? Kaum zu glauben, dass eine solche Tat niemand bemerkt haben sollte! Aber wer weiß, was sich die Perversen dieser Welt alles einfallen ließen. Mit Schaudern fiel ihr der Kinderspielplatz ein, der sich nur ca. 50 Meter vom Tatort befand. Hatte der Mörder etwa dort sein Opfer gesucht und gefunden?
Die Türglocke schreckte sie aus ihren düsteren Fantasien auf. Gäste. Sie ging nach vorn zur Rezeption. Gerti und Micha folgten.
»Ich schaue mal, ob die Putzfrauen die Mobilheime schon hergerichtet haben«, sagte Micha im Vorbeigehen und drückte ihr ein Küsschen auf die Wange. »Nützt ja alles nichts. Das Leben muss weitergehen. Bis später, Schatz.« Und weg war er.
Jule blickte ihm nach mit dem sicheren Gefühl, irgendetwas Wichtiges vergessen zu haben.
Erst gegen 16 Uhr, als die meisten Neuankömmlinge eingecheckt hatten, kam sie darauf, was es war: Sie hatte ihn immer noch nicht über Benny informiert. Kurz erwog sie, zu Micha in die Gaststätte Eifelwind rüberzulaufen. Um diese Uhrzeit stand er gewöhnlich hinter der Theke. In dem Moment bimmelte die Türglocke, und die Chance war verstrichen.
Zwei Männer traten ein und Jule begrüßte sie mit einem freundlichen Lächeln. Beide waren ausgesprochen gut aussehend. Der ältere, ein grauhaariger mit strahlend blauen Augen und sportlicher Figur, trat an den Tresen und präsentierte ihr einen Reservierungsbeleg.
»Schönen guten Tag, Schmidt mein Name, Martin Schmidt. Wir haben reserviert.«
»Ach, Mobilheim Eichenblatt, stimmt’s?« Jules Blick wanderte hin zu seinem jüngeren Begleiter. Auch er war groß und schlank, allerdings deutlich graziler. Sein dichtes Haar schimmerte dunkelblond, er hatte große braune Augen unter hellen Brauen und weiche, volle Lippen.
Jule nahm einen Schlüssel vom Brettchen hinter sich und reichte ihn dem Älteren.
»Schön, Sie bei uns im Eifelwind begrüßen zu dürfen. Ihr Mobilheim befindet sich rechts neben dem Haupteingang. Es ist das mittlere mit dem gedrechselten Eichenblatt an der Tür. Hier, nehmen Sie einen Plan vom Campingplatz mit – zu Ihrer Orientierung. Frische Brötchen gibt es jeden Morgen hier im Laden, auch an den Feiertagen; gerne können Sie sie schon heute vorbestellen.«
»Danke schön, vielleicht nachher. Jetzt richten wir uns erst einmal häuslich ein.« Martin Schmidt nahm den Schlüssel an sich, reichte den Plan an seinen Begleiter weiter, nickte, und beide Männer wünschten ihr höflich einen guten Tag.
Jule blickte ihnen versonnen nach. Der Ältere, Schmidt, kam ihr bekannt vor, besonders beim Klang seiner sonoren Stimme hatte sie aufgemerkt. Aber vielleicht lag es einfach daran, dass die ihr von der telefonischen Reservierung in Erinnerung geblieben war. Aber hatte sie seine Anfrage überhaupt entgegengenommen? Oder war es Gerti gewesen?
Nur zwei Steinbacher Urgesteine hingen um 17 Uhr in der Eifelwind-Kneipe herum, Stammgäste. Ihren Gesprächsthemen zufolge hatte sich der Leichenfund auf dem Campingplatz noch nicht herumgesprochen. Gott sei Dank. Die Männer kamen jeden Freitag her und vertilgten abwechselnd Korn und Pils, als ginge es um ihr Leben.
Da Micha wusste, dass sie ihn als neuen Platzbetreiber höchstens duldeten, beteiligte er sich nicht an ihrer Unterhaltung. Er hatte einmal mitgekriegt, wie der eine von ihnen dem anderen zugeraunt hatte: »Wart nur ab, der Micha richtet den Platz bald zugrunde. Der kriegt das eh nicht auf die Reihe!«
Seitdem hatte er die zwei gefressen. Allerdings waren sie Hermann Weyers, Gertis verstorbenem Ehemann, treu ergeben gewesen, und wurden nicht müde, immer wieder zu betonen, was für ein toller Hecht der ehemalige Platzbetreiber gewesen war. Auch heute nicht. Und sie waren treue Gäste in der Eifelwind-Kneipe.
Micha verdrehte die Augen und leerte sein Bierglas. Es kribbelte ihm in den Fingern nachzuschauen, ob die Leute von der Spurensicherung endlich die Baustelle geräumt hatten. Zurzeit konnte er aber nicht weg hinter der Theke: Eddie löste ihn erst um 18 Uhr ab und Gerti machte in der Küche die Drecksarbeit für den vor knapp einem Jahr eingestellten Koch.