Zdeněk Adamec - Peter Handke - E-Book

Zdeněk Adamec E-Book

Peter Handke

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Beschreibung

»Eine weitläufige Szene«, ein öffentlicher Ort, »freilich kein freier Platz«; möglicherweise in der spanischen Provinz Avila oder in Humpolec in Böhmen, jetzt oder zu einer anderen Zeit. Ein Erzähler, der einer von »uns« ist, umschreibt Ort und Zeit für das folgende Spiel. Die Spieler, das sind Übriggebliebene einer ursprünglich dicht bevölkerten Szenerie, Einheimische, Zugereiste, Inländer, Ausländer, Junge, Ältere, vielleicht die letzten Gäste eines Festes. Das Drama, das sie in einem abendlichen, dann nächtlichen Gespräch vergegenwärtigen, hat bereits stattgefunden: Im März 2003 verbrannte sich der 18jährige Zdeněk Adamec aus Protest gegen den Zustand der Welt vor den Augen der Öffentlichkeit auf dem Wenzelsplatz in Prag.

Eine wahre Begebenheit? »Mit wahren Begebenheiten könnt ihr mich jagen. Und lang genug nun im Leben war ich ein Gefangener all der Aktualitäten«, sagt einer. Ein anderer hat recherchiert und liefert Fakten. (»Recherchen, du? Ganz was Neues!«) Wie erzählen von Adamecs Leben und Sterben angesichts einer über oder falsch informierten Welt, die Zdeněk Adamec dennoch vergessen hat? Wie überhaupt leben, wenn der Blick in die Welt Empörung erzeugt, Scham oder den Wunsch, auszusteigen. Handkes Figuren sind Profis im Über- und Umspielen, ihr letztes Gespräch ist ein leichtes, temporeiches einander ins Wort Fallen, Korrigieren, Kalauern, ein Spiel vom Fragen. Nebenschauplätze dieses Welttheaters beschreiben sie, Träume, Anekdoten: Wie Adamec seinem Vater, dem Steinmetz, zur Hand ging, die Werkzeuge aber nie an ihren Ort zurückstellte, ganz so als ließe sich so eine neue, weltverändernde Ordnung herstellen. »Alleinspieler« wird Adamec von ihnen genannt oder auch »mutterseelenallein«. In ihrer Zugewandtheit gegenüber Zdeněk Adamec sind diese Spieler mitreißend. Auch darin, wie sie diesen jungen Menschen mit all ihren erzählerischen Mitteln, ins Leben zurückzurufen. Wie Trainer einer Jugendmannschaft am Spielfeldrand, begleiten sie Zdeněks letzten Weg mit einem »Schrei, Zdeněk!« und »Augen auf, Zdeněk!«. Fast möchte man glauben, dieses Spiel auf Erden sei noch nicht verloren.

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Seitenzahl: 53

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Peter Handke

Zdeněk Adamec

Eine Szene

Suhrkamp

Čest, pravda, talent a dary od

Boha

se v týdle zemi, holka, nevyplácí.

Kdo tohle má, nakonec,

jako Zdeněk Adamec,

všechno ztrácí

Lied von Pepa Nos

Ehre, Wahrheit, Talent und

Gottesgaben,

zahlen, Mädchen, in dieser Welt sich nicht aus.

Wer sie hat, wie Zdeněk Adamec,

verliert am Ende alles

Zdeněk Adamec

Eine Szene

Weiträumige Szene, mit Öffnungen nach allen Seiten, dicht bevölkert mit Feierabendleuten. Kommen und Gehen, hin und her, kreuz und quer, da und dort auch ein Zusammenstehen, ein kurzes, ein Austausch von stummen Zeichen. Ein öffentlicher Ort, eine jedermann zugängliche Lokalität, welche als Treffpunkt dient, unbestimmbarer Natur, freilich kein freier Platz, weniger Außen‑ als Innenraum, ‑räume, ‑elemente, möglicherweise ein ehemaliges Klosterrefektorium in der spanischen Provinz Ávila, oder wo, oder der Kleinstadt-Tanz‑und-Festsaal, mit einer (leeren) Thekenecke, von Humpolec in Böhmen, oder wo. Zeit: jetzt oder sonstwann.

Mählich dann mehr Gehen als Kommen. Sich entvölkernde Szenerie. Doch nein: einige sind auf dem Plan geblieben, einer mehr vorn, eine andere eher im Hintergrund, wieder andere da, dort, rechts, links, im Licht, im Schatten, und wir alle, so oder so, im Abstand zueinander, einzeln, ein jeder für sich. Wie viele von uns sind auf der Szene geblieben? Fünf, sechs, sieben, acht, so viele, wie das Spiel, das unsrige, nötig haben wird. Mehr Männer, mehr Frauen? Was ihr wollt – jedenfalls nicht nur ein einziges Geschlecht. Junge? Alte? – Wie es euch gefällt – jedenfalls nicht allein Junge oder Bejahrte. – Und unsere einzelnen Rollen? – Im Verlauf der Begebenheiten werden sie noch klar werden. – Und unsere Spielernamen? – Sind die Namen von uns Spielern. – Und unsere Kostüme? – Feierabendlich (oder auch nicht). – Frühlingshaft? Sommerlich? Herbst‑ oder winterlich? – Frühling, und Herbst, und Sommer, und Winter, je nachdem. (Als Zdeněk Adamec, 18 Jahre alt, aus Humpolec im böhmischen Hochland, sich auf dem Wenzelsplatz in Prag verbrannte, war es ein Morgen, und es war Anfang März.)

Es dauert dann einige Zeit, bis eine(r) von uns sich hören läßt, deutlich Wort für Wort, artikuliert. Vorher, wenn überhaupt ein Laut von uns kam, bloß hier und da ein Räuspern? ein Gesumm? ein Maultrommelakkord, wer weiß von wem. Jetzt aber: unser Gespräch, ein abendliches, ein nächtliches (oder zeitweise auch dramatisches), setzt ein, und ein Satz gibt in der Folge den anderen, oder auch nicht, mit Pausen dazwischen, oder auch nicht. So oder so haben wir, Einheimische, Zugereiste, Inländer, Ausländer, Junge, Ältere, samt unseren verschiedenen Akzenten etwas von späten oder letzten Gästen.

»Einer Klosettfrau verdanke ich, daß ich seinerzeit mit dem Schnapstrinken aufgehört habe. Ich war da noch nicht zwanzig, und ein älterer Freund hat mich dazu gebracht, mit ihm eine Flasche Whisky leerzutrinken. In einer öffentlichen Toilette dann, es ging nicht mehr anders, den Kopf bis zu den Schultern ins Wasser getunkt. Und hernach mit den tropfnassen Haaren ins Freie getorkelt, im Zickzack die Türpfosten gerempelt. Und dabei die Stimme der WC-Frau im Rücken, ich höre sie noch heute, so einschneidend und weitertragend wie vielleicht gerade nur Stimmen im Suff: ›Gott im Himmel, wie ist der häßlich!‹ Ja, nie wieder durfte jemand auf Erden, beim Gott im Himmel, mich so häßlich sehen!«

»Das allerletzte Gespräch in seinem Leben, bevor Zdeněk Adamec, aus Protest gegen den Zustand der Welt, auf dem Wenzelsplatz in Prag, vor dem tschechischen Nationalmuseum, sich mit Benzin übergossen und verbrannt hat, war das mit der Klosettfrau vom Prager Überlandbusbahnhof ›Florenc‹, oder wie der heißt, wo Zdeněk am Vorabend, im Rucksack nichts als Kanister und Streichhölzer, aus Humpolec angekommen ist und wo er, in einer Kabine der Bahnhofstoilette, wer weiß wie, die Nacht verbracht hat.«

»Was für ein langer Satz. Bitte, kurze Sätze!«

»Da will uns einer mit typisch tschechischen Selbstverbrennungsstories und Aktualitätenhorror das Fest verderben.«

»Wir sind hier zum Festfeiern? Was für ein Fest?«

»Weiß nicht. Das ›Fest‹ ist mir bloß so herausgerutscht. Aber jetzt: ja doch, ein Fest! Schon ewig war hier kein Fest mehr. Und ja doch: dazu sind wir da. Jetzt ist jetzt, und jetzt ist Fest. Black is black, I want my baby back. Grün ist Grün, und Grün sogar in Brünn. Blau ist Blau, mein Baby, mach mich zur Sau. Amen, amen, Halleluja.«

»Die Geschichte vom Zdeněk Adamec ist keine typisch tschechische. Und außerdem ist sie nicht aktuell. War es schon seinerzeit kaum. Und es gibt zu Zdeněks Geschichte keinen Film, jedenfalls keinen Spielfilm, und schon gar nicht einen aus der Sparte ›nach einer wahren Begebenheit‹.«

»Wenn das so ist: zähl mich dazu. Mit wahren Begebenheiten könnt ihr mich jagen. Und lang genug nun im Leben war ich ein Gefangener all der Aktualitäten. Die eingehämmert jeden Morgen, und eingehämmert bis spätabends, und weiterhämmernd quer durch die Nacht. Und ein spezieller Hammer die lang-lang, jahrhunderte-, wenn nicht gar jahrtausendelang zurückliegenden Geschichten, die angeblich ›immer noch‹ oder gerade heutzutage aktuell sind. Der Prometheus, der sich gegen die verspielten, erdfremden Götter auflehnte, war niemals aktuell. Petrus, der seinen Herrn Jesus bis zum dritten Hahnenschrei dreimal verraten hat, ist auch bei dem heutigen Dauerverrat keine aktuelle Figur geworden. Eine immer noch aktuelle wahre Geschichte? Nein, sie ist die falsche, ist falsch oder, nein, sie ist falsch erzählt, ist gefälscht. Ich jedenfalls glaube ihr kein Wort.«

»Zdeněk Adamec hat sich verbrannt am 6. März 2003, gegen 8 Uhr am Vormittag. Er wurde geboren am … 1984 und war im Zeitpunkt seines Todes 18 Jahre, … Monate und … Tage alt. Humpolec, sein Wohnort, zählte damals 6472 Einwohner. Die Stadt liegt in einer Höhe von 586 und 672 Meter über dem Niveau des Meeres von Alicante alias des vielbesungenen Meers von Böhmen. Die Fahrdistanz zwischen Humpolec und Prag beträgt 98 Komma 4 Kilometer, alias 61 Komma 14 amerikanische Meilen. Eine Busfahrt zwischen den zwei Städten dauert zwischen 77 und 91 Minuten. Die Temperatur bei der Abfahrt des Busses am Abend des 5. März 2003 betrug in Humpolec/Vysočina, das heißt Hochland, 3 Grad, bei der Ankunft in Prag 7 Grad, und am folgenden Morgen des 6. März wurden am Bahnhof ›Florenc‹ 2 Grad gemessen. Das Ticket für die Bahnhofstoilette kostete Zdeněk Adamec 2 Komma 50 tschechische Kronen, das sind umgerechnet 0,10 Euro.«

»Auf der Rückseite welcher Kronenmünze finden sich eigentlich die Umrisse des Hradschin? Ist die Prager Burg vom Busbahnhof aus zu sehen?«

»Nein.«

»Heute morgen im Gras an einer Stelle ein Haufen von Vogelfedern, große und kleine wild durcheinander, die kleinsten nichts als Flaum, zerzauster. Von Schnabel, Kopf, Kralle keine Spur. Auch keine Blutstropfen im Schnee, pardon, Gras. Trotzdem habe ich geschaut und geschaut, bin davor gestanden, gestanden.«

»Kind Parzival!«

»Fachausdruck: ›Gewölle‹, das ist: vom Mördervogel Ausgewürgtes.«